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Inhalt Band 3
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Buchseite 65 B.

Therapeutische Versuche der geschichtlichen
Kulturvölker.



Die in der Geschichte mehr hervortretenden therapeutischen Versuche lassen sich in 5 Gruppen zusammenfassen:

1) Symptomatische Heilungsversuche;
2) Unvollständige praktische Heilungsversuche ohne vorbeugende Politik (ohne Prophylaxis);
3) Vorbeugende Politik;
4) Unvollständige Heilung mit vorbeugender Politik;
5) Vollständige Heilung mit vorbeugender Politik.

1. Symptomatische Heilungsversuche.

a) Das Zeitalter des Perikles.

Die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse unter dem Einfluss der Perserkriege hatte die Zukunft des attischen Volkes vom Lande auf das Wasser hinter die „hölzernen Mauern“ ihrer Seeschiffe verdrängt. Damit musste der Kapitalismus rasch zur Alleinherrschaft kommen. Die Bauern und mit ihnen der heimische Getreidebau waren bald verschwunden. Der alte Adel ist zumeist verarmt. Der Einfluss der Grossindustriellen und der Bankiers wurde massgebend. Handel und Industrie blühten. Die kolonialen Besitzungen erweiterten sich immer mehr. Das attische Geld war Weltmünze geworden. Bei dem gewaltigen UeberBuchseite 66wiegen des spekulativen Kapitals war es der redlichen Arbeit nicht mehr möglich, sich zur ökonomischen Selbstständigkeit emporzuarbeiten. Weil aber die demokratische Verfassung alle attischen Vollbürger zu Mitregenten im attischen Kolonial-Reiche berufen hatte, musste die Politik des Staates, welche durch einseitige Begünstigung des Kapitalismus den selbständigen Mittelstand vernichtet hatte und einen neuen selbständigen Mittelstand nicht mehr aufkommen liess, konsequenterweise den Unterhalt der verarmten Vollbürger übernehmen. So erhielten von 35'000 erwachsenen männlichen Bürgern über 17 Jahre 20'000 Staatspensionen. Gleichzeitig wurden innerhalb 5 Jahren fast 11 Millionen Mark für Staatsbauten zur Beschäftigung der arbeitslosen Bürger aus der Staatskasse verwendet, und eine umfassend organisierte staatliche Getreidepolitik sorgte für möglichst billiges Brot. (Siehe Band I, 298—305.) Diese gross angelegte Proletarierpolitik des Staates drängte ebenso wie die herrschende Interessenpolitik der Kapitalisten dazu, das Herrschaftsgebiet Athens immer weiter auszudehnen. Die Getreidezufuhrstrasse vom Pontus her wurde systematisch befestigt und der Getreideverkehr nach Athen gezwungen. Der Versuch, neue Kornkammern zu erobern, führte zu gewagten kriegerischen Unternehmungen gegen Egypten und Sizilien. Die bedeutungsvollste Politik des Staates aber schien darin zu liegen, immer neue Absatzwege für Industrie und Handel zu erschliessen und schliesslich noch den letzten vorhandenen Konkurrenten für den attischen Handel und die attische Industrie, Korinth nämlich, niederzuwerfen. Nur so konnte die ganze damalige Kulturwelt dem Industriestaate Athen allein zur Ausbeutung ausgeliefert werden. Diese umfassenden politischen Pläne, von der unersättlichen Habgier diktiert, bewirkten den Zusammenschluss der zahlreichen Feinde Athens. Die im Kampfe gegen diese Feinde bankrott gewordene Staatskasse musste darauf verzichten, Buchseite 67 die proletarisierten Staatsbürger noch länger zu unterhalten. Die Zufuhr billiger Getreidemassen vom Auslande wurde unterbunden. Der Absatz industrieller Produkte stockte. Athen musste sich auf Gnade und Ungnade seinen Feinden ergeben. Der blutige Kampf zwischen den „Reichen“ und den „Enterbten“ ist seitdem nie mehr zur Ruhe gekommen, bis auch die Vernichtung der Selbständigkeit des Staates durch äussere Feinde erfolgt war.

Die Politik des perikleischen Zeitalters hatte offenbar vor dem Zusammenbruch Athens gar nicht erkannt, dass diese ganze volkswirtschaftliche Entwicklung eine durchaus krankhafte gewesen. Sie ist deshalb den verschiedenen Krankheitssymptomen nicht nur nicht entgegengetreten, sondern hat diese Symptome in ihrer weiteren Ausbreitung sogar noch begünstigt. Die gross angelegte staatliche Sozialpolitik zum Zwecke einer Versöhnung der Proletarier mit dem herrschend gewordenen Kapitalismus konnte nur sehr kurzlebige Erfolge erzielen, und musste mit dem Zusammenbruch der Weltherrschaftspolitik den Gegensatz zwischen den Proletariern und den Kapitalisten nur um so schärfer und um so blutiger hervortreten lassen. Alle Massnahmen des Staates, die Brotversorgung des Volkes vom Auslande zu sichern, hatten nur so lange praktische Bedeutung, als die attische Flotte die Meere beherrschte. Die Vernichtung der Flotte bedeutete deshalb die Vernichtung des Staates. Gewiss hat die Erschliessung immer neuer Absatzwege auch immer sofort der attischen Volkswirtschaft Vorteile gebracht. Aber das daraus immer deutlicher hervortretende Streben, eine Weltherrschaft Athens zu errichten, musste die Zahl der Feinde dieser Politik stetig wachsen lassen und schliesslich ihren Zusammenschluss gegen Athen bewerkstelligen.

Die Politik des perikleischen Zeitalters war so ausgeprägtermassen eine Politik in der Richtung der kapiBuchseite 68talistischen d.h. der krankhaften Entwicklung. Sie konnte deshalb naturgemäss den Untergang des Staates und seiner Kultur nur beschleunigen.

b) Die Politik des niedergehenden republikanischen
Senats in Rom.

Die römische Entwicklung hatte etwa um 168 v. Chr. die glänzende Höhe der Weltherrschaft erreicht. Alle der Beachtung werten äusseren Feinde waren niedergeworfen. Man sollte erwarten, dass damit alle Voraussetzungen erfüllt waren, das römische Volk in Glück und Zufriedenheit fortleben zu lassen. Das gerade Gegenteil ist eingetreten. Jetzt beginnen mit den gracchischen Unruhen (133—131 v. Chr.) die furchtbaren römischen Bürgerkriege, welche mehr als hundert Jahre lang im Reiche wüten und erst mit der Ersetzung der republikanischen Senatsherrschaft durch den Alleinherrscher Octavianus Augustus ihren Abschluss fanden. Schon diese Entwicklung lässt vermuten, dass es der römische Senat nicht verstanden hat, die ihm gestellten politischen Aufgaben zu lösen.

Rasch folgten der Entstehung der römischen Weltherrschaft alle Anzeichen des volkswirtschaftlichen Verfalles. Der römische Bauernstand ist in wenigen Jahrzehnten aus Italien verschwunden. Mit ihm der Getreidebau auf italienischem Boden. Der Luxus nahm rasch überhand, beschleunigte die Vernichtung des mittleren Vermögens und steigerte die allgemeine Korrumpiertheit. Die alten Bürgertugenden kamen aus der Mode. Zügellose Ausschweifungen führten zu einer allgemeinen Verderbtheit der Sitten. Die ungeheuerlichsten Wahlbestechungen nahmen überhand. Der sich ausbreitenden Eheflucht entsprach ein Buchseite 69 bedenklicher Rückgang der Bevölkerung. Der ehrlichen Arbeit wurde es immer schwerer, sich redlich zu ernähren und durchs Leben zu bringen u.s.w. (Siehe Band I, Seite 337—368.)

All diese Erscheinungen des augenfälligen Niederganges betrachtete der republikanische Senat irrtümlicherweise als selbständige Spezialfragen, denen durch eine Spezialgesetzgebung und durch Spezialmassnahmen entgegenzutreten wäre. So hat man gegen den überhand nehmenden Luxus durch Speise- und Luxusgesetze anzukämpfen versucht. So hat man gegen den allgemeinen Verfall der guten Sitten öffentliche Reden über die alten Bürgertugenden gehalten. Um die zunehmenden Ausschweifungen zu bekämpfen, ist man wenigstens gegen den Bacchuskultus u.a. mit blutiger Strenge vorgegangen. Um die furchtbare Konkurrenz in den Wahlbestechungen etwas zu mindern, hat man die Zahl der Wahlbewerber eingeschränkt. Um die Eheflucht mit dem Rückgang der Bevölkerung einzudämmen, hat man Begünstigungen der mit Kindern gesegneten Eheleute eingeführt und schöne Reden gehalten über die Notwendigkeit, im Interesse des Staates die Last der Ehe zu übernehmen. Gegen die Vernichtung des römischen Bauernstandes durch Latifundienbildung sollte ein gesetzliches Grundbesitzmaximum mit innerer Kolonisation auf Staatsländereien bei Einführung eines unveräusserlichen Erbpachtrechtes wirken. Dem Verschwinden des Getreidebaues glaubte man durch ein gesetzliches Maximum der Viehhaltung begegnen zu können. Die Ausbreitung der Sklavenarbeit sollte ein Gesetz hemmen, welches von jedermann forderte, dass mindestens 1⁄3 aller beschäftigten Arbeiter freie Leute seien. Weil die Masse der Bürger in Rom verarmt war, keine Beschäftigung fand und nichts zu essen hatte, wurden staatliche Getreidelieferungen und Getreideverteilungen zu billigsten Preisen eingeführt. Und um die eventuell geBuchseite 70fährlich werdende Langeweile des Bürgerproletariats zu verscheuchen, hat man von Staatswegen „öffentliche Spiele“ gewährt.

So handelte der republikanische Senat nach dem schweren Irrtume, die äusseren Erscheinungen mit der inneren Ursache zu verwechseln. So hielt man im republikanischen Rom für jeden Schmerz und für jede Schwellung ein besonderes Spezialmittelchen bereit und brachte jene Methode zur Anwendung, welche der Mediziner als ein „Wüten gegen Symptome“ bezeichnet. Indem so der republikanische Senat von Anfang an eine Heilung der volkswirtschaftlichen Krankheit gar nicht beabsichtigte und nur auf eine „Linderung“ der Schmerzen bedacht war, wucherte die eigentliche Krankheitsursache immer weiter. Nicht gestört durch die Eingriffe ebenbürtiger äusserer Feinde, konnte hier der Kapitalismus seine Entwicklung zu Ende leben. Die römischen Bürgerkriege waren der Prozess der „Expropriation der Expropriateure“. Der Kühnste unter den 2000 reichsten Römern, die die ganze Welt auszuplündern sich gewöhnt hatten, wusste das ganze Reich für sich und seine Nachfolger zu erobern und seine Gegner abzuschlachten. Der republikanische Senat mit seinen Spezialgesetzen und Spezialmassregeln zeigte sich den gestellten politischen Aufgaben in keiner Weise gewachsen. Die Räder der Entwicklung mussten deshalb notwendigerweise über seine Existenz und seine nur symptomatische Methode dahinschreiten.

Buchseite 71 2. Unvollständige praktische Heilungsversuche
ohne vorbeugende Politik (ohne Prophylaxis).

a) Die Reform des Propheten Nehemia.

Nachdem die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft nach Kanaan zurückgekehrt waren, um das Land von Neuem zu besiedeln und Jerusalem wieder aufzubauen, brachte die gewinnsüchtige Ausfuhr der landwirtschaftlichen Produkte das Volk nach Missernten in Not. Das waren für die Wucherer günstige Zeiten. Es kam zu Unruhen des verschuldeten Volkes. Da trat der sehr angesehene Prophet Nehemia auf, richtete sich mit Strenge gegen die Reichen und Wucherer und schüchterte sie ein, dass sie die rückständigen Schulden erliessen und die Pfandobjekte zurückgaben. So wurde kaum 100 Jahre nach Rückkehr aus dem Exil eine allgemeine Schuld-, Zins- und Knechtschaftsbefreiung notwendig. Das Volk kehrte zum Glauben seiner Väter zurück. Sein Wohlstand erholte sich rasch. Aber die unter dem persönlichen Einfluss des Nehemia durchgeführte Sozialreform musste mit seiner Person stehen und fallen. Bald fanden sich nach seinem Weggange die alten Misstände wieder ein. (Vergl. Band I, Seite 243 und 244.)

b) Die Reform der Makkabäerbewegung.

Mit der Herrschaft des Hellenismus begannen die Reichen und Steuerpächter von Juda bald wieder, das Volk systematisch auszubeuten. Die Verschuldung und AbhängigBuchseite 72keit der Bauern führte zur Latifundienbildung. Mit dem Aufkommen der Wucherpraxis wuchs auch die Geneigtheit, ganz allgemein die heidnischen Gebräuche anzunehmen. Doch als der syrische Oberherr diese Wandlung offen unterstützte und allgemein Frohndienste forderte, da raffte sich der verarmte Mittelstand unter Führung der Makkabäer zusammen und siegte glänzend über seine Feinde. Die Schuldzinsen hörten wieder auf. Mit der wieder überwiegend bäuerlichen Besitzverteilung kam der Ackerbau von Neuem zur vollen Blüte. Das Volk kehrte zum Glauben seiner Väter zurück. „Ein jeder sass unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaume und niemand schreckte sie“ — bis neuer Bruderzwist und die Einmischung des römischen Weltreiches den wucherischen Erwerb wieder zur Herrschaft brachten. (Vergl. Band I, Seite 244—246).

c) Die solonische Gesetzgebung.

Es war die Zeit der attischen Bauernkriege. Die an Herz und Nieren Kapitalisten gewordenen Adligen wollten mit Hilfe des geltenden ungeheuerlichen Kreditrechtes den Bauern und Gewerbetreibenden ihren Grundbesitz und ihre persönliche Freiheit rauben, was energischen Widerstand wachrief. Nach verschiedenen Reformversuchen brachte das Jahr 594 v. Chr. die berühmte solonische Reformgesetzgebung. Sie beseitigte die Schuldknechtschaft. Alle persönlichen Unfreiheiten, welche auf dem bisherigen Schuldrecht begründet waren, wurden aufgehoben. Die Hypothekensteine auf den Grundstücken wurden umgestürzt, alle Hypothekenforderungen kurzweg annulliert. Zur erleichterten Abtragung der Personalschulden hat eine Währungsänderung das gesetzliche Zahlungsmittel um 27% verbilligt. Buchseite 73 Dazu kamen die Einführung eines landwirtschaftlichen Grundbesitzmaximums, eines allgemeinen Ausfuhrverbotes für landwirtschaftliche Produkte, das nur den Export von Oel gestattete, besondere Bestimmungen gegen den Luxus und eine neue Staatsverfassung.

Zweifelsohne hat Solon sich genügend als Fachmann gefühlt, um einen tieferen Schnitt in die volkswirtschaftlichen Verhältnisse wagen zu können. Aber zu einer reinlichen Ausscheidung des Kapitalismus ist es durch ihn nicht gekommen. Seine Aufhebung der Hypothekenschulden hat nicht daran gehindert, wieder neue Schulden zuzulassen. Die Einführung eines Grundbesitzmaximums war kein Mittel, um den Wucher, der sich an die Grundstücke heftet, überhaupt zu beseitigen. Die Ermässigung der Personalschulden um 27% durch eine entsprechend leichtere Währung bot noch keine Garantie dafür, dass die bleibenden 75% auch immer zurückgezahlt werden konnten. Solon hat nur unvollständig die Periode des Handels- und Leihkapitals abgeschlossen, gleichzeitig aber durch andere Massnahmen, wie Eroberung von Kolonien, Ausbau der Flotte, Vermehrung der Metallgeldzirkulation, die Periode des Handels- und Industriekapitals eingeleitet. Die Zufriedenheit des Volkes mit den neuen Reformen dauerte deshalb nur kurze Zeit. Kaum 30 Jahre später wurde der Staat von neuen politischen Unruhen erschüttert. (Vergl. Band I, Seite 287—289.)

d) Die Reform des Königs Kleomenes IV. in Sparta.

Der Einfluss der Perserkriege und insbesondere des peloponnesischen Krieges hat mit dem Eindringen des Geldreichtums und der geldwirtschaftlichen Verhältnisse auch die Kapitalistenmoral und den kapitalistischen Erwerb nach Buchseite 74 Sparta eingeführt. Die alte Gleichheit des Besitzes der spartanischen Bürger war mit den einfachen schlichten Sitten verloren gegangen. Die Schuldenlast des Volkes nahm immer mehr zu. Im Jahre 240 v. Chr. war der gesamte Grundbesitz in den Händen von nur 100 Familien. Da hat 226 v. Chr. der König Kleomenes IV. energisch durchgegriffen. Er liess die Ephoren, welche diese kapitalistische Entwicklung in Sparta so weit hatten eindringen lassen, überfallen und töten. 80 der reichsten Bürger wurden verbannt und ihr Vermögen unter 4000 ärmere Spartaner verteilt. Die Schulden aller Art wurden kurzerhand aufgehoben und die alte verfassungsmässige strenge Zucht und Ordnung wieder hergestellt. Aber Kleomenes hat gleichzeitig klar erkannt, dass das doch verhältnismässig kleine Sparta inmitten der damaligen kapitalistisch durchseuchten griechischen Welt sich auf die Dauer unmöglich gesund erhalten könne. Wenn dieser Gesundungsprozess sich wenigstens auf die peloponnesische Halbinsel hätte erstrecken und ausdehnen können! Aber der Versuch die spartanische Hegemonie in dieser Weise auszudehnen, wie sie 3—4 Jahrhunderte früher durch freiwillige Schutzverträge der Nachbarn bestanden hatte, scheiterte an dem Waffenerfolg der vereinigten Feinde, Kleomenes wurde zur Flucht aus Sparta gezwungen. Sein Reformwerk ist deshalb rasch zusammengebrochen. (Vergl. Band I, Seite 308—310.)

e) Die Reform der römischen Bauernkriege.

Das alte, räumlich eng begrenzte Rom, inmitten kriegerischer Nachbarn, in steter Berührung mit kapitalistisch hoch entwickelten Völkern, konnte unmöglich jene charakteristischen Konflikte zwischen Getreide und Geld, Buchseite 75 zwischen Mittelstandsforderungen und Kapitalistenrecht vermeiden, die bei allen Völkern zu den sogenannten Bauernkriegen geführt haben. Die altrömischen Gesetze und Einrichtungen aus dieser Zeit sind in besonderem Masse interessant. (Vergl. Band I, Seite 332—349.) Zunächst entstand Amt und Würde der Volkstribunen: besondere selbstgewählte Beamte, welche unverletzlich waren und deren Veto genügte, jeden wie immer gearteten Akt der Verwaltung und Rechtsvollstreckung aufzuhalten. Ihnen folgten die Volksädilen, welche namentlich den Marktverkehr zu überwachen und dem Treiben der Getreidewucherer entgegenzutreten hatten. Dann trat an die Stelle des Gewohnheitsrechtes ein geschriebenes Recht, das XII. Tafelgesetz, welches ein Zinsmaximum von 8 1⁄3% einführte, das bald auf 4 1⁄6% ermässigt wurde. Den Schuldnern war es gestattet, die bezahlten Zinsen vom Kapital abzuziehen, wenn der Rest der Schuld binnen 3 Jahren in drei Raten abgetragen wurde. Niemand sollte in den neu eroberten Gebieten mehr als 100 Stück Grossvieh oder 500 Stück Kleinvieh halten dürfen und unter seinen Knechten einen bestimmten Teil freier Leute beschäftigen. Weiter wurden die Vorrechte des Senats zu einem wesentlichen Teile beseitigt, die Schuldknechtschaft aufgehoben, das Zinsnehmen gesetzlich als Wucher verboten, Volksgerichte eingeführt und der Versammlung der freien Bürger in Rom die höchste Gewalt im Staate übertragen.

Der römische Mittelstand schien der gesetzgebende Faktor des Staates geworden zu sein. In konsequenter Weise waren alle kapitalistischen Misstände, welche der Periode des Handels- und Leihkapitals anhaften, beseitigt. Man hatte in diesem System der anti-kapitalistischen Gesetzgebung nur eine kleine Lücke gelassen, die das egoistische Empfinden der römischen Bauern gar nicht als Misstand, sondern viel eher als eine Wohltat bezeichnen Buchseite 76 musste: der landwirtschaftliche Grundbesitz war eine beliebig veräusserliche und beliebig verpfändbare Ware geblieben. Warum sollten die freien Bauern nicht ihren ererbten Besitz beliebig veräussern dürfen? Die Bauern selbst dachten am wenigsten daran, in diesem Recht sich selbst eine gesetzliche Beschränkung aufzubürden. Und doch wurde gerade diese Lücke der Gesetzgebung das Einfallstor für den Kapitalismus, der dann rasch genug die Bauern und den ganzen Mittelstand vernichten sollte.

Die altrömischen Bauern verkauften zu guten Preisen ihre Erbgüter vor den Toren von Rom, um nach jenen Grundbesitzungen abzuwandern, welche ihnen vom Staate in den eroberten Kolonien umsonst zur Verfügung gestellt wurden. Damit verschwanden die Bauern tatsächlich aus der allmächtigen römischen Volksversammlung. Die in der Stadt Rom noch zurückgebliebenen selbständigen Gewerbetreibenden wurden dadurch proletarisiert, dass Unternehmer griechische Gewerbesklaven in grosser Zahl einführten und in Fabriken arbeitsteilig verwendeten. Deren Konkurrenz konnten die altrömischen Gewerbetreibenden nicht aushalten. So setzte sich jetzt bald die herrschende römische Volksversammlung aus wenigen Kapitalisten und einer grösseren Zahl von Proletariern zusammen, welche ihre Abstimmung meistbietend verkauften. Der Kapitalismus hatte von Rom vollständig Besitz genommen.

f) Die Reformbewegung der Gracchen.

Der Mittelstand in Stadt und Land war in Italien verschwunden. Das Bauernland hatte sich in grosskapitalistische Latifundien verwandelt, die mit Viehherden und wenigen Hirtensklaven besetzt waren. In Rom lebte ein verarmtes Bürgergesindel von Bestechungsgeldern, Erbschleichereien Buchseite 77 und Sittenlosigkeit aller Art. Tiberius Gracchus versuchte 134 v. Chr. mit Hilfe dieses verlumpten grosstädtischen Proletariats den herrschenden Grosskapitalisten einen Teil ihrer zusammengeraubten Latifundien zu entreissen, um wieder unveräusserliche Bauernhöfe daraus zu machen. Zum letzten Male ist die römische Bauernschaft aus ganz Italien nach Rom zusammengeströmt, um den Ackergesetzen des Tiberius Gracchus zur Annahme zu verhelfen. Dann aber eilten sie sofort zurück, nach Hause, zu ihren Feldarbeiten. Und als Tiberius Gracchus nach Ablauf seines Amtsjahres die tribuninische Gewalt abermals erlangen wollte, wurde er mit der kleinen Zahl seiner Anhänger auf offener Strasse von der Kapitalistenpartei erschlagen.

Dem jüngeren Bruder Gaius Gracchus war es vor allem um die Rache für seinen Bruder an der Senatorenpartei zu tun. Er suchte seinen Anhang bei den städtischen Proletariern und den kapitalistischen Parvenüs. Die Schädigung der Senatorenpartei ist ihm gelungen; aber eine neue Grundbesitzverteilung war auf seinem Wege nicht zu erlangen. Die Proletarier, denen in der Stadt sehr billiges Getreide geliefert wurde, hatten gar keine Lust, draussen auf dem Lande im Schweisse ihres Angesichts ihr Brot zu verdienen. Als aber Gaius Gracchus Miene machte, statt der römischen die italienischen Bundesgenossen zur Kolonisation heranzuziehen, wurde er auch vom römischen Plebs verlassen und seinen Todfeinden ausgeliefert.

Die gracchische Bewegung litt an der mangelnden Erkenntnis, dass auch der kapitalistisch durchaus erkrankte Volkskörper einen „Organismus“ darstellt, der immer als ein „Ganzes“ behandelt und kuriert sein will. Es ist nicht möglich, nur für einen ganz bestimmten Teil der Grundbesitzverteilung die Herrschaft des Kapitalismus mit Erfolg auszuschalten, sie aber sonst in allen übrigen Teilen des Buchseite 78 Volkskörpers fortbestehen zu lassen. Diese praktisch unhaltbare Inkonsequenz mussten die beiden Gracchen mit ihrem Leben bezahlen. Die Beseitigung des Kapitalismus ist eine Aufgabe, die nur dann gelingen kann, wenn sie auf der ganzen Linie seiner Erscheinungen planmässig in Angriff genommen wird. (Vergl. Band I, Seite 359 bis 364.)

g) Die Reformen von Caesar und Augustus.

Der inkonsequente Idealismus der beiden Gracchen zerschellte an der herrschenden Kapitalistenmoral. Weil der Mittelstand in Stadt und Land vernichtet war, musste das römische Heer aus Proletariern und fremden Söldnern gebildet werden. Die Heerführung wurde so ein Unternehmen mit Gewinnbeteiligung des Soldaten. Ein ebenbürtiger äusserer Feind war nicht gegeben. Die kapitalistische Entwicklung konnte sich deshalb in Rom ungestört ausleben. Der blutige Kampf der 2000 Reichen um die Beute begann. Und der Tüchtigste unter ihnen, Caesar, spielte sein kühnes Spiel um das ganze römische Weltreich. Sein würdiger Nachfolger Oktavianus Augustus vollendete die Ausführung dieses Planes. Jetzt setzten vom Ganzen aus die Reformen ein, mit der klar erkannten Aufgabe: den Kapitalismus aus dem Volkskörper zu beseitigen. Die Köpfe der Kapitalisten wurden in weit überwiegender Zahl abgeschlagen und ihr Vermögen unter die Soldaten und verarmten Bürger verteilt. Die grosskapitalistischen Latifundien in der Umgebung von Rom verwandelten sich in Bauernhöfe. Die bisherige Freiheit der römischen Kapitalisten, die ganze Welt ausbeuten zu können, wurde konsequent abgeschafft. Die bisher als Kriegsbeute beBuchseite 79handelten eroberten Ländergebiete wurden der altrömischen Feldmark als gleichberechtigte Teile des Reiches angegliedert. Die ganze Welt atmete unter den endlich geordneten Rechtsverhältnissen beglückt auf. Ein neues besseres goldenes Zeitalter begann.

Trotzdem waren die grosszügig angelegten Reformen des Caesar und des Augustus nicht konsequent genug. Caesar und Augustus hatten an sich selbst, als Alleinherrschern des Römerreiches, die früheren kapitalistischen Gewohnheiten nicht abgestreift. Und sie waren aus dieser früheren Zeit gewohnt, einen Schwarm von völlig abhängigen Menschen zur Verfügung zu haben, denen sie Brot und Spiele gewährten. Caesar hat so in Rom 150'000 arbeitslose Kostgänger beibehalten, deren Zahl unter Augustus rasch auf 250'000 angewachsen ist. Die Provinzen waren ja zu Naturallieferungen verpflichtet und der Kaiser war unendlich reich, denn er war ja schliesslich Herr der ganzen damaligen Kulturwelt. Welche Bedenken sollte es haben, diese alte grosskapitalistische Claque beizubehalten? Und doch sollte gerade an dieser Inkonsequenz die erhoffte Wiedergesundung des römischen Volkskörpers scheitern.

Weil in der Hauptstadt Rom für den beibehaltenen Proletarierrest dauernd billiges Getreide zur Verfügung gestellt wurde, konnte sich in Italien der Getreidepreis nie mehr auf jene Höhe erheben, welche den Getreidebau für die freie Arbeit wieder rentabel gemacht hätte. Mit dem Getreidebau blieb auch der Bauernstand — einen bestimmten Umkreis von Rom ausgenommen — von Italien fern. Die Brotversorgung Roms blieb auf andere Ländergebiete angewiesen. Als hier sich Missernten einfanden, wurde Rom von einer Hungersnot heimgesucht, die das hungernde Proletariat zu Tumulten verleitete und das Leben des Kaisers in Gefahr brachte. Dem musste durch energische Massnahmen für die Zukunft vorgebeugt werden. Und so Buchseite 80 begann die Verstaatlichung der Getreideeinfuhr auf berufsgenossenschaftlicher Basis. Dieser Verstaatlichung des Getreidehandels folgte die Verstaatlichung immer neuer Berufszweige, bis das ganze römische Reich vom Staatssozialismus umklammert war.

Mit den früheren kapitalistischen Gewohnheiten von Caesar und Augustus stand weiter im Zusammenhang die Tatsache, dass sie nach ihren Launen das Verfügungsrecht über Güter und Menschen innerhalb ihres Reiches behielten. Der Kapitalist liebt keine Einschränkung seiner Dispositionsfreiheit. So unterliess auch der römische Kaiser für seine Person jede reinliche Scheidung zwischen „Mein“ und „Dein“ im Sinne unserer modernen Staatsverfassungen.

An diesen beiden Resten des Kapitalismus, welche Caesar und Augustus auf den römischen Kaiserthron mitgenommen hatten, sollte sich das gewaltige Römerreich, trotz seiner sonst so gross angelegten Reformen, langsam im Elend verbluten. (Vergl. Band I, Seite 364—391.)

Buchseite 81 3. Nur vorbeugende Politik.

a) Die mosaische Gesetzgebung.

In reiflichst durchdachter Weise hat die mosaische Gesetzgebung das Eindringen des Kapitalismus in die Volkswirtschaft zu verhüten versucht.

Die Basis der Wirtschaftsorganisation war die Pflicht zur Arbeit mit angemessenen Ruhepausen. „Sechs Tage sollst Du arbeiten, am siebenten aber sollst Du ruhen!“ Diese Arbeit war in erster Linie als landwirtschaftliche Arbeit auf eigenem Grund und Boden gedacht. Die tunlichst gleichmässige Verteilung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes steht deshalb im Brennpunkt der mosaischen Wirtschaftsgesetze. Der Verteilung folgen eine Reihe von Massnahmen zur Erhaltung dieser Verteilung. Der landwirtschaftliche Grundbesitz ist nach Moses unverkäuflich und unverpfändbar. Nur ausnahmsweise, im Falle echter Not, kann Grund und Boden verkauft werden. Eingehende Bestimmungen sorgen für die Erhaltung der gewollten Grundbesitzverteilung innerhalb des Stammes, der Geschlechter, der einzelnen Familien wie in der Hand der einzelnen Grundbesitzer. Selbst dem Könige hat Moses das Ansammeln von viel Silber und Gold untersagt. Der Geldreichtum namentlich erscheint nach Moses als die Verkörperung einer grossen Gefahr für den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Deshalb auch das strenge Verbot Zinsen zu nehmen oder zu geben, bei allgemeiner VerBuchseite 82pflichtung, den Bedürftigen zu leihen. In jedem 7. Jahre sollten alle Schulden nachgelassen werden, bei Realisierung der Pfänder zu Gunsten der Gläubiger. Für den in Not verkauften Grundbesitz trat das Rückkaufsrecht in Geltung. Alle 50 Jahre (Jobeljahr) kam ein jeder wieder in den Besitz des Seinen. Dadurch wurde der Grundbesitz im Verkehr ein ganz bestimmt begrenzter Rentenfond. Sein Verkaufs- wie Rückkaufspreis bestimmte sich nach dem Werte der bis zum nächsten Jobeljahre dem Boden abzugewinnenden Jahreserträge. Der Grundpreis wurde so in jedem Jahre niedriger und erleichterte damit den Rückkauf wesentlich. Eine Proletarisierung der Bauern blieb dabei ausgeschlossen. Ergänzend traten noch Bestimmungen zu Gunsten der Knechte und der Lohnarbeiter hinzu.

In der Geltung und Anwendung all dieser Bestimmungen sah Moses eine fundamentale Voraussetzung für das sittliche Gedeihen des Volkes.

Die Ueberlieferung bestätigt, dass die Reform des Propheten Nehemia wie die der Makkabäer, welche auf die mosaischen Gesetze zurückgegriffen haben, in kurzer Zeit ein allgemeines Wohlergehen des Volkes bewirkten. Es fehlte den mosaischen Bestimmungen nur die Macht, sich dauernd Geltung zu verschaffen, was wieder mit der Tatsache in ursächlicher Verbindung steht, dass eine nur vorbeugende Gesetzgebung kaum in der Lage ist, allen kommenden Entwicklungsbedürfnissen im voraus Rechnung zu tragen. (Vergl. Band I, Seite 215—227).

Buchseite 83 b) Die Gesetzgebung des Lykurg.

Vielleicht mitten in jenen Eroberungen, welche den späteren Stammsitz der Spartaner schufen, kam die Verfassung des Lykurg zur Einführung. Sie war deshalb gleich sehr bemüht, den Staat gegen das Vordringen äusserer wie innerer Feinde zu schützen. Durch strenge Zucht bei einfachen Sitten sollten die heranwachsenden Bürger gestählt werden, das Vaterland zu verteidigen. Deshalb war es vor allem Pflicht der Bürger, das Kriegshandwerk zu pflegen. Das fruchtbarste Land wurde in gleichen Ackerlosen unter die Vollbürger verteilt. Zur Bebauung dieses Landes für die Vollbürger waren die alten unfrei gewordenen Landbewohner verpflichtet. Die städtischen Bewohner blieben zwar persönlich frei aber ohne politische Rechte. Trotzdem hatten sie Steuern zu zahlen und sich für den Kriegsdienst bereit zu halten. Der Grundbesitz der Spartiaten war unveräusserlich, unverpfändbar und ging geschlossen vom Vater auf den ältesten Sohn über. Nur der Staat durfte Gold und Silber besitzen. Den Bürgern war der Besitz von Edelmetall gesetzlich verboten. Der Güterverkehr sollte sich nur eiserner Münzen bedienen. Zur Reise eines Spartiaten nach dem Auslande bedurfte es der staatlichen Genehmigung. Fremden wurde der Aufenthalt im Lande nur auf kurze Zeit und Widerruf gestattet. Die gewerblichen Berufe blieben den Unfreien und Fremden überlassen. Die spartanische Verfassung war so mit aller Energie bemüht, den Volkskörper Buchseite 84 gesund zu erhalten und deshalb das Eindringen der Krankheit des Kapitalismus von aussen zu verhüten. Die Erfolge dieser Politik gehören zu den Besten aller Berichte, die uns die Geschichte überliefert hat. Etwa um die Mitte des VIII. Jahrhunderts v. Chr. mag diese Verfassung eingeführt worden sein. Gegen Mitte des VI. Jahrhunderts hatten die meisten peloponnesischen Staaten freiwillig sich mit Sparta verbündet, weil sie bei ihrer eigenen kapitalistischen Entwicklung aus diesem Bündnis nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen hatten. Als dann zu Ende des V., Anfang des IV. Jahrhunderts, die kapitalistische Herrlichkeit Athens in Trümmern lag, und fast ganz Griechenland umzustürzen schien, begann es, allgemeiner Mode zu werden, die spartanische Verfassung als Musterverfassung zu bewundern. Aber gerade jetzt hatte auch das Eindringen des Kapitalismus in Sparta begonnen.

Die vielen blutigen Kämpfe, in welche Sparta durch die allgemeinen Verhältnisse der griechischen Welt verwickelt wurde, hatte die Zahl der alten Vollbürger arg gelichtet und zur Aufnahme von Neubürgern gezwungen. Die vielen Siege häuften immer mehr Schätze in Sparta an. Die Bestechlichkeit breitete sich aus. Der Grundbesitz sammelte sich in wenigen Händen. Die Schuldenlast des Volkes nahm rasch zu.

Als es dem Könige Kleomenes IV. im Jahre 226 v. Chr. nicht gelungen war, zu den Grundsätzen der Lykurgischen Verfassung wieder zurückzukehren, wütete von da ab der Bürgerkrieg in Sparta bis zum Einzug der Römerherrschaft.

Auch die nur vorbeugende Politik Lykurgs konnte dem Entwicklungsbedürfnis der Menschheit und ihrer Kultur nicht gerecht werden. Trotz sorgfältigster Abschliessung gegen den Kapitalismus blieb in den Bündnissen des Staates und in dem Reichtum des Staates an Edelmetall Buchseite 85 eine bedenkliche Lücke für das Eindringen dieser gefährlichsten Krankheit. Und als man den krank gewordenen Volkskörper später heilen wollte, zeigten sich seine Machtmittel als zu klein für ein selbständiges gesundes Gemeinwesen inmitten einer kapitalistisch durchseuchten Welt. (Band I., S. 305—309.)

Buchseite 86 c) Die Gesetzgebung des Mohammed.

Mohammed konnte als ehemaliger Kaufmann nicht auf den Gedanken kommen, in seinen Gesetzen für den Nationalstaat der Araber die geldwirtschaftliche Entwicklung zu Gunsten der Naturalwirtschaft ausschliessen zu wollen, wie es etwa Lykurg getan hat. Die Geldwirtschaft, mit welcher der Prophet des Islam rechnete, hatte sogar schon eine hohe Entwicklung erreicht. Sie kannte unsere modernen Lieferungsgeschäfte mit „Kostgeschäften“, den Markenschutz, Kommanditgesellschaften, Gesellschaften und Genossenschaften mit beschränkter und unbeschränkter Haftpflicht u.s.w. (Siehe Band II, Seite 9—17.) Mohammed suchte als ehemaliger Kaufmann das schwierige Problem zu lösen: seinem Zukunftsstaate die grossen Vorteile der Geldwirtschaft zu erhalten und dennoch die unheilbaren Schäden des Kapitalismus auszuschliessen. Zu diesem Zwecke zwang er das Geld aus einer herrschenden in eine dienende Stellung. Das Geld „an sich“ war nach Mohammed nicht produktiv. Jede Form des Zinses für ein Gelddarlehen war deshalb verboten. Auch das Moment der Zeit konnte nach seinen Bestimmungen Zinsen selbst dann nicht rechtfertigen, wenn das Darlehensgeschäft in die Form der „Kostgeschäfte“ eingekleidet wurde. Auch „Gründergewinne“ waren als Wucher zu behandeln. Alle baren Einlagen eines Kapitalisten in ein Geschäft blieben in ihrer Wertsumme unverändert. Alle unbaren Einlagen konnten nur zu dem genau nachweisbaren Selbstkostenpreise eingesetzt und in Rechnung geführt werden. Zwischen Kauf- und Verkaufspreis gab es nach Buchseite 87 Mohammed nur unberechtigte Gewinne für den Geldgeber. Jede Forderung und jede Einnahme über die Grenze des Buchwertes hinaus war nach Mohammed Wucher. Trotzdem sollte das Geld nicht dazu verurteilt sein, im Kasten zu rosten. Wer Geld hatte und es nicht verwenden konnte, oder wollte, beteiligte sich damit an der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Anderen, der über keine oder nicht genügend Mittel verfügte. Hier boten sich die verschiedensten Gesellschaftsformen, von denen die der Kommanditgesellschaft am beliebtesten war. Die Rechte und Pflichten beider Teilhaber waren nach strenger Billigkeit geordnet. Das Geld beteiligte sich an dem Gewinn und Risiko des Unternehmens, dessen Leitung in der Hand des Unternehmers und nicht in der des Geldgebers lag. Der erzielte Gewinn wurde nach Abzug der Selbstkosten in der Regel zu gleichen Teilen geteilt. Damit aber auch die Unternehmer im freien Wettbewerbe sich keine rechtswidrigen Gewinne aneigneten, gab es Bestimmungen gegen den unlauteren Wettbewerb, ein ausdrückliches Verbot, Waren aufzukaufen und einzusperren, um die Preise zu treiben u.s.w.

Aber Mohammed blieb bei dieser rechtlichen Ordnung des wirtschaftlichen Verkehrs nicht stehen. Sein politisches Ziel, die Herrschaft seiner Getreuen über die ganze Welt auszudehnen, fasste er in dem Auftrage zusammen: „Bekämpfet die Ungläubigen, bis sie euch demütig die Steuer zahlen!“ Deshalb wurde die Moschee zum Exerzierplatz der Muslime und der Raub- und Eroberungskrieg zur wichtigsten Erwerbsart der Gläubigen. Trotz des Idealismus, der unzweifelhaft in den Gesetzen des Mohammed enthalten ist, und die in konsequenter Weise den Kapitalismus zu verhüten bemüht waren, führte die Politik Mohammeds das islamische Reich sofort auf die Bahn der rein kapitalistischen Entwicklung, die in einem Meere von Blute ihren naturgemässen Abschluss fand.

Buchseite 88 d) Die wirtschaftliche Gesetzgebung Karls des Grossen.

Eine ganze Reihe von Faktoren haben zusammen gewirkt, um das fränkische Kaiserreich unter Karl dem Grossen in seiner glänzenden Gestalt erstehen zu lassen. Zu diesen Faktoren, und zwar wahrlich nicht an letzter Stelle, gehört die Tatsache, dass Karl der Grosse jene 22 Bücher über die Kirchengemeinde Gottes („De civitate Dei“) zu seiner Lieblingslektüre erwählt hatte, welche der grosse Bischof von Hippo Regius in Nordafrika geschrieben hatte. Aurelius Augustinus hatte selbst den Zusammenbruch der antiken Welt erlebt. Was seine Zeit an Wissen und Bildung besass, war ihm eigen. Mit all dem hat er die Segnungen der christlichen Lehre verschmolzen. Wer so mit reichster Begabung am Ausgang des einen und an der Schwelle des anderen Zeitalters stand, musste zu ganz aussergewöhnlichen Leistungen berufen sein. Und diese Bücher in der Hand eines Karls des Grossen mussten zu gewaltigen Schöpfungen mithelfen.

Gewiss hat auch Karl der Grosse sein Leben lang Kriege geführt und Schlachten geschlagen. Aber seine Kriege standen nicht im Dienste der Habgier, sondern im Dienste einer besseren Rechtsordnung. Die Eroberungen Karls des Grossen waren nicht Erwerbungen einer sesshaft gewordenen Räuberbande, sondern Erwerbungen eines sittlichen Gemeinwesens, das ernstlich bemüht war, innerhalb seines Machtbereichs das Unrecht zu kränken und das Recht zu schützen. Karl der Grosse gab deshalb einBuchseite 89gehend motivierte Verordnungen gegen den Wucher und gegen die Habgier. Danach war alles das Wucher und Uebermass, was mehr empfangen als gegeben wurde. Wer 1 Scheffel Getreide gab, um später dafür 1 1⁄2 Scheffel Getreide zu empfangen, war ein Wucherer und als solcher zu bestrafen. Berechtigt waren nur solche Abmachungen, bei welchen Leistung und Gegenleistung einander ungefähr gleich waren. Jedem Vertrage mit ungleicher Leistung und Gegenleistung blieb der Rechtsschutz versagt. So waren Zinsen als Wucher verboten, Habsucht, Gier nach Reichtum und Ungerechtigkeiten als schwere Sünden zu behandeln. Dieser prinzipiellen Auffassung ordneten sich die praktischen Einzelbestimmungen unter.

Es kann gar nicht bestritten werden, dass der Geist dieser Gesetze und Verordnungen das Eindringen der die Völker vernichtenden Krankheit des Kapitalismus verhütet hat. Wesentlich deshalb ist es Karl dem Grossen so unvergleichlich geglückt, den Sachsenstamm mit den Franken durch Kolonisation zu verschmelzen. Es gehörte zu den grossen Entwicklungsbedürfnissen der nachfolgenden Zeit, dass sich der arbeitsteilige Lehensstaat ausgestaltete, mit all seinen weiteren Konsequenzen für das Völkerleben. Und solch nachkommenden Fragen ist keine nur vorbeugende Gesetzgebung auf die Dauer gewachsen. (Vergl. Band II, Seite 351—357.)

Buchseite 90 e) Die Grundsätze der Stadtwirtschaft im Mittelalter.

(Vergl. Band II, S. 351— 357.)

Während die Verfassung des Karolingerreiches sich wesentlich veränderte, und auf dem Lande vielfach neues Recht entstand, kam in den Städten im XIII. und XIV. Jahrhundert eine Wirtschaftsordnung zur Blüte, welche, wie die Gesetzgebung Karls des Grossen, mit den Lehren der christlichen Kirche in engster Verbindung stand.

Auch in dieser wirtschaftlichen Ordnung war die Habsucht und Geldgier verpönt, um die Gerechtigkeit und Billigkeit walten zu lassen. Jede Stadt mit ihrer Bannmeile versuchte im wesentlichen, sich selbst genug zu sein. Das Land erzeugte die Rohprodukte, die Stadt veredelte dieselben. Die Güterproduktion war als Arbeitsgelegenheit für eine tunlichst grosse Zahl selbständiger Arbeiter gedacht, deren Nahrungsspielraum gesichert bleiben sollte. Deshalb blieb die Zahl der Hilfsarbeiter und der Umfang der Produktion „kontingentiert“. Die Herstellung der Güter wurde im Interesse einer guten Qualität fortlaufend überwacht. Die Preise sollten die Produktionskosten plus anständigen Gewinn decken. Deshalb wurde den Preistreibereien wie den Preisdrückereien gleich energisch entgegengetreten. Verboten war auch, Heringe zu verkaufen, die noch nicht gefangen, Getreide zu verkaufen, das noch nicht geerntet war. Das Moment der Zeit begründete keinen Gewinn. Sogenannte „Kostgeschäfte“ blieben Wuchergeschäfte. Soweit es anging, waren die Buchseite 91 Produktion und der Verkehr den freien Vereinigungen der Produzenten übertragen. Nur, wo diese Kräfte nicht ausreichten, trat die Obrigkeit ergänzend hinzu. Von der Wiege bis zur Bahre geleiteten diese gesellschaftlichen Organisationen, Zünfte genannt, den Mitbruder und behandelten den Armen wie den Reichen gleich. Wer genug verdient hatte, zog sich vom Geschäft zurück und machte so einem Anderen Platz. Um die Mitte des XV. Jahrhunderts kam es zur Errichtung städtischer und privater Pfandleihanstalten, welche zur Deckung ihrer Unkosten einen billigen Zins berechneten und die Höhe des Einzeldarlehens nach der Grösse der meist gestifteten Geldmittel und der Zahl der Darlehenssucher zu bemessen pflegten. Glück und Zufriedenheit wohnten in diesem Gemeinwesen. Unter dem Schutze dieser Rechtsgrundsätze hat sich das deutsche Gewerbe zur Kunst veredelt. Die grossen Dome und stattlichen Rathäuser des Mittelalters sind von Handwerksmeistern erbaut.

Aber der zunehmende Reichtum hat die Habgier und Geldsucht der Menschen wachgerufen und den Kapitalismus zur Einführung gebracht. Mit dem damit zunehmenden Verkehr häuften sich die politischen und auch religiösen Wirren aller Art. Das wieder zur Geltung kommende Kapitalistenrecht der untergegangenen Römerwelt begünstigte mit den kulturellen Einwirkungen des islamischen Reiches das Aufkommen einer „neuen“ kapitalistischen Zeit ausserordentlich, die dann Deutschland in einen 30jährigen Bruderkrieg hineingerissen hat. Solchen Mächten gegenüber zeigte sich die nur stadtwirtschaftliche Rechtsordnung zu schwach, um fortbestehen zu können.

Buchseite 92 4. Unvollständige Heilung mit vorbeugender
Politik.

Die rücksichtslose Art und Weise, in welcher Venedig die Kreuzzugsbewegung des christlichen Abendlandes zu kolonialen Erwerbungen wie zum Abschluss günstiger Handelsverträge ausnutzte, hatten zu Anfang des XIII. Jahrhunderts für diesen Staat die Möglichkeit nahegerückt, das Monopol über den ganzen Levantehandel zu erringen. So sehr lagen damals die Interessen dieser staatlichen Gemeinschaft ausserhalb der Lagunenstadt, dass ein Doge allen Ernstes den Antrag stellen konnte, die Venetianer möchten nach Konstantinopel als der Hauptstadt ihres Reiches übersiedeln. Aber dieser Reichtum und diese Erfolge weckten auch die Feinde. Und bei dem bald beginnenden mehr als hundertjährigen Rivalitätskriege zwischen Venedig und Genua zeigte es sich nur zu deutlich, wie überaus bedenklich es für eine Verteidigungsposition ist, die Interessen des Staates über die ganze Welt verzettelt zu haben. Dicht am Abgrunde des Verderbens konnte Venedig nur mit äusserster Anstrengung seiner Kräfte noch einmal sich retten. Das hat den klugen massgebenden Politikern dieses Staates doch die Augen über das Bedenkliche ihrer politischen Lage geöffnet. Die im Levantehandel gewonnenen Privilegien und Kolonien Buchseite 93 mussten in absehbarer Zeit ihnen sicher verloren gehen. Was sollte dann aus Venedig werden? Sie mochten sich in diesem Zusammenhange erinnern, wie rasch die italienischen Handelsstaaten ohne Bauern, Amalfi und Pisa, ihren Untergang gefunden haben. Genua gab jetzt freiwillig seine Selbständigkeit auf. Die griechischen Handelsstaaten Teos und Phokaea z. B. sind in einer ähnlichen Lage mit Kind und Kegel ausgewandert, um sich in einer mehr agrarischen Gegend eine neue Heimat zu gründen. Die Venetianer schlugen einen anderen Weg ein. Sie eroberten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft vom Festlande („terra firma“) so viel als irgend möglich war. Hier behandelten sie die Bauern mit kluger Schonung, um sie möglichst bald mit Venedig zu verschmelzen. Hier schufen sie sich eine tüchtige heimische Industrie, gaben ihren Industriearbeitern gute reichliche Löhne und Alterspensionen. Eine Verstaatlichung des Getreidehandels mit berufsgenossenschaftlicher Organisation der Müller und Bäcker unter staatlicher Aufsicht sorgte für mittlere Getreide- und Brotpreise, bei denen Bürger und Bauern bestehen konnten. Und die unheimliche Polizei des heiligen Markus liess jeden Neuerer, Umstürzler und etwa für den Staat Verdächtigen unter den Bleidächern Venedigs für immer verschwinden. So haben es die klugen venetianischen Staatsmänner verstanden, bei einer Friedenspolitik „um jeden Preis“ nach aussen ihre politische Selbständigkeit bis zu den napoleonischen Kriegen über Wasser zu halten.

Man wird kaum sagen können, dass dieser Heilungsprozess im XIV. und XV. Jahrhundert ein vollständiger war, trotz des gewaltigen operativen Eingriffes, der den Schwerpunkt der weiteren Entwicklung vom Wasser und den internationalen Handelsbeziehungen mit ausgedehnten Kolonien wieder zurück in die Heimat verlegte und auf die eigene produktive Arbeit stützte. Denn die Zeit war Buchseite 94 vorbei, in welcher diese neue Heimat für ein selbständiges Staatswesen hätte gross genug werden können. Trotzdem ist es so den Venetianern in Verbindung mit einer nach aussen klug nachgiebigen, nach innen ganz rücksichtslosen vorbeugenden Politik gelungen, den Untergang ihres Staates um 3 bis 4 Jahrhunderte hinauszuschieben. (Vergl. Band II, S. 388—397).

Buchseite 95 5. Vollständige Heilung mit vorbeugender Politik.

a) Die Beseitigung des Kapitalismus aus der Kirche.

Die Wechselbeziehungen zwischen dem islamischen Weltreiche und dem christlichen Abendlande haben die Ausbreitung der Geldwirtschaft und des Kapitalismus über Amalfi, Pisa, Genua, Venedig nach Norden und Westen Europas ausserordentlich gefördert. Jene kirchliche Reformbewegung, welche man mit dem Namen Cluny zu verknüpfen gewohnt ist, hat das Ansehen der christlichen Kirche wesentlich erhöht und die Macht der christlichen Lehren auf das Gemüt ihrer Anhänger wesentlich gestärkt. Die Notwendigkeit, die einmal begonnene Kreuzzugsbewegung energisch weiterzuführen, musste auch dem lehensstaatlichen Aufgebot eine Soldzahlung gewähren. Diese Soldsummen als „Kreuzzugssteuern“ in der ganzen Christenheit zu erheben und dann über ihre Verwendung zu disponieren, das konnte naturgemäss nur Sache der Kirche, bezw. des Papstes in Rom sein. So ist im XIII. Jahrhundert der römische Papst zum geldreichsten Herrn der Christenheit geworden. Mit dem Reichtume kam die politische Macht. Fast alle Fürsten Europas bemühten sich um die Gunst des Papstes, um einen möglichst grossen Teil seiner Schätze für ihre Zwecke zu erlangen. Es kann gar nicht überraschen, dass unter solchen Verhältnissen die Idee der Universalmonarchie der Päpste sich mehr und mehr ausBuchseite 96breitete. Die naturgemässe Folge dieser Erscheinungen war aber eine rasche Zunahme dessen, was wir „politische Intriguen“ nennen. Die sich bald mehrenden Konflikte zwischen Kirche und Staaten stellten noch grössere Anforderungen an den Geldsäckel der Kirche. Das erwachende Nationalbewusstsein der Völker führte in Konfliktszeiten zu einer verschärften Kritik des Geldreichtums und der weltlichen Politik der Kirchenleitung, zum Abfall von der römischen Kirche, zu Kirchenspaltungen, zur Konfiskation der Kirchengüter durch den Staat. Die Fortführung dieser päpstlichen Politik wurde immer schwieriger, der Ruf nach Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern immer allgemeiner. Eine Reihe grosser Kirchenkonzilien beschäftigte sich mit der Lösung dieses Problemes, bis endlich das Konzil zu Trient (1545—1563) in folgerichtiger Weise alle kirchlichen Geldeinnahmen des Papstes bis auf die freiwilligen Geschenke der Gläubigen (den Peterspfennig) für alle Zeiten abschaffte. Mit dem Geldreichtume ist auch der Kapitalismus aus der Kirche verschwunden. Haupt und Glieder haben sich seitdem in echt christlicher Weise verjüngt. (Vergl. Band II, 178—215).

Buchseite 97 b) Beseitigung des Kapitalismus auf dem Fürstenthrone.

Die sogenannte „neue Zeit“, welche dem Mittelalter folgte, war durch die Einführung des „Humanismus“, durch die Rezeption des römischen Rechtes, durch Erfindungen verschiedenster Art, namentlich auch der Buchdruckerkunst, durch Entdeckung neuer Erdteile, insbesondere aber durch Ausbreitung der Geldwirtschaft und des Kapitalismus aus dem islamischen Orient eingeleitet worden. Wie viel Förderung auch im Einzelnen diese Umwandlungen durch die römische Kirche erfahren haben, im Grunde blieben all diese Neuerungen der Kirche feindlich gesinnt. Wohl aber begünstigten sie das Aufkommen eines neuen Staatsbegriffes und einer neuen Staatsgewalt, welche an Machtmitteln und an Reichtum gewinnen sollte, was durch die Reformation der Kirche an beiden verloren ging. Es vollzog sich damit eine Verschiebung in der Weise, dass der Kapitalismus, welcher aus der Kirche durch die Reformation und das Konzil von Trient beseitigt wurde, sofort vom Fürstenthrone Besitz nahm. Die neue Zeit charakterisiert sich deshalb allgemeiner als die Epoche des Kapitalismus auf dem Fürstenthrone.

Der absolute Fürst war ein Kapitalist, welcher über sein Land und seine Leute mit ihrem Vermögen das volle Recht des Gebrauchs und des Missbrauchs besass. Um diese Herrschaft auszuüben, hielt er sich Söldner und Beamte aller Art, welche bei regelmässiger und pünktlicher Bezahlung mit ihrem Herrn durch dick und dünn gingen. Buchseite 98 Die Reformation hat diesen Fürsten sogar das Recht zugesprochen, selbst über den Glauben ihrer Untertanen nach Laune zu verfügen. Die Seele und das Endziel aller Politik war die tunlichste Vermehrung des fürstlichen Geldreichtums, die sowohl als Vermehrung in bar, wie als Vermehrung des Einkommens und der Steuerquellen verschiedenster Art in Betracht kam.

Wo diese Machtfülle in der Hand eines klugen weitblickenden, pflichterfüllten Fürsten lag, wie Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. von Preussen, Königin Elisabeth von England, Heinrich IV. von Frankreich, da erwies sie sich als die beste Verfassungsform, um die mittelalterlichen stadtwirtschaftlichen Kreise zu einer volkswirtschaftlichen Einheit zu verschmelzen, die nur zu häufig einer Verteidigung wie auch einer erobernden Abrundung bedurfte, um die Wohlhabenheit des Volkes sowie dessen Erziehung und Bildung so weit zu fördern, dass das Volk selbst ein mitbestimmender Faktor in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung werden konnte. Wo dagegen herrschsüchtige, verschwenderische, unkluge Regenten das Szepter führten, wie Ludwig XIV., XV. und XVI. von Frankreich, Philipp II. und III. von Spanien, Karl I. und II. von England, da führte die falsche Anwendung dieser Machtbefugnisse zu den schwersten Schädigungen des Volkes und selbst zur völligen Verarmung und Verelendung des Landes.

Die Möglichkeit und häufigere Wiederkehr solch furchtbarer Schädigungen durch den Kapitalismus auf dem Fürstenthrone hat die kleineren Staaten zu grösseren Gemeinwesen zusammengeführt und in den grösseren Staaten zumeist auf dem Wege der politischen Revolution durch das sogenannte „Verfassungsgesetz“ den Kapitalismus vom Fürstenthrone für alle Zeiten beseitigt. Das Wesen dieser Verfassungsgesetze besteht deshalb darin, die Grenze Buchseite 99 zwischen dem Privateigentume des Fürsten und dem Staatseigentum streng zu ziehen, in der Zivilliste den Geldlohn des Fürsten genau zu bestimmen und die Rechtswirksamkeit aller Handlungen und Unterlassungen des Königs an die Mitwirkung eines, der Volksvertretung verantwortlichen Beamten zu knüpfen. Wo der fürstliche Absolutismus seine so grossen entwickelungsgeschichtlichen Aufgaben erfüllte, um dann erst eine Staatsverfassung zu gewähren, war dieselbe geeignet, die Entwicklung des Ganzen auf guten Bahnen weiterzuführen. Wo aber böse Misswirtschaft des Absolutismus dem Fürsten auf dem Wege der politischen Revolution die parlamentarische Verfassung entwunden hat, bevor das Volk und seine Verhältnisse reif dazu waren, scheinen die Länder für das eine Uebel nur ein anderes eingetauscht zu haben. (Vergl. Band II, Seite 215—367.)

Buchseite 100 6. Zusammenfassung.

Die blos symptomatische Behandlung des Kapitalismus kann zweierlei Art sein: man kann in den Symptomen die positiven Fingerzeige für die rechte Politik erblicken, wie das perikleische Zeitalter, ohne den tiefgehenden Unterschied zwischen gesunden und kranken Erscheinungen zu ahnen, oder man kann in den Symptomen zwar krankhafte Erscheinungen erblicken, aber, ohne die tieferliegende Krankheitsursache aufzusuchen, sich damit begnügen, die äusseren Erscheinungen als selbständige Krankheiten zu betrachten und zu behandeln, wie es der republikanische Senat in Rom getan hat. Die erstere politische Methode kann den Untergang des Staates nur beschleunigen, die letztere nur wenig aufhalten.

Die unvollständigen praktischen Heilungsversuche ohne Prophylaxis haben nur den Erfolg des Tages und der unmittelbaren Gegenwart im Auge, ohne sich dabei um die Wiederkehr ähnlicher Verhältnisse in der Zukunft oder um den konsequenten Abschluss der Reform auch für Gebiete, auf denen zunächst keine Missstände empfunden werden, viel zu kümmern. So ist die Reform des Nehemia mit seiner Person wieder in Vergessenheit geraten. So hat die Makkabäer-Reform nur gedauert bis zur nächsten Einmischung des Auslandes. So hatte Solon sich zu wenig gekümmert um die Entstehung neuer Schulden und Abhängigkeitsverhältnisse. So schenkte Kleomenes IV, zu Beginn seiner Reform der Buchseite 101 Frage zu wenig Beachtung, ob er die Macht besitzen werde, den Kapitalismus auf einem, für ein selbständiges Volksleben genügend grossen Gebiete konsequent zu beseitigen. Die römischen Bauern hatten vergessen, den eigenen Egoismus auf dem Gebiete der Dispositionsfreiheit über ihre eigenen Grundstücke zu beschränken. Die Gracchen scheiterten, weil sie den herrschend gewordenen Kapitalismus nur auf dem einen Teil der kapitalistischen Latifundien beseitigen wollten, statt die Beseitigung des Kapitalismus im ganzen Volksleben in Angriff zu nehmen. Und selbst Cäsar und Augustus haben einen zunächst ganz unscheinbaren Rest des Kapitalismus: eine grössere Zahl von Almosenempfängern neben ihrer persönlichen Alleinherrschaft beibehalten, an dem das Ganze zugrunde gehen sollte.

Die Fälle der nur vorbeugenden Politik zeigen sich mit Ausnahme der Politik des Mohammed, zwar konsequent zu Ende gedacht, aber nicht immer mit geeigneten Machtmitteln zur guten Ausführung ausgestattet und neuen Entwicklungsbedürfnissen nicht genügend gewachsen.

Der einzige sehr interessante Fall einer unvollständigen praktischen Heilung mit vorbeugender Politik, den Venedig seit dem XIV. Jahrhundert bietet, bestätigt die theoretische Vermutung, die Auflösung des Staates nicht unbeträchtlich hinausschieben zu können.

Dauernd günstige Resultate sind nur dort zu verzeichnen, wo eine rechtzeitige — nicht verfrühte und nicht verspätete — vollständige Heilung auf einem genügend grossen Gebiete mit ausreichenden Garantien für die Durchführung sich mit der vorbeugenden Politik verbindet, wie das bei der Beseitigung des Kapitalismus aus der Kirche und vielfach bei der Beseitigung des Kapitalismus vom Fürstenthrone der Fall war.



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