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Inhalt Band 1
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Buchseite 249 B.

Entwickelungsgeschichte der Griechen.

(Dr. Karl Hoffmeister-Wien.)


Vorbemerkung und Litteratur. Von der einschlägigen Litteratur wurden benutzt: G. Adler, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart, 1899. Julius Beloch, Griechische Geschichte, 1. und 2. Band 1893 und 1897. Derselbe, Die Bevölkerung der griechischen und römischen Welt, 1886. Boeckh, Staatshaushalt der Athener, 2. Auflage 1851. Büchsenschütz, Besitz und Erwerb im griechischen Altertume, 1869. Derselbe, Die Hauptstätten des Gewerbfleisses im klassischen Altertume, 1869. Blümner, Die gewerbliche Thätigkeit der Völker des klassischen Altertums, 1869. E. Cicotti, Il Tremento della Schiavitu, 1899. Conrads Handwörterbuch der Staatswissenschaften 2. Auflage 1898 bis 1901, die verschiedenen einschlägigen Artikel. Ernst Curtius, Griechische Geschichte, 6. Auflage 3 Bände. W. Drumann, Die Arbeiter und Kommunisten in Griechenland und Rom, 1860. Max Dunker, Geschichte des Altertums, Band 5 bis 9 1881/86. Eleutheropulos, Die Philosophie und die Lebensauffassung des Griechentums, 2. Auflage 1900. Guhl und Koner, Leben der Griechen und Römer, 6. Auflage 1893. Adolf Holm, Griechische Geschichte bis zum Untergange der Selbständigkeit des griechischen Volkes, 4 Bände 1885/94. Derselbe, Die Griechen, in der 4. Auflage von Hellwald’s Kulturgeschichte 1896. Helmolt’s Weltgeschichte, 4. Band: Die Randländer des Mittelmeeres, 1900. G. F. Hertzberg, Geschichte Griechenlands unter der Herrschaft der Römer, 3 Bände Buchseite 250 1866 bis 1875. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, 2 Bände 1893. Derselbe, Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, 1895. Arthur Milchhöfer, Aus dem Reiche des Minos, in „Deutsche Rundschau“ Juni 1902. R. Poehlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus, 2 Bände 1893 und 1901. Derselbe, Grundriss der griechischen Geschichte in Müller’s Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, 2. Auflage 1892. Wilamowitz - Möllendorff, Aristoteles und Athen, 2 Bände 1893. C. Wachsmuth, Ein antiker Seeplatz (Athen), in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik N. F. 13 pag. 83 ff.

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Die Schicksalslose, welche den griechischen Völkern in die Wiege gelegt waren, bildeten sich aus den Wechselbeziehungen der Oberflächengestaltung ihres Landes und jenen Anregungen, welche die Griechen aus den Zuständen und Verhältnissen der höher entwickelten Völker in Kleinasien und Aegypten geschöpft haben. Das Land der alten Griechen beschränkt sich auf den südlichen Vorsprung der Balkanhalbinsel zwischen dem ägäischen und ionischen Meere, welcher etwa durch den 40. Breitengrad nach Norden abgegrenzt wird. Dieses Gebiet umfasst etwa 70 bis 75'000 Quadratkilometer, ist also annähernd so gross, wie das Königreich Bayern, circa doppelt so gross, wie die Schweiz oder Schlesien, mithin — ohne die zugehörenden Inseln — etwa siebzig Mal grösser, als jenes Gebiet, auf dem die Geschichte des Römerreiches begonnen hat. Aber dieses Griechenland ist ein Gebirgsland, das in schroffer Erhebung aus der Flut des Mittelmeeres aufsteigt; sein höchster Gipfel erreicht fast 3000 Meter, zahlreiche andere Spitzen ragen bis weit über 2000 Meter empor. Zwischen den Bergketten bleibt meist nur Raum für enge Thäler oder schmales Flachland an den Mündungen der Flüsse. Die einzige grössere Ebene auf der ganzen Halbinsel ist Buchseite 251 das Becken des thessalischen Peneios. Dafür durchdringen sich Meer und Land hier wie kaum irgendwo sonst. Es giebt, von der Landschaft am Pindos abgesehen, keinen Punkt, der mehr als 60 Kilometer von der Küste entfernt wäre. Von jeder bedeutenden Berghöhe öffnet sich der Blick auf die weite See. So bietet das Land dem Ackerbau einen wenig günstigen Boden, der nur bei harter Arbeit seine Bewohner zu ernähren vermochte (Beloch). Hier musste die Geschichte das ursprünglich zusammengehörige Volk notwendigerweise in viele kleine Gauverbände auflösen, deren Landgebiet nur in seltenen Fällen 2 bis 300 Quadratkilometer überstieg. Die Ausbildung des Partikularismus fand hier den günstigsten Nährboden.

Zu der rauhen Gliederung der Küste mit ihren vielen natürlichen Häfen kommen namentlich gegen Osten zahllose Inseln, die überall im Angesicht des Festlandes aus der Flut emporsteigen und als eine Kette von Landungsplätzen bis zu den Gestaden Kleinasiens hinüberreichen. Der Schiffer verliert hier niemals das Land aus dem Gesicht. Rechnen wir die Regelmässigkeit der Windströmungen noch hinzu, so waren damit gewiss die Griechen unverkennbar auf das Meer und zwar vor allem in der Richtung nach Kleinasien gewiesen.

In dieses Land sind die griechischen Völker von Norden her eingewandert. Sie waren schon damals Ackerbauer, die auf ihren Wanderungen einen grossen Herdenbesitz mit sich führten. Unter Königen mit Vorkämpfern, aus denen der Adel hervorgegangen, waren sie in Geschlechtsverbände (Phratrien) eingeteilt. Eine gewisse Zahl von Geschlechtern bilden durch ihre Zusammengehörigkeit Stämme, Phylen genannt. Wer als Einzelner ausserhalb solcher Verbände stand, war rechtlos, und Homer vermochte sich ihn nur als ein verkommenes Subjekt vorzustellen. Die Frau war Herrin im Hause. Das Land, das Buchseite 252 gemeinsam erobert wurde, wurde auch gemeinsam besessen. Es gab kein Privateigentum an Grund und Boden, keine Testirfreiheit über Grundstücke. Grundbesitz war ursprünglich unveräusserlich und unverpfändbar. Sie hatten nur wenig Sklaven im Hause, die zur Familie gerechnet wurden. Die Völker, welche sie bei ihrer Einwanderung vorfanden und besiegten, wurden vielfach in gewissen Formen der Unfreiheit an den Boden gebunden und zu bestimmten Leistungen verpflichtet. Die Handarbeit war nicht verachtet. Auch Könige und Königssöhne hielten es mit ihrer Würde vereinbar, die Herden zu weiden, den Pflug zu führen, Tischler- und Zimmerarbeiten zu verrichten. Und selbst unter den griechischen Göttern war einer, dem die russige Esse nicht zu schlecht dünkte: Hephaistos. Dabei war das Volk der Griechen unternehmungslustig, wagemutig, es hatte einen ausgesprochenen ästhetischen Sinn, Freude an fröhlichen Festgelagen mit Massenkonsum und war klug und erfinderisch.

Dieses Volk trifft an der Küste des asiatisch-afrikanischen Festlandes mit den Phöniziern, Syriern, Babyloniern und Aegyptern zusammen. Es lernt von ihnen die Schrift, Mass und Gewicht, das Geld, aber auch Handel und Industrie, die Sucht nach Gold und Reichtum, die Sklaverei als günstige Kapitalsanlage mit all jener Verschmitztheit, Verschlagenheit und Unmoral kennen, welche den Orientalen schon damals eigen war. Die Griechen haben sich diese Lehren so vollständig angeeignet, dass Hermes, ihr Gott für Handel und Verkehr, der die Sprache und die Buchstabenschrift gegeben hatte, gleichzeitig auch der Gott der Spitzbuben war. Von Odysseus mütterlichem Grossvater Autolykos rühmt das Epos, dass er ausgezeichnet war vor allen Menschen in Diebstahl und Meineid. Meineide waren bald so gebräuchlich geworden, dass Pythagoras auf Samos den Eid überhaupt verbieten wollte. Für Geld Buchseite 253 war alles feil. Den Ehebruch kannte man nicht. Nebenweiber und Prostitution verbreiteten sich, die Knabenliebe der Männer war so allgemein, dass jenes Werk, welches der megarische Dichter Theognis an den von ihm geliebten Knaben richtete, wie kein zweites in der griechischen Welt populär geworden ist. Der Inhalt des Begriffs „Gerechtigkeit“ ist dem griechischen Volke dunkel geblieben. Das griechische Recht kam so wenig zur Durchbildung, dass schon die alten Römer zu ihm mit Verachtung herabgeschaut haben.

Zu all dem kommt hinzu, dass die Griechen dem orientalischen Absolutismus die Idee entnommen haben, dass der Einzelne dem Staate „schlechthin“ Untertan sei. Für jene Interessenkreise, welche sich der Staatsgewalt bemächtigten, war dann dieselbe ein ausgezeichnetes Instrument zum Dienste ihrer privaten Erwerbssucht. Weil hierbei das Königtum dem bald kapitalistisch gewordenen Adel im Wege stand, wurde das Königtum beseitigt. Man kümmerte sich zu Anfang wenig um die Kehrseite dieser Medaille, auf welcher bei der jetzt notwendigen Entwickelung zur demokratischen Verfassung der selbstverständliche Anspruch an den allmächtigen Staat erhoben wird, für den Lebensunterhalt seiner verarmten Bürger zu sorgen — ein Problem, an dessen Unerfüllbarkeit auch die griechische Kulturwelt sich verblutete.

Diese höchst bedenkliche Kehrseite der Medaille tritt zunächst weniger hervor, weil in den ersten griechischen Entwickelungsperioden der Wanderung und Kolonisation die Erwerbssucht des Kapitalismus mit der Versorgung der Bürgermassen zusammenfällt, und die Geschäftspläne des mobilen Besitzes sich anscheinend mit einer weiteren Ausdehnung der agrarischen Basis der Volkswirtschaft vereinigen. Aber der von den Handels- und Industriestaaten unzertrennliche Konkurrenzneid musste mit dem Augenblicke Buchseite 254 zu ernsten kriegerischen Konflikten führen, in welchem die zur Kolonisation geeigneten Ländergebiete des Mittelmeeres in Besitz genommen waren. Nun begann in echt kapitalistischer Weise ein griechischer Handels- und Industriestaat den anderen zu vernichten. Sieger blieb in dieser vielhundertjährigen gegenseitigen Vernichtungskonkurrenz immer derjenige Staat, welcher noch den kräftigeren Bauernstand und die besser geordnete Getreideversorgung seines Volkes besass. Die Reihenfolge aber, in welcher die griechischen Staaten zu Grabe gesunken sind, richtete sich nach dem Zeitpunkt der Invasion des Kapitalismus und also nach dem Grade der kapitalistischen Entartung. Jene griechischen Staaten, welche sich an der kleinasiatischen Küste gebildet und hier von den Orientalen die Handels- und Industriewirtschaft aus erster Hand gelernt hatten, mussten zuerst die Vorherrschaft auf dem Meere abgeben und zwar an die Inselstaaten, die dann in die Abhängigkeit von kontinental gelegenen Staaten kamen, unter denen wieder der Cyklus der Herrschaftsführung mit dem am spätesten kapitalistisch gewordenen Makedonien endete.

Was aber diesen Zusammenbruch der Handelsherrschaft auf dem Meere immer in so furchtbarer Weise auf die volkswirtschaftlichen Verhältnisse des Landes zurückwirken liess, das war der jetzt sofort beginnende Prozess „der Expropriation der Expropriateure“. Die Masse der verarmten Bürger, die bis dahin für die Interessen des internationalen Handels und der Exportindustrie gekämpft und geblutet hatte und für diese Dienstleistungen als Mitregent im Staate selbstverständlich eine bestimmte Vergütung aus dem Staatssäckel erhielt, begann jetzt in den Notstandszeiten, als die Staatskasse rasch leer geschöpft war, mit Hülfe des allmächtigen Staates ganz logisch den zusammengeraubten Privatreichtum der KapiBuchseite 255talisten unter sich aufzuteilen. Dafür rächten sich gelegentlich die Reichen mit Hülfe von Bündnissen mit den Feinden des Vaterlandes blutig an der Volksmasse. Der Herrschaft des Kapitalismus war naturgemäss die kapitalistische Entartungsform des Sozialismus und Kommunismus gefolgt, was die traditionelle Geschichtsschreibung in nur oberflächlicher Weise als den Verfassungsstreit zwischen Demokratie und Oligarchie bezeichnet.

Das vaterlandslose Geldkapital aber ist in all diesen Wandlungen immer dem Sieger und damit dem Getreide nachgewandert, bis es an den Kornkammern von Aegypten und Kleinasien, in Alexandrien und Antiochia am Orontes besser gesicherte Siedlungen gefunden hatte, die auch durch die Vorherrschaft Roms nicht ins Wanken kamen und unter dem römischen Kaiser Augustus eine Einwohnerzahl von 500'000 und 600'000 erreichten. Das ist in grossen Zügen die Entwickelungsgeschichte der Griechen, wie sie aus den gegebenen Entwickelungselementen sich logisch verstehen lässt. Es wird die Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen sein, diese Konstruktion durch die Aufeinanderfolge der thatsächlichen Ereignisse zu erläutern und zu bestätigen.

Schon im dritten Jahrtausend vor Christi scheinen griechische Stämme in die Balkanhalbinsel eingewandert zu sein, die als sogenannte „mykenische Kultur“ ihre Blütezeit etwa um 1500 vor Christi erreichten. Durch Ausgrabungen wurden imposante Zeugen dieser Epoche gefunden, die sich nicht blos über die fünf an der Ostküste Griechenlands gelegenen Buchten von Amyklä bis zum pagasäischen Meerbusen, sondern auch über Kreta, Rhodos, Cypern, Kleinasien, Aegypten und Sizilien ausbreitete. Die Fundstücke lassen eine üppige Kultur erkennen, welche über grosse abhängige Volksmassen, sehr ausgedehnten Güterbesitz, Reichtum an Edelmetallen, umfassende Handelsbeziehungen und gute technische Leistungen verfügt haben muss. Die glanzvollste Entwickelung der Bronzezeit tritt uns hier entgegen. Die Erinnerungen an den trojanischen Krieg und an den mächtigen König Minos, der von seinem Herrschersitze Knossos aus gebot und als „Redegenosse des grossen Zeus“, wie ihn das Epos nennt, vorbildlicher Gesetzgeber und Richter wurde — sie gewinnen durch diese Ausgrabungen festere Gestalt. All diese Kulturgebilde sind unter den Stürmen jener grossen Völkerwanderung des ausgehenden XII. Jahrhunderts vor Christi, die als die „Dorische Wanderung“ bezeichnet wird, in den Staub gesunken.

Die historische Ueberlieferung berichtet von drei griechischen Volksstämmen: den Aeolern, Ioniern und Doriern. Was nicht ionischen oder dorischen Stammes war, fasste man unter dem Sammelnamen Aeoler zusammen. Im engeren Sinne wurde die Bezeichnung Aiolis auf die Kolonien der Nordwestküste Kleinasiens Buchseite 257 mit den vorgelagerten Inseln Tenedos und Lesbos angewandt, Kolonien, welche die Länder am pagasäischen und malischen Meerbusen als ihre Urheimat bezeichneten, weshalb zu den Aeolern speziell auch Thessalien, Böotien, Arkadien und Kypros gerechnet werden. Sie alle gehören zu den älteren Ansiedlungen im Lande.

An diese äolische Gruppe lehnt sich die Bevölkerung von Attika und Euböa an, die sich wohl erst allmählich von Böotien losgelöst hat, dann das gegenüberliegende grössere mittlere Stück der asiatischen Küste mit den dazwischen gelegenen Inseln wie Andros, Tenos, Naxos, Ikaros, Samos, Chios u. a. besiedelte und sich als „Ionier“ bezeichnete und dann mit den Böotern sich nicht mehr verwandt fühlte. Schon aus verschiedenen griechischen Volksteilen zusammengesetzt, haben die Ionier auch kleinasiatisches Blut in sich aufgenommen. Sie waren so besonders dazu vorbereitet, asiatische Kultur aufzunehmen und nach griechischem Geschmacke zu verarbeiten und auszubilden.

Die sogenannten Dorier, welche durch ihre Einwanderung nach Griechenland im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. den Anstoss zur Neugruppierung von Völkerschaften bei Beginn der historischen Zeit gegeben haben, waren ein Teil der nordwestgriechischen Gruppe. Auf ihrer Wanderung setzten sie über die engste Strecke des Meerbusens von Korinth, und besiedeln die nördlichste Landschaft des Peleponnesos. Ihr Vordringen bricht sich an den arkadischen Bergen. Sie teilen sich nach Westen, wo Elis besetzt wird, nach Osten, wo die Bewohner von Argolis mit ihrer sich schon zersetzenden Kultur erobert und unterjocht werden. Dann flutete die dorische Welle über Kreta, Melos, Pera, Rhodos, Kos nach den kleinasiatischen Küsten, wo sie südlich von den Ioniern einen wesentlich schmäleren Teil desselben besetzen.

Buchseite 258 Damit war jedoch die Bevölkerungsbewegung in Griechenland noch nicht zur Ruhe gekommen. Die unregelmässigen Züge, welche der dorischen Wanderung zunächst nach Osten und Westen folgten, wurden im 8. Jahrhundert v. Chr. als planmässige Kolonisation organisiert, an deren Spitze Chalkis und Eretria, Megara und Korinth, Rhodos und Lesbos und vor allem auch Milet gestanden haben. An diesen Plätzen sammelten sich auch die Auswanderer aus den umliegenden Gegenden. Hier erhielten sie Führer, Schiffe und die ersten Beihülfen zur Gründung der Kolonie, wofür dann die Mutterstadt dort die sicherste Stütze ihres Handels und den besten Markt für ihre Erzeugnisse fand. Die koloniale Erschliessung neuer Länder war zu einem geschäftlichen Unternehmen der griechischen Handelsstaaten geworden. Man suchte vor allem fruchtbare Landstriche auf. Die Verteilung der Aecker war das erste Geschäft der neuen Ansiedler. Noch zu Anfang des fünften Jahrhunderts bezeichnen sich die Altbürger von Syrakus als „Gutsbesitzer“. Dass im Laufe der Zeit viele dieser ursprünglichen Ackerbaukolonien wichtige Handelsplätze geworden sind, kann die Absichten der ersten Ansiedler nicht ändern. Das Ziel der Kolonisten aber war naturgemäss im Westen zunächst nach Italien, im Osten gegen das Marmara- und Schwarze Meer gerichtet.

Italien und Sizilien hatten einen ausgezeichneten Boden mit verschwenderischer Fruchtbarkeit und prächtige Wälder mit vortrefflichem Material für den Schiffsbau. Der Weg über die schmale Meerenge von Otranto war leicht gefunden. Und so ist denn im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. die Ostküste des heutigen Kalabrien in Besitz genommen worden. Der Golf von Taranto war bald mit einem Kranz blühender Kolonien besetzt: im Norden Metapontion, das die Kornähre im Wappen führte, dann Syris, Buchseite 259 Sybaris, Kroton bis tief im Süden Kaulonia, die letzte der achäischen Pflanzstädte. Bald drangen die Achäer auch ins Binnenland vor und durch die schmale Halbinsel hinüber an die Küste des tyrrhenischen Meeres. Hier gründete Sybaris die Kolonien Skitros und Laos und weiter nördlich Poseidonia. Kroton gründete im oberen Thale des Krathis Pandosia und auf dem Isthmus von Kantanzaro, Terina und Skylletion. Die Achäer beherrschten jetzt hier ein Gebiet von etwa 15'000 Quadratkilometer.

Den Kolonisten aus Achaia folgten bald Kolonisten aus Lokris, welche unweit der heutigen Strasse von Messina ein neues Lokroi gründeten, das bald die Tochterkolonien Hipponion und Medma an der Westküste der Halbinsel anlegte.

Inzwischen hatten auch die Bewohner von Chalkis begonnen, ihre Blicke nach dem Westen zu richten. Sie segelten wahrscheinlich noch im 8. Jahrhundert nach Sizilien und gründeten Naxos, Katana, Leontinoi, Kalipolis, Euböa, Zankle und gegenüber auf dem Festlande Rhegion. Bald wagte man sich auf der italienischen Halbinsel weiter nach Norden und gründete Kyme und dann später, etwa 600 v. Chr., die „Neustadt“ Neapolis.

Das von Chalkis gegebene Beispiel fand noch im 8. Jahrhundert Nachahmung durch die Korinther, welche die reiche Insel Korkyra (heute Korfu) besetzten und sich dann gleichfalls nach Sizilien wandten, um hier vor allem das nachmals so mächtige Syrakus mit Akrae, Kasmenae und Kamarina ins Leben zu rufen. Im übrigen blieb die Kolonisationsthätigkeit Korinths hauptsächlich dem Nordwesten der griechischen Halbinsel zugewendet. Hier entstanden Chalkis und Molykreia am Eingang in den korinthischen MeerBuchseite 260busen, Sollion, Maktorion, Leukas, Ambrakia, Apollonia und Epidamnos an der Einfahrt in das adriatische Meer.

Sogar die asiatischen Griechen beteiligten sich an dieser Kolonisation im Westen. So gründete Rhodos im Verein mit den Kretern zu Anfang des 7. Jahrhunderts Gela an der Südküste Siziliens. Um das Jahr 600 soll ein Schiffer aus Samos an das reiche Silberland Südspanien verschlagen worden sein. Um die gleiche Zeit gründete der kleinasiatische Handelsstaat Phokäa die wichtige Kolonie Massalia (Marseille), die bald ihren Einfluss bis tief in das Keltenland ausdehnte und viele Tochterkolonien an der benachbarten Meeresküste anlegte. Für dieses Kolonialgebiet westlich des ionischen Meeres kam im 6. Jahrhundert die Bezeichnung „Grosshellas“ auf.

Etwa gleichzeitig mit den Anfängen dieser Bewegung im Westen hatte die Ausbreitung der Hellenen nach dem Norden, Osten und Südosten begonnen. In erster Reihe standen auch hier die Chalkidier. Unter ihrer Leitung wuchsen eine Reihe von Pflanzstädten auf jener nördlich von Euböa gelegenen Halbinsel, welche den Namen Chalkydike erhielt. Auch hier folgten ihnen die Korinther und gründeten auf dem schmalen Isthmus der Halbinsel Pallene die Kolonie Potidaea. Die Lesbier besetzten mit der Kolonie Sestos das europäische Ufer des Hellespont. Milet gründete diesem Sestos gegenüber Abydos, dann Kyzikos, Parion, Priapos, Kios an der Südküste der Propontis, Limnae und Kardia am thrakischen Chersonnes. Dann drangen die Milesier in das schwarze Meer vor und gründeten hier an der Küste der wichtigsten Kornkammer Griechenlands Kolonien in solcher Zahl, dass der Gesamtbesitz von Milet an den hellespontischen und pontischen Buchseite 261 Küsten auf 90 Pflanzstädte angegeben wird. Den Milesiern folgten die Megarer. Sogar in Aegypten gelang den Milesier mit anderen griechischen Staaten eine Handelsniederlassung in Naukratis, welche im 6. Jahrhundert im Kleinen dieselbe Rolle spielte, wie später Alexandrien. Und weil der Seeweg von Griechenland nach Aegypten in der Regel über Kreta führte, siedelten sich Griechen gegen Ende des 7. Jahrhunderts an den Gestaden Lybiens an, wo die nachmals blühende Stadt Kyrene begründet wurde.

So waren im Laufe des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. durch Kolonien der griechischen Handelsstaaten das ionische Meer, die Propontis und der Pontos zu griechischen Seen geworden, in Aegypten wie in Lybien, an der Westküste Italiens und im Keltenlande bis nach dem fernen Iberien hin waren griechische Niederlassungen entstanden. Griechischer Einfluss war fortan massgebend im ganzen Umkreise des Mittelmeeres. Die Rückwirkung auf alle Gebiete des griechischen Lebens konnte nicht ausbleiben (Beloch).

Nachdem der Besitz der neuen Heimat gesichert war, ruhte auch bei den griechischen Völkern die volkswirtschaftliche Organisation ausschliesslich auf der Basis von Grund und Boden. Die öffentliche Gewalt lag in den Händen des Königs, des Adels und der Volksversammlung. An Gewerbetreibenden (Demiurgen) gab es bereits Metallarbeiter, Thonarbeiter, Steinarbeiter, Zimmerleute, denen auch die Aerzte und Ausrufer zugerechnet wurden, für welche die Sprache der Griechen zum Ausdruck brachte, dass sie nicht für sich selbst, sondern für Angehörige der Gemeinde arbeiteten. Ihre Entlohnung erfolgte zumeist in Naturalien. Schiffseigentümer und Händler, welche nur „für Ladung sorgten und nach den Waren und raschem Gewinn schauten“, wurden ursprünglich nicht als ebenbürtig angesehen. Gerade auf diesem Punkte trat bald eine Aenderung ein.

Der Adel begann die Macht des Geldes schätzen zu lernen. Der Seehandel, welcher mit der vorstehend geschilderten Kolonisationsbewegung seit dem 8. Jahrhundert einen immer mächtigeren Aufschwung genommen, bot hierzu reichliche Gelegenheit. Namentlich die phönizischen Händler kamen und offerierten die Industrieprodukte des Orients gegen Getreide und andere landwirtschaftliche Produkte. An Unterweisungen, wie die Grossgrundbesitzer durch Lug, Trug und Gewaltthat dabei leicht reich werden könnten, wird es auch nicht gefehlt haben. Sie fielen auf einen dankbaren Boden. Hinderlich schien dabei nur die Rechtsprechung des Königs, der jetzt überdies nach Abschluss der grossen Wanderungsbewegung als Heerführer weit weniger nötig war. Entartungen der königlichen Familien trugen das Uebrige dazu bei, so dass es im Laufe des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. in fast allen griechischen Buchseite 263 Staaten, die sich der allgemeinen Verkehrsbewegung angeschlossen hatten, zu einer Beseitigung der Königsherrschaft gekommen ist. In den ackerbautreibenden Landschaften des Peloponnes hat sich das Königtum bis ins 7. und 6. Jahrhundert gehalten. In dem überwiegend ländlichen Argos ist die Königswürde erst mit den Perserkriegen gefallen. In Sparta kam es im 8. Jahrhundert zum Kompromiss des Doppelkönigtums, das bis ins 3. Jahrhundert in Amt und Würden blieb. In der abgelegenen und lange dem allgemeinen Verkehr nicht erschlossenen griechischen Welt hat sich das alte legitime Königtum bis in die späten Zeiten erhalten, so namentlich auch in Makedonien.

Bald begannen in der griechischen Welt Industriestaaten sich zu bilden, welche ihre Ueberschüsse an gewerblichen Produkten bei den Agrarstaaten gegen landwirtschaftliche Produkte umtauschten. Milet, Kios und Samos exportierten Wollstoffe, Purpurgewänder und Teppiche; Korinth und Chalkis brachten Metallwaren, Waffen, Thonwaren und Schmuckgegenstände auf den Markt. Aus Kyrene, Theben und Sizilien kamen die besten Wagen; Aegina lieferte Klein- und Galanteriewaren. Dafür bezog man ausser Getreide, Oel und Silber aus Attika, Wein aus Naxos, Lesbos, Thasos, Purpur aus Kythera, Kupfer aus Euböa und Kypern, Eisen aus Lakonien, Thunfisch aus Byzanz u. s. w. Bei einem so ausgedehnten Marktverkehr waren natürlich Münz- und Masssysteme unentbehrlich; man hatte beide deshalb seit Anfang des 7. Jahrhunderts in Griechenland eingeführt.

Mit dem Eintritt des Geldes in die griechische Volkswirtschaft beginnen sofort jene charakteristischen Missstände sich einzufinden, welche wir heute mit dem Worte „Kapitalismus“ bezeichnen. Mit dem Gelde war Buchseite 264 auch die Geldgier und der Wucher ins Land gekommen. Alles, selbst der Grundbesitz wurde jetzt verkäuflich. Es ist die Zeit, in der in Griechenland das Sprichwort aufkommt; „Geld macht den Mann!“ Auch was von dem Ertrage der Getreidefelder irgend entbehrlich schien, wurde für wenige Drachmen verkauft, nur um in den Besitz von Geld zu kommen. Und wenn dann im folgenden Jahre bei der unbeständigen Witterung in Griechenland eine Missernte kam, fehlte den Bauern das Getreide zur Ernährung ihrer Familien sowohl wie für Saatzwecke. Die Adligen, die einst Vorkämpfer bei der Eroberung des Landes, dann Führer im Seeraub und nachher Leiter der Kolonisation im Osten und Westen waren, sind jetzt Rheder und Händler geworden und haben den Getreideaufkauf im Lande zum Zwecke des Getreideexportes organisiert. Es lag deshalb nahe, sich an sie zu wenden, um Getreide zurückzukaufen. Die Bitte wurde gewährt, aber nicht als Natural-, sondern als Gelddarlehn zu Zinssätzen von 36% und höher. Und zur Sicherung der daraus sich ableitenden Forderungen musste zunächst der ganze bäuerliche Besitz verpfändet werden, dann wurden der Bauer und seine Familie in Person haftbar gemacht und endlich auch noch Bürgen verlangt, welche ebenfalls mit ihrer Person und ihrem ganzen Vermögen hafteten. Die eingegangenen Verpflichtungen konnten nur zu häufig nicht erfüllt werden. Und dann war der Adel Gläubiger, Richter und Exekutor in einer Person bei ungeschriebenem Recht und keinerlei Appellation. Ein Teil der zu Schuldsklaven gewordenen Bürger flüchtete nach dem Auslande, um sich als Söldner anwerben zu lassen, ein anderer Teil wurde vom Gläubiger in die Fremde als Sklave verkauft. Der Rest fand in der eigenen Wirtschaft der Grossgrundbesitzer als unfreier Arbeiter Verwendung. Der Bauerndichter dieser Epoche Hesiod nennt deshalb seine Buchseite 265 Zeit die „eiserne“, der gegenüber er wünscht, dass er entweder früher oder später geboren wäre. Tag und Nacht nichts als Mühe und Elend, der rechtschaffene Mann, der sich redlich durch seine Arbeit ernährt, gilt nichts mehr, Gewaltthat und Uebermut herrschen und finsterer Neid. Immer wieder klagt er in seinem Liede von der „Arbeit“ über die ungerechten und bestechlichen Richter. Den Bauern aber giebt er den Rat, nicht nur intensiver zu wirtschaften, sondern vor allem darauf bedacht zu sein, nichts kaufen zu müssen. Ausserdem empfiehlt er Beschränkung der Kinderzahl. Trotzdem hat sich bei Hesiod — im Gegensatz zu Homer — unter dem Einflusse der gegebenen Verhältnisse die Anschauung schon herausgebildet, dass die Schiffahrt neben dem Ackerbau als gleichberechtigt zu betrachten sei.

Begünstigt wurde diese unheilvolle Entwickelung durch die gleichzeitige Ausbreitung der Sklaverei für gewerbliche Zwecke in Griechenland. Hemmend trat ihr der Umstand in den Weg, dass die inzwischen erfolgten Fortschritte in der Metallurgie es auch dem Mittelstande ermöglichten, in schwerer Metallrüstung auszurücken, wodurch die Periode der Vorkämpfer (Adel) von der geschlossenen Masse der Schwerbewaffneten abgelöst wird. Und weil die Bürger, welche Schuldsklaven geworden waren, beim Aufgebot in Reih und Glied standen, da Waffen nicht gepfändet werden konnten, so bot sich hier Gelegenheit, die herrschenden Missstände zu beseitigen. Die Gewerbetreibenden in den Städten vereinigten sich mit den Bauern gegen den herrschenden Adel. Und es kam so im 7. und 6. Jahrhundert in Griechenland ziemlich allgemein zu jenen charakteristischen Volkskämpfen, die am zutreffendsten wohl mit dem Worte „Bauernkriege“ bezeichnet werden. Hinrichtungen, Verbannungen, Einziehung der Güter des Adels mit allgemeinem Schulderlass und NeuBuchseite 266verteilung des Grundbesitzes wechselten zum Teil mit Rückkehr des Adels und seiner blutigen Rache am Volke. Durch die allgemeine Entstehung von Militärmonarchien — in der Litteratur „Tyrannen“ genannt — welche das Volk gegen die Adelspartei führten, kam diese Periode der Herrschaft eines Adels, der durch und durch kapitalistisch geworden war, zum Abschluss. Die Adelspartei war hinwiederum überall der erbitterste Feind dieser Militärmonarchien. Sie hat am meisten zur Beseitigung der „Tyrannen“ beigetragen und damit entscheidend an der Ausbreitung der demokratischen Verfassung mitgewirkt.

Wo freilich grosse Königsfamilien selbst die meisten Staatsämter durch Mitglieder der eigenen Familie besetzen konnten, da herrschten sie noch weit über diese Zeit hinaus: so die Bakchiaten in Korinth, die Pentheleiden in Mytilene, die Basileiden in Ephesus. Wo der Adel früh schon sich dem Handel, dem Rhedereigewerbe und der Industrie zugewendet hatte, da blieb auch ihm noch lange die Herrschaft im Lande, so in Aegina. In anderen Gegenden, wie z. B. in der weiten thessalischen Ebene, ist es dem Adel thatsächlich gelungen, die Bauern in der Epoche des Handels- und des Leihkapitals zu Leibeigenen (Penesten) herabzudrücken, um dann ebenso wie in Messenien dauernd ein Getreideexportland zu bleiben und nie zur industriellen Entwickelung mit Grossstädten überzugehen.

Die Gesetzgebung aber, welche der glücklichen Erhebung der Bauern und Gewerbetreibenden in dieser Periode gefolgt ist, trägt einen ganz bestimmten Charakter. Den in Schuldknechtschaft sich befindenden Bürgern wurde die persönliche Freiheit wiedergegeben und für alle Zukunft den Gläubigern das Buchseite 267 Recht auf den Leib des Schuldners entzogen. Man hat die Hypothekensteine auf den bäuerlichen Grundstücken beseitigt, die Hypothekenschulden kurzweg aufgehoben. Auch die persönlichen Schulden wurden für ungültig erklärt oder doch deren Ablösung durch Einführung einer leichteren Währung wesentlich begünstigt. Ferner kam es jetzt zur Aufzeichnung des geltenden Rechts. Der Gebrauch der Schrift hatte sich inzwischen allgemein verbreitet. Es konnte deshalb auf solche Weise der bis dahin bestandenen richterlichen Willkür wirksam begegnet werden. Gleichzeitig wurde die Appellation in Zivilrechtssachen vom Einzelrichter an das Geschworenengericht eingeführt. Die weitere Festsetzung eines Besitzmaximum für landwirtschaftliche Grundstücke und ein prinzipielles Verbot der Getreideausfuhr lassen deutlich erkennen, gegen welche Misstände diese Gesetzgebung gerichtet war. Weil aber auch die Zusammensetzung des Volksheeres sich geändert hatte, wurde eine Neuordnung der bürgerlichen Leistungen auf der Basis des Besitzes und zwar des Grundbesitzes vorgenommen. Auf der gleichen Grundlage ruhte auch die jetzt zur Einführung kommende direkte Vermögenssteuer.

Man hat aus all diesen Massnahmen folgern zu sollen geglaubt, dass damit der „Besitz“ an die Stelle der „Geburt“ getreten sei. Thatsächlich handelt es sich indess hier um den Kampf des Volkes gegen die erste Entwickelungsstufe des Kapitalismus, nämlich gegen das sog. „Handels- und Leihkapital“. Nicht gegen den Adel und die Geburt an sich, sondern gegen diese spezifische Art der kapitalistischen Ausbeutung des Volkes durch Personen, welche allerdings auch adlige Grundbesitzer waren, ist diese Reformbewegung gerichtet gewesen. Und es erhebt sich hier die naheliegende Frage, ob es den griechischen Völkern geBuchseite 268lungen ist, auf solche Weise die Krankheit des „Kapitalismus“ aus ihrem volkswirtschaftlichen Körper zu beseitigen?

Die Geschichte beantwortet diese Frage mit einem entschiedenen „Nein“. Man scheint lediglich diese spezifische Art der Aufsaugung des freien Bauernstandes durch den Grossgrundbesitzer mit Hülfe eines ungeheuerlichen Kreditrechtes vielfach verhütet zu haben. In der Verschuldung des Volkes selbst wurde nur für wenige Jahrzehnte eine Linderung erreicht. Der Kapitalismus aber konnte von jetzt ab bald um so üppiger wuchern, je vollständiger die Ausbeutungsverhältnisse sich geändert haben unter der Herrschaft des „industriellen Produktionskapitals“, dem sich das „Bank- und Börsenkapital“ immer unmittelbar anschloss. Die griechischen Völker waren über die ihnen jetzt bevorstehende Entwickelung so wenig unterrichtet, dass selbst die Militärmonarchien, welche doch zum Schutze des Volkes gegen den Kapitalismus sich gebildet hatten — trotzdem sie einer Uebersiedlung der Bauern nach der Stadt und der Ausbreitung der industriellen Sklaverei entgegengetreten sind — mit allen Kräften die neue kapitalistische Aera vorzubereiten begannen. Die neue Heeresorganisation mit den partikularistischen Leidenschaften des Volkes und der absoluten Staatsidee schienen wie dazu geschaffen, dieser neuen Form des Kapitalismus in geradezu selbstmörderischer Weise Alles zum Opfer zu bringen. Die weitere Darstellung aber wendet sich damit zur Einführung der Sklaverei in Griechenland und zu den Wanderungen der Handelshegemonie in der Reihe der griechischen Staaten.

Die Einführung der eigentlichen Sklaverei ist von der Entstehung und Ausbildung der Industriestaaten in Griechenland unzertrennbar. Die Sklaven, Buchseite 269 welche es vor dieser Zeit gegeben hat, waren entweder nur klein an der Zahl und wurden zur Familie gerechnet oder es waren unterjochte Volksstämme, denen die Bebauung der Felder überwiesen war, und die dann in einem gewissen Vasallenverhältnis zu den Grundherren standen, welche ihrerseits für Sicherheit und Ordnung des Staates zu sorgen hatten. Hier lag also eine Art Arbeitsteilung vor, welche die gesicherte Brotversorgung zum Ziele hatte. Die Verhältnisse der Arbeitssklaven aber, welche mit der Umwandlung gewerblicher Betriebe in Industrien eingeführt wurden, waren anderer Art. Sie wurden nicht zur Familie gerechnet. Sie arbeiteten in Fabriken, Bergwerken und Steinbrüchen zu 120 Mann und mehr, natürlich auch in kleineren Trupps. Es handelte sich in den kleinen griechischen Einzelstaaten um 60'000, 70'000 und 100'000 Sklaven dieser Art. In dem engen Industriegebiet des europäischen Griechenlands, nämlich in Aegina, Korinth und Attika wurden um die Mitte des 5. Jahrhunderts eine Viertel Million Sklaven gezählt. Die Zahl der Sklaven war der Zahl der freien Bevölkerung z. B. in Korinth und Aegina bedeutend überlegen. Man hatte sie nicht im Kriege erobert oder unterjocht, sondern auf dem freien Markte gekauft. Die Sklaverei war jetzt eine Kapitalsanlage geworden. Es wird berichtet, dass z. B. das in den Bergwerkssklaven angelegte Kapital sich mit 33 1⁄3 bis 50%, die für Möbelsklaven verausgabte Geldsumme sich mit 30% verzinst habe. Diese Sklaven waren dazu bestimmt, „Mehrwert“ zu erzeugen, mit dem sich der Kapitalist mühelos bereicherte. Erst damit beginnt die Verachtung der körperlichen Arbeit. Die Bürger, welche aus dem Mehrwert ihrer Sklavenarbeit sorglos leben konnten, schauten mit Geringschätzung auf die „Banausen“ herab, welche ihren Lebensunterhalt mit ihren eigenen Händen verdienen mussten.

Buchseite 270 Den verarmten Bürgern, wie den nachgeborenen Söhnen blieb unter solchen Umständen nur das Brot des Söldners. Für einen Monatsgehalt von 23 1⁄2 Mark konnten die griechischen und ägyptischen Könige fast jede Zahl von Landsknechten in Griechenland werben lassen, wobei die Soldaten sich selbst ausrüsteten. Für den gewiss anstrengenden Ruderdienst an Bord einer Galeere wurden während des peleponnesischen Krieges nur 3 Obolen per Tag gezahlt. Solange die Mittel bei dieser Löhnung reichten, war niemals Mangel an Ruderern. Nach glücklichen Schlachten winkte wohl auch ein entsprechender Anteil an der Beute. So kam bei der bescheidenen Lebensweise dieser Leute immerhin ziemlich Geld nach Griechenland und zwar hauptsächlich in Gold. Der Krieg war die Erwerbsart der verarmten Bürger geworden. Wurde aber irgendwo in der damaligen Welt Frieden geschlossen, so trieb sich bald auf den Strassen wie auf dem Meere ein brotlos gewordenes Gesindel umher, jederzeit bereit, alles zu plündern, was ihm begegnete.

Dieses Hindrängen der Interessen der Bürgermassen zum permanenten Kriegszustand kam dem industriellen Kapitalismus sehr gelegen. Man brauchte ja Absatzgebiete für den Ueberschuss der industriellen Produkte. Dazu reichten die internationalen Konsulats- und Freundschaftsverträge der Staaten, welche seit dem 6. Jahrhundert in Uebung gekommen waren, nicht aus. Gesichert war der Absatz nur dort, wo ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zwischen Absatzgebiet und Industriestaat bestanden hat. Nachdem die noch freien Ländergebiete am Mittelmeer besetzt waren, blieb nichts anderes übrig als das Absatzgebiet der schwächeren Industriestaaten zumeist mit ihnen zu erobern. Nicht minder wichtig war die Erwerbung jener Gebiete, von denen für die übermässig industrielle Bevölkerung das so Buchseite 271 notwendige Getreide bezogen werden konnte, dessen Einfuhr vielfach verstaatlicht worden ist. So begann denn die Periode immerwährender Kriege um die Absatzgebiete für industrielle Produkte und um die Produktionsgebiete und Zufuhrwege für Getreide. Die Besiegten wurden in der Regel von den Siegern vollständig ausgeraubt und oft noch die Bevölkerung selbst weggeführt. Beschränkte sich aber der Sieg des Gegners auf die Wegnahme der Absatzwege und der Getreidezufuhren, dann kam es in dem besiegten Staate zu furchtbaren Krisen mit Hungersnöten und blutiger Abrechnung zwischen den „Armen“ und den „Reichen“. Da und dort kam es auch zu nicht minder blutigen Gegenrevolutionen der Reichen. Immer aber war damit der Zerfall und die Verödung des Industriestaates verknüpft, der im Rennen und Jagen nach Reichtum die fundamentale Bedeutung einer blühenden heimischen Landwirtschaft vergessen oder verachtet hatte.

Je mehr Taschen dieser durch die griechischen Staaten hindurchgehende kapitalistische Raubzug geleert hatte, desto grösser war naturgemäss der angesammelte Reichtum, desto umfassender waren die nationalen wie internationalen volkswirtschaftlichen Beziehungen.

Als die Handelshegemonie von Griechenland bereits ihren Sitz in Athen hatte, waren folgende ganz moderne Zustände erreicht worden: Der alte Adel war zumeist verarmt und ohne Einfluss. Herren im Staate waren die Grossindustriellen und Bankiers, welch’ Letztere sich durch kluge Freigiebigkeit vom Sklaven zum einflussreichsten Vollbürger mit grossem Vermögen und fast unbegrenztem Kredit in allen Mittelmeerländern emporgearbeitet hatten. Man begann sein Geld aus der weniger rentablen Landwirtschaft herauszuziehen und in Handel und Industrie und in den Banken mit wesentlich höheren Gewinnen anzulegen. Buchseite 272 Die Güterschlächtereien und der Grundstückshandel blühten. Das Volk war in seiner Brotversorgung fast ganz auf die Zufuhr vom Auslande angewiesen. Die Tempelschätze — also das Vermögen der Kirchen — welche in einzelnen Fällen, wie z. B. in Delphi, bis 54 Millionen Mark erreicht haben sollen, wurden zur Stärkung der geschwächten Staatsfinanzen säkularisiert. Die Privatbanken arbeiteten hauptsächlich mit Depositengeldern und verteilten grosse Gewinne. Die auf „Seezins“ ausgeliehenen Kapitalien verzinsten sich bei einer Fahrt nach dem Pontus oder der durch Seeräuberei gefährdeten Adria mit 100% und mehr, nach dem gesicherten ägäischen Meere mit 20 bis 30%. Zur Ausführung der grösseren ökonomischen Aufträge des Staates hatten sich sehr einflussreiche Syndikatsgesellschaften gebildet, welche mit 100% Gewinn gearbeitet haben sollen. Auf dem Marktplatze in Athen wurden die Produkte der ganzen Welt gekauft und verkauft. Von einem Bankier in Syrakus wird erzählt, dass er eines Tages alles disponible Eisen im Markte aufgekauft habe, um es dann mit einem entsprechenden Preisaufschlage an die Konsumenten abzugeben, und dass er in kurzer Zeit dabei 200% Gewinn für sein Kapital erzielte.

Die Lichtseite des zunehmenden Reichtums zeigt sich darin, dass eine wachsende Zahl von Personen jetzt der Kunst und der Wissenschaft sich zuwenden konnte, und so aus der Masse des Volkes viele ganz hervorragende Talente auf diesen Gebieten hervortraten — kurz vor dem Untergang der griechischen Kultur im Mutterlande; denn wie zu Anfang des 6. Jahrhunderts die phönizische Industrie und der phönizische Handel von dem Handel und der Industrie der griechischen Städte an der kleinasiatischen Westküste hauptsächlich abgelöst worden waren, und wie dann kaum 50 Jahre später die Küstenstädte ihre Buchseite 273 Absatzgebiete zumeist an die ionischen Inseln abtreten mussten, so haben auch die ionischen Inseln dann etwa 100 Jahre später unter der handelspolitischen Führung des Mutterlandes gestanden, dessen letztes Stündchen als führender Industriestaat abermals 100 Jahre später geschlagen hatte. Noch weitere 150 Jahre, und Rom herrscht über Griechenland (190 v. Chr.). Die Klagen über Eheflucht, Kinderlosigkeit und Menschenmangel werden jetzt so laut, wie in den früheren Jahrhunderten der Ausbreitung des Kapitalismus die Klagen über Uebervölkerung. Die Landbevölkerung ist längst verarmt. Auch die Städte veröden und werden thatsächlich zu Dörfern. In den Händen der wenigen übrig gebliebenen Reichen konzentriert sich jetzt der ländliche Grundbesitz zu grossen Grundherrschaften, auf welchen der einzelne Grundherr bestrebt ist, durch Sklaven in hauswirtschaftlicher Produktion alle seine ökonomischen Bedürfnisse selbst zu decken.

Wir wissen von den griechischen Einzelstaaten mit Ausnahme von Athen zwar nur wenig; aber dieses Wenige ist für die Entwickelungsgeschichte der Industrie- und Handelsstaaten einerseits und der Agrarstaaten andererseits so charakteristisch, dass die Zusammenstellung einer Auslese gewiss gerechtfertigt erscheint. Wir teilen dabei die Industrie- und Handelsstaaten ein in a) kleinasiatische Küstenstaaten, b) in sog. ionische Inselstaaten, und c) in Staaten des Mutterlandes. Von den Agrarstaaten berücksichtigen wir Sparta und Makedonien.

α) Milet war die mächtigste und reichste unter den ionischen Städten Kleinasiens. Sie soll im Jahre 1000 v. Chr. von Attika aus gegründet worden sein. An der Kolonisationsbewegung des 8. und 7. Jahrhunderts beteiligte sie sich in solchem Umfange, dass ihr die Gründung von 80 bis 90 der nachmals wichtigsten Städte zugeschrieben wurde, welche an den Gestaden des Marmarameeres, des schwarzen Meeres bis zur Mündung des Don, in Italien und Aegypten zerstreut lagen. Milet, in seiner Blütezeit die bevölkertste Stadt der griechischen Welt, hatte sehr bedeutende Wollstoff-, Möbel- und Kleiderfabriken, in denen fast ausschliesslich Sklaven verwendet wurden. Die Konkurrenz der ionischen Inseln und der Industriestaaten auf der griechischen Halbinsel schädigte vor allem den Absatz Buchseite 275 der Wollfabrikate. Die Einigung der kleinasiatischen Binnenstaaten, die von dem fruchtbaren breit- und langgestreckten Hermostale ausgegangen ist, brachte die Zufuhr der Rohmaterialien ins Stocken. Die dann mit den Krisen zum Ausbruch gekommenen Bürgerkriege verwüsteten Stadt und Land. Im Jahre 540 v. Chr. soll sich Milet — wie Herodot erzählt — nach der ionischen Insel Paros gewendet haben, damit dieses zwischen den Reichen und Armen vermittele. Die Friedensstifter fanden die Häuser in Milet in ärgstem Verfall. Sie durchzogen darauf das Landgebiet, und wo sie gut bestellte Aecker fanden, schrieben sie den Namen der Besitzer auf, um diesen die Regierung des Landes zu übergeben. Als aber bald darauf Milet den ionischen Aufstand gegen die Perser entzündete, wurde 494 v. Chr. die Stadt durch die Perser zerstört. Nachher haben die gespannten politischen Beziehungen zwischen Persien und Athen den Handelsverkehr der ionischen Städte in Kleinasien unterbunden. Die Stadt konnte sich nie mehr erholen. Heute steht an ihrer Stelle ein ärmliches Dorf, Palatia genannt.

β) Teos, ebenfalls früh schon ein handels- und industriereicher Stadtstaat, gründete im 7. Jahrhundert Elaeus am Eingange des Hellespont auf dem Wege nach der Kornkammer Griechenlands und Phanagoreia am kimmerischen Bosporus, welcher den Pontus mit dem manolischen See verbindet. Als gegenüber den Einheitsbestrebungen im kleinasiatischen Binnenlande die Uneinigkeit der ionischen Küstenstädte in Kleinasien sich für ihre Interessen nur schädigend zeigte, soll Thales von Milet — einer der sieben Weltweisen — ganz Ionien vorgeschlagen haben, sich unter Teos als Hauptstadt zu einem Staate zu vereinigen. Diese Einigung kam nicht zu Stande. Als die persischen Heere siegreich vordrangen, fürchtete Teos ein böses Ende seiner Herrlichkeit. Der weit Buchseite 276 grössere Teil der Bevölkerung wanderte deshalb 545 v. Chr. aus der Heimat fort und gründete sich in Abdera eine neue Heimat: an der Westküste von Thrakien in fruchtbarer Ebene, bald der bedeutendste Ort an dieser Küste. Nach der Tributliste für die Schätzungsperiode 446 bis 439 v. Chr. war im attischen Seebunde Abdera auf 15 Talente eingeschätzt, während das übrig gebliebene Teos nur 6 Talente, Milet gar nur 5 Talente an den Vorort Athen zu zahlen hatten.

γ) Phokaea war der nördlichste der alten ionischen Stadtstaaten an der kleinasiatischen Küste und spielte nach Milet die erste Rolle in der Kolonisationsepoche des 7. Jahrhunderts. Von hier wurde 651 v. Chr. Lampsakos gegründet, später die bedeutendste Stadt am Hellespont, welche 446 bis 439 v. Chr. von dem attischen Seebunde mit einer Tributleistung von 12 Talenten eingeschätzt war. Um 600 v. Chr. besiedelten die Phokaeer Massalia, — das heutige Marseille — das bald der Mittelpunkt des ganzen Handels in dieser Gegend ward, und gründeten Faktoreien in Antipolis, Nikaea (Nizza), Agathe, Emporiae und Maenakae, dem äussersten Besitzpunkte der Hellenen nach Westen hin. Auch auf Kyrnos (Korsika) fassten sie Fuss und erbauten an der Ostküste Alalia, sodass sie wohl den grössten Teil des griechischen Handels mit dem fernen Westen des Mittelmeeres in ihrer Hand vereinigten. Selbst in Naukratis in Aegypten besassen sie eine Handelsfaktorei. Wahrscheinlich wurden hier in Phokaea im 7. Jahrhundert die ersten griechischen Münzen geprägt.

Als sich jedoch Phokaea im Jahre 545 v. Chr. den Persern unterwerfen musste, hielt bei der Gefährdung der Zufuhr- und Absatzwege die grosse Mehrzahl der Bevölkerung es für ratsam, nach ihrer Faktorei Alalia auf Korsika auszuwandern, die jetzt bald zu einer Buchseite 277 mächtigen Stadt aufblühte. Doch dadurch fühlten sich die Phönikier unter Carthago in ihren Handelsinteressen bedroht, die jetzt mit den Etruskern ein Bündnis schliessen, um die Phokäer so zu zwingen, Korsika zu verlassen. Sie ziehen nach dem Süden Italiens und siedeln sich in Elea an, das dann von den Römern unterworfen wird. Das einst so blühende Phokaea war schon nach dem ersten Perserkriege (494 v. Chr. ) nur noch ein Schatten seiner alten Bedeutung, weil Industrie und Handel ausgewandert waren. Die Tributliste des attischen Seebundes für 446 bis 439 v. Chr. schätzt Phokaea denn auch auf eine Leistung von nur 2 Talenten ein.

α) Chalkis und β) Eretria auf Euböa.

Auf der an der Ostküste von Mittelhellas gelegenen Insel Euböa, die sich bei einer Breite von nur 40 Kilometer auf eine Länge von 138 Kilometer ausdehnt und 3592 Quadratkilometer umfasst, mit etwa 60'000 Einwohnern im Jahre 432 v. Chr., lagen Böotien und Attika gegenüber die beiden Nachbarstädte Chalkis und Eretria.

Chalkis, das nach einem alten Spruche die tapfersten Männer in Griechenland gehabt haben soll, hat vielleicht noch im 8. Jahrhundert v. Chr. mit der Gründung seiner sizilianischen Kolonien Katane, Leontinoi, Kallipolis, Euböa, Zankle und Rhegion auf dem Festlande begonnen, denen dann weiter nördlich auf der italienischen Halbinsel noch Kyme und Neapolis folgten. Die Gründung der wichtigen westlichen Kolonien der Halbinsel Chalkidike erfolgt mit Eretria gemeinsam. Eretria soll eine Zeit lang auch die ionischen Inseln Andros, Tenos und Keos beherrscht haben und schickte zur Unterstützung des ionischen Aufstandes in Kleinasien (500 bis 494 v. Chr.) dem befreundeten Buchseite 278 Milet 5 Trieren gegen die Perser. In der Nähe von Chalkis waren ergiebige Kupfergruben, welche der Stadt den Namen gegeben haben. Ganz Euböa war reich an Eisenlagern und hat schon im 7. Jahrhundert viel Eisen nach dem Orient geliefert. Die „Erzstadt“ Chalkis hatte blühende Metallwarenfabriken, deren Schwerter namentlich berühmt waren. Dazu kamen Holz- und Thonwarenindustrien, in denen wahrscheinlich die Herstellung der sogenannten protokorinthischen Vasen begonnen hat. Chalkis und Eretria waren vom 8. bis 6. Jahrhundert neben Korinth die berühmtesten Handelsstädte des europäischen Griechenlands. Das kam auch in dem eignen chalkidisch – euböischen Währungs- und Masssystem zum Ausdruck, welches im Gegensatz zum äginatischen Währungs- und Masssysteme stand. Im Laufe des 6. Jahrhunderts, als die Handels- und Industriestaaten an der kleinasiatischen Küste schon schwer unter wirtschaftlichem Niedergange zu leiden hatten, brachten die Fortschritte des chalkidischen und korinthischen Handels die chalkidische Währung zur immer weiteren Ausbreitung. Seit Solon (594 v. Chr.) hat Athen dieselbe zur Einführung gebracht. Von der chalkidischen Halbinsel im Osten bis nach Grosshellas und Sizilien reichte ihr Geltungsgebiet.

Aber schon mitten in dieser anscheinend aufsteigenden Entwickelung verzehren die beiden Nachbarstädte Chalkis und Eretria gegenseitig ihre besten Kräfte im Kampfe um das fruchtbare lelantinische Kornfeld, das am Euripos nach den Vorhöhen des Dirphys sich hinzieht. Um das Jahr 600 schien eine solche Grenzfehde den Charakter eines ausgedehnten Krieges annehmen zu wollen. Eretria kam Milet zu Hülfe, auf Chalkis Seite standen die Rivalen von Milet, die Samier und ferner die Thessalier. Auch Korinth soll an dem Streite teilgenommen haben. Den Ausschlag gab die Buchseite 279 thessalische Reiterei. Chalkis siegte und kam so in den Besitz des lelantinischen Feldes. Aber gerade damit hat die siegende Partei den Neid und die Habgier des energisch aufstrebenden Athen erweckt, das im Jahre 506 v. Chr. Chalkis erobert, die Grundbesitzungen des chalkidischen Adels einzieht, an 4000 ärmere attische Bürger verteilt und so die wichtigste Kornkammer in nächster Nähe seiner Hauptstadt sich sichert. Im Jahre 446 annektierte Athen die ganze Insel Euböa. Chalkis und Eretria stellen von diesem Zeitpunkte ab ihre Münzprägungen ein. Der blutige Kampf der „Armen“ gegen die „Reichen“ beginnt unter dem Deckmantel des Wechsels der demokratischen und oligarchischen Verfassung. Euböa fällt bald dieser, bald jener Vormacht in Griechenland zur Beute. Industrie und Handel kommen in Verfall. Im ersten Jahrhundert n. Chr. erzählt Chrysostomos von Chalkis und Eretria: „Das Land vor den Toren der Städte ist unbebaut und öde wie in der tiefsten Wüste und nicht wie das Gebiet einer Stadt. Innerhalb der Stadtmauern ist der grössere Teil des Bodens mit Getreide besät oder dient als Weide.“

γ) Aegina, eine kleine etwa 33 Quadratkilometer umfassende Insel im saronischen Meerbusen, kaum 20 Kilometer südwestlich vom Piraeus, der Hafenstadt Athens, gelegen, hat gebirgiges Terrain und nur wenig fruchtbaren Boden. Sie beteiligte sich zwar nicht an den grossen Kolonisationen im 8. und 7. Jahrhundert. Nur in Naukratis in Aegypten hat auch Aegina eine Handelsfaktorei besessen. Aber früh schon begann dieser Staat ein eigenes Münz- und Masssystem einzuführen, welches als Ausdruck der äginatischen Handelsherrschaft überall im Peloponnes, auf den Kykladen und in einigen Städten an der kleinasiatischen Küste eingeführt wurde. Man hat die Aeginaten mit den „Nürnbergern des Buchseite 280 Mittelalters“ verglichen. Sie waren klug und erfinderisch in allerlei Kunstfertigkeiten. Kurzwaren wurden in Griechenland „äginatische Waren“ genannt. Insbesondere war die Erzgiesserei für Geräte zum täglichen Bedarf und zum Schmuck zur hohen Ausbildung gekommen. Daneben blühten das Töpfergewerbe, die Salbenbereitung, die Kuchenbäckerei und der Schiffsbau, welcher nach der Sage hier erfunden wurde. Auch die griechische Kunst feierte auf Aegina ihren ersten Frühling. Für das Jahr 465 v. Chr. wird von einer blühenden Bildhauerschule berichtet. Die äginatischen Kaufleute dieser Zeit sollen die reichsten in Griechenland gewesen sein. Etwa um 450 v. Chr. gab es nach Beloch in Aegina 70'000 Sklaven neben einer freien Bevölkerung von 60'000, die damit jener von Korinth und Athen damals ziemlich gleich kam. Bei einer Gesamtbevölkerung von also 130'000 Einwohnern kann es nicht überraschen, dass bei der kleinen Fläche des eigenen anbaufähigen Landes berichtet wird: der Haupthandel der Aeginaten sei Getreidehandel gewesen, der vor allem aus Kreta und dem Pontus seine Ware bezogen habe. Die Hauptstadt der Insel hatte zwei grosse künstliche Häfen, die heute noch gut erhalten sind. Die Tributliste des attischen Seebundes für die Jahre 446 bis 439 v. Chr. nennt Aegina an erster Stelle mit einer Jahresleistung von 30 Talenten. Gleichhoch ist nur noch Thasos mit seinen reichen Goldbergwerken eingeschätzt. Die Beiträge der nachfolgenden Staaten fallen sofort auf die Hälfte dieser Summe.

Zwanzig Kilometer vor der Einfahrt in den Hafen von Athen konnte ein so mächtiger Handels- und Industriestaat nicht sein, ohne das Aufblühen Athens auszuschliessen. In der That war ursprünglich auch der Handel von Athen in der Hand der Aeginaten. Und als man die kapitalistische Entwickelung auf attischer Seite selbst ins Auge zu fassen begann, musste vor allem die Buchseite 281 Emanzipation vom äginatischen Handel einsetzen. Deshalb hat schon die solonische Gesetzgebung (594 v. Chr.) den Uebergang aus der äginatischen zur chalkidischen Währung vollzogen. Der entscheidende Kampf über Sein oder Nichtsein zwischen Athen und Aegina war von da ab nur noch eine Frage der Zeit. Im Jahre 506 verwüstete die Flotte von Aegina die attische Küste. In den Jahren 488 bis 481 kämpften beide Gegner einen erbitterten Krieg. Athen hatte in Aegina, das noch eine oligarchische Verfassung besass, den Bürgerkrieg entfacht und diese Gelegenheit zu einer Landung von Truppen auf der Insel benutzt, die in offener Feldschlacht die Aeginaten besiegten. Die ungleich mächtigere Flotte von Aegina blockierte aber den Hafen von Athen, wodurch der attische Handel natürlich schwer zu leiden hatte. So kam es zunächst zu keiner Entscheidung. Angesichts des drohenden Perserangriffs wurde zwischen den kämpfenden Parteien Friede geschlossen. Schon im Jahre 480 besass Athen die mächtigste Flotte in Griechenland. Noch vor dem Friedenschluss mit den Persern wurde 457 die äginatische Flotte von den Athenern weggenommen, im folgenden Jahre die Hauptstadt Aegina erobert und die Insel dem Herrschaftsgebiete Athens einverleibt. Aber den geschäftlichen Erwägungen des Handels- und Industriestaates Athen genügte dieser Erfolg noch nicht. Man wollte nicht nur Herr von Aegina sein, sondern vor allem das ganze schöne äginatische Geschäft nach Athen herübernehmen. Deshalb zog Perikles im Jahre 431 abermals mit Heeresmacht nach Aegina, um die gesammte Einwohnerschaft zu zwingen, mit Weib und Kind die Heimat zu verlassen, und um den Grundbesitz an attische Kolonisten zu verteilen. Damit war der Handels- und Industriestaat Aegina für immer vernichtet. Die Trümmer der alten äginatischen Bevölkerung, welche Lysander später nach der Insel wieder zurückführte, konnten ihn nicht mehr aufbauen.

α. Korinth: Wo die Halbinsel Peloponnes sich nur durch einen kaum 6 Kilometer breiten Landstreifen mit dem Kontinent verbindet, liegt auf steilen Kalkfelsen die alte feste Königsburg Akrokorinth, um die schon eine phönikische Handelskolonie angesiedelt war, mit welcher sich die Griechen dann zu dem Typus der Korinther verschmolzen haben. Hier war die günstigste Verkehrsbrücke zwischen dem ägäischen und ionischen Meere. Korinth hatte nach beiden Meeren Häfen, nämlich Lechaeon am korinthischen Busen, Kenchreae und Schoenos am saronischen Busen. Bis 747 v. Chr. herrschte das Königsgeschlecht der Bakchiaden durch 8 Generationen, das alle wichtigen Aemter im Staate durch seine Familienmitglieder besetzt hielt. Auch in dem dann folgenden aristokratischen Regiment spielten die Bakchiaden immer noch eine bedeutende Rolle. Rücksichtslose Willkürherrschaft erregte Unzufriedenheit im Volke, weshalb es 657 v. Chr. Hypselos gelang, eine Militärmonarchie zu gründen. Ihm folgte sein Sohn Periander (627 bis 585), einer der sog. sieben Weisen. Dessen Sohn wird 578 gestürzt und eine gemässigte oligarchische Verfassung eingeführt. Die Thatsache, dass in Korinth die Tyrannis hundert Jahre früher entstehen konnte als in Athen, lässt erkennen, wie sehr Korinth in der Entwickelung vorausgeeilt war.

Namentlich unter Periander war Korinth das mächtigste Kolonialreich der griechischen Welt geworden. Eine Kette von Handelsstationen waren an den Küsten von Aetolien, Akarnanien, Epirus und Illyrien entstanden und sicherten die Alleinherrschaft im westlichen Meere. Dazu kamen direkte Handelsbeziehungen nach dem Osten zu den griechischen Städten in Kleinasien und den Königen von Lydien und Aegypten. Gewerbe, Künste und Handel blühten. In der Thonplastik waren die Arbeiten der Korinther Buchseite 283 bahnbrechend für die griechische Industrie. Hier soll die Töpferscheibe erfunden worden sein. Auch der Erzguss für Geräte war besonders ausgebildet. „Korinthisches Erz“ nannte man eine besonders schöne Kupferlegierung, deren Zusammensetzung uns nicht überliefert worden ist. Dazu kommen noch Kunstwebereien und Färbereien. Die Korinther waren bemüht, im Schmuck ihrer Stadt ganz Griechenland zu überbieten. Die reichsten Formen verdankt die Baukunst den Korinthern. Auch die Malerei soll hier erfunden und ausgebildet worden sein. Bekannt ist die Bedeutung der isthmischen Spiele zu Ehren des Poseidon. Schon Periander hat versucht, den Isthmus von Korinth mit einem Kanale zu durchstechen. Und da die technischen Hülfsmittel jener Zeit für diese Aufgabe nicht zureichten, soll er eine Holzbahn über den Isthmus gebaut haben, auf der die Schiffe über das Land gezogen wurden. Der Kampf gegen die Seeräuberei fand namentlich von Korinth aus die wirksamste Unterstützung. Bei dieser energischen Förderung von Handel und Gewerbe war Periander gleichzeitig bemüht, die kapitalistische Ausbeutung des Volkes möglichst fern zu halten. So soll er insbesondere der Einführung von Gewerbesklaven entgegengetreten sein, um die gewerbliche Arbeit der freien Bevölkerung des Landes zu erhalten. Weil aber dadurch die Kapitalisten in ihrer Jagd nach Gewinn behindert wurden, haben sie auch diese Militärmonarchie gewaltsam beseitigt.

Sofort hat dieses Ereignis recht ungünstig auf die Verhältnisse in Korinth zurück gewirkt. Die Kolonien machten sich frei vom Mutterlande, und die wichtigste Kolonie Korkyra (Korfu) hat ihre Selbständigkeit bewahrt und sollte bald ein recht gefährlicher Konkurrent für Korinth im westlichen Meere werden. Die Stadt musste sogar die Oberherrschaft des argolischen Königs Pheidon anerkennen und war damit gezwungen, sich Sparta in die Arme zu werfen.

Buchseite 284 Die Motive für diesen Entschluss sind klar. Das Landgebiet von Korinth erreichte nicht einmal 1000 Qklm. Bei dem Mangel einer einheitlichen zielbewussten Führung, die seit Aufhebung der Militärmonarchie fehlte, konnte das 4185 Qklm. grosse benachbarte Argolis die Selbständigkeit von Korinth leicht vernichten. Musste man aber auf die Stellung eines selbständigen führenden Staates verzichten, so war ein Bündnis mit Sparta für Korinth deshalb am günstigsten, weil dieser Staat nach seiner noch damals geltenden Verfassung den Kapitalismus auf das entschiedenste fern zu halten bemüht war. Von den spartanischen Junkern mit Eisengeld drohte den korinthischen Händlern und Industriellen keine Konkurrenz; wohl aber fanden sie in ihnen fast kostenlos mächtige Beschützer ihrer wirtschaftlichen Existenz. Die Politik der Korinther ist deshalb von nun ab darauf gerichtet gewesen, aus dem Unglück seiner Konkurrenten zu gewinnen. Diese Konkurrenten waren ursprünglich: Chalkis, Eretria und Aegina. Als Chalkis und Eretria in ihrem Kampfe um die lelantinischen Felder sich gegenseitig schwächten, begann Korinth seine selbständige Münzprägung nach euböischem Fusse. Als dann Athen sich anschickte, Chalkis im Jahre 506 v. Chr. zu erobern, und Sparta Athen daran hindern wollte, war Korinth auf der peloponnesischen Bundesversammlung erfolgreich bemüht, Athen den Rücken frei zu halten, um so den unbequemen Konkurrenten Chalkis los zu werden. In der gleichen Weise begünstigte Korinth Athen in seinem Vernichtungskampfe gegen das mächtige Aegina. Und der Untergang dieser drei Industrie- und Handelsstaaten ist ganz gewiss Korinth ebensoviel wie Athen zu Gute gekommen. Die Bevölkerung von Korinth stieg nach Beloch von 20 bis 25'000 Einwohner unter Periander (627 bis 585) auf etwa 60'000 Einwohner im Jahre 450 v. Chr. Da Buchseite 285 gleichzeitig noch 60'000 Sklaven hinzugerechnet werden müssen, unterliegt es keinem Zweifel, dass die kapitalistische Entwickelung in Korinth sich nicht um das Periander’sche Verbot der Sklaveneinfuhr gekümmert hat.

Damit war die Entwickelung der Dinge im europäischen Griechenland zu dem Punkte gekommen, wo zwischen den beiden führenden Handels- und Industriestaaten Athen und Korinth der Entscheidungskampf gekämpft werden musste, den man als peloponnesischen Krieg (431 bis 404 v. Chr.) zu bezeichnen pflegt. Athen, das jetzt 300 seetüchtige Trieren hatte, während Korinth nur mit Anstrengung aller Kräfte 90 Trieren in Dienst stellen konnte, sperrte den korinthischen Handel durch Blockade. Beide Parteien wussten genau, um welchen Preis sie kämpften. Dem Nikiasfrieden (421), welchen Sparta mit Athen abgeschlossen hatte und der die geschäftlichen Interessen von Korinth ganz unberücksichtigt gelassen, wurde von Korinth die Zustimmung versagt. Und als im Jahre 404 v. Chr. der peloponnesische Heerführer Athen die Friedensbedingungen diktieren konnte, da verlangte Korinth selbstverständlich, dass Athen zerstört und die Einwohner in die Sklaverei verkauft würden. Dem Agrarstaate Sparta verdankte damals Athen die Erhaltung seiner wirtschaftlichen Existenz. Auch Korinth hatte durch den peloponnesischen Krieg schwer gelitten. Der Kampf der „Armen“ gegen die „Reichen“ kommt deshalb jetzt zum blutigen Austrage. Für die Jahre 392 und 364 v. Chr. wird von Bürgerkriegen berichtet mit Hinrichtungen, Vermögenskonfiskationen und Verbannungen. Zum Glück für den ohnmächtig gewordenen Staat kam er nicht in die Gewalt der Athener. Seine verschiedenen Oberherren waren zunächst Agrarstaaten, die nicht daran dachten, den Industrie- und Handelsstaat zu zertreten. Als freilich die römischen Kapitalisten Herren von Korinth geworden waren (146 v. Chr.), da lautete der Buchseite 286 Beschluss des Senates: die Stadt ist dem Boden gleich zu machen, ihre Einwohner sind als Sklaven zu verkaufen und ihre Schätze sind nach Rom zu transportieren. Handel und Industrie von Korinth wanderten nach Delos.

β) Athen. Während das Gebiet von Aegina nur 83 Quadratkilometer, jenes von Korinth nicht ganz 1000 Quadratkilometer erreichte, umfasste das attische Landgebiet 2647 Quadratkilometer. Dasselbe zerfiel in drei Landschaften: den nördlichen mehr gebirgigen Teil Diakria, in welchem die bäuerliche Bevölkerung vorherrschte, den südwestlichen Teil mit breiten fruchtbaren Ebenen Pedias, in welchem der grössere Grundbesitz überwog, und endlich den südöstlichen Teil Paralia, welcher eine Landzunge bildet und so naturgemäss der Sitz von Handel und Gewerbe war. Die Stadt Athen liegt dort, wo die Grenzen dieser drei Landschaften zusammenstossen. Attika war schon aus diesen Gründen ursprünglich ein Agrarstaat, in welchem Tendenzen zur Ausbildung eines Industrie- und Handelsstaates vorhanden waren.

Sein Königtum soll schon in den Stürmen der dorischen Wanderung (1000 v. Chr.) verloren gegangen sein. Die Verfassung war dann eine aristokratische. Der Adel (Eupatriden) vereinigte alle politischen Rechte in seiner Hand. Als er den Versuch machte, die Bauern (Geomoren) und Gewerbetreibenden (Demiurgen) ihres Grundbesitzes und ihrer persönlichen Freiheit mit Hülfe des geltenden ungeheuerlichen Kreditrechtes zu berauben, kam es zu jenen politischen Bewegungen, welche durchaus den Charakter der Bauernkriege tragen. Kylon’s Versuch, eine Tyrannis zu errichten, scheiterte an dem rücksichtslosen Entgegentreten des Adels, als dessen Sühne das Volk wieder die Verbannung eines der mächtigsten Adelsgeschlechter durchsetzte. Die unmittelbar folgende Gesetzgebung des Drakon (624 v. Chr.) brachte Buchseite 287 ein aufgezeichnetes Recht gegenüber dem bis dahin üblichen Gewohnheitsrecht, das in den Händen des Adels als alleiniger Richter willkürliche Entscheidungen nur zu sehr erleichtert hatte. Indes Drakons Gesetze waren mit Blut geschrieben. Sicherheits- und Eigentumsdelikte wurden mit ganz besonderer Strenge geahndet. Die politische Bewegung im Volke war deshalb durch diese Massregel in keiner Weise zur Ruhe gekommen. So bringt das Jahr 594 v. Chr. die berühmte Solonische Reformgesetzgebung, welche endlich die Schuldknechtschaft beseitigte, alle persönlichen Unfreiheiten, welche auf dem bisherigen Schuldrecht begründet waren, aufhob, die Hypothekensteine auf den Grundstücken umstürzte, alle Hypothekenforderungen mithin kurzweg annullierte, die Personalschulden durch Einführung einer leichteren Währung um 27% ermässigte, ein Grundbesitzmaximum einführte und die Ausfuhr aller landwirtschaftlichen Produkte mit Ausnahme von Oel verbot.

Die bisher streng aristokratische Verfassung wurde von Solon in der Weise abgeändert, dass er das Volk in vier Klassen teilte und zwar nach dem Ertrage seines Grundbesitzes. Zur ersten Klasse gehörten alle diejenigen, welche 500 Scheffel und mehr Getreide ernteten (Pentakosiomedimnen), zur zweiten die Personen mit einem jährlichen Getreideertrage von 300 bis 500 Scheffel (Hippeis), zur dritten die Personen, welche in der Regel mit einem Maultiergespann arbeiteten und mindestens 200 Scheffel ernteten (Zeugiten). Alle jene, welche einen Acker von geringerem Ertrage oder gar keinen Grundbesitz hatten, gehörten zur vierten Klasse der Theten. Die erste Klasse hatte Kriegsschiffe zu stellen. Die zwei ersten Klassen dienten als Reiter, die drei ersten Klassen gehörten zu den Schwerbewaffneten. Die Theten sollten nur zur Verteidigung des Landes als Leichtbewaffnete oder zur BeBuchseite 288mannung der Flotte aufgeboten werden. Eine regelmässsige Besteuerung der Bürger war nicht vorgesehen. Nur in ausserordentlichen Fällen wurde nach Volksbeschluss eine Vermögenssteuer erhoben. Direkte Einnahmen bezog der Staat aus dem Ertrage der Bergwerke, der Strafgelder, der Schutzgelder, welche die Fremden (Metöken) zahlten, und aus den Einfuhrzöllen, welche als Hafengelder erhoben wurden. Alle Aemter wurden umsonst verwaltet. An der Spitze des Staates standen neun Archonten, dazu kam der Rat der 400 und endlich die Volksversammlung, bestehend aus allen über 20 Jahre alten Bürgern. Sie erwählt die Beamten und entscheidet über alle wichtigeren Angelegenheiten des Staates. Zur Entscheidung über gewöhnliche Streitsachen wurde das Geschworenengericht eingeführt, dessen Mitglieder durch das Loos gewählt wurden. Ebenso enthält die solonische Gesetzgebung Bestimmungen über die Rechtsverhältnisse bei Be- und Entwässerungsanlagen, gegen den Luxus, über die Gründung von Gymnasien u.s.w.

Man wird Solon die Anerkennung nicht versagen können, dass er sich Fachmann genug fühlte, um einen tieferen Schnitt in die volkswirtschaftlichen Verhältnisse zu wagen und bestimmten vorhandenen unheilvollen Entwickelungstendenzen mit Entschiedenheit entgegenzutreten. Aber eine reinliche Ausscheidung des Kapitalismus hat er nicht gewagt. Seine Aufhebung der Hypothekenschulden hat nicht daran gehindert, neue Schulden wieder zuzulassen. Die Einführung eines Besitzmaximum war kein Mittel, um den Wucher überhaupt zu beseitigen. Und die Ermässigung der Personalschulden um 27% bot noch keine Garantie dafür, dass die bleibenden 73% auch immer zurückgezahlt werden konnten. Ja es scheint sogar, als ob sich Solon von den in der damaligen griechischen Welt gegebenen Beispielen eines Handels- und Industriestaates hatte verleiten lassen, die Entwickelung seines Vaterlandes nach dieser Richtung Buchseite 289 vorzubereiten. Solon wünscht sich selbst Reichtum an wirtschaftlichen Gütern, nur möchte er der später folgenden Vergeltung halber diesen Reichtum nicht mit unlauteren Mitteln erworben haben. Seine hervorragende Anteilnahme an der Eroberung der Insel Salamis für Attika, sein ausdrückliches Verbot, den Toten — wie bis dahin Sitte — Edelmetalle mit ins Grab zu geben, die Erschliessung direkter Geldeinnahmen für den Staat und seine Bestrebungen zu Gunsten einer Vermehrung der Kriegsflotte lassen deutlich erkennen, wie er in bewusster Weise die Periode des Handels- und Industriekapitalismus einleitet, während er gleichzeitig die Periode des Handels- und Leihkapitalismus durch Reformen abzuschliessen bemüht ist.

Dieser Inkonsequenzen halber hat die solonische Reform auf die Dauer keine der Parteien befriedigt. Kaum 30 Jahre später wird deshalb der Staat von neuen politischen Unruhen erschüttert. Die Bewohner der drei Landschaften: die Diakrier, die Pediäer und die Paralier liegen miteinander im Streit. Damit bestand die Gefahr einer Dreispaltung für Attika. Da errichtete Pisistratus (560 bis 527 v. Ch.) mit Hüllfe der Bauern aus Diakria eine Militärmonarchie.

Er begünstigte die Bauern durch die Einsetzung von Ortsrichtern, durch Befreiung von Naturalabgaben, Neuaufteilung von Ländereien, welche den Grossgrundbesitzern konfisziert wurden u.s.w. Im übrigen zeitigt der jetzt schon beginnende Zusammenbruch der Handels- und Industriestaaten an der kleinasiatischen Küste seine ganz bestimmten Einwirkungen. Auch Pisistratus will von den damit frei werdenden Geschäften einen ganz bestimmten Teil für Attika gewinnen. Er ist deshalb bemüht, in dem damaligen internationalen Handelsverkehr möglichst allseitige Beziehungen anzuknüpfen, Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaft in seiner Hauptstadt zu pflegen und die Kriegsflotte zu vergrössern. Ja er ist sogar offenBuchseite 290bar nach den Erfahrungen der damaligen Zeit sich schon darüber klar, dass seine Förderung von Handel und Industrie dazu führen werde, die Brotversorgung des Volkes eines Tages zu einem wesentliche Teile vom Auslande decken zu müssen. Deshalb beginnt schon Pisistratus mit der Besetzung von Sigeion einen festen Punkt an der Strasse nach der grossen Kornkammer der damaligen Welt, dem Pontus, zu gewinnen. Als im Jahre 510 v. Chr. die Pisistratiden mit Hülfe von Sparta durch die verbannten Adligen vertrieben wurden, hatte Athen die damals recht respektable Einwohnerzahl von 20'000 erreicht.

Schon im folgenden Jahre (509) wird die Gesetzgebung des Kleisthenes notwendig, welcher die solonische Verfassung in demokratischem Sinne weiterbildet. Es wird eine politische Neueinteilung des Volkes in der Weise durchgeführt, dass jeder Gemeindeverband zu gleichen Teilen Bevölkerungsanteile aus Diakria, Pedias und Paralia erhält — eine Aenderung, welche die drohende Dreispaltung für Attika verhüten, die Macht des Adels brechen sollte, und deren Durchführung durch die zentrale Lage der Hauptstadt Athen wesentlich erleichtert worden ist. Um persönliche Einflussnahme bei Besetzung der Aemter thunlichst zu verhüten, kam die Erwählung durch das Loos umfassend zur Anwendung. Und um auch ärmeren Bürgern die Mitgliedschaft an dem ständigen Rechtsausschuss zu ermöglichen, wurde ihr Unterhalt auf Staatskosten im Rathause bestimmt.

Der längst kapitalistisch gewordene Adel war mit dieser Neuordnung der politischen Verhältnisse wenig einverstanden. Er rief die Spartaner zu Hülfe. Es kam zum Bürgerkriege, welcher damit endigte, dass die Führer der Aristokratenpartei hingerichtet, ihre Güter an arme Bürger verteilt werden und dass das siegreiche attische Heer zur Bestrafung für die Teilnahme am Bürgerkriege Chalkis Buchseite 291 mit dem lelantinischen Felde erobert. Die weit überlegene äginatische Flotte freilich verwüstet, ohne Widerstand zu finden, die attische Küste. Kleisthenes schliesst seine Reformen mit der Einführung des Ostracismus, wodurch die Volksversammlung befugt wurde, in geheimer Abstimmung ohne vorhergegangenen Prozess einen die Verfassung gefährdenden Bürger auf 10 Jahre zu verbannen. Nach alledem scheint Kleisthenes von der Ueberzeugung ausgegangen zu sein, dass es genüge, alle Entscheidungen dem Volke selbst in die Hand zu geben, um der besten Ordnung der Dinge sicher zu sein.

Inzwischen haben weitere wichtige Ereignisse Attika auf der nun einmal schon betretenen Bahn zum Industrie- und Handelsstaat gewaltsam weiter geschoben.

Die kleinasiatischen Griechen glaubten aus ganz bestimmten Gründen die Zeit gekommen, um die Fesseln der Perserherrschaft abzuwerfen. Athen war dabei in einer ganz bestimmten Weise interessiert. Aus dem bisherigen Niedergang der kleinasiatischen Industriestaaten hatte es viel gewonnen. Händler und Industrielle waren zu Tausenden bereits aus Kleinasien nach Athen gezogen, wo man ihnen in liberaler Weise das Bürgerrecht verliehen hatte. Daraus waren naturgemäss ganz bestimmte Freundschaftsbeziehungen erwachsen, denen man jetzt um so mehr Ausdruck geben musste, je grösser die ökonomischen Vorteile waren, welche man daraus in Zukunft noch zu ziehen hoffte. Es ist das alte Prinzip des Handels, bei keiner Gelegenheit zu fehlen, in der man aus der Notlage des Anderen leicht reiche Gewinne zu ziehen in der Lage ist. So schickte denn Athen zur Unterstützung der kleinasiatischen Griechen 20 Trieren (500 v. Chr.), um so wenigstens seinen guten Willen zum Ausdruck zu bringen, und benutzte gleichzeitig die allgemeine Verwirrung dazu, die beiden wichtigen Inseln Lemnos und Imbros auf Buchseite 292 der Strasse nach dem Pontus zu erobern und mit attischen Bauern zu besetzen. Nachdem jedoch die Perser entscheidend gesiegt hatten und ein Rachezug nach dem europäischen Griechenland zur Bestrafung für die Anteilnahme an dem kleinasiatischen Aufstande beschlossen war, erwuchs daraus die wichtige Frage: wie kann sich Athen gegen diese drohende Gefahr schützen?

In der gleichen Zeit hatte Athen den Versuch gemacht, die so nahe gelegene mächtige Insel Aegina zu erobern. Der Plan glückte nicht ganz (488 bis 481). Wohl aber schritt die mächtige äginatische Flotte jetzt zur Blockade der attischen Küste und schädigte so den jungen aufblühenden Handel von Athen sehr empfindlich. Auch damit war ein ganz unhaltbarer Zustand aufgedeckt worden. Die grosse Flotte der Aeginaten konnte nur durch eine mächtigere Flotte unschädlich gemacht werden, wobei in Aussicht stand, sie durch die Aufsaugung der feindlichen Flotte noch mehr zu vergrössern. Vielleicht war diese Flottenvermehrung mit Anstrengung aller Kräfte auch die beste Vorbereitung für den drohenden Kampf mit den Persern? Die staatlichen Silbergruben in Laurion brachten jetzt 20 bis 30 Talente per Jahr, die bisher zur Unterstützung armer Bürger verwendet wurden. Mit diesen Mitteln liess sich in einigen Jahren eine imposante Kriegsflotte bauen. Aber freilich — auf die Besetzung und Verteidigung des Landes musste dann verzichtet werden. Dazu reichten die disponiblen Mannschaften des Staates nicht aus. Die Entschädigung für diese Verluste musste das Volk nach glücklichem Ausgang des Krieges in jenen Gewinnen finden, welche aus der herrschenden Stellung einer Seemacht zu ziehen waren. Wie aber, wenn der Seekrieg ungünstig für Athen enden würde? — Ganz offenbar: Athen war jetzt bereits in der Position eines Spielers, der nicht mehr aufhören kann zu spielen, ohne sich selbst zu ruinieren. Buchseite 293 Nach lebhaften Meinungskämpfen lautete die Entscheidung des attischen Volkes: das Land dem Feinde preiszugeben und das Volk hinter die hölzernen Mauern der Kriegsschiffe zu verschanzen. Binnen wenigen Jahren hatte Attika mit 300 Trieren die mächtigste Flotte in Griechenland.

Das Spiel glückte. Das im Kern noch gut agrarische Volk schlug mit seinen Verbündeten das Perserheer zu Lande und zu Wasser. Mitten im Siegesjubel und zur Zeit der noch drohenden Gefahr neuer Perserangriffe kam es im Jahre 477 v. Chr. unter der Führung von Athen zur Gründung des ersten attischen Seebundes, dem bald die meisten Küsten- und Inselstaaten des ägäischen Meeres angehörten. Als religiöser Mittelpunkt wurde der Apollotempel in Delos bestimmt, wo auch die Bundeskasse sich befand. Die kleineren Bundesstaaten überliessen ihre Schiffe und Truppen Athen und zahlten nur Geldbeiträge, während die grösseren ihre bestimmten Kontingente stellten. Ueber alle wichtigeren Angelegenheiten wurde auf der Bundesversammlung in Delos entschieden. Kaum war jedoch die Gefahr eines Perserangriffes weiter zurückgetreten, als auch einzelne Bundesmitglieder anfingen, ihre Verpflichtungen nicht mehr zu erfüllen. Athen ging dagegen mit aller Strenge vor. Die Abtrünnigen wurden völlig Athen unterworfen und in ihren Gebieten attische Bauern angesiedelt. So 466 in Naxos, 463 in Thasos u.s.w. Nach solchen Erfahrungen schienen die Bundesschätze in Delos nicht mehr sicher, weshalb die Bundeskasse nach Athen gebracht wurde. Und weil mit den kriegerischen Erfolgen naturgemäss auch das Selbstbewusstsein der attischen Bürger gewachsen war, traten jetzt alle jene Aenderungen ein, durch welche der attische Seebund mit dem Vorort Athen sich in ein attisches Reich verwandelte, dessen Regenten die Bürger von Athen geworden waren.

Buchseite 294 Alle Bürger — nur mit Ausnahme der Theten — wurden gleichmässig zu allen öffentlichen Aemtern zugelassen, für welche sie zumeist aus der Volksversammlung durch das Loos gewählt wurden. Die Machtbefugnisse der Volksversammlung erweiterten sich immer mehr. Die höchsten Staatsbeamten waren nur Werkzeuge der Volksversammlung. Die Spezialisierung der Aemter kam immer mehr zur Durchbildung. Jedes Jahr wurden 6000 Bürger als Geschworene ausgelost, welche in zehn verschiedenen Abteilungen fungierten u.s.w. In gleichem Masse traten die Rechte der Bundesmitglieder zurück. Nicht mehr die Bundesversammlung, sondern die athenische Volksversammlung entschied über Krieg und Frieden, über die Höhe der von den einzelnen sog. Bundesmitgliedern zu leistenden Tribute wie über die Verwendung der vorhandenen Mittel. Die Prozesse der Bundesgenossen kamen vor den athenischen Geschworenen zur endgültigen Entscheidung. In eine Reihe von Bundesstädten musste aus Gründen der Sicherheit eine attische Besatzung gelegt werden, die da und dort durch attische Kolonisten noch weiter verstärkt wurde. Von Zeit zu Zeit kam es zu einer Revision der Verwaltung in den Bundesstaaten durch besondere attische Kommissionen. Rückständige Leistungen wurden durch attische Exekution eingetrieben. Auf diese Weise ist nach und nach das ganze Gebiet des attischen Seebundes dem Staate der Athener einverleibt worden. Nur die drei grossen Inseln Samos, Chios und Lesbos haben sich dauernd unabhängig erhalten.

Wo so viel öffentliche Pflichten von fast der Gesamtheit der Bürger zu erfüllen waren, da mussten notwendigerweise Besoldungen eingeführt werden. So wurde denn das Prinzip der kostenlosen Leistungen für den Staat aufgegeben und Besoldungen für den Militärdienst, das Richteramt und sogar für Besuch und Teilnahme an der Buchseite 295 Volksversammlung eingeführt. Hand in Hand ging damit die Umwandlung der Naturalsteuern in Geldleistungen und die wesentliche Erschwerung der Aufnahme in die privilegierte Klasse der attischen Bürger. Während bis dahin den eingewanderten wohlhabenden Fremden zu Tausenden das heimische Bürgerrecht verliehen wurde, sollte jetzt der Bürger nur geboren werden.

Wo so viel Schlachten gewonnen und so viel Beute zusammengetragen wurde, da musste Reichtum sich ansammeln, der all diese freigiebigen Besoldungen gestattete. Unter der Verwaltung des Perikles (444 bis 429) wird das Jahreseinkommen des attischen Staates auf 3 1⁄2 Millionen Mark angegeben. Diese Einnahmen sind aus dem Tribute der Bundesstaaten, aus den im Hafen erhobenen Ein- und Ausfuhrzöllen, aus Stempelabgaben für Verkäufe und aus dem Ertrage der Bergwerke und Domänen geflossen. Dazu kam ein Staatsschatz von 33 1⁄2 Millionen Mark.

Athen war seit dem 5. Jahrhundert der Mittelpunkt der griechischen Bankwelt geworden. Die silberne attische Tetradrachme war um Mitte des 5. Jahrhunderts herrschende Kurantmünze in der ganzen griechischen Welt. Auch Goldmünzen wurden in grösserer Menge jetzt in Athen geprägt. Das Bankhaus des Pasion, ursprünglich ein Sklave, war im Jahre 394 das bedeutendste der damaligen Welt und arbeitete fast ausschliesslich mit Depositengeldern.

Dabei war die moderne Arbeitsteilung bereits in umfassender Weise durchgeführt. Während ursprünglich fast alle gewerbliche Produkte in der Hauswirtschaft erzeugt und selbst das Brotgetreide in der Morgendämmerung von Frauen gemahlen wurde, sodass von dem Geräusch ihrer Arbeit das Dorf widerhallt, ist jetzt längst das Brot in verschiedenster Feinheit in den Bäckerläden zu kaufen. Ebenso hat man auf dem Markte reichste Auswahl in Stoffen Buchseite 296 und Kleidungsstücken aller Art. Als besonders vielbeschäftigte Handwerker unter Perikles werden genannt: Zimmerleute, Kupferschmiede, Modelleure, Steinmetzen, Färber, Arbeiter in Gold und Elfenbein, Sticker, Schmelzer, Seiler, Leineweber, Schuster, Pflasterer und Metallarbeiter. In den meisten dieser Betriebe wird neben den freien Lohnarbeitern eine grosse Zahl von Sklaven verwendet. So zählte Attika nach Beloch im Jahre 432 v. Chr. eine Gesamtbevölkerung von 235'000, unter denen 100'000 Freie, 30'000 Fremde und 100'000 Sklaven waren. Auf dem Marktplatze von Athen fand man die Waren der ganzen Welt und insbesondere auch die feinsten Leckerbissen für die Tafel vertreten. Könige und Königinnen schickten von Zeit zu Zeit ihre Einkäufer nach Athen, weil man hier jeglichen Bedarf am besten decken konnte.

Mit dem ökonomischen Reichtum kam auch die Pflege von Wissenschaft und Kunst, die gerade hier ganz Hervorragendes geleistet haben. Athen war nicht nur die erste Seemacht und der bedeutendste Handels- und Industriestaat seiner Zeit und damit selbstverständlich auch das Zentrum der Bankwelt und des Geldverkehrs, Athen war gleichzeitig auch der Sitz der Intelligenz und das Schmuckkästchen von Griechenland. Ein Zeitgenosse des Perikles fasste — nach der Uebersetzung von Beloch — dies in die Worte zusammen:

Du bist ein Klotz, wenn Du Athen nicht sahst;
Ein Esel, sahst Du’s, und es liess Dich kalt;
Doch wenn Du gerne fortgehst, ein Kamel.

Trotz all dieser glänzenden Erscheinungen nach aussen hin waren jetzt die volkswirtschaftlichen Verhältnisse von Athen bereits durch und durch krank. Das Wesen dieser höchst gefährlichen Krankheit aber ist leicht zu erkennen: das attische Volk lebte aus dem Staatssäckel und von Buchseite 297 den Getreidefeldern am Pontus. Wurde der Staatssäckel leer und stockten die Sold- und Pensionszahlungen, so musste es zur sozialen Revolution kommen. Kamen die Getreidezufuhren aus dem Pontus ins Stocken, dann war Hungersnot im Lande. Traf aber der leere Staatssäckel mit der Hungersnot zusammen, dann war Athen seinen Feinden auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Ein Politiker von der Bedeutung eines Perikles konnte natürlich diese höchst bedenklichen Schwächen aller attischen Herrlichkeit nicht verkennen. Aber er dachte nicht einmal daran, diese Missstände von Innen heraus dadurch zu beseitigen, dass er dem Volke seine Brotversorgung im eigenen Lande gesichert und es gelehrt hätte, sich aus seinem eigenen Besitz und aus seinem eigenen Arbeitsertrage zu ernähren. Zu solch prinzipiellen Erwägungen war es ja auch für Athen längst zu spät geworden. Mit dem Beschluss zu Anfang der Perserkriege, sich auf den Kriegsschiffen zu verschanzen, war mit dem Lande auch die naturgemässe Entwickelung auf der Basis der Heimat aufgegeben worden. Athen spielte von nun ab das Hazardspiel aller Handels- und Industriestaaten. Die Aufgabe der Staatsgewalt bestand darin, für Handel und Industrie neue Absatzwege zu erobern und die Zufuhrstrassen für das ausländische Getreide zu sichern. Das bedeutete für die äussere Politik die ununterbrochene Beteiligung an den Händeln in aller Welt, für die innere Politik die Verteilung eines gewissen Prozentsatzes der so gewonnenen Beute an die armen Volksmassen, damit das ganze Volk in der That an dieser Art von Wirtschaftspolitik materiell interessiert sei. Nur nach diesen Richtpunkten allein bethätigte sich die Politik des Perikles. Bis wann sie trotz aller Kunst im Kleinen zum Zusammenbruch des Staates und seiner Kultur führen musste, das war nur noch eine Frage der Zeit.

Buchseite 298 Um die reichen Einnahmen der Staatskasse zu sichern, wurden stets mit aller Strenge und Rücksichtslosigkeit die Tributzahlungen der Bundesstaaten beigetrieben. Und nach den nötigen Vorbereitungen begann man von Athen aus den 27jährigen Entscheidungskampf mit Korinth, der zu Anfang Athen grosse Vorteile gebracht hat. Inzwischen waren die Soldzahlungen der Staatskasse an die Bürger in der Weise weiter gebildet worden, dass Staatspensionen an die Kinder der im Kriege Gefallenen und an die arbeitsunfähig gewordenen Bürger gewährt wurden. Dazu kamen die glänzendsten Theatervorstellungen zur Unterhaltung des Volkes. Weil der Andrang zu diesen Festen lebensgefährlich wurde, hat man Eintrittsgelder erhoben. Und weil die armen Bürger diese Eintrittsgelder nicht zahlen konnten, hat man ihnen dies Eintrittsgeld aus der Staatskasse gegeben mit einem weiteren Geldgeschenke dazu. Durch dieses ganze System der Sold- und Pensionszahlungen und der regelmässigen Geldgeschenke hat es Perikles erreicht, dass von 35'000 erwachsenen männlichen Bürgern über 17 Jahre 20'000 aus der Staatskasse erhalten wurden, und dass in fünf Jahren fast 11 Millionen Mark zur Ausführung von Staatsbauten im Interesse der beschäftigungslosen freien Arbeiter aus der Staatskasse verausgabt wurden.

Um die Brotversorgung des attischen Volkes durch den internationalen Getreidehandel zu sichern, wurden folgende Massregeln getroffen: Attische Bürger, welche Getreide importierten, schienen so sehr im Dienste des Staates zu handeln, dass sie deshalb vom Kriegsdienste befreit wurden und zeitweise auch keinerlei Steuern zu zahlen hatten. Gleichzeitig war jedem attischen Bürger bei Todesstrafe geboten, Getreide immer nur nach Athen zu verfrachten. Den Banken war es verboten, Schiffe zu beleihen, welche Getreide geladen hatten, das Buchseite 299 nicht nach Athen gefahren wurde. Kein athenisches Schiff durfte vermietet werden, wenn es nicht Getreide als Rückfracht nach Athen brachte. Fremde Schiffe mit Getreide mussten 2⁄3 ihrer Ladung in Athen verkaufen. Kein Getreidehändler in Athen durfte bei Todesstrafe mehr als 50 Last Getreide aufkaufen und sollte beim Wiederverkauf nur einen Gewinn von etwa 8% zum Einkaufspreise aufschlagen. Zur Ausführung all dieser Bestimmungen waren grosse staatliche Getreidemagazine erbaut worden. Besondere Staatsbeamte (Sitophylaken), deren Zahl zur Zeit des Aristoteles auf 35 gestiegen war, hatten die Befolgung dieser Bestimmungen zu überwachen und eingehende Statistiken über Getreidevorräte, über die auf Athen schwimmenden Mengen, wie über die Grösse des Bedarfs auszuarbeiten, Brottaxen aufzustellen und auch Müller und Bäcker zu überwachen, dass sie Mehl und Brot nach dem gesetzlichen Gewicht und Preise verkauften. Die Getreideimporteure, wie die Getreidehändler waren unter staatlicher Aufsicht berufsgenossenschaftlich organisiert.

Um bei Gelegenheit der Volksfeste Getreide an die Bürger verteilen zu können, wurde im attischen Seebunde der Getreidezehnt an die eleusinischen Göttinnen eingeführt. Dazu kamen häufige Getreideschenkungen fremder Fürsten an das attische Volk. Und auch einzelne reiche Athener haben sich durch solche Mittel ein besonderes Ansehen bei der allmächtigen Volksversammlung erworben.

Selbst bei der Produktion im Auslande suchte diese Getreidepolitik direkten Anschluss zu finden, indem sie staatlich erworbene Felder im Auslande an attische Bürger verschenkte, die vielfach in Athen blieben, ihren Grundbesitz womöglich an seinen früheren Besitzer verpachteten und den Naturalpacht in Athen in Empfang nahmen. Infolge der weitgehenden Verpflichtung der attischen Schiffe, als Rückfracht stets Getreide einzunehmen, wird dieser Buchseite 300 Frachtsatz kaum hoch gewesen sein. Bei diesem Erwerbe fremder Aecker im Bundesgebiet scheint das Geld, das man von Athen aus auf Grundstücke hypothekarisch geliehen hatte, keine kleine Rolle gespielt zu haben, da der Friede des Antalkidas (387 v. Chr.) es für wichtig genug hält, den Athenern ausdrücklich zu verbieten, bundesgenössisches Gebiet ferner noch hypothekarisch zu beleihen.

Vor dem Ausbruch des peloponnesischen Krieges (431 v. Chr.) hat Perikles die pontischen Getreidezufuhrstrassen befestigen lassen und jede Getreideausfuhr aus dem Pontus und aus Byzanz in andere Städte als solche, denen Athen die Erlaubnis der Einfuhr ausdrücklich erteilte, verhindert. Und es kann kaum einem Zweifel unterliegen, dass die waghalsigen und so wenig geglückten Unternehmungen der Athener gegen Aegypten (460 v. Chr.) wie gegen Sizilien (415 bis 413 v. Chr.) im wesentlichen von der Absicht getragen waren, sich neue Kornkammern zu erschliessen.

Indes — auch dieses so mühsam aufgebaute künstliche System zur Sicherung und Erhaltung einer Volkswirtschaft, deren natürlicher Entwickelungsschwerpunkt vom Inlande nach dem Auslande verlegt worden war, musste bald zusammenbrechen.

Zunächst führte der internationale Handelsverkehr die Pest nach Athen (429 v. Chr.), welche 50'000 Menschen hinweggerafft haben soll. Perikles selbst ist ihr zum Opfer gefallen.

Der Kriegsdienst in den Söldnerheeren wird immermehr zur Erwerbsart der erwachsenen Bevölkerung. In den 85 Jahren vom Anfang des peloponnesischen Krieges bis zum Einzug des König Philipp von Makedonien in Delphi zählt man 55 Kriegsjahre. Unter solchen Umständen war nicht zu erwarten, dass Getreide in Ueberfluss vorhanden gewesen. Die Weizenpreise stiegen in Athen Buchseite 301

        von 20 Mk. 50 Pfg. per 1000 Kg im Jahre 600 v. Chr.
        auf 41 "   -   "     "  "   "      "    480   "
        "   61 "   50  "     "  "   "      "    390   "
        "  102 bis 123 Mk.   "  "   "      "    330   "
Noch mehr waren die Fleischpreise gestiegen. Ein Schaf kostete
               im Jahre 600  v.Chr.       80 Pfg.
                "   "   400    "    8 bis 16 Mk.

Die Arbeitslöhne hatten sich vom 5. bis 4. Jahrhundert verdreifacht. Da mussten auch die Staatspensionen, die Staatssoldzahlung und die längst unentbehrlich gewordenen staatlichen Geldgeschenke entsprechend erhöht werden. Nach dem Tode des Perikles war die Leitung des Staates in die Hände der Grossindustriellen und Bankiers gekommen, die naturgemäss für solche Veränderungen ein geübtes Auge hatten. Der „Gerber“ Kleon, der es so gut verstanden hat, sich während des peloponnesischen Krieges noch mehr zu bereichern, erhöhte deshalb sofort den Soldatensold von 40 auf 52 Pfennige, den Reitersold auf 1,05 Mk. bis 2,10 Mk. Die ersten 10 Jahre des peloponnesischen Krieges hatten dem athenischen Staate 65 Millionen Mark gekostet. Diesen grossen Staatsausgaben gegenüber mussten neue Einnahmen erschlossen werden. Die fortschreitenden Erhöhungen der Tributleistungen der Bundesstaaten wurden von einem gewissen Punkte ab unrentabel, weil die Beitreibungskosten immer grösser wurden. Man versuchte es deshalb mit Staatsanleihen bei den reichen Tempelkassen, mit Zwangsanleihen, mit Ausgabe von Kreditgeld, mit Vermögenskonfiskationen; nur zu dem Mittel der Münzverschlechterung hat der Handels- und Industriestaat Athen auch in der grössten Finanznot nie gegriffen. Wesentlich deshalb wohl erreichte der Warenverkehr im Hafen von Athen auch nach dem peloponnesischen Kriege in Ein- und Ausfuhr immer noch die Werthöhe von 11 Millionen Mark.

Buchseite 302 Indessen hatte die rücksichtslose Ausraubung der Verbündeten den allgemeinen Hass gegen die Athener wesentlich gesteigert. Die Anschauung, dass man einen solchen Staat nicht die Oberhand in Griechenland gewinnen lassen dürfe, liess aus persischem Golde eine spartanische Flotte entstehen, die jetzt rasch die entscheidenden Schläge gegen Athen führte. Die längst höchst unzufriedenen Bundesstaaten werden in ihrem Abfall von Athen unterstützt und so diese Geldquelle aufgehoben. Die Besetzung von Dekeleia auf attischem Gebiete sperrte für die athenischen Handelsschiffe den Weg nach den lelantinischen Feldern auf Euböa und ermöglichte es ausserdem, dass etwa 20'000 Sklaven aus den attischen Fabriken zum Feinde entliefen. Als dazu noch die Unterbrechung der Getreidezufuhren aus dem Pontus kamen, war Geld- und Hungersnot in Athen, das sich deshalb auf Gnade und Ungnade dem Sieger ergeben musste (404 v. Chr.).

Die Lage nach Abschluss des peloponnesichen Krieges war daher auch in Athen eine höchst traurige. Die Staatskassen waren leer. Um Einnahmen zu haben, liess die neue oligarchische Regierung 1500 der reichsten Demokraten hinrichten und ihr Vermögen zu Gunsten der Staatskasse konfiszieren. Aber der auf solche Weise flüssig werdende Betrag blieb hinter den Erwartungen zurück, denn für Grundstücke wollte sich kein Käufer mehr finden. Athen hat damals bei Sparta 100 Talente geborgt und bald darauf an die Böoter 2 Talente nicht zahlen können. Die Einkünfte aus den Kolonialfeldern waren verschwunden, weil die Feinde sie in Besitz genommen. Aus den Mietshäusern in der Stadt war keine Rente zu ziehen, denn die Stadt war menschenleer geworden. Hausgeräte kaufte niemand. Geld wollte niemand mehr leihen. So fingen denn selbst frei geborene Frauen an, sich als Ammen oder Handarbeiterinnen zu verdingen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Buchseite 303 Achtung vor der Arbeit stieg und eine höchst eigenartige Bewegung zu Gunsten einer Beseitigung der Sklavenarbeit setzte jetzt ein.

Die vielen Kriege hatten nur zu häufig Sklaven in Freie und Bürger in Sklaven verwandelt. Das hat den ursprünglichen Begriff der Sklaverei wesentlich gemildert. In Athen gingen die ärmeren Bürger und die Sklaven gleich gekleidet. Das Steigen der Getreidepreise erhöhte die Kosten ihres Unterhaltes. Gleichzeitig bot sich auch freie Arbeit zu billigem Lohne genügend an. So konnte man sich jetzt um so leichter dazu entschliessen, die Sklaven frei zu geben, als der Freikauf mit den bisherigen Sklaven zu einem höheren Preise abgeschlossen wurde, als sein vorheriger Kaufpreis war. Diese Freilassungen erreichten denn auch eine solche Ausdehnung, dass es ausdrücklich verboten wurde, zu diesem Zwecke das Theater zu benutzen. Die Zahl der Sklaven in Athen ging zurück, bis die kapitalistische Entwickelung von Neuem ihre Zunahme begünstigte.

Trotz der allgemeinen Not ist nämlich der Reichtum der Einzelnen in dieser Zeit immermehr gestiegen. Der schon erwähnte Bankier Pasion in Athen, der auch Besitzer von Mietskasernen und ausgedehnten Waffenfabriken war, hat das von ihm gegründete Welthaus im Jahre 371 v. Chr. seinem Freigelassenen Phormion übergeben. Das in diesem Geschäft verwendete Kapital soll 300'000 Mark betragen haben. Von dem Bergwerksbesitzer Diphilos, dessen Vermögen zur Zeit Alexanders des Grossen (336 bis 323) konfisziert worden ist, wird berichtet, dass sein Besitz 960'000 Mark erreicht habe. Zur richtigen Beurteilung dieser Summen ist es notwendig, sich zu erinnern, dass damals die Häuser des Mittelstandes zwischen 270 und 450 Mark kosteten, dass eine grosse Mietskaserne des Bankier Pasion auf 9000 Mark geschätzt Buchseite 304 wurde, dass das Haus von Demosthenes Vater, das neben der Wohnung auch noch ausgedehnte Fabrikräume umschloss, auf 2700 Mark bewertet wurde, dass Sokrates bei seinen bescheidenen Ansprüchen mit der Rente aus einem Vermögen von nur 400 Mark sein Auskommen gefunden hat, dass die höchste Steuerklasse in Athen, die Fünfhundertscheffler, im 4. Jahrhundert mit einem Vermögen von 5440 Mark nach unten abgegrenzt wurde und dass der mittlere Zinssatz immer noch 10 bis 18% war. Mit diesem so niedrigem Vermögen des Mittelstandes in Athen sind zweifelsohne die Sold- und Pensionszahlungen mit den Theatergeldern des Staates an die Bürger in engere Verbindung zu bringen. Trotz der so ungünstigen finanziellen Lage des Staates müssen diese Zahlungen fortwährend erhöht werden. So erhielten im 4. Jahrhundert die Bürger für die Teilnahme an einer ausserordentlichen Volksversammlung 80 Pfennige, für die Teilnahme an regelmässigen Ratsversammlungen 1,20 Mark. Die Theater- und Festgelder waren im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts auf 4 Mark erhöht worden. Und wenn zu Demosthenes Zeiten einmal berichtet wird, dass das Volk mit einer vorübergehenden Aufhebung dieser Theater- und Festgelder sich einverstanden erklärte, so darf nicht vergessen werden, dass in der gleichen Zeit reichliche Bestechungsgelder sowohl aus Makedonien wie aus Persien nach Athen geflossen sind. Der attische Mittelstand war mit der Umwandlung der 300 bis 500 Scheffel Getreide in einen Vermögenswert bis 5440 Mark thatsächlich proletarisiert und deshalb in seinem Lebensunterhalt auf solche Geschenke aus der Staatskasse oder aus den Händen der Reichen angewiesen. Deshalb ist so bald schon nach Perikles Tode die soziale Revolution in Athen nicht mehr zur Ruhe gekommen. Wurde die Staatskasse leer, so war es bei demokratischer wie bei oligarchischer Verfassung selbstBuchseite 305verständlich, dass bei dem herrschenden absoluten Staatsbegriff das Vermögen der Reichen konfisziert wurde, um die Staatskasse wieder zu füllen. Und weil die weitere Alternative nur noch darin bestand, das Geld entweder an fremde Söldner oder an die eigenen Bürger zu verteilen, war die demokratische Verfassung in Athen in der That die bessere. Ebenso ist es unter solchen Verhältnissen leicht verständlich, dass in Athen auch im 5. und 4. Jahrhundert von einer Parzellenverteilung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes berichtet wird.

Die empfindlichste Seite der attischen Verhältnisse aber blieb der Mangel an einer gesicherten Brotversorgung im eigenen Lande. Kleomenes, Alexanders Satrap in Alexandrien, machte gute Geschäfte aus der systematischen Auswucherung der hellenischen Staaten, welche damals auf die Getreidezufuhren aus Aegypten angewiesen waren. Handel und Industrie wanderten nach den kleinasiatischen Städten aus. Bald zeugten nur noch Ruinen von der einstigen Grösse Athens, die nicht im eigenen Lande verankert war.

α) Sparta. Bis etwa um die Mitte des 8. Jahrhunderts war es den Spartanern gelungen, das untere Eurotasthal zu erobern und von hier aus noch Messenien und Teile von Arkadien und Argolis zu gewinnen. Mitten in dieser kriegerischen Eroberungszeit haben die Spartaner sich ihre Staatsverfassung gegeben. Die Bevölkerung war in drei streng geschiedene Klassen eingeteilt: die Spartiaten, die Periöken und Heloten. Die Spartiaten erhielten als Eroberer den fruchtbarsten Teil des Landes, welches in 4500 und später in 9000 gleich grosse Ackerlose aufgeteilt wurde. Dieser Grundbesitz war unveräusserlich, unverpfändbar und ging geschlossen vom Vater auf den ältesten Sohn über. Buchseite 306 Die alten Landbewohner wurden als Staatssklaven (Heloten) verpflichtet, das Land der Spartiaten zu bebauen. Die städtischen Bewohner (Periöken) waren persönlich frei, aber zu Steuerleistungen an den Staat verpflichtet, ohne politische Rechte, aber mit der Verpflichtung sich zum Kriegsdienste bereit zu halten. An der Spitze des Staates standen zwei erbliche Könige, denen fünf Ephoren als Beirat gegeben waren. Die Entscheidung über die wichtigsten Angelegenheiten des Staates war der Versammlung der Vollbürger (Agora) vorbehalten. Die Vorbereitung von Anträgen dieser Art mit der Gerichtsbarkeit über Kapitalverbrecher lag in der Hand der Gerusia, deren Mitglieder mindestens 60 Jahre alt waren. Nur der Staat durfte Gold und Silber besitzen. Den Bürgern war der Besitz von Edelmetall gesetzlich verboten. Der Güterverkehr sollte sich nur eiserner Münzen bedienen. Den Spartiaten war eine einfache, streng geregelte Lebensweise vorgeschrieben. Vom 7. bis zum 20. Jahre erhielten die Knaben eine staatliche Erziehung in einer Art Kadettenhaus. Vom 20. bis zum 60. Jahre war der Spartiat zum Heeresdienst verpflichtet. Mit dem 30. Jahre wurde er Mitglied der Volksversammlung und zur Heirat verpflichtet. Immer 15 Männer nahmen an gemeinsamen Mahlzeiten (Syssitien) teil. Nur wer soviel Land hatte, dass er von dessen Ertrage mit seiner Familie leben und die Naturalbeiträge zu den gemeinsamen Mahlzeiten leisten konnte, ohne selbst den Pflug zu führen, war im Vollbesitze der bürgerlichen Rechte. Zur Reise eines Spartiaten nach dem Auslande bedurfte es der staatlichen Genehmigung. Fremden musste der Aufenthalt im Lande ausdrücklich gestattet werden, was nur auf Zeit und Widerruf erfolgte. Die gewerblichen Berufe waren den Unfreien und Fremden überlassen. Der athenische Krämersinn hat den hohen Herren am Eurotas aufs Aeusserste misfallen. Die spartanische Verfassung war so eine VerBuchseite 307fassung für ein Volk in Waffen, gegeben inmitten einer grossen Eroberungsepoche und in fast ausschliesslicher Beschränkung auf die Verhältnisse der Naturalwirtschaft. Den Feinden jeglicher Art und also auch dem „Kapitalismus“ und seinen Folgen sollte durch diese Verfassung der Weg zum Eindringen in das Vaterland verlegt werden. Lakonien mit Messenien umfasste im Jahre 432 v. Chr. nach Beloch ein Areal von 8418 Qudratkilometern mit einer freien Bevölkerung von 55'000 Einwohnern und einer unfreien Bevölkerung von 175'000. Mit dieser Besitzfläche und seiner straffen militärischen Organisation war Sparta auf der peloponnesischen Halbinsel weitaus der mächtigste Staat. Und da seine Verfassung die Ausübung einer kapitalistischen Herrschaft über andere Völker auszuschliessen schien, hatten sich schon gegen Mitte des 6. Jahrhunderts die meisten peloponnesischen Staaten mit Sparta freiwillig verbündet. Sie hofften in diesem Bündnis anscheinend Nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen. Als es im Jahre 500 v. Chr. zum Ausbruch der Perserkriege kam, war es allgemein selbstverständlich, dass Sparta als Vormacht des Peloponnes den Oberbefehl über die gesamten griechischen Streitkräfte übernahm. Als Sparta dann im Jahre 404 v. Chr. auch im peloponnesischen Kriege den Sieg über Athen errungen hatte und in der schweren wirtschaftlichen Krisis, die damals fast ganz Griechenland umzustürzen schien, nur allein den Eindruck wohlgeordneter und wohlgefügter Verhältnisse machte, da begann es in Griechenland allgemein Mode zu werden, die Verfassung des Agrarstaates Sparta als eine Musterverfassung zu bewundern. Trotzdem stand gerade jetzt Sparta schon dicht vor seinem Niedergange.

Es war offenbar etwas Widernatürliches, durch die Verfassung das Land in der Naturalwirtschaft und in dem Ständestaat mit ehernen Klammern festhalten zu wollen, während ringsherum neue Veränderungen sich zeigten. Buchseite 308 Da musste die Saat des Misstrauens keimen. Sie zeigte sich zunächst namentlich in dem Verhältnis zwischen den beiden Königen und Ephoren. Um dieses Misstrauen zu bannen, wurde von diesen beiden Spitzen des Staates die spartanische Verfassung allmonatlich beschworen. Trotzdem kam es schon während der Perserkriege (500 bis 449) zur Absetzung und Ermordung von Königen, und das Jahr 464 brachte einen langwierigen, blutigen Aufstand der Heloten in Messenien, nach dessen Niederwerfung Sparta doppelt bemüht war, sich durch eine Art chinesischer Mauer gegen das Eindringen neuer Ideen und Einrichtungen von Aussen zu schützen. Alles vergeblich! Der Verkehr der Spartiaten mit den üppigen Persern und asiatitischen Griechen wirkte verheerend auf die heimischen Sitten zurück. Die Stadt Sparta soll nach Beloch im Jahre 460 v. Chr. 20 bis 30'000 Einwohner gezählt haben. Der Entscheidungskampf zwischen den beiden ersten griechischen Handels- und Industriestaaten, Athen und Korinth, liess sich nicht länger aufschieben. Und darum musste Sparta als peloponnesische Vormacht die Führung auf der einen Seite übernehmen. Der von 431 bis 404 dauernde Krieg führte zur Schaffung einer peloponnesischen Flotte. Dies und die wiederholt schweren Verluste an Menschenleben auf spartanischer Seite zwangen den Staat, eine wachsende Zahl von Nichtbürgern in die Armee einzustellen. Namentlich die Truppen der auswärtigen Garnisonen und die Mannschaften der Flotte wurden aus freigelassenen Leibeigenen gebildet. Die Spartaner reichten dabei oft nicht einmal aus, die Offizierstellen zu besetzen. Gleichzeitig strömten infolge der Siege immer mehr Schätze in Sparta zusammen. Unaufhaltsam zeigt sich das Eindringen geldwirtschaftlicher Verhältnisse. Die Bestechlichkeit nimmt immer mehr überhand. Und schon tastet das Gesetz des Ephoren Epitadeus das Prinzip der Unveräusserlichkeit des spartanischen GrundBuchseite 309besitzes an. Die Grundstücke können von jetzt ab durch Testament und Schenkung unter Lebenden die Hand ändern. Bei alledem nimmt die Zahl der Spartiaten bedenklich ab. Während man für 432 v. Chr. noch etwa 5000 Vollbürger schätzen kann, war deren Zahl bis zum Jahre 371 auf 1500 zusammengeschmolzen. Fast die Hälfte der Bürger war verarmt und konnte an den gemeinsamen Mahlzeiten nicht mehr teilnehmen. Desto grösser war der Reichtum Weniger. Die allgemeine Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen wuchs. Im Jahre 399 kommt es zu dem Aufstandsversuch des Kinadon; der Plan wird den Ephoren verraten und der Führer mit seinen Anhängern hingerichtet. Durch die vielen kriegerischen Erfolge waren die Spartaner übermütig und herrschsüchtig geworden. Sie machen sich deshalb beim Auslande wie bei ihren Nachbarn sehr verhasst und wecken durch die Besetzung der Burg von Theben den thebanischen Bauer — die so beliebte Witzfigur bei den „feineren“ Athenern — zum Freiheitskampfe, in dem bei Leuktra (371) die Spartaner entscheidend geschlagen werden. Die weitere Folge war die Verselbständigung des bis dahin von Sparta abhängigen Messeniens, wodurch die Hälfte der spartanischen Bürger ihres Grundbesitzes beraubt wurde. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts sollen 2⁄5 des gesamten Grundbesitzes von Sparta in Frauenhänden gewesen sein. Sparta, das bis dahin stets durch die Brust seiner Bürger gegen alle Feinde genügend geschützt war, beginnt um das Jahr 300 v. Chr. sich durch starke Mauern zu befestigen, um seine Schätze an Gold und Silber besser zu sichern. Die Schuldenlast des Volkes nimmt immer mehr zu, die Zahl der Spartiaten immer mehr ab. Im Jahre 240 v. Chr. waren es nur noch 700 Vollbürger, und der gesamte Grundbesitz war in den Händen von nur 100 Familien. Der erste Versuch des Königs Agis IV. zur Beseitigung des herrschend Buchseite 310 gewordenen Kapitalismus durch eine soziale Reform missglückte. Desto schärfer hat dann der letzte spartanische König Kleomenes IV. im Jahre 226 v. Chr. durchgegriffen. Er liess die Ephoren überfallen und töten, 80 der reichsten Bürger verbannen und ihr Vermögen an 4000 Periöken, welche als Vollbürger aufgenommen wurden, verteilen. Die Schulden aller Art wurden kurzer Hand aufgehoben und die alte verfassungsgemässe strenge Zucht und Ordnung wiederhergestellt. So kam es in Sparta 368 Jahre später als in Athen (Solon) zur Beseitigung des Handels- und Leihkapitalismus. Die Absichten des Königs, auch die spartanische Hegemonie über die peloponnesische Halbinsel wiederherzustellen, liessen den achäischen Bund den König von Makedonien zur Hülfe herbeirufen. Kleomenes wurde 221 bei Sellasia geschlagen und floh nach Aegypten. Die Kapitalisten wurden wieder nach Sparta zurückgeführt. Bei der wachsenden Unzufriedenheit des Volkes aber kam es im gleichen Jahre noch zur Tyrannenherrschaft — 339 Jahre später als in Athen. Unter dem unheilvollen Einflusse der Beziehungen zu den benachbarten Handels- und Industriestaaten wütete von da ab der Bürgerkrieg bis zum Einzuge der Römerherrschaft in Griechenland (146 v. Chr.)

β) Makedonien. Die Einigung des makedonischen Reiches ging von der fruchtbaren Ebene des unteren Axios aus. Es war ein Bauernvolk mit mächtigem Adel, der ausgedehnten Grundbesitz hatte, mit einem Könige an der Spitze, und das erst seit dem Ausgange des 5. Jahrhundert begonnen hatte, die Errungenschaften einer fortgeschrittenen Kultur aus Griechenland herüber zu nehmen. Zu einer Zeit, in der der peloponnesische Krieg schon bald zu Ende ging, begann man hier damit, die reichen Bergwerke des Landes zu erschliessen, Kunststrassen zu bauen, Städte zu befestigen, die Heeresmacht zu reorganisieren, die Finanzen des Landes zu ordnen und Kunst und WissenBuchseite 311schaft ins Land zu bringen. König Philipp (359 bis 336 v. Chr.) führte die Doppelwährung mit starker Goldprägung ein und hat mit seiner wohlgefüllten Börse wohl fast ebensoviel wie mit seiner Heeresmacht erobert. Die wirtschaftlichen Fortschritte in Makedonien waren im 4. Jahrhundert ganz ausserordentliche. So war die Stadt Olynthos im Jahre 435 v. Chr. noch unbekannt, und im Jahre 353 v. Chr. zählte sie bereits 35'000 Einwohner. Der Flächeninhalt von Makedonien wird von Beloch auf 32'000 Quadratkilometer angegeben mit einer Bevölkerung von etwa 400'000 Einwohnern im Jahre 432 v. Chr. Unter kluger Benutzung der Uneinigkeit der griechischen Völker hatte Philipp die Herrschaft über ganz Griechenland erworben. Die Früchte der gewaltigen Eroberungszüge Alexanders des Grossen sind freilich dem Mutterlande wenig zu Gute gekommen.

Nichts ist nach Eintritt der Geldwirtschaft in die Geschichte der griechischen Völker schärfer hervorgetreten, als das Rennen und Jagen nach dem Gelde. Die Aufgabe der Politik der Staaten war von da ab selbstverständlich ausnahmslos auf eine Mehrung des Reichtums an Gütern gerichtet. Als in den ionischen Staaten es sich zuerst zeigte, wie diese Sucht nach Reichtum viel Unglück und Unheil im Gefolge habe, da war die sogenannte ionische Moral bestrebt, das Unglück ohne einen Versuch zur Besserung, so gut es eben ging, zu ertragen und das Glück, wo es sich fand, zu geniessen. Die Proletarier aber wollten von jetzt ab lieber im Kampfe gegen die Reichen sterben, als in der Armut verhungern. Mit dem wachsenden Notstande der Volksmassen geht das Verschwinden der Achtung vor dem Ueberlieferten Hand in Hand. Die Griechen plündern jetzt die Heiligtümer ihrer Götter und betteln selbst von den Persern Gold. Während der Vaterlandsverrat die Väter zittern machte, wurde den Söhnen bange, von Vaterlandsliebe zu hören. Nach der Unmöglichkeit, eine friedliche und wirksame Politik in der Heimat zu betreiben, gewöhnte man sich daran, die Welt als Ganzes, als Heimat zu bezeichnen. Die praktische Moral der Reichen lautete inzwischen: sich im Genusse nicht zu verwöhnen. Man müsse den Purpurmantel ebenso geschickt wie den Bettlermantel zu tragen verstehen. Es sei unklug für die Reichen, kein Handwerk zu erlernen, denn leicht könne man durch Verlust seines Vermögens darauf angewiesen sein, sich seinen Unterhalt selbst zu verdienen, und dann würde ein solches Erlernen in der Jugend später gute Dienste leisten.

Buchseite 313 Schon die Sage von dem phrygischen König Midas wendet sich gegen diese gefährliche einseitige Jagd nach dem Reichtum. Der habsüchtige Wunsch des Midas, dass alles, was er berührt, zu Golde werde, soll ihm bekanntlich erfüllt worden sein. Als er dann aber seinen Hunger und Durst nicht mehr stillen kann und mithin in der Sucht nach dem Reichtum das tägliche Brot verloren hat, fleht er zu den Göttern: ich habe gesündigt, habt Erbarmen mit mir, rettet mich aus meinem „goldenen“ Elend. Am schärfsten tritt die unbedingte Verurteilung der einseitigen Politik des Nationalreichtums in der griechischen Litteratur hervor, als nach dem Ende des peloponnesischen Krieges der Zusammenbruch der griechischen Kulturwelt für jeden unbefangenen Beobachter als unabwendbar bevorstehend erkannt wurde. Jetzt schiessen die sozialistischen und kommunistischen Projekte wie Pilze aus der Erde, und die hervorragendsten griechischen Denker wie Sokrates, Demokritos, Antisthenes, Platon, Aristoteles, Xenophon, Plutarch u. a. sind alle darüber einig: es war der grösste Fehler der griechischen Staaten, so lange und so ausschliesslich die Politik des Nationalreichtums gepflegt zu haben. Niemand hat diese Ueberzeugung schärfer, eingehender und klarer zum Ausdruck gebracht als Platon, dessen Ausführungen wir nach den ausgezeichneten Zusammenstellungen von Pöhlmann folgende Sätze entnehmen:

Das Unheil im Staate und in der Gesellschaft beginnt mit jenem zersetzenden, die sozialen Bande auflösenden Egoismus und mit der „Jagd nach dem Golde“, welche zunächst wenigstens für einen Teil der Gesellschaft die allgewaltige Triebfeder des Handelns geworden ist. Diese Wandlung erzeugt eine Klasse von Menschen, deren Götze das Geld ist, das sie insgeheim mit roher Leidenschaft verehren. Ihre Hauptsorge gilt ihren Geldschränken und Buchseite 314 ihren Depots bei den Banken. An ihren Wohnungen schätzen sie vor allem die Mauer, die sie von der Aussenwelt scheidet. Denn sie sollen ihr „ureigenstes Nest“ sein, in dessen Dunkel sie ungestört dem Genusse leben und ihre Handlungen dem Auge des Gesetzes entziehen können. Sie werden erfinderisch in neuen Formen des Aufwandes und modeln danach selbst die Gesetze um, die Bürgen alter Einfachheit des Lebens.

Der goldgefüllte Geldschrank der Reichen beginnt nun aber sehr bald seine Anziehungskraft auf die Allgemeinheit auszuüben. Es wird unter diesen selbst ein förmlicher Wettkampf um den materiellen Besitz entfesselt, der die Erwerbsgier stetig steigert, während andererseits die übrigen Güter in der öffentlichen Wertschätzung sinken. Eine Entwickelung, die auf den Volksgeist notwendig entsittlichend wirken muss.

Das grösste aller Uebel ist dabei die dem Geiste der Wirtschaft entsprechende absolute Freiheit der Veräusserung und des Erwerbes der Güter (Freihandel). Es entsteht dadurch jene ungesunde Anhäufung des Kapitals, welche Einzelne überreich macht, während Andere in einen Zustand hoffnungsloser Armut herabsinken. Es ist zweifelsohne, dass der zügellose Kapitalismus die Tendenz in sich schliesst, den Abstand der kleinen Leute von der Aristokratie des Besitzes stetig zu steigern.

Dazu kommt die durch den Mammonismus grossgezogene Klasse der Müssiggänger und Verschwender, die Platon als „Drohnen“ bezeichnet. Dieses Drohnentum ist ein Krebsschaden der Gesellschaft. Aus ihm rekrutiert sich besonders das in der plutokratischen Gesellschaft so zahlreiche Kontingent der Diebe, Beutelschneider, Tempelräuber und Anstifter aller sonstigen Unbill, deren die Staatsgewalt nur mit Mühe Herr werden kann. Neben diesem Drohnentum tritt uns als typische CharakterBuchseite 315erscheinung der plutokratischen Gesellschaft auch noch das Spekulantentum entgegen: Leute, welche Begehrlichkeit und Geldgier auf den Herrschersitz in ihrer Seele erhoben und mit Stirnbinden, goldenen Ketten und Ehrensäbel angethan zum König in ihrem Innern erkiesen. Um sich aus niederer Lage emporzuarbeiten, geht ihr ganzes Sinnen und Trachten auf den Erwerb. Während aber ihre Habe durch beharrliche Sparsamkeit und unermüdliche Thätigkeit sich mehrt, verarmen sie an Geist und Gemüt, indem sie beides zum Sklaven der Erwerbsgier machen und den Verstand über nichts anderes sinnen und forschen lassen, als wodurch ihr Vermögen sich mehrt, das Herz aber nichts anderes bewundert als den Reichtum und den Reichen. Schmutzige Seelen, die ihren Ehrgeiz auf weiter gar nichts richten, als auf Gelderwerb und was demselben etwa förderlich ist, die aus allem und jedem Nutzen zu ziehen wissen für den einen Zweck, die Kapitalanhäufung! Alles Bildungsinteresse geht ihnen ab, denn wie könnten sie sonst das Spiel des blinden Zufalls zum Reigenführer ihrer Spekulation erkiesen? In diesen Menschen beginnen sich Begierden zu regen, sobald sich ihnen zur Ausbeutung von Schwachen bei der Verwendung fremder Gelder eine Gelegenheit bietet, ungestraft Unrecht zu thun. Und dabei können diese Leute im geschäftlichen Verkehr als ehrenwerte Männer dastehen, denn sie sind klug genug, ihre Begierden zurückzudrängen, weil sie wohl zu berechnen wissen, dass ihnen die Unehrlichkeit teurer zu stehen kommen wird als der Verzicht auf widerrechtlichen Gewinn. Sie erscheinen anständiger als viele andere, obgleich sie von der echten Tugend einer mit sich einigen harmonisch gestimmten Seele himmelweit entfernt sind.

Das Prinzip der Kapitalwirtschaft arbeitet diesem Spekulantentum ausserordentlich in die Hand. Der UnersättBuchseite 316lichkeit der kapitalistischen Gesellschaft, die von dem, was sie als das höchste Gut betrachtet, niemals genug haben kann, entspricht jener schrankenlose Freihandel, welcher jedem gestattet, beliebig über seinen Besitz zu verfügen und zu veräussern, damit nur ja das Kapital Gelegenheit bekommt, durch Darlehnsgeschäfte aller Art und schliesslich durch den Zusammenkauf der verschuldeten Güter sich zu bereichern.

Diese Handelsfreiheit bringt vor allem denjenigen den Ruin, welche der Tendenz des kapitalistischen Zeitalters zum unwirtschaftlichen Konsum und zum Luxus erliegend den Geldmännern in die Hände fallen. Geduckt sieht man diese Geldmänner umherschleichen wie das leibhaftige böse Gewissen und, ohne sich etwas um ihre Opfer zu kümmern, den unheilvollen Pfeil der Kapitalgewinne auf die Gesellschaft schleudern und dadurch Drohnen und Bettler die Menge im Staate erzeugen.

Nicht die Begünstigung der Ansammlung eines möglichst grossen Nationalreichtums, sondern der Kampf gegen Armut und Reichtum ist die weitaus wichtigste Aufgabe aller Gesetzgebung, bei welcher der Staatsmann gar nicht rasch und entschieden genug zu Werke gehen kann. Denn der wahre Staatsmann erstrebt nach der Ansicht von Platon das Glück der Bürger und, da wirkliches Glück nicht ohne Tugend erreichbar ist, auch die Sittlichkeit der Bürger. Steigerung des Reichtums bedeutet an sich noch keine Steigerung des Glücks, wenn die, welche ihn besitzen, die erste Bedingung dazu nicht leisten und erfüllen. Ist aber gerade vom Reichen die Erfüllung dieser Bedingung zu erwarten? Platon glaubt diese Frage überall da verneinen zu müssen, wo der in einer Hand vereinte Besitz ein gewisses Mass überschreitet. Nach seiner Meinung kann der Besitzer ausserordentlichen Reichtums kaum ein sittlicher Mensch sein. Denn wer einerseits Buchseite 317 alle Wege der Unsittlichkeit und Bereicherung streng meidet und andererseits den dem Besitz obliegenden Verpflichtungen zum Opfern für edle und gute Zwecke voll und ganz gerecht wird, bei dem wird es kaum zur Anhäufung übermässiger Schätze kommen. Ueberhaupt bestehe zwischen Reichtum und Sittlichkeit ein solcher Antagonismus, als lägen beide in den Schalen einer Wage und zögen stets nach entgegengesetzten Richtungen.

Bei aller Verschiedenheit im einzelnen sind die bedeutendsten griechischen Denker darüber einig, dass der die Völker vernichtende Kapitalismus aus der Gesellschaft nur dann beseitigt werden könne, wenn der Zins vom Gelde verschwindet und die Politik auf den so sehr vernachlässigten Ackerbau wieder zurückgreift, um von agrarischer Basis ausgehend die nationale Volkswirtschaft in harmonischer Weise aufzubauen. Sokrates fasst deshalb seine Anschauung dahin zusammen, dass er sagt: „Wenn der Ackerbau gedeiht, so gedeihen mit ihm alle anderen Künste, geht er aber zurück, so verfallen mit ihm auch alle übrigen Erwerbszweige, sei es zu Lande, sei es zu Wasser.“ Pythagoras auf Samos legt ganz besonderen Wert darauf, dass der Ackerbau mit Handel und Industrie in harmonischer Proportion stehe.

Aristoteles, welcher die Grundsätze seiner Politik aus der Entwickelungsgeschichte von 158 Einzelstaaten abgeleitet hat, ist der Ueberzeugung, dass für einen politisch gut geleiteten Staat alles darauf ankomme, dass er „sich selbst genug sei“ in allen wichtigen Dingen des täglichen Bedarfs. Kommt aber die einseitige Entwickelung zum Handels- und Industriestaat zur Herrschaft, so erhöht sich mit der steigenden Abhängigkeit des Volkes vom Ausland naturgemäss die Gefahr einer Vernichtung der Volkswirtschaft fortschreitend. Mehr konkret gesprochen kann diese Aufgabe: die Autarkie der Volkswirtschaft möglichst Buchseite 318 zu bewahren, nur durch eine konsequente Mittelstandspolitik gelöst werden. Aristoteles bringt diese Anschauung etwa in folgenden Sätzen zum Ausdruck: der Zweck des Staates ist nicht die Ermöglichung der Ansammlung eines möglichst grossen Reichtums an wirtschaftlichen Gütern, sondern eines glücklichen und menschenwürdigen Daseins seiner Bürger.

Nun giebt es in allen Staaten drei Klassen von Bürgern: sehr reiche, sehr arme und solche, die in der Mitte zwischen diesen beiden stehen. Der mittlere Besitz von Gütern ist der beste von allen, denn diese Bürger folgen am leichtesten der Vernunft, aber die allzu Reichen werden leicht übermütig und in grossen Dingen schlecht und die allzu Armen Bösewichter und in kleinen Dingen schlecht. Ein Staat, der nur aus Reichen und Armen gebildet wird, ist ein Staat von Neidern und Verächtern, die sich immer gegenseitig feindlich gesinnt sind und leicht zum Bürgerkriege kommen. In einem Staate aber, in welchem der Mittelstand vorherrscht, herrscht auch die Freundschaft, die zu jeder Gemeinschaft, wie zum dauernden sozialen Frieden gehört. Die besten Gesetzgeber sind immer aus dem Mittelstande hervorgegangen, wie Solon, Lykurg, Charondas und die meisten übrigen.

Das etwa sind in grossen Zügen die wichtigsten Konsequenzen, welche die bedeutendsten griechischen Denker aus dem trüben Zusammenbruch der griechischen Welt gezogen haben.



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