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Inhalt Band 1
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Buchseite 207 Zweiter Teil.

Entwickelungsgeschichte der Völker.


Buchseite 208 ist leer. Buchseite 209 A.

Entwickelungsgeschichte der Juden.

(Privatdozent Dr. theol. Franz Walter – München. )


Vorbemerkung und Litteratur. Die Nationalökonomie hat die Wirtschaftsgeschichte der Juden fast noch unberücksichtigt gelassen. Der zweite Supplementband (1897) von Conrads Handwörterbuch der Staatswissenschaften enthält eine vier Druckseiten füllende Darstellung der „Sozialreform im alten Israel“ von Prof. Adler. Beer hat in der „Neue Zeit“ Jahrgang II Band 1 1893 einen oft citierten „Beitrag zur Geschichte des Klassenkampfes im hebräischen Altertum“ geliefert; aber diese Ausführungen können nur als eine vielfach gewaltsame Umdeutung der hebräischen Geschichte im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx bezeichnet werden. Die Litteratur, die wir sonst besitzen, ist nicht von Nationalökonomen bearbeitet und kann deshalb auch die nationalökonomische Seite der Entwickelung nicht in ihrer vollen Bedeutung hervorheben. Benutzt wurden zur folgenden Darstellung die Bibel, Talmud und Midrasch; ferner aus der alten Litteratur namentlich die ausgezeichneten religions– philosophischen Arbeiten von dem Lehrer Spinozas Maimonides (1135 bis 1204). Moreh hannebochim, Hilchot Schemitta wejobel, Malwe weloive, Abadim, Rozlach Sechiruth, Matnoth, wobei uns Rabbiner Dr. Unna – Mannheim wesentlich unterstützte. Ferner aus der neueren Litteratur: A Dictionary of the Bible, Edinbourgh 1898; Bäck, Geschichte des jüdischen Volkes 1894; Dunker, Geschichte des Alterthums, vierte Auflage 1874; Grätz, Geschichte der Juden Buchseite 210 1874; Hamburg, Realencyklopädie für Bibel und Talmud 1884; Hauck, Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, dritte Auflage 1896; Haneberg, Geschichte der biblischen Offenbarung, zweite Auflage 1890; Herzogs Realencyklopädie Band XIII Seite 513 ff.; Katholisches Kirchenlexikon Freiburg 1897; F. E. Kübel, die soziale und volkswirtschaftliche Gesetzgebung des alten Testaments 1876; Lazarus, Der Prophet Jeremias 1894; Michaelis, Mosaisches Recht 1886; von Nathusius, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, zweite Auflage 1897; Nowack, Die sozialen Probleme in Israel, Rektoratsrede 1892; Reuss, Geschichte des alten Testaments, zweite Auflage 1890; „Soziale Zustände des hebräischen Volkes im Altertum“ in histor. polit. Blättern Bd. 26, Seite 71 ff.; Sellin, Beiträge zur israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte. 1897; F. Schulte, Zum mosaischen Privatrecht 1871; Schusters Handbuch zur biblischen Geschichte, fünfte Auflage 1891; Schegg, Biblische Archälogie 1887; Stade, Geschichte des Volkes Jsrael 1887; Franz Walter, Die Propheten in ihrem sozialen Berufe und das Wirtschaftsleben ihrer Zeit 1900; derselbe, Das Prophetentum in seinem sozialen Berufe in „Zeitschrift für katholische Theologie“ 23. Jahrgang 1899; Sim. Weber, Evangelium und Arbeit 1898; Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte 1894.

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Die Ueberlieferungen der Geschichte der Juden knüpfen bekanntlich an die Schöpfungsgeschichte und an den Sündenfall an. Danach trieb Gott der Herr den Menschen aus dem Paradiese: den Acker zu bebauen. „Mit Arbeit sollst Du Dich von der Erde nähren und im Schweisse Deines Angesichts Dein Brot essen!“ Aber auch schon im Paradiese war es die Bestimmung des Menschen, „den Acker Buchseite 211 zu bebauen und zu bewahren“ (1. Moses 2,15 und 3,17 bis 23). Der erstgeborene Sohn Adams, Kain, war ein Ackersmann und baute die erste Stadt Henoch. Mit der Zunahme der Bevölkerung tritt eine Differenzierung nach Berufsarten ein, und zwar nach Landwirtschaft, Gewerbe und freien Künsten. Der regelmässige öffentliche Gottesdienst beginnt. Als dann mit der Zunahme, Grösse und Ausdehnung der Städte allgemeine Verderbtheit der Sitte sichtbar wird, werden die Menschen durch die grosse Flut von der Erde vertilgt. Nur Noë, der Ackersmann, wird mit seiner Familie in der Arche gerettet. Und als die Flut vorüber ist, beginnt Noë sofort wieder, den Acker zu bebauen und Weinberge zu pflanzen.

Mit der nun wieder beginnenden Bevölkerungszunahme kommt es abermals zur Städtebildung und Ausscheidung verschiedener Berufsarten. In den Waffen geübte Männer gewinnen die Herrschaft über grössere Territorien. Die Völkerwanderung beginnt. Die Erde wird aufgeteilt. Auch Abraham, aus dem Stamme Sem, wandert aus Haran mit Verwandten und Leibeigenen und aller Habe nach Kanaan (1. Moses 12,5 bis 6). Als hier eine Hungersnot das Land bedrückt, geht Abraham mit den Seinen nach Egypten, wo Getreide und Brot genug war. Er erwarb hier Schafe, Rinder, Mägde, Esel und Kamele und Gold und Silber (1. Moses 12,16 – 13,2); und kehrte nach Kanaan zurück, sobald die Getreidenot vorüber war. Unterwegs trennt er sich von seines Bruders Sohn Lot wegen des Streites ihrer Hirten und der Grösse ihrer Herden. Abraham erwirbt sich den Acker Ephrons gegenüber der Stadt Hebron vor versammeltem Volk für 400 Sekel Silber „gangbaren Geldes“ als Erbbegräbniss (1. Moses 23,16). Nach der Hungersnot, die zur Zeit Abrahams herrschte, kam wieder eine Not zur Zeit Isaaks, der deshalb von Kanaan nach Gerara zum König Abimelech zog. Isaak säet hier im Buchseite 212 Lande der Philister von seinem Saatkorn aus und erntet hundertfältige Frucht (1. Moses 26,22). Auch auf dieser Wanderung gab es häufig Streit unter den Hirten, aber weniger der Weideplätze als des Trinkwassers wegen. Trotz der Grösse der Herden sind Getreide und Wein die am meisten geschätzten Güter. Der Segen Isaaks für Jakob beginnt mit dem Satze: „Gott gebe Dir vom Thau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde einen Ueberfluss an Getreide und Wein“.

Jakob wurde im Dienste seines Schwiegervaters Laban ungemein reich an Herden, Mägden, Knechten, Kamelen und Eseln. Als er dann nach Kanaan zurückkehrt, zieht ihm sein Bruder Esau, der Ackerbauer, mit vierhundert Mann entgegen. Jakob siedelt sich zunächst in Salem an und kauft einen Acker, wo er seine Hütten aufschlagen konnte, für hundert Lämmer. Seine Niederlassung wurde geduldet und ihm und den Seinen gestattet, im Lande Gewerbe zu treiben und es zu bebauen, „da es weit und breit ist und der Ackersleute bedarf“ (1. Moses 34,21). Doch zog Jakob bald wieder nach anderen Gegenden des Landes. Da Jakob und Esau Fremdlinge waren in Kanaan und ihre Herden zu gross, um sich nebeneinander im Lande zu ernähren, zog Esau aus und liess sich auf dem Gebirge Seir nieder.

Joseph, der Sohn Jakobs, wird von seinen Brüdern für 30 Silberlinge „gereihten Geldes“ an ismaelitische Kaufleute verkauft, die ihn nach Egypten bringen. Hier deutet er einen Traum Pharaos dahin, dass auf sieben fette Jahre grosser Fruchtbarkeit in ganz Egypten sieben magere Jahre mit Hungersnot folgen werden. Und sein Rat lautet in diesem Falle: „Man lasse den fünften Teil der Ernte in den sieben Jahren der Fruchtbarkeit, die zunächst kommen werden, in königlichen Kornhäusern in den Städten sammeln und aufbewahren.“ Damit sei ein Vorrat für die HungerBuchseite 213jahre zu schaffen, der verhüte, dass das Land durch Hunger vertilgt werde. Joseph wird mit der Ausführung des Planes beauftragt. Den sieben fetten Jahren folgen die sieben mageren Jahre. Und nun hatten alle Völker bittere Not zu leiden, namentlich aber Egypten und Kanaan, während Pharao und seine Verwaltung Ueberfluss an Getreide hatten. Joseph verkauft zunächst das Getreide um Geld und sammelt so alles Geld aus Egypten und Kanaan und legt es in die Schatzkammer des Königs. Da den Käufern das Geld fehlte, nahm Joseph von ihnen Pferde, Schafe, Rinder und Esel für das Getreide. Und als auch dieses Zahlungsmittel erschöpft war, verkauften die Egypter ihre Grundstücke und sich selbst und ihre Kinder als Leibeigene an Pharao um Getreide für ihren Lebensunterhalt (1. Moses 47,19 ff. ). Nur der Grundbesitz der Priester blieb frei. So wurde das ganze Land dem König unterwürfig, der Saatkorn unter die Bevölkerung verteilte und den fünften Teil der Ernte als ständige Abgabe einforderte.

In dieser Teuerung zog Jakob mit seiner Familie und mit Allem, was sie mitnehmen konnten, aus Kanaan nach Egypten, dem Brotgetreide nach. Joseph ging ihnen entgegen und gab seinen Brüdern und der ganzen Familie seines Vaters den Rat, zu Pharao zu sagen: sie und ihre Väter seien immer Viehhirten gewesen, damit sie im Lande Gosen wohnen dürften (1. Moses 46,1 bis 34). Und so kamen die Israeliten nach dem Lande Gosen, das ihnen zu Eigentum vom Könige übergeben wurde. Sie waren fruchtbar und vermehrten sich so, als sprossten sie aus der Erde hervor. Sie wurden sehr stark und bevölkerten das Land (2. Moses 1,7). Da erhob sich ein neuer König in Egypten, der nichts von Joseph wusste und die Gefahr, die für sein Volk in der raschen Ausbreitung der Israeliten lag, zunächst durch ihre Heranziehung zu harter Frohnarbeit mindern wollte. Die Israeliten mussten Pharao die VorratsBuchseite 214städte Phiton und Ramesses bauen und wurden in den königlichen Thongruben und Ziegeleien verwendet. Und als auch dieses Mittel ihre Zunahme nicht minderte, gab der König Befehl, alle neugeborenen israelitischen Kinder männlichen Geschlechtes in den Fluss zu werfen. Die Erbitterung, die daraus erwuchs, erweckte Moses, der die Israeliten aus Egypten durch die Wüste wieder nach Kanaan zurückführte und ihnen zur Gründung ihres neuen Gemeinwesens umfassende Gesetze gab, denen die folgenden Anordnungen entnommen werden.

Hier haben wir es mit der Gesetzgebung eines Volkes zu thun, dessen Geschichte weder eine hauswirtschaftliche noch eine stadtwirtschaftliche Entwickelungsepoche kennt, und das für eine oberflächliche Betrachtung als Hirtenvolk unter Jakob nach Egypten zieht. Joseph selbst giebt ihnen den Rat, auf Befragen Pharaos zu sagen: „Wir sind immer Viehhirten gewesen.“ Aber das sollen sie sagen, weil sie mit dieser Auskunft sicherer nach dem Lande Gosen kommen. Für sie selbst waren immer der Acker und dessen Produkte Mittelpunkt ihres wirtschaftlichen Lebens und Strebens. Getreide und Wein stehen an erster Stelle im Segen der Väter, wie im Gebet der Kinder.

Diesem Volk hat Gott selbst ein Heimatland ausgesucht. Und welche Eigenschaften hat dieses Land? Es ist keine Insel, kein Land mit grossen schiffbaren Strömen und günstig gelegenen Seehäfen. Es ist kein Land, dessen Lage auf die Bestimmung hindeutet, an dem internationalen Handel möglichst Teil zu nehmen. Es ist ein kontinental gelegenes Land mit Meeresküsten, die dem Handel ungünstig sind. Aber es ist ein Land, da Milch und Honig fliesst, und dessen fette Erde hundertfältige Frucht bringt. In dieses Land wird das einem Stammvater zugehörende Volk eingeführt, nachdem es unter fremden Königen, im fremden Lande in abhängiger Stellung zu einer grossen Zahl herangewachsen war und sich aus dieser Abhängigkeit nicht nur viel Gold und Silber, sondern auch reiche technische Kenntnisse mitgenommen hat. Die Gesetze, die zur Ordnung seines Gemeinwesens ihm in der Wüste von Gott durch Moses gegeben werden, tragen sofort den Charakter der volkswirtschaftlichen Epoche an sich, ohne irgend Buchseite 216 welche feudale Uebergangsstufen zu berücksichtigen. Diese Gesetze zeigen aber auch noch andere beneidenswerte Merkmale. Nirgends haben sie den Charakter des Zaghaften oder gar der Konzessionen nach allen Seiten. Sie haben auch nicht vorgesehen, dass sie immerwährend durch Novellen verbessert oder verschlechtert werden. Die mosaischen Gesetze zeichnen sich aus durch ihre absolute Entschiedenheit, durch ihre grossen, Alles umfassenden prinzipiellen Gesichtspunkte, durch ihren bestimmten Willen, als unabänderliche Gesetze für alle Zeiten zu gelten, durch ihren klaren, unzweideutigen Blick in die Zukunft, für den Fall des Gehorsams wie für den Fall des Ungehorsams, und durch ein inniges Durchdringen der religiösen, sittlichen und wirtschaftlichen Anschauungen. Was also die moderne ethische Nationalökonomie mühsam und vielfach noch unklar zu erreichen strebt, das hat schon die mosaische Gesetzgebung in bewundernswerter Weise vorweggenommen.

Auch der andere Stolz unserer Nationalökonomie, dass Adam Smith als Erster sein wirtschaftliches Lehrgebäude auf die Arbeit gebaut habe, ist eigentlich wenig begründet. Denn die mosaische Gesetzgebung hat hier schon längst die Priorität erworben und zwar in einer Weise, die von Adam Smith nicht einmal erreicht wurde. Der mosaische Staat war nicht nur auf die Arbeit der unteren Volksmasse, sondern auf die Arbeit als allgemeine Menschenpflicht, als göttliches Gebot gebaut. Schon vom Anfang an war nach Moses die Bestimmung des Menschen die Arbeit; aber nicht die Arbeit als ununterbrochene Tag- und Nachtarbeit, sondern die Arbeit mit Ruhepausen. „Sechs Tage sollst Du arbeiten, am siebenten aber sollst Du ruhen“. Wie die Ruhe am Sabbath, so ist die Arbeit an den sechs WochenBuchseite 217tagen ein göttliches Gebot. Und wie die Arbeit am Sonntag, so ist der Müssiggang an den sechs Werktagen eine Sünde. Diese Arbeit ist nun aber auch nicht als eine blosse Beschäftigung während möglichst weniger Stunden am Tage, sondern als eine körperliche Anstrengung im vollen Sinne des Wortes gedacht. „Im Schweisse Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen.“ Und indem so das Essen des Brotes an die Bedingung des Schweisses der Arbeit geknüpft ist, enthält die Pflicht zur Arbeit auch das Prinzip der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen für sein Durchkommen und für die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse. Und was ist das Anderes als der berechtigte Kern des ökonomischen Liberalismus?

Die Arbeit war das Fundament, auf dem sich der mosaische Staat aufbaute. Aber diese Arbeit war nicht als Lohnarbeit im Dienste des Kapitals, sondern zuerst und zuletzt als landwirtschaftliche Arbeit gedacht, als landwirtschaftliche Arbeit auf eigenem Grund und Boden, als bäuerliche Arbeit in echtem Sinne des Wortes. Deshalb steht die Verteilung des Grundbesitzes im Brennpunkte der mosaischen Wirtschaftsgesetze. Die Mitglieder des israelitischen Volkes waren Abkömmlinge eines Stammvaters. Moses wählte deshalb das Prinzip der Gleichheit der Ackerverteilung, aber nicht für den Einzelnen, sondern für die Familien. Und die Familien erhielten wieder ihren Grundbesitz nicht direkt vom Staate, sondern vom Stamm. Die Aecker verteilte der Staat an die 12 Stämme nach Massgabe der Zahl ihrer Familien. An alle 12 Stämme? Nein. Dem Stamme Levi, den Priestern, wurde kein Land angewiesen. Der Acker ist nach dem mosaischen Gesetz nicht dazu da, den Interessen der Kapitalisten und des Rentnertums zu dienen, selbst dann nicht, wenn diese Buchseite 218 Rentner Priester sind. Der Acker gehört als Werkzeug zur Produktion des Brotes für das Volk ausschliesslich der landwirtschaftlichen Arbeit. Die Arbeit der Priester ist dem Gottesdienste geweiht. Deshalb erhalten sie keinen Grundbesitz. Für ihren Unterhalt wird durch die Einführung des Zehnten gesorgt. Um dennoch für die Grundbesitzverteilung 12 Stämme zu haben, wurde der an Nachwuchs sehr starke Stamm Joseph in die Stämme Ephraim und Manasse geteilt.

Aber die mosaische Gesetzgebung kümmert sich nicht nur um die rechte Verteilung des Grundbesitzes, um alles Uebrige zunächst dem laisser faire und laisser passer zu überlassen. Die mosaische Gesetzgebung sorgt vielmehr sofort in sehr umfassenden Bestimmungen auch für die Erhaltung der einmal gewählten Ackerverteilung. Hierher gehört vor allem das ausdrückliche Verbot des Freihandels mit Land. Der landwirtschaftliche Grundbesitz ist nach dem mosaischen Gesetz keine Ware. „Ihr sollt das Land nicht kaufen, denn das Land ist mein, spricht Jehova, und Ihr seid Fremdlinge und Gäste vor mir!“ (3. Moses 25,23.) Von dem uneingeschränkten Recht des Gebrauches und des Missbrauches ist hier nicht die Rede. Israel ist gleichsam nur Erbpächter des Landes, das Gott gehört und unveräusserlich ist. Um diesen Grundgedanken bis in alle Details zu sichern und auszuführen, sind eingehende Bestimmungen für die Erhaltung der gewollten Grundbesitzverteilung innerhalb des Stammes, des Geschlechtes, der einzelnen Familien wie in der Hand des einzelnen Grundbesitzers getroffen. Zur Erhaltung des Grundbesitzes innerhalb des Stammes wird verfügt, dass Erbtöchter mit Grundbesitz nicht ausserhalb des Stammes heiraten sollen. Zur Erhaltung des Grundbesitzes innerhalb des Geschlechtes dient das Institut der Goelschaft. Musste jemand in Folge von Verarmung Buchseite 219 sein Grundstück veräussern, so hatte sein nächster Verwandter, der Goel, das Recht, das Grundstück zu einem bestimmten Preise von dem Käufer einzulösen. Zur Erhaltung des Grundbesitzes innerhalb der einzelnen Familie dient die Leviratsehe, wonach der Bruder des kinderlos verstorbenen Ehemanns dessen Wittwe ehelichen soll, damit der aus dieser Ehe stammende Sohn das Erbgut erhalte, mit dem Namen des ersten Mannes und nicht mit dem seines leiblichen Vaters. Zur Erhaltung des Grundbesitzes in der Hand des einzelnen Besitzers kommen vor allem die Bestimmungen in Betracht, die das Aufkommen der Herrschaft des Kapitalismus verhüten. Statt in der Vermehrung des Geldkapitals und in der Zunahme des Reichtums mit vielen modernen Nationalökonomen das Glück des Volkes zu erblicken, hat Moses Allen und selbst dem König das Ansammeln von viel Silber und Gold untersagt (5. Moses 17,17). Der Kapitalreichtum im allgemeinen und der Reichtum des Einzelnen im Besonderen sollte ausdrücklich vermieden werden. Reichtum ist im Sinne des mosaischen Gesetzes und im prinzipiellen Gegensatze zur Schule Adam Smith’s nicht nur kein Verdienst: der Reichtum ist hier die Verkörperung einer grossen Gefahr für den Einzelnen und für die Gesamtheit. Wie die Armut, so soll deshalb auch der Reichtum verhütet werden. „Reichtum und Armut gieb mir nicht, lass mich geniessen mein tägliches Brot, damit ich nicht übersättigt werde und leugne und spreche: Wer ist der Herr? Und damit ich nicht verarme und stehle und mich vergreife am Namen Gottes.“ (Sprüche 30,8.) Die mosaische Gesetzgebung charakterisiert sich deshalb als eine durchaus konsequente Mittelstandspolitik, die zunächst für die Landwirtschaft sorgt.

Denen aber, die da mehr haben, als sie brauchen, und ihren Volksgenossen in der Not leihen, wird streng Buchseite 220 verboten, Zinsen in Geld oder in natura zu fordern. Ebenso streng ist es dem Schuldner verboten, seinen Gläubigern Zinsen irgend welcher Art zu geben. Nur zur Rückgabe des geliehenen Gutes ist der Schuldner verpflichtet. Damit aber unter ungünstigen Verhältnissen nicht dennoch die Schuld auflaufe, sollen in jedem siebenten Jahre, dem Sabbathjahre, alle Schulden nachgelassen werden. Aber „hüte Dich wohl, dass nicht in Deinem Herzen ein nichtswürdiger Gedanke aufsteige, nämlich: das siebente Jahr, das Jahr des Erlasses ist nahe, und dass Du nicht einen missgünstigen Blick auf Deinen armen Volksgenossen werfest und ihm nicht gebest; wenn er dann Deinetwegen zu Jehova schreit, so wird ein Verschulden auf Dir lasten; vielmehr geben sollst Du und sollst, wenn Du giebst, nicht verdriesslichen Sinnes sein.“ (5. Moses 15,7 bis 10.) Also: zum Zinsverbot und zum Schuldnachlass im Sabbathjahr tritt hier die Pflicht zum Leihen. Auch ist es verboten, den Schuldner in der Not zur Zahlung zu drängen. Es ist dem Gläubiger verboten, in das Haus des Schuldners einzutreten und sich ein Pfand zu holen. Er soll vielmehr das Pfand nehmen, das ihm der Schuldner aus seinem Hause herausbringt. Unter allen Umständen muss das zum Leben Notwendige dem Schuldner gewahrt bleiben. Mit Eintritt des Sabbathjahres ist eine Rückgabe des Pfandes nicht bedingt. Bei dem dann erfolgenden allgemeinen Nachlass der Schulden dient das Pfand als Bezahlung. Ein spezielles Verpfändungsrecht für den landwirtschaftlichen Grundbesitz giebt es nicht. Der landwirtschaftliche Grundbesitz ist deshalb stets schuldenfrei und Schulden halber unantastbar. Unter solchen Gesetzen ist das Geldkapital nicht geeignet, die arbeitende Masse des Volkes zu Gunsten Weniger auszubeuten, grosse Reichtümer anzusammeln und schliesslich auch den Grundbesitz Buchseite 221 an sich zu reissen, sondern der mobile Besitz ist hier nur dazu bestimmt, dass die Volksgenossen einander aushelfen.

Kommt dennoch jemand in Not, so sehr, dass er sich nicht mehr zu helfen weiss, so ist in diesem Falle — und nur in diesem Falle — der Verkauf des Grundbesitzes dem Einzelnen gestattet. Aber damit er seinen Besitz wieder zurückerlange, ist auch dem früheren Eigentümer gleich dem Goel das Einlösungsrecht zugestanden, und zwar mit einer ganz bestimmten Unterscheidung von städtischem und landwirtschaftlichem Grundbesitz. Veräusserte Wohnhäuser in Städten, die mit einer Mauer umgeben sind, können nur im Laufe des ersten Jahres von ihrem früheren Eigentümer wieder zurückgekauft werden. Nach Ablauf des ersten Jahres gehen sie dauernd in das Eigentum des Käufers über. Beim landwirtschaftlichen Grundbesitz hingegen kann das Einlösungsrecht des früheren Eigentümers gegen den neuen Erwerber erst nach Ablauf von zwei vollen Nutzungsjahren ausgeübt werden. Hat eins dieser beiden Jahre wegen Dürre oder aus anderen Gründen dem neuen Besitzer keinen vollen Ertrag gegeben, so behält er den Acker noch ein weiteres Jahr. Von da ab aber kann das Einlösungsrecht des früheren Eigentümers jederzeit geltend gemacht werden.

Da aber vielleicht alle diese Mittel und Wege zusammen nicht ausreichen, die ursprüngliche Ackerverteilung zu erhalten, ist noch die Institution des Jobel- oder Halljahres eingesetzt, dessen Feier alle 50 Jahre stattfinden soll und die völlige restitutio in integrum der im Laufe der Zeit verschobenen Besitzverhältnisse bezweckt. „Das ist das Halljahr, da jedermann wieder zu dem Seinen kommen soll“ (3. Moses 25,13). Alle verkauften Grundstücke fallen zu diesem Zeitpunkt unentgeltlich an den ehemaligen Eigentümer zurück. Damit aber auch der Buchseite 222 Einzelne seinen Grundbesitz nicht etwa dadurch verliere, dass er ihn selbst in kurzsichtigem Egoismus durch Raubbau vernichte, ist in jedem siebenten Jahre ein Brachjahr des Ackers, das Schemittajahr, eingesetzt, an dem weder gesäet noch geerntet werden darf und der Acker ruhen soll.

Die Armen und Unglücklichen, die es trotzdem geben wird, haben folgende selbständige Rechte auf den Ertrag der Felder: Zunächst ist jedem Volksgenossen unverwehrt, in das Feld oder in den Weinberg des Nächsten zu gehen, um seinen Hunger zu stillen. Beim Abernten der Felder, der Weinberge und Obstgärten soll acht darauf gegeben werden, dass ein Hungernder Etwas finden könne. Die Aehren, die beim Einsammeln zu Boden fallen, gehören den Armen; ebenso die Garben, die auf dem Felde vergessen wurden. Was im Schemittajahr die Felder freiwillig geben, gehört den Armen. In dem dritten Erntejahr müssen die Besitzenden den Armen-Zehnt geben. „Am Ende vom dritten Jahre bringe heraus allen Zehnten Deines Ertrages in demselben Jahre und lass ihn liegen in Deinem Thore. Und es komme der Levit, denn er hat keinen Anteil am Land und kein Erbe mit Dir; und der Arme, die Waisen und Wittwen; und sie sollen essen und sich sättigen“ (5. Moses 14,28). Auch ist im Tempel eine besondere Kammer, in der Almosen für verschämte Arme hinterlegt werden, die „Zelle der Verschwiegenen“. Endlich ist allgemein die Pflicht der Armenunterstützung eingeschärft.

Wenn wir also die Verteilung des Ertrages der Felder mit der Ansammlung von Getreidevorräten nach mosaischem Recht im Ganzen überschauen, so zerfällt die 50 jährige Jobelperiode in sieben Jahrwochen. In jeder ist das siebente Jahr ein Brachjahr, wo nicht gesäet und nicht geerntet werden darf, also die Abgaben von den Feldfrüchten auch Buchseite 223 wegfallen. Was freiwillig wächst, gehört den Armen, nur müssen sie es sich selbst holen. In diesen Schemittajahren muss also von Getreidevorräten gelebt werden, die in den vorhergehenden Jahren angesammelt wurden. In den übrigen sechs Jahren sind von dem Getreide, nachdem es von der Spreu gereinigt ist, zwei Zehntel abzusondern. Das erste Zehntel erhalten die Leviten, das zweite Zehntel behalten im ersten und zweiten wie im vierten und fünften Jahr der Jahrwoche die Eigentümer, um es in Jerusalem während der drei grossen Jahresfeste zu verzehren und eventuell in die am Tempel vorgesehenen Getreidelagerräume einzulagern. Im dritten und sechsten Jahre der Jahrwoche fällt dieses zweite Zehntel den Armen zu, die damit abermals Vorrat anlegten. Die aufgestapelten Getreidelager werden also zeitweilig weit über zwei volle Jahresernten betragen haben.

Wer aber arm geworden war, weil er seinen Grundbesitz verkaufen musste, und dabei gesund und kräftig war, der konnte sich das immer harte Brot der Armut durch Arbeit ersparen. Keine Arbeit war für ihn entehrend, sie mochte noch so niedrig und gering sein. „Ziehe einem gefallenen Tiere auf der Strasse das Fell ab, wenn Du damit Deinen Unterhalt verdienen kannst, und sage nicht: ich bin ein Priester, bin ein angesehener Mann, und eine solche Arbeit ist für mich entwürdigend“ (Talmud Pesachim 113a). Als Arbeiter war der arm gewordene Grundbesitzer nach dem mosaischen Recht nicht in das Proletariat hinabgestossen, aus dem es kein Emporkommen mehr giebt. Er gehörte nicht zu den Enterbten. Für ihn galt nicht die glatt schematische Behandlung als Lohnarbeiter. Das mosaische Recht kennt vielmehr neben dem Lohnarbeiter als Tagelöhner, Knechte und Mägde auf Zeit und Knechte und Mägde auf Lebensdauer. Und diese mosaische Arbeiterpolitik kennt insbesondere noch in hohem Masse die Sorge Buchseite 224 dafür, dass der arm gewordene Mittelstandsangehörige wieder in die Reihen des Mittelstandes zurückkehren könne.

Dem Tagelöhner soll der Lohn an jedem Abend ausgezahlt werden. Knechte und Mägde auf Zeit waren auf sieben Jahre gebunden und wurden erst im siebenten Dienstjahre wieder frei, es sei denn, dass man sich mit entsprechender Entschädigung bei seinem Herrn loskaufte. War die Dienstzeit zu Ende, so sollte der Herr seine Knechte nicht leer ziehen lassen, sondern ihnen auflegen von seinen Schafen, seiner Tenne und von seiner Kelter. Das Verhältnis als lebenslänglicher Knecht und als lebenslängliche Magd konnten die Israeliten nur freiwillig eingehen. Es gab keinen öffentlichen Verkauf von israelitischen Sklaven auf dem Markte, es sei denn, dass Jemand vom Gericht für Diebstahl, den er begangen und nicht ersetzen konnte, verkauft wurde.

Das Dienstverhältnis auf Lebensdauer war keine Entwürdigung der Person. Das beweisen die Ehen zwischen Knechten auf Lebensdauer und den Töchtern des Herrn. Auch war den Herren Misshandlung ihrer Dienstboten untersagt. Züchtigungen, die den Verlust eines Gliedes, wenn auch nur eines Zahnes, zur Folge hatten, gaben dem Knechte auf Lebensdauer sofort die Freiheit. Die Ermordung eines Knechtes wurde mit dem Tode bestraft. Es darf ihnen keine Arbeit zugemutet werden, die dem Herrn keinen Nutzen bringt. Der Herr ist verpflichtet, auch Weib und Kind des Knechtes zu unterhalten. Auch für die auf Lebenszeit angestellten Dienstboten gilt das Recht des Loskaufs. An allen Freudenfesten des Volkes und an jedem Opfermahl des Herrn sollen sie teilnehmen. Die Sabbathruhe gilt auch für die Dienstboten. Und das Jobeljahr bringt allen, ohne jede Entschädigung des Herrn, die Freiheit nicht blos, sondern auch ihren Grundbesitz zurück.

Buchseite 225 Das Arbeiterrecht der mosaischen Gesetzgebung kennt also neben dem Lohnarbeiterverhältnis des Tagelöhners auch das Bedürfnis des Ackerbauers an ständigen Dienstboten. Und trotzdem es für menschenwürdige Behandlung und Sicherstellung der Arbeiter ausreichend gesorgt hat, giebt es sich nicht der Vorstellung hin, dadurch allein schon die Zufriedenheit der Arbeiter zu gewinnen. Der Schwerpunkt der mosaischen Arbeitergesetzgebung ruht in der möglichsten Erleichterung des Aufsteigens der Arbeiter in die Klasse des selbständigen Mittelstandes und in der Erhaltung dieses Mittelstandes. Dieses Ziel sucht Moses nicht nach Art gewisser moderner Nationalökonomen dadurch zu erreichen, dass er die fortschreitende Ausbreitung des Reichtums und des Kapitalismus begünstigt und Freihandel mit Land, Aufteilung des Grundbesitzes in Arbeiterparzellen, Vernachlässigung der Interessen des Getreidebaues und der Landwirtschaft und übermässige Belastung des Mittelstandes zu Gunsten der Lohnarbeiter als Aufgaben einer arbeiterfreundlichen Sozialpolitik bezeichnet. Moses thut in allen diesen Dingen das gerade Gegenteil. Er verhütet die Ausbreitung des Kapitalismus. Er verbietet den Freihandel mit Land. Er schützt und erhält mit allen Mitteln den Getreidebau und den bäuerlichen Grundbesitz. Er treibt konsequenteste Mittelstandspolitik erst recht auch im Interesse der Arbeiter und erleichtert deshalb dem verarmten Grundbesitzer in ganz ausserordentlicher Weise die Wiedereinlösung seines Besitzes durch seinen höchst eigenartigen landwirtschaftlichen Grundwertbegriff, der die modernsten Probleme des Grundwertes gelöst enthält.

Wie lautet nun dieser mosaische Grundwertbegriff? Wir haben gesehen, in wie konsequenter Weise Moses einen gesetzlichen Schutzwall um seine Getreidefelder Buchseite 226 gegen den Kapitalismus gezogen hat. Einen freien, d. h. dem spekulativen Privatkapital ausgelieferten Grundmarkt mit Freiheit der Verschuldung und der Veräusserung giebt es nicht. Es giebt deshalb auch keine Grundstückspekulation, keine Latifundien, keine Grundrente im modernen Sinne. Wenn aber dennoch aus Not ein Grundbesitz verkauft wird, dann wird er nach Massgabe seines Jahreserzeugnisses verkauft. Schon nach Moses ist also der landwirtschaftliche Grundbesitz kein Kapital, sondern Rentenfonds, und doch wieder kein ewiger Rentenfonds, wie Rodbertus will, wodurch mit der Kapitalisation der Rente oder mit dem Kurswert der Rentenbriefe die Vorgänge auf dem Kapitalmarkt wieder verheerend auf den landwirtschaftlichen Grundbesitz hereinbrechen können. Der landwirtschaftliche Grundbesitz ist im Verkehr nach mosaischem Recht ein durch die 50jährige Jobelperiode ganz bestimmt begrenzter Rentenfonds. Sein Wert und damit auch sein Verkaufspreis bestimmt sich nach dem Wert der bis zum nächsten Jobeljahre dem Boden abzugewinnenden Jahreserträge. „Was die Jahre bis dahin tragen können, so hoch soll er es Dir verkaufen“ (3. Moses 25,5). Und nach diesem Grundwert übt auch der frühere Grundbesitzer sein Rückkaufsrecht, der Goel sein Einlösungsrecht.

Und wie wirkt dieser Grundwertbegriff auf die Möglichkeit der Rückkehr des arm gewordenen Grundbesitzers in die Reihen des Mittelstandes? Angenommen, ein Mann müsste 20 Jahre vor dem Jobeljahr seine Aecker aus Not verkaufen, so erhält er die entsprechende Anzahl von Jahresernten (achtzehn, weil noch zwei Schemittajahre fallen) im Grundpreise bezahlt. Wenn nun aber der frühere Grundbesitzer nach zehn Jahren etwa sich so viel durch Arbeit verdient hat, dass er von seinem Rückkaufsrecht Gebrauch machen kann, dann muss er nach dem mosaischen Recht nur noch die Hälfte von dem zahlen, was der Käufer Buchseite 227 ihm vor zehn Jahren gezahlt hat, weil nur noch die Hälfte der Jahre bis zum Jobeljahre geblieben ist. Und da Moses zugleich vorgesehen hat, dass bei Ausübung des Rückkaufsrechtes die von dem letzten Besitzer ausgeführten Meliorationen ersetzt werden müssen, so enthält der mosaische Grundwertbegriff schon die im Jahre 1884 für den wahren Wert des landwirtschaftlichen Grundbesitzes aufgestellte Formel, nämlich: Ertragswert plus rationell investiertes Kapital *). Nur dass dabei Moses es noch weit besser verstanden hat, den Einfluss des Kapitals auszuschliessen, den Grundwert auf eigene Füsse zu stellen und in dem billigeren Grundpreis dem zum Arbeiter gewordenen Landwirt die Brücke zu bauen, die ihn wieder in seinen ererbten Besitz zurückführt.

All diese agrarischen Gesetzesbestimmungen sind bei Moses nicht etwa nebensächliche Dinge. Sie werden vielmehr ausdrücklich mit den zehn Geboten auf genau dieselbe Stufe gestellt. Auf ihrer Befolgung ruht derselbe Segen. Und man darf deshalb sagen, dass der materielle und sittliche Wohlstand eines Volkes nach Moses mit dem Blühen und Gedeihen des Ackerbaues und der Ackerbauern zusammenfällt. Die Uebertretung und Nichtbeachtung dieser agrarischen Gesetze aber belegt Moses mit demselben Fluche wie den Abfall vom Glauben Gottes und die Blutschande: Verödung und Unfruchtbarkeit des Ackers, Vertreibung aus dem Lande und Untergang des Staates und seiner Kultur werden jene treffen, die gegen diese Gesetze sündigen.

Das Land Kanaan, das sich das israelitische Volk eroberte, hatte eine Grösse von etwa dreihundert Quadratmeilen. Der Küstenstrich, soweit er Häfen besass, blieb in den Händen der Handel treibenden Phönizier und Philister. Auch die Städte des Landes wurden noch lange von den ebenfalls Handel treibenden Kanaanitern gehalten. Die Israeliten ergriffen das platte Land, das guten Boden hatte und reich war an Wasserbächen, Seen und Quellen, die in den Bergen und Thälern entsprangen, und das sich durch günstige klimatische Verhältnisse auszeichnete. Freilich war auch hier die Fruchtbarkeit keine freiwillige. Die Wüste frass um sich, wo ihr nicht entgegengearbeitet wurde. Aber „der Schweiss des Angesichts“ that Wunder. Die terrassierten Berge waren mit Wein und Oliven bedeckt. Die Thäler und Ebenen trugen Weizen und Gerste in Fülle. Der reiche Pflanzenwuchs der Gebirge, des Baskan-Karmel u.s.w., machte die Viehzucht zu einer der einträglichsten Beschäftigungen. So winkte in dem Lande, da Milch und Honig floss, der unverdrossenen Arbeit reicher Lohn.

Wie das Land von den Stämmen erobert wurde, ist es gleichmässig unter die waffenfähigen Männer verteilt worden. Die Kämpfe mit den Eingeborenen und gegen die feindlichen Nachbarvölker dauerten fast dreihundert Jahre. Trotzdem wird nur einmal in einer an kriegerischer Bedrängnis besonders reichen Zeit, in der Periode der Richter, von einer Hungersnot im Lande berichtet. Sonst war die ökonomische Lage des Volkes, trotz aller Kämpfe, eine recht befriedigende. Immer wieder kehrten die in den Waffen geübten Bauern gern zum Pfluge zurück. Der Acker gab ihnen reichlich, was sie brauchten. Er gab Buchseite 229 ihnen sogar Ueberschüsse an Getreide, die sie gelegentlich zu guten Preisen verkauften. Das Volk erfreute sich unzweifelhaft eines gewissen Wohlstandes.

Als selbständige Handwerker waren in dieser Periode nur Töpfer und Schmiede erwähnt. Alle übrigen Bedürfnisse deckten sich die bäuerlichen Wirte selbst durch ihrer Hände fleissige Arbeit. Ein Teil dieser Erzeugnisse des Hausfleisses scheint sogar Gegenstand des Handels gewesen zu sein. Denn es heisst von der isreaelitischen Hausfrau: „Sie suchet sich Wolle und Flachs und arbeitet nach der Kunst ihrer Hände. Sie macht Hemden und verkauft sie und liefert Gürtel an die Kanaaniter.“ Der ganze Zwischenhandel ruht so ausschliesslich in den Händen der Kanaaniter, dass dieser Name allmählich mit dem Begriff „Krämer“ und „Krämervolk“ identisch wurde. Die Sitten und Gebräuche waren einfach. Die Steuern und Abgaben bestanden ausschliesslich in Naturalleistungen. Arme und Reiche gab es nicht. Ein jeder lebte unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum. König Saul kommt noch „hinter den Rindern vom Acker heim“. David wird von dem Felde, wo er Schafe weidete, herbeigeholt, um zum Könige gesalbt zu werden. Und so sehr lebt dieses Volk im Geiste der mosaischen Gesetze, dass Gideon, nachdem er die Midianiter besiegt und reiche Beute an goldenen Ringen, Halsketten und Purpurgewändern gemacht hatte, aus dem Gold der Ringe dem Herrn ein Dankesdenkmal errichtete.

Diese Zustände und Verhältnisse beginnen sich langsam zu verändern mit der Einführung des Königtums durch das Volk zum Zwecke der Beendigung seiner kriegerischen Bedrängnis. Samuel hat diese Entwickelung zutreffend vorausgesagt: „Der König wird Euch Eure Söhne nehmen zur Gefolgschaft seiner Würde, zum Ehrengeleite zu Ross oder als Vorläufer zu Fuss, auch seine Aecker werden sie Buchseite 230 bestellen müssen und seinen Waffenvorrat anfertigen. Eure Töchter werden Leckerbissen für seine Tafel bereiten müssen. Eure besten Felder wird er nehmen, um sie seinen Söhnen zu geben, und vom Ertrag des Bodens wird er den zehnten Teil nehmen, um seine Hofdiener und Verschnittenen zu lohnen. Eure schönsten Knechte und Mägde und Rinder wird er noch dazu nehmen und von Euren Kleinviehherden wird er sich den zehnten Teil geben lassen und Ihr Alle werdet Sklaven sein“ (1. Samuel 8 ff.). Sofort treffen aber diese Vorhersagungen nicht ein. Unter König Saul zeigen sich mehr die günstigen Wirkungen einer fester gegliederten Einheit des Volkes. Die siegreichen Kämpfe gegen die Feinde, namentlich gegen die Ammoniter, Amalekiter und Philister, mussten das Bewusstsein der nationalen Zusammengehörigkeit des Volkes stärken. Auch blieb Saul den einfachen Verhältnissen, aus denen er hervorgegangen war, noch als König treu. Aber die reichen Kriegsbeuten an Gold und kostbaren Gewändern sickern schon in das Volk. Nach dem Tode Sauls sollen die Töchter Israels ihn beweinen, weil er sie „in Purpur und herrlichen Schmuck“ gekleidet habe.

Ernster schon wird das Bild der volkswirtschaftlichen Entwickelung unter dem König David. In glücklichen Kämpfen gegen die feindlichen Nachbarländer dehnt er sein Reich bis ans westliche Meer und bis an den Euphrat und vom Fusse des Libanon bis ans Schilfmeer aus und gewinnt die Herrschaft über Damaskus, Elath und Eziongeber am Roten Meer. Aber seine Wirtschaftspolitik gehörte nicht den Bauern und der Landwirtschaft, sondern den städtischen Interessen und namentlich der Hauptstadt Jerusalem. Ein grosser Teil der Schätze, die in den glücklichen Kriegen erbeutet wurden, werden zwar für das in Jerusalem zu errichtende Nationalheiligtum reserviert, aber König David gefällt sich doch auch selbst in der Rolle eines grossen Buchseite 231 städtischen Baumeisters von Palästen. Durch die jährlichen Tributzahlungen der unterworfenen Völker mehrt sich der Silber- und Goldvorrat im Lande. Der phönizische König Hiram schickt David Bauleute und Baumaterialien. Gezahlt wurde dafür vom Lande Kanaan vor Allem mit Getreide. Die Weizen- und Gerstenmengen, die jetzt ausgeführt wurden, scheinen nicht unbedeutend gewesen zu sein. Schlegg schätzt diese jährliche Getreideausfuhr auf 6 Millionen Hektoliter im Wert von etwa 23 Millionen Mark. Die Bevölkerung der Städte und namentlich der Hauptstadt nahm rasch zu. Zahlreiche Hofleute und Krieger liessen sich in Jerusalem nieder. Grössere israelitische Städte wurden Marktplätze für phönizische Handelsartikel. Aber damit zeigt sich auch sofort der bedenkliche Einfluss des Handels, namentlich auf die Brotversorgung des Volkes. Ohne Rücksicht auf Reserven für den Fall ungünstiger Erntejahre wird das letzte erlangbare Korn Getreide durch die Verlockungen des Geldes aufgekauft und exportiert. Die Strafe blieb nicht aus. Drei schlechte Ernten folgten einander, und Israel wurde mitten im Frieden von einer schweren Hungersnot heimgesucht. David, der vom Felde weg, wo er die Lämmer geweidet hatte, zum König gesalbt wurde, starb als grosser Grundherr. Zur Verwaltung seines Domänenbesitzes hatte er zwölf Intendanten. Und er hinterliess 3000 Talente in Gold.

Diese bedenklichen volkswirtschaftlichen Verschiebungen in Israel zu Gunsten der Alleinherrschaft des Geldes, die unter Saul mit ganz bescheidenen Anfängen begonnen und unter David schon einen bedenklichen Grad der Steigerung erreicht hatten, kommen unter dem jetzt folgenden König Salomo zu einer so vollständigen Durchbildung, dass damit der Höhepunkt der wirtschaftlichen Entwickelung des Landes schon wesentlich überschritten wird. An modernen volkswirtschaftlichen Begriffen gemessen, war Salomo ein Buchseite 232 Merkantilist reinsten Wassers, und zwar von jener sozial bedenklichen Art, die den Reichtum des Regenten für den Reichtum des Volkes hält. Von Bestrebungen zur Hebung des bäuerlichen Wohlstandes ist unter seinen wirtschaftspolitischen Massnahmen kaum Etwas zu finden. Desto ausschliesslicher war sein Streben auf Geld gerichtet.

Durch eine Heirat knüpft er mit dem egyptischen Hofe Beziehungen an und wusste sich das höchst einträgliche Handelsmonopol für egyptische Rosse und Kriegswagen nach den Euphratländern zu sichern. Mit Hilfe seiner Freundschaft zu Hiram, dem König der Phönizier, baut und rüstet er eine Handelsflotte zu den berühmten Fahrten nach dem Goldland Ophir. Dazu kommt der Tribut der unterworfenen Völker. Und endlich wurde auch die Steuerschraube im eigenen Lande immer kräftiger angezogen. Zu diesem Zwecke nahm er eine Neueinteilung des Landes in zwölf Kreise vor, an deren Spitze er, zur Steuereintreibung, zwölf Satrapen stellte, deren Amt — natürlich auf Kosten des steuerzahlenden Volkes — so einträglich war, dass mehrere Schwiegersöhne des Königs damit betraut wurden. Die Steuern und Abgaben waren immer noch überwiegend Naturalabgaben. Die engen Beziehungen zum König Hiram boten ja eine günstige Gelegenheit, Getreide und Oel in Gold zu verwandeln. Und wenn diese Naturallieferungen die Goldschulden bei Hiram nicht deckten, dann scheute sich auch Salomon nicht, ganz so wie seine merkantilistischen Kollegen am Ausgang unseres Mittelalters, eine Anzahl seiner Städte zu verkaufen. Salomo war also auch ein grosser Getreidehändler. Um nun diesem Handel sowohl als auch der Versorgung der Städte eine festere Basis zu geben, errichtete er eine Reihe von staatlichen Getreidelagerhäusern. All diese reichen Buchseite 233 Einkünfte wurden von der glänzenden Hofhaltung und von den Prachtbauten Salomos verschlungen. Um aber dabei die Ausgaben für Arbeitslöhne auf ein Minimum herabzusetzen, wurden kurzer Hand die im Lande friedlich wohnenden Kanaaniter zu Staatssklaven erklärt. Davon wurden 80'000 in den Steinbrüchen von Biblos beschäftigt, um beim Lampenlicht schwere Quadern aus dem Felsen zu hauen, und 70'000 hoben die schweren Steine aus der Oeffnung der Steinbruchhöhle und schafften sie zum Bauplatz. Aber auch die Israeliten wurden zu Frohndiensten herangezogen und deshalb 30'000 Mann wie zum Kriegsdienst ausgehoben, um Bauholz zu fällen und nach den königlichen Bauplätzen zu schaffen.

Zur Blüte kam unter solchen Verhältnissen vor Allem der Handel, und zwar sowohl der Grosshandel wie auch das Geschäft der Geldwechsler und Geldverleiher. In Jerusalem war jetzt eine Zunft von solchen phönizischen Händlern angesiedelt. Im Interesse des Handels hat auch Salomo das Münzwesen verbessert. Zur Blüte kam ferner das Luxus- und Baugewerbe. Und wie immer in Zeiten grosser Gründerthätigkeit, so steigen auch jetzt mit dem zunehmenden Luxus und mit dem Anwachsen der Geldgewinne die Preise der Produkte aller Art; deshalb repräsentiert dieselbe Geldsumme einen immer geringeren Sachwert. So erhielt vor Gründung des Königtums ein Priester für den Jahresdienst 10 Sekel Silber nebst Nahrung und Kleidung. Dagegen scheint Salomo den Hütern seiner Weinberge einen Jahreslohn von 200 Silbersekeln gezahlt zu haben, während der Preis für ein egyptisches Ross 150, für einen egyptischen Streitwagen 600 Silbersekel war. Wir haben es also jetzt mit völlig ausgebildeten geldwirtschaftlichen Verhältnissen zu thun, und zwar mit der Herrschaft des Goldes — „Silber wurde für nichts geachtet“.

Buchseite 234 Vom Standpunkt der mosaischen Gesetzgebung war diese salomonische Wirtschaftspolitik eine grobe Verletzung der Gebote Gottes. Schon David, noch mehr aber Salomon, hatten völlig missachtet, dass es selbst dem Könige verboten ist, viel Gold und Silber anzusammeln. Auch die ursprüngliche Ackerverteilung wurde schon von David nicht unwesentlich verschoben, von Salomo aber fast völlig bei Seite gesetzt. Für die Feier des Jobeljahres findet sich unter den Königen kein Anhaltspunkt. Wohl aber ist die Ausbildung des königlichen Grundbesitzes ein Beweis, dass das Jobeljahr nicht mehr gefeiert wurde. Auch die Feier des Schemittajahres musste mit der wachsenden Ausdehnung des Getreideexportes und mit der Aufnahme der phönizischen Geldwechsler und Geldverleiher notwendiger Weise ausser Uebung kommen. Das Gebot der Unveräusserlichkeit des landwirtschaftlichen Grundbesitzes war längst vergessen, nicht minder das Verbot des Zinsengebens und -nehmens. Auch die Frohnarbeiten und die rücksichtslose Erhöhung der Steuern und Abgaben waren gegen das Gesetz. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn von Salomo ferner berichtet wird, dass er sich nach heidnischer Art einen grossen Harem anlegt und seinen ausländischen Frauen wie den phönizischen Kaufleuten den Götzendienst gestattet habe. So zeigt sich auch hier mit dem Verlassen der wirtschaftlichen Grundsätze der mosaischen Gesetzgebung zugleich der Abfall vom Glauben.

Reichtum und Armut waren mit Salomo in Jsrael eingezogen. Der Reichtum gehörte ihm und Allen, die mit ihm an seinem Tische assen oder an seinen Geldgeschäften Teil hatten. Zur Armut gehörten zunächst die Kanaaniter, die man zu Staatssklaven gemacht hatte. Zur Armut gehörten aber auch bald die israelitischen Bauern, die man durch Steuern und Frohndienste aller Art ausgeraubt hatte, um sie dann den Getreidehändlern und Geldverleihern Buchseite 235 nach heidnischem Schuldrecht zu überantworten. Mochten deshalb in den Strassen von Jerusalem die Tage Salomos noch sehr gepriesen werden: die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, nämlich die ländliche, wird in dieses Loblied Salomos ganz gewiss nicht eingestimmt haben. Und deshalb kommt die eigentliche Volksstimmung über die salomonische Regierung viel richtiger in jener Entschlossenheit zum Ausdruck, mit der zehn Stämme unter zwölf dem salomonischen Königshause den Rücken gekehrt haben, als Salomo’s Sohn und Nachfolger bei seiner Thronbesteigung sich nicht verpflichten wollte, „den zu harten Dienst und das schwere Joch“ seines Vaters nach der Gerechtigkeit zu mildern. Es sind die israelitischen Bauernkriege, welche zur Spaltung des Reiches führen.

Schon die Regierung Davids hat Israel über die Höhe seiner wirtschaftlichen Entwickelung weggeführt. Die salomonische Regierung aber führte Israel in raschem Tempo dauernd abwärts. Wer sich an der Erkenntnis dieser Thatsache durch das gar glänzende Kleid täuschen liess, das man dabei zur Schau trug, den musste das rasche Abbröckeln dieser glänzenden Hülle an dem vom Kapitalismus befallenen volkswirtschaftlichen Körper eines Besseren belehren.

Kaum war Salomo tot, so machten sich die zinsbar gewesenen Völkerschaften der Philister und Idumäer wieder frei; ihre Tributleistungen hörten auf. Auch die Goldquelle aus Ophir versiegte, da der überseeische Handel sofort ins Stocken gekommen war. Und das einst so ertragreiche Handelsmonopol mit egyptischen Rossen und Kriegswagen wurde durch die feindliche Haltung des nördlichen Königreichs Israel gegen Juda unterbunden und wertlos. An die Stelle der Handelsbeziehungen mit Egypten trat das Vasallen- und Tributverhältnis. Auch die übrigen Nachbarländer machten jetzt gelegentliche Raubzüge in das Land, in dessen Grenzen nur zu häufig der Bruderkrieg wütete. Der religiöse und opferwillige Sinn war so sehr aus dem Volke gewichen, dass bald nicht mehr die Mittel für die notwendigste Erhaltung des salomonischen Prachttempels freiwillig aufgebracht wurden.

Die Merkantilpolitik Salomos hatte den Schwerpunkt der Entwickelung vom Inlande nach dem Auslande verlegt. Statt den heimischen Acker zu pflegen, hat er auf ausländischen Märkten und in Handelsbeziehungen aller Art dem Golde nachgejagt und die Saat der Unzufriedenheit in die Reihen seiner Landwirte Buchseite 237 gesäet. Deshalb ist nach seinem Tode die eigene Kraft und Stärke des Landes so rasch zerfallen. Und damit waren, wie auf einen Schlag, alle mühsam erworbenen überseeischen und internationalen Handelsbeziehungen verschwunden. Hätte nun das Land im Innern gesunde wirtschaftliche Verhältnisse gehabt, so hätte es sich von all diesen Schicksalsschlägen rasch erholt, von seinen Feinden sich befreit und die alte glückliche Wohlhabenheit wieder zurückgewonnen. Aber diese inneren wirtschaftlichen Verhältnisse waren jetzt nach Salomo vom Kapitalismus völlig durchfressen. Nicht der bäuerliche Mittelstand, sondern die salomonischen Grosskaufleute, Geldwechsler, Kriegshauptleute und Steuerbeamten herrschten im Lande. Und deshalb musste es zu Grunde gehen. Das Objekt aber, dem sich die Habgier des Kapitalismus jetzt vor Allem zuwendet, um die Ausbeutung und Verarmung des Volkes nach und nach zu vollenden, ist das Getreide.

Es handelt sich nämlich hier um eine Periode, in der die Getreidepreise im kleinasiatisch-griechischen Handel fast fortwährend stiegen. Zur Zeit der Richter diente das Getreide noch fast nur zur Ernährung des Volkes, und nur gelegentlich wurden für besondere Zwecke Ueberschüsse verkauft. Schon David aber hatte einen schwunghaften regelmässigen Getreideexport eingerichtet und damit das Brotgetreide zu einer Handelsware degradiert. Salomo hatte diesen Getreideausfuhrhandel durch Errichtung staatlicher Lagerhäuser fester organisiert und durch den Bau von Staatsstrassen den Transport erleichtert. Nachfrage nach Getreide machte sich dauernd geltend. Also musste die nationale Getreideproduktion thunlichst gesteigert werden: nicht, um das Volk mit Brot zu versorgen, auch nicht, um es wohlhabend zu machen, sondern nur, um den Reichtum der Aeltesten und „Geldfürsten“ von Buchseite 238 Juda und Israel zu mehren. Von einer Beobachtung des für jedes siebente Jahr befohlenen Brachjahres ist längst keine Rede mehr. Die Getreidefelder werden ohne Unterbrechung Jahr für Jahr mit Weizen und Gerste bestellt. Ebenso wenig denkt man an das Einhalten der im mosaischen Recht vorgesehenen Ansammlung von Getreidereserven für ungünstige Erntejahre. Und wenn die Bauern im Herbst zu viel Getreide verkaufen und dann im Frühjahr Not haben, oder wenn im Falle ungünstiger Witterungsverhältnisse das Volk hungern muss, so ist das gerade für die Erwerbsart der Kapitalisten und Wucherer die günstigste Zeit der Ernte.

Auf ungünstige äussere Verhältnisse brauchte man nicht lange zu warten. Von einer Reihe von Hungersnöten wird berichtet. Jetzt mussten die Bauern das Letzte bringen, was sie an beweglicher Habe hatten. War der mobile Besitz zu Ende, dann kam das Schuldenmachen an die Reihe; es folgten die Felder und Weinberge und schliesslich der Bauer selbst mit seiner Familie als Sklaven. Wo sich das Alles mit Hilfe des heidnischen Kreditrechtes im freien Verkehr nicht erreichen liess, da half Lug und Trug im Handel, oder man brauchte, nach dem Vorbilde Ahabs gegen Naboth, Gewalt, — und die Richter des Volkes schwiegen oder waren sogar Helfershelfer. Wie mit dem Getreide, so wurde es auch mit Oel und Wein gehalten. Immer aber war das Ende der Entwickelung: die Bildung von Latifundien in der Hand von wenigen Grosskapitalisten, mit völliger Verarmung des Volkes und dessen Herabsinken auf die Stufe der Hörigen und Leibeigenen, um desto billiger das Getreide für die Grosskapitalisten und deren Exporthandel zu bauen.

Diese unheilvollen Vorgänge erwecken die hervorragendsten Vertreter der alten Prophetenschule. Aber ihre gewaltige Sprache bleibt nicht an Buchseite 239 dem fast allgemein zur Uebung gekommenen Götzendienst und noch weniger an den Sünden des armen hungernden Volkes hängen. Ihre flammenden Reden wenden sich vor Allem gegen die Kapitalisten und gegen die schreienden wirtschaftlichen Misstände ihrer Zeit, in deren Heilung im Sinne des mosaischen Gesetzes sie ebenso sehr den ersten Schritt der Rückkehr zum Glauben der Väter erblicken, wie sie bei Fortdauer dieser Misstände die Vernichtung des Staates und der Volkswirtschaft vorhersagen. Nationalökonomisch gesprochen, ist im Sinne dieser Propheten der Reichtum der Aeltesten und „Geldfürsten“ von Juda und Israel den Armen geraubtes Gut. Die Erwerbsart dieser Reichen ist nichts als Lug und Trug und Gewaltthat. Ihre Motive sind Genusssucht ohne Ende und raubtierartige Habgier. Die falschen Richter und gottlosen Priester sind ihre Helfer. Den Zukunftsstaat aber erkennen die Propheten in einer blühenden Landwirtschaft mit wohlhabenden bäuerlichen Verhältnissen. Alle diese Aussprüche der Propheten sind in solchem Masse für ihre Zeit charakteristische, dass sie im Auszuge hier Platz finden müssen:

Amos: „Hört Ihr, die Ihr aufhäuft Gewaltthat und Raub in Euren Palästen, die Ihr auf gepfändeten Kleidern Euch hinstreckt vor jeglichem Altar und den Wein der Gebüssten trinket im Hause Gottes — höret dies Wort, Ihr fetten Kühe auf Samarias Berg, die Ihr die Dürftigen drücket und die Armen zermalmet; die Ihr sprechet zu Euren Herren: „Schaffet herbei, dass wir zechen“, die Ihr schlafet auf elfenbeinernen Betten und schwelget auf Euren Lagern, Lämmer esset von der Herde und Kälber aus dem Mastvieh, die Ihr singet zum Klang der Harfe, die Ihr Wein trinket und Euch mit dem besten Oel salbet, aber um den Schaden Josef’s Euch nicht kümmert. Ihr, die Ihr die Armen zertretet und aussauget die Dürftigen des Landes, sprechend: Wann ist der Neumond vorüber, dass Buchseite 240 wir unser Getreide verkaufen, und der Sabbath, dass wir den Speicher öffnen, dass wir das Mass verkleinern und den Schekel vergrössern und falsches Gewicht unterschieben, dass wir die Dürftigen um Geld bringen, die Armen um ein Paar Schuhe an uns bringen und Afterkorn verkaufen? Darum, weil Ihr stampfet auf den Armen und die Tracht Getreide ihm nehmet: Häuser aus behauenen Steinen habt Ihr Euch gebaut, aber Ihr sollt nicht darin wohnen; anmutige Weinberge habt Ihr gepflanzet, aber ihr sollt ihren Wein nicht trinken!“

Jesaias: „Der Ewige geht in’s Gericht mit den Aeltesten seines Volkes und seinen Fürsten: Ihr habt ja abgeweidet den Weinberg, der Raub der Armen ist in Euren Häusern, was habt Ihr mein Volk zu zertreten und das Angesicht der Armen zu zermalmen? Wehe denen, die Haus an Haus rücken, Feld an Feld reihen, bis kein Platz mehr ist und sie allein die Bewohner im Lande bleiben! Voll ist das Land von Silber und Gold, und seiner Schätze ist kein Ende; voll ist sein Land von Rossen, und zahllos sind seine Wagen. Meine Richter sind Abtrünnige und Diebesgenossen. Sie nehmen gern Geschenke an und laufen den Bezahlungen nach; den Waisen verschaffen sie nicht Recht und die Sache der Wittwen kommt nicht vor sie. Wehe Euch, die Ihr den Gottlosen Recht gebt um der Geschenke willen, und dem Gerechten sein Recht nehmet! Eitel Lüge ist, was die Rechtsgelehrten sagen. Aber wehe denen, die Satzungen des Unrechts aufsetzen, und den Schreibern, die Unthat niederschreiben, um zu beugen das Recht der Armen und zu rauben die Gebühr der Dürftigen meines Volkes, dass Wittwen ihre Beute werden, und sie die Waisen plündern.“

Micha: „Sollte ich gut heissen ungerechte Wege und trügerisches Gewicht im Säcklein, wodurch Ihr Reichen voll Unrechtes werdet? Ihre Einwohner reden Lüge, und Buchseite 241 eine trügerische Zunge ist in ihrem Munde. Wehe denen, die Unthat sinnen und Böses entwerfen auf ihren Lagern; am hellen Morgen vollführen sie es; denn es steht in der Kraft ihrer Hand. Und sie gelüsten nach Aeckern und rauben sie, und nach Häusern und nehmen sie, und üben Gewalt an Mann und Haus und an Herren und Eigentum.“

Jesaias: Euer Land ist verwüstet, Eure Städte sind mit Feuer verbrannt, Eure Felder fressen Fremde vor Euren Augen, und sie werden verwüstet durch feindliche Verheerungen. Wahrlich, die vielen Häuser sollen Wüste werden, die grossen und schönen ohne Bewohner sein; 10 Joch Weinberg sollen nur einen Eimer geben und 30 Scheffel Samen nur 3 Scheffel bringen. Dann werden die Lämmer nach ihrer Weise weiden, und die Fremden die Früchte der Felder geniessen.

Jeremias: Ich will Deine Schätze und Reichtümer zum Raube geben ohne Ersatz um all Deiner Sünde willen und in all Deinen Grenzen.

Jesaias: Der Gerechte wird vom Herrn behütet, dass nichts über ihn komme. Es wird geschehen an dem Tage, dass Jedermann, der eine Kuh und zwei Schafe behalten wird, um des Ueberflusses der Milch willen Butter isst; denn Butter und Honig wird jeder essen, der noch im Lande geblieben ist. An jenem Tage wird ihm der Weinberg des edlen Weines Lob singen. Deine Ochsen und Edelfüllen, die das Land bauen, fressen gemengtes Futter, so wie es gewerfelt worden auf der Tenne. Auf jedem hohen Berge, auf jedem erhobenen Hügel sind Bäche strömender Wasser, am Tage des grossen Morgens, wenn gefallen die Türme. Ist’s nicht noch eine kleine Weile, so wird der Libanon in einen Karmel verwandelt und den Karmel wird man für eine Wildnis halten.

Amos: Siehe es kommen die Tage, spricht der Herr, da holt der Pflüger den Schnitter ein und der Traubenkelterer Buchseite 242 den Säemann. Es träufeln die Berge vom Most und alle Berge fliessen über. Ich führe zurück die Gefangenen meines Volkes Israel, und sie bebauen die verwüsteten Städte und bewohnen sie; sie pflanzen Weinberge und trinken Wein davon, legen Gärten an und essen Frucht davon.

Diese Strafpredigten der Propheten hatten zwar den Erfolg, dass wiederholt einer der Könige den Götzendienst mehr oder weniger vollständig verbot, dass unter dem Könige Zidkijah der Versuch gemacht wird, die Sklaverei aufzuheben und dass man die Steuern und Lasten auf den Schultern der Landwirte erleichterte. Aber die Geldfürsten von Juda und ihre Interessen durften die Könige nicht antasten. Der Macht des Geldkapitals gegenüber war das Königtum zu einem Schatten herabgesunken. Es kam deshalb jetzt auch nicht mehr zu einer Rückkehr zu den mosaischen Wirtschaftsgesetzen. Und deshalb blieb jede Aufhebung des Götzendienstes an der Oberfläche der Erscheinungen hängen und wurde nur zu rasch immer wieder von den heidnischen Formen verdrängt. Die alte kriegerische Kraft des Volkes, die vor Salomo fast 500 Jahre lang gegen eine feindliche Welt siegreich gekämpft hatte und dabei wohlhabend geblieben war, ist nach dem Niedergange des Bauernstandes gebrochen. Die Zins- und Tributpflicht an das Ausland nimmt immer grössere Dimensionen an. Auch die Frohndienste werden, wo es immer geht, vermehrt. Wehrlos bleibt das Volk der Ausbeutung durch das Grosskapital überlassen. Die Flucht der Bevölkerung aus dem Lande wird immer grösser. Und kaum 250 Jahre nach dem Tode Salomos fällt das Reich Juda in die babylonische Gefangenschaft, nachdem das Reich Israel schon vorher der assyrischen Eroberung völlig erlegen war.

Die verhältnismässig kleine Schaar der Juden, die aus der babylonischen Gefangenschaft nach Kanaan zurückkehrte, begann die Neubesiedlung des Landes auf den Trümmern Jerusalems und seiner Umgebung. Land war genug für sie da. Die Grundbesitzverteilung bot deshalb keinerlei Schwierigkeiten. Aber der Boden war sechzig Jahre lang fast ohne jede Kultur geblieben. Er hatte jetzt zu lange geruht, nachdem die Habgier der Menschen ihm vorher zu wenig Ruhe gegönnt hatte. Es war harte Arbeit, die Aecker wieder fruchtbar zu machen.

Das Reich Juda war politisch nicht mehr selbständig. Es stand unter der Oberhoheit zunächst des Perserkönigs, dann unter der Alexanders des Grossen, später unter Egypten und nachher unter den Syrern. Es musste deshalb Tribut in Zöllen und Steuern geliefert werden, deren Erhebung an Unternehmer verpachtet wurde. Hier liegen sofort wieder die Saatkeime des Kapitalismus. Auch die Ausfuhr von Oel und besonders von Getreide beginnt wieder in alter Weise, ohne Rücksicht auf Notreserven. Und als dann jedes ungünstige Erntejahr dem Getreideexportland Hunger bringt, da beginnt auch, genau so wie vor dem Exil, die systematische Ausbeutung des Volkes. Die Bibel berichet darüber: „Und es erhob sich ein grosses Geschrei des Volkes und ihrer Weiber wider ihre Brüder, die Juden. Es waren aber solche, welche sagten: Unsere Söhne und Töchter sind überaus viele. Wir wollen Getreide für ihren Wert nehmen und essen, dass wir leben. Und es waren welche, die sagten: Wir wollen unsere Aecker und Weinberge und unsere Häuser verpfänden, um Getreide zu bekommen in der Hungersnot. Und andere sprachen: Wir wollen Geld entlehnen zur Steuer des Königs und unsere Buchseite 244 Aecker und Weinberge hingeben. Siehe, wir unterwerfen unsere Söhne und Töchter der Dienstbarkeit und es sind schon unserer Töchter Etliche Mägde und wir haben nicht, womit sie losgekauft werden könnten, und unsere Aecker und Weinberge besitzen Andere.“ Es kam zu Unruhen des verschuldeten Volkes. Der Prophet Nehemia trat mit Strenge gegen die Reichen und Wucherer auf und schüchterte sie ein, dass sie die rückständigen Schulden erliessen und die Pfandobjekte zurückgaben. Die drohende Verschiebung der Ackerverteilung wurde also verhütet. Das Volk kehrte zum Glauben seiner Väter zurück und feierte den Sabbath und die Schemittajahre.

So war also kaum hundert Jahre nach der Rückkehr aus dem Exil schon eine allgemeine Schuld-, Zins- und Knechtschaftsbefreiung notwendig geworden. Jetzt erholt sich der Wohlstand des Volkes rasch. Die Bevölkerung nimmt mit starker Progression zu. Jerusalem wird wieder bevölkert und aufgebaut. Und das Reich Juda ist für Kriegsaushebungen Alexander des Grossen eine fast unerschöpfliche Menschenquelle.

Aber mit der Herrschaft des Hellenismus beginnen die Reichen und Steuerpächter von Juda bald wieder, die mosaischen Wirtschaftsgesetze ausser Acht zu lassen. Sofort zeigen sich Latifundien mit völliger Verschuldung und Abhängigkeit der Bauern. Von der Ausbeutung des Volkes durch den Kapitalismus sagt deshalb Jesus Sirach: „Welchen Frieden hält die Hyäne mit dem Hunde und welchen der Reiche mit dem Armen? Jagdbeute der Löwen sind die Waldesel in den Steppen; so sind die Armen eine Weide der Reichen.“ Von den Mahnungen an die sinaitischen Gesetze wollen die Reichen nichts wissen. Deshalb beginnt unter ihnen jene antinationale Bewegung zu Gunsten einer Aufhebung des nationalen Glaubens und der nationalen Gesetze durch AnBuchseite 245nahme der heidnischen Gebräuche. „Zu dieser Zeit standen in Israel gottlose Leute auf, welche viele überredeten und sprachen: Lasst uns gehen und einen Bund schliessen mit den Heiden, die um uns sind. Und diese Rede gefiel in ihren Augen. Und Einige aus dem Volke liessen sich herbei und gingen zum Könige und er gab ihnen Gewalt, die Gebräuche der Heiden einzuführen. Und sie erbauten ein Gymnasium zu Jerusalem nach der Weise der Heiden“ (1. Makkabäer 1,12 ff. ).

Im Geiste dieser Bewegung und begünstigt durch die Zwietracht des Volkes erliess der Oberherr Antiochus Epiphanes den Befehl, bei Todesstrafe das mosaische Gesetz und den mosaischen Glauben aufzugeben für das heidnische Gesetz und die heidnischen Gebräuche. „Viele aus Israel willigten in seinen Frohndienst und opferten den Götzen und entweihten den Sabbath.“ Auch der reiche Alcimus, der nach der käuflich gewordenen Hohepriesterwürde strebte, hielt es mit den Syrern. Und als die Heere der Syrer in Palästina einrückten und die reichen Kaufleute es hörten, da nahmen sie sehr viel Silber und Gold und Knechte und kamen in das Lager der Syrer, „um die Söhne Israels als Sklaven zu verkaufen“ (1. Makkabäer 3,41). Der verarmte Mittelstand aber war mit den Makkabäern hinab in die Wüste gezogen und hatte dort die Fahne gegen den anscheinend übermächtigen Feind für Gesetz und Religion der Väter erhoben. Die kleine, vom Idealismus getragene Schaar siegte, befreite das Vaterland vom Fremdenjoche und eroberte noch die an Zöllen reiche Hafenstadt Joppe. Die Reichen werden mit ihren Freunden, den Syrern, geflohen sein. Das Volk erneuerte den Bund mit Jehova und kehrte zu den mosaischen Wirtschaftsgesetzen zurück. Der Sabbath und das Schemittajahr wurden streng gefeiert. Die Schuldzinsen hörten auf. In jedem siebenten Jahre wurden alle Schulden erlassen Buchseite 246 und jedes Dienst- und Abhängigkeitsverhältnis gelöst. Der Ackerbau kam bei überwiegend bäuerlicher Besitzverteilung wieder zur vollen Blüte. „Ein Jeglicher baute sein Land in Frieden und das Land Juda gab seine Frucht und die Bäume der Felder gaben ihre Frucht. Die Greise sassen an den Strassen und besprachen sich über das Beste des Landes und die Jünglinge kleideten sich mit Ehren- und Kriegsgewand. Ein jeder sass unter seinem Weinstock und Feigenbaum und Niemand schreckte sie“ (1. Makk. 14,8 ff. ).

Neuer Bruderzwist wird zur Veranlassung, dass Rom sich in die internen Verhältnisse des Reiches Juda einmischt. Palästina wird eine römische Provinz mit römischer Provinzialsteuerverfassung und römischer Ausbeutung. Es wurde der römische Census eingeführt, d. h. die Volkszählung aufgenommen und die Ländereien abgeschätzt, um die Steuerfähigkeit des Landes zu ermitteln. Für jede Person sollte eine Kopfsteuer erhoben werden und zwar selbst für Frauen und Sklaven; nur weibliche Kinder unter zwölf, männliche unter vierzehn Jahren und Greise sind steuerfrei. Ausserdem wurde noch eine Einkommensteuer gefordert: von den Viehzüchtern ein Teil der Herde, von den Getreidebauern ein Teil der Ernte (Annona). Auch wurden Aus- und Eingangszölle erhoben. Wie drückend und verhasst dieses römische Steuersystem war, beweist zur Genüge der Umstand, dass Jeder, der sich als Steuerpächter oder Zöllner dabei beteiligte, für ehrlos galt. Mit dieser römischen Ausbeutung wetteiferten die weltlichen und geistlichen Grossen Jerusalems. Der Handel mit Oel und Getreide nimmt wieder seinen alten Aufschwung. Cäsarea wird zum Hauptemporium des Handels und der römischen Macht in Palästina. Sofort wird auch das Land wieder von schweren Hungersnöten heimgesucht. Und die bekannten wirtschaftlichen Vorgänge, die sich auch diesmal hier anreihen, veranlassen den Apostel Jacobus Buchseite 247 als ersten Bischof von Jerusalem zu dem Ausrufe: „Wohlan denn Ihr Reichen, weinet und heulet über Euer Elend, das über Euch kommen wird. Ihr habt Euch Schätze des Zornes gesammelt für die letzte Zeit. Siehe, der Lohn der Arbeiter, die Eure Felder geerntet haben, welcher von Euch vorenthalten, schreit und ihr Geschrei ist zu den Ohren des Herrn der Heerschaaren gekommen“ (65,1). Die Reichen waren auch jetzt Römerfreunde, wie sie früher Hellenisten waren.

Die Macht des römischen Weltreiches war offenbar zu stark, als dass der Glaube an die nationale Zukunft jetzt noch einmal aufkommen und sich wieder mit den Interessen des ausgebeuteten Volkes gegen Rom und die grosskapitalistischen Römerfreunde vereinigen konnte. Die unausbleibliche Reaktion nahm deshalb die Entartungsformen des Kommunismus und Anarchismus an. Fast keiner der Könige starb mehr eines natürlichen Todes. Die Essäer, deren Zahl auf 4000 angegeben wird, verwarfen mit der Ehe auch das Privateigentum. Jeder, der dieser Gesellschaft beitrat, übergab sein Vermögen der Ordenskasse, aus der die Lebensbedürfnisse der Mitglieder bestritten wurden. Freischaaren durchzogen das Land und überfielen die Reichen, um ihnen allen möglichen Schaden zuzufügen. Aus Raub und Mord wurde ein Handwerk gemacht, seit die redliche Arbeit nicht mehr lohnend schien. Diese Räuber nannte man Sikarier, nach dem kurzen Dolche, mit denen sie bewaffnet waren. Als der geldgierige Gessius Florus römischer Landpfleger war, traten die Sikarier mit ihm in Verbindung, um auf gemeinsame Rechnung die Reichen desto besser brandschatzen zu können. Auch den Grundbesitz nahmen sie ihnen ab und verkauften ihn an Andere. Und damit diese Art von Eigentumsübertragung rechtliche Gültigkeit hatte, musste das Synedrium eine diese Art von Grundeigentumserwerb Buchseite 248 anerkennende, besondere Verordnung erlassen, die man das Sikariergesetz nannte. Viele der Wohlhabenden wanderten aus. Die Zahl der beschäftigungs- und brotlosen Arbeiter in Jerusalem nahm zu. Man zählte einmal 18'000 solcher Arbeiter und bat den Landpfleger, auf öffentliche Kosten Arbeit zu geben. Er solle den Tempelschatz dazu benutzen, den man vor seiner Raubgier doch nicht mehr sicher hielt. Eine halb soziale, halb politische Revolution verschaffte dem Proletariat vorübergehend die Herrschaft in Jerusalem. Das Rachegefühl der geschundenen Volksmasse machte sich besonders gegen die verhassten reichen Römerfreunde Luft und vernichtete das Archiv, in dem die Schuldbriefe aufbewahrt waren. Von Jerusalem aus verbreitete sich der Aufruhr durch das ganze Land. Die verschuldeten Bauern waren auf der Seite der Aufständischen gegen die Reichen und gegen die Römer. Rom rüstete sich. Jerusalem wurde zerstört und der jüdische Staat für immer vernichtet.


*) G. Ruhland „Das natürliche Wertverhältnis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes“, Tübingen 1884.



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