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Inhalt Band 2
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Buchseite 83 E.

Entwicklungsgeschichte der Völker des
christlichen Abendlandes.



Vorbemerkung und Literatur. Die historische Literatur hat sich naturgemäß zu allen Zeiten mit dem Problem der aufsteigenden und niedergehenden Entwicklung der Völker beschäftigt. Daß die historische Forschung in diesen Fragen noch nicht zum Abschluß gekommen ist, hat triftige Gründe. Einmal ist jedes Urteil eine Sache des Vergleiches. Wer nur für wenige Völker die Entwicklungsgeschichte übersieht, wird auf dieses ungemein schwierige Problem kaum die rechte Lösung finden. Ferner vermögen doch wohl nur solche Historiker, welche eine Reihe von Jahren hindurch in der politischen Praxis selbst beobachten konnten, wie das Kleid der Geschichte gewoben wird, aus den uns überlieferten Fetzen das Kleid der historischen Vergangenheit zu rekonstruieren. Endlich hat eine solche Arbeit zur Voraussetzung, daß die Specialforschung einen ausreichenden Teil der Quellen gesammelt, kritisch geprüft und übersichtlich geordnet hat. Die Historiker der Gegenwart sind immer noch mit der Sammlung und Verarbeitung der Quellen voll beschäftigt. Es ist deshalb leicht zu verstehen, daß das Entwicklungsgesetz der Völker noch keine neuzeitliche Bearbeitung von dieser Seite gefunden hat. Unsere großen nationalökonomischen Lehrbücher behandeln heute immer noch die Nationalökonomie zu ausschliesslich als „Lehre von den wirtschaftlichen Erscheinungen“. So hat sich diese wissenschaftliche Disciplin noch nicht zur „Lehre vom gesunden und kranken Volkskörper“ emporschwingen können. Um so seltsamer klingt aus dem Munde eines Professors für Nationalökonomie der Vorwurf, das Volk habe noch nicht seine volle politische Reife gewonnen. So lange die nationalökonomische Wissenschaft so wenig wie bis heute unsere entBuchseite 84wicklungsgeschichtliche Erkenntnis des Völkerlebens gefördert hat, bleiben auch die Vertreter dieser Wissenschaft in erster Linie für die politische Unreife des Volkes verantwortlich. Nur wenige begabtere Doctoranden und jüngere Gelehrte haben den Mut gehabt, wenigstens die ökonomische Entwicklungsgeschichte eines einzelnen Volkes in Angriff zu nehmen. Zu diesen Arbeiten gehört z.B. Dr. Moritz Julius Bonn, Spaniens Niedergang 1896. Die 199 Seiten fassende Schrift ist am volkswirtschaftlichen Seminar der Universität München nach 2 1⁄2 jährigem Bemühen fertig geworden. Sie hat nach der Vorrede des Verfassers die „unermüdliche Unterstützung der Professoren Brentano und Lotz“ gefunden, aber auch die „reichen Bücherschätze des Professor Karl Menger in Wien“ benutzt. Der Verfasser schickt trotzdem sein Buch mit folgendem Klagelied in die Welt hinaus: „Die vorliegende Arbeit wird sich in mancher Hinsicht kaum mit dem üblichen Maße von Nachsicht, das man Erstlingsarbeiten gern zugesteht, begnügen können. Ich habe nichts Fertiges zu bieten, sondern höchstens einen Versuch, der Fragen aufwirft, sie aber nicht beantwortet.“ — Das ist doch wohl ein guter Beleg dafür, daß solche Arbeiten nur bei einer mehr als gewöhnlichen Energie des Denkens gedeihen.

Es muß eben deshalb immer wieder betont werden, daß nur der streng logische Zusammenbau des historischen Quellenmaterials uns den Schleier lüften kann, mit welchem bis heute das Warum? des Niederganges der Völker verhüllt ist. Die chronologische Darstellung bleibt eine Vorarbeit für den logischen Aufbau des Volkslebens. Um für die Theorie diese historische Methode in ein bestimmtes Wort zu kleiden, möchte ich sie als „Halmtheorie der Geschichtsschreibung“ bezeichnen. Es muss möglich sein, zu Anfang das Samenkorn nachzuweisen, das in einen bestimmten Boden eingesenkt wurde, und zu zeigen, wie sich aus diesem Samenkorn nach und nach Blatt, Stengel, Blüte und Frucht mit organischer Notwendigkeit entfaltete. Wie das aus dem Boden aufwachsende Blatt Stengel, Blüte und Frucht schon enthält, so sind auch im Völkerleben die aufeinander folgenden Entwicklungsperioden in den Anfängen schon im Keime gegeben und wachsen daraus mit organischem Zwange hervor. Es ist deshalb für jede logisch organische Entwicklungsdarstellung unmöglich, in der heute üblichen Weise Geschichtsabschnitte nach bestimmten Jahren gelten zu lassen. Die EntwicklungsBuchseite 85abschnitte müssen als logische Kategorien erfaßt und verstanden werden. Aufgabe der Darstellung wird es sein, zu zeigen, wie diese verschiedenen Perioden sich gegenseitig als Ganzes bedingen und tragen. In diesem Sinne scheiden wir die Entwicklungsgeschichte des christlichen Abendlandes in 6 Hauptabschnitte: Ausbildung des fränkischen Kaiserreiches, Lehensstaat, Entstehung der Geldwirtschaft und des Kapitalismus, der Kapitalismus in der Kirche, der Kapitalismus auf dem Fürstenthrone und der Kapitalismus in der Gesellschaft.

Die benutzte Literatur war für diesen Abschnitt eine so gewaltige, daß an dieser Stelle nur eine Auslese davon genannt werden kann. Wie die früheren Darstellungen, so wurde auch diese Ausarbeitung von verschiedenen Specialisten und Vertretern verschiedener Richtungen einer freundlichen Durchsicht und einer wohlwollenden Korrektur unterzogen, wofür auch an dieser Stelle mein aufrichtiger Dank zum Ausdruck gebracht werden soll. Eine andere Art glücklicher Arbeitsteilung wird sich für ein „System“ kaum auffinden lassen. Jene Fachmänner aber, welche bei einer modernen Zusammenfassung der Nationalökonomie sich stolz nur auf ihr eigenes Ich verlassen, beneide ich nicht um die Gefühle, die sie beschleichen müssen, wenn sie nach einigen Jahren ihre Arbeit wieder mit ehrlichem kritischen Auge durchsehen.

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§ 1. Durch das Zusammenwirken einer ungewöhnlich großen Zahl von Faktoren während eines nicht minder ungewöhnlich langen Zeitraumes ist jenes historische Gebilde entstanden, das die Weltgeschichte als „christliches Abendland“ bezeichnet.

Eine Vielheit von germanischen Volksstämmen wanderte, ohne jede einheitliche Führung, vom Norden und Osten nach dem Süden und Westen Europas zu einer Zeit, in welcher das römische Weltreich längst alle Symptome des unabwendbaren Verfalles in seinen volkswirtschaftlichen wie politischen Verhältnissen zeigte. Dieses Zusammenbrechen der Römerherrschaft ist dadurch wieder hinausgeschoben worden, daß seit 180 n. Chr. etwa, unter Marc Aurel auch germanische Volksstämme in den römischen Reichsverband aufgenommen wurden und germanische Heere jene Siege errungen haben, welche die Geschichte noch als „römische Siege“ verzeichnet. Erst nachdem der Vandale und römische Reichsverweser Stilicho seit 400 n. Chr. die Legionen von der Rheingrenze zur besseren Verteidigung Italiens gegen den furchtbaren Westgoten Alarich fortgezogen hatte, fluteten die Scharen der Germanen ungehemmt herein über Gallien und Spanien, besetzten allmählich Britannien, um in diesen reichen Ländergebieten ihre, auf der Naturalwirtschaft ruhenden Staaten zu gründen.

In dem Volkskörper des absterbenden Römerreiches hatte sich das mächtig aufstrebende Christentum ausgebreitet, das nach den vorbereitenden Maßnahmen Konstantins des Großen endlich durch Kaiser Theodosius gegen Ende des IV. Jahrhunderts als Staatsreligion anerkannt und seitdem mit der politischen Organisation des römischen Staates auf’s Engste verknüpft Buchseite 95 wurde. Das Stadtgebiet, die Civitas wurde als unterste Verwaltungseinheit des römischen Reiches, Diözese des Bischofs und damit grundlegende Verwaltungseinheit für die Kirche. Ueber dem Stadtgebiet stand in der Reichsverfassung die Provinz mit dem Provinzialstatthalter. Die Bischofsdiözesen der Reichsprovinz vereinigten sich dementsprechend unter der Oberleitung des Metropoliten d. h. des Bischofs der Provinzialhauptstädte zu einer Kirchenprovinz. Mehrere Provinzen bildeten in der Reichsverfassung seit dem IV. Jahrhundert eine Reichsdiözese unter einem kaiserlichen Statthalter (vicarius). Auch diese Reichsdiözese tritt seit dem IV. Jahrhundert in der kirchlichen Organisation als das Gebiet eines Patriarchen auf, dem die Metropoliten der Provinzen einer Reichsdiözese untergeben sind. Dem Gesamtreichsverband entsprach endlich der Gesamtverband der Kirche, als dessen legitimes Organ zunächst das Reichskonzil, das sogenannte „ökumenische Konzil“ erschien. Der Trennung des Römerreiches in zwei Hälften folgte bald die Kirchentrennung. Im oströmischen Reiche mit seinem strengen Absolutismus krönte den Bau der Kirche ein weltliches Haupt. Im weströmischen Reiche behielt die Kirche einen kirchlichen Vorstand, dessen Stellung unter dem Zauber der weltgeschichtlichen Ueberlieferungen der Stadt Rom auf die Dauer nicht dem Oberhaupte in Byzanz nachgeordnet bleiben konnte. Der Fall des weströmischen Reiches unter den Hammerschlägen der germanischen Völkerwanderung bedeutete dann für die römische Kirche Befreiung aus den Fesseln des byzantinischen Absolutismus. Die Freiheit der Kirche ermöglichte ihr die so außerordentlich gestaltungsreiche Fortentwicklung. Der starre Zwang des oströmischen Absolutismus ließ auch die christliche Kirche im Orient im Formalismus verknöchern. So hat das absterbende Römerreich als großes Buchseite 96 Vermächtnis an die Zukunft seine Verfassungsformen auf die mit neuer Kraft sich ausbreitende christliche Kirche übertragen.

§ 2. Indeß hatte die römische Kirche nicht nur die Verfassung des Römerreiches mit den historischen Traditionen Roms übernommen und den Kulturreichtum des Altertums bewahrt, sie verfügte auch über ein vollständig ausgearbeitetes volkswirtschaftliches Programm, das nach den Grundsätzen des Christentums aus jenen furchtbaren ökonomischen Misständen abgeleitet war, welche den Zusammenbruch der antiken Welt begleiteten. Immer häufiger wurde das Volk von Hungersnöten und Elend aller Art heimgesucht. Wie Hyänen des Schlachtfeldes haben die Wucherer mit Hilfe des durchaus kapitalistischen römischen Rechtes diese Notlage ihrer Mitmenschen ausgebeutet. Was aber auf solche Weise an Reichtümern zusammen gerafft worden war, konnte bei der herrschenden Ungewißheit der allgemeinen Lage auf einen gesicherten Bestand nicht bauen. Also überließen sich die Reichen dem so raffinierten Genußleben einer alten Kultur, ohne alle Rücksicht auf all das hungernde Elend, das rings um sie herum um Hilfe klagte.

Solchen Zuständen gegenüber war die christliche Kirche zu einem ganz bestimmten Programm gezwungen. Systematischen Ausdruck hat dasselbe durch jenen Kirchenvater gefunden, den wir auch als einen der besten Kenner der antiken Welt bezeichnen dürfen: den großen Bischof von Hippo Regius in Nordafrika Aurelius Augustinus (353 bis 430 n. Chr.) In seinen 22 Büchern über die Bürgergemeinde Gottes (De civitate Dei) bezeichnete er den antiken Staat als das, was er in Wirklichkeit war: als eine Räuberbande, die seßhaft geworden ist. „Nachbarn mit Krieg überziehen und Völker, welche keine Veranlassung dazu gegeben haben, aus bloßer HerrBuchseite 97schaft zu Grunde richten und unterwerfen, wie ist dies anders denn als Räuberei im Großen zu bezeichnen?“ Dieser Räuberei des Staates im Großen entspricht der Wucher und betrügerische Erwerb der Bürger im Einzelnen. Schamlos werden die Mitmenschen ausgebeutet von Jenen, die den Begierden des Reichtums nachjagen. Das im Staate geltende Recht unterstützt geradezu die Geldgier, diese Burg der Sünde. Wer sich mit diesem sündhaften Erwerb gesättigt hat, wird vom Staate und der Gesellschaft als „Reicher“ geachtet und geschätzt, statt als das erkannt und behandelt zu werden, was er ist: als ein Ungerechter oder als der Erbe eines Ungerechten. Einem solchen Räuberstaate gegenüber hat der christliche Bürger nicht die Pflicht des Gehorsams. Es ist vielmehr sicher, daß eigentliches Heil nur von einer Revolution dieser bestehenden Gesellschaftsordnung kommen kann, weil nur auf solche Weise der Tag und die Stunde näher rücken, welche den Aufbau des Idealstaates der Zukunft endlich möglich machen.

Die Christen sollen sich vor allem der körperlichen Arbeit widmen; denn Müßiggang ist ein Feind der Seele. Arbeit ist Pflicht für jedermann, auch für den Klerus und die Mönche. Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen! Auf diesem Grundsatze wird die Armenversorgung aufgebaut. Was der Einzelne als Erbe eines Ungerechten gewonnen hat, soll vor allem den arbeitswilligen Armen gewidmet werden. Was der Einzelne durch Arbeit über seinen Bedarf hinaus verdient, soll abermals als Almosen hingegeben werden. Denn alles Ueberflüssige ist eigentlich schon fremdes Gut. Dieses fremde Gut hält zurück, wer nicht wohltätig ist. Almosen spenden, statt den Ueberfluß verprassen, ist eine ganz besondere Pflicht der Christen. Denn die Buchseite 98 Almosen sind das Lösegeld der Sünden. Die Hand der Armen ist die Schatzkammer Christi. Wer aber wirtschaftlich sich betätigt, sehe zu, daß er nicht auf unrechte Weise fremdes Gut erwerbe und Wucher treibe. Von dieser schweren Sünde kann sich jener frei halten, der nicht mehr zurückfordert, als er gegeben hat. Wer Geld leiht und Zinsen fordert, wer einen Scheffel Getreide hingegeben hat und mehr zurückfordert, treibt Wucher!

Wenn sich die Christen im Geiste dieser christlichen Lehrsätze üben und darnach handeln, wird nach dem bereits begonnenen Zusammenbruch der bestehenden antiken Gesellschaftsordnung ein neues ideales Staatswesen gegründet werden können, das ganz von diesen Grundsätzen getragen ist. Diesem Zukunftsstaate im Sinne der göttlichen Rechtsordnung ist dann der Christ zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Die Grenzen dieser Bürgergemeinde Gottes werden sich nicht auf die Grenzen des Okkupationsgebietes nur einer Nation beschränken. Dieser Idealstaat wird vielmehr nach und nach alle Völker der Erde umspannen, wie auch das Christentum über die ganze Erde sich verbreiten wird. Das Endziel dieser Entwicklung aber wird „Friede auf Erden“ sein. So etwa lautet das festgefügte Staats- und Wirtschaftsprogramm des heiligen Augustinus.

§ 3. Welchem germanischen Volksstamme sollten all diese Schätze der römischen Kirche zufallen?

Die Bevölkerung des oströmischen Reiches war in der größeren Hälfte des IV. Jahrhunderts arianisch gewesen, d. h. sie glaubten nach der Lehre des Arius nicht an die Wesensgleichheit von Gottsohn und Gottvater. Gerade um jene Zeit hatten an den Ufern der Donau die Goten und die ihnen verwandten Stämme, die Vandalen, Buchseite 99 Burgunder, Alanen, Sueven, das Christentum von oströmischer Seite in der Glaubensform der Arianer empfangen. Das erste große ökumenische Konzil zu Nicaea (325 n. Chr.) hatte die arianische Auffassung verworfen und ihre Anhänger als Ketzer verdammt. Die Arianer sind dann im Laufe des IV. Jahrhunderts innerhalb der Grenzen des römischen Imperiums verschwunden. Die germanischen Völker aber waren der einmal angenommenen Lehre zunächst treu geblieben. Die römische Kirche konnte sich unmöglich mit einem Volke ketzerischen Glaubens vereinen. Bei dem siegreichen Vorrücken dieser Germanen war die Lage der Kirche in Rom um so weniger erfreulich, je mehr sich gleichzeitig ihre Beziehungen zum oströmischen Reiche trübten. Die Franken unter Chlodwig waren der erste germanische Volksstamm, welcher im Jahre 496 das Christentum in römisch-katholischer Form angenommen hat. Von da ab datiert jener eigenartige Verschmelzungsprozeß der fränkischen Herrschaft mit der römischen Kirche, welcher im Jahre 800 mit der Vereinigung des christlichen Abendlandes unter dem kaiserlichen Zepter Karls des Großen seinen vorläufigen Abschluß fand. Dieser ganze Werdegang besitzt indeß für das Völkerleben eine so hervorragende Bedeutung, daß wir an dieser Stelle seinen inneren Zusammenhang nicht übergehen können.

§ 4. Nicht die kulturell viel höher stehende römische Kirche, sondern die machtvollen Franken, nicht der Lehrer, sondern die Schüler blieben der Herr in diesem Verhältnis. Das erforderte auf Seiten des Lehrers ein ungewöhnliches Maß von Klugheit und Vorsicht. Die römische Kirche ist schon in ihrem Bekehrungswerke in durchaus schonender Weise vorgegangen. So schreibt Papst Gregor der Große an einen Missionsbischof um das Jahr 600:  „Keinesfalls soll man die  Göttertempel zerBuchseite 100stören, sondern nur die Götterbilder, die in dem Tempel sind, und an ihre Stelle darin Altäre errichten. Sind die Tempel gut gebaut, so muß man sie aus dem Kult der Dämonen in eine Stätte der Verehrung des wahren Gottes umwandeln, damit das Volk von Herzen seinen falschen Glauben ablegt und in der Erkenntnis und Anbetung des wahren Gottes desto williger zu den gewohnten Stätten pilgere. Und weil das Volk gewohnt ist, viele Stiere seinen Göttern zu opfern, so soll man ihnen diese Feier nicht antasten. Sie mögen immerhin am Tage der Kirchweihe um ihre früheren Tempel, welche inzwischen in Kirchen umgeweiht sind, Hütten aus Baumzweigen errichten, und beim heiligen Mahle ihre Feier begehen, Gott zum Lobe ihre Tiere schlachten und essen und dem Geber alles Guten für ihre Sättigung Dank sagen. Nur wenn man diesem Volke einige äußere Freuden läßt, vermag man es leichter zu den inneren Freuden hinüber zu leiten. “

Als von 722 ab der nachmalige Erzbischof Bonifatius es schon wagen durfte, die zerstreuten christlichen Kirchen unter den Germanen auf Grund päpstlicher Einführungsschreiben an Karl Martell nach den Verfassungsgrundsätzen der römischen Kirche einheitlich zu organisieren, blieb doch selbst dieser Feuergeist bei seinem Wirken auf die Unterstützung des Frankenfürsten angewiesen. Bonifatius selbst schreibt darüber: „Ohne Schutz des Frankenfürsten kann ich weder das Volk für die Kirche leiten, noch Priester und Kleriker, Mönche und Nonnen beschirmen, ja nicht einmal die heidnischen Gebräuche des Götzendienstes in Deutschland vermag ich ohne Auftrag und Hilfe von ihm zu beseitigen.“

Aber auch die ganz ungebändigte Urwüchsigkeit der Germanen erforderte viel Zeit und Geduld, um sie nach und nach erst für die Anforderungen der Kirche geBuchseite 101schickt zu machen. So berichtet z. B. der Biograph des Papstes Gregors des Großen (590—604), daß es nicht möglich gewesen, bei den Germanen den gregorianischen Kirchengesang einzuführen, weil ihre rauhen, wie Donner brüllenden Stimmen keiner Modulation fähig wären. Den an den Trunk gewöhnten und ungebildeten Kehlen wollten jene Biegungen, die eine zarte Melodie erfordert, nicht gelingen, so zwar, daß ihre Abscheu erweckenden Stimmen nur solche Töne hervorbrachten, die dem Gepolter eines von einer Anhöhe herunterrollenden Lastwagens ähnlich seien.

§ 5. Gewiß war es den Franken bei Ausbreitung ihrer Herrschaft nach Südwesten ungemein zustatten gekommen, daß sie mit ihrer Heimat am Niederrhein geographisch in unmittelbarer Verbindung geblieben sind und so im Falle einer Bedrängnis auf dieser gesicherten Operationsbasis immer neue Unterstützungen holen konnten. Bedeutungsvoll für die fränkischen Erfolge blieb auch der Umstand, daß die verhältnismäßig kleinere Zahl der fränkischen Eroberer mit Land versorgt werden konnte, ohne eine Revolution in der römisch – gallischen Grundbesitzverteilung hervorzurufen. Aber ein nicht minder großer Teil der fränkischen Erfolge muß der Mitwirkung der römischen Kirche zugeschrieben werden. Zweifelsohne haben bei den Siegen Chlodwigs über die Alamannen, Burgunder und Westgoten die Anhänger Roms im Lande wesentliche Unterstützung geleistet, wie auch die Zugehörigkeit zum gleichen Religionsverbande die Verschmelzung der Franken mit den römisch gallischen Elementen sehr erleichterte. Der Sieg der Franken über die benachbarten germanischen Völkerschaften war zugleich der Sieg der römischen Kirche über die Anhänger des arianischen Glaubensbekenntnisses. Der römischen Kirche mußte deshalb daran gelegen sein, Buchseite 102 das Frankenreich stark und mächtig zu erhalten. Als das Königsgeschlecht der Merowinger rasch degenerierte und im Jahre 751 Pippin der Jüngere den letzten Merowinger in ein Kloster schickte, um selbst die Frankenkrone zu tragen, da war der römische Papst ausdrücklich damit einverstanden. Als bald darauf Papst Stephan II. persönlich bei Pippin gegen den Langobardenkönig Aistulf Schutz suchte, benutzte Pippin diese Gelegenheit, um sich und seine beiden Söhne Karl und Karlmann salben zu lassen. Die Herrschaft der Karolinger im Frankenreiche war damit auch formell gesichert. Durch die gleichzeitige Uebertragung der Würde eines römischen Patricius und Beschützers von Rom auf Pippin durch den Papst war auch schon die Vorstufe zum römischen Kaiserthrone erreicht worden.

§ 6. Die römische Kirche war indeß nicht nur bemüht, den Germanen im Frankenreiche die christlichen Lehren zu verkünden und die fränkische Machtpolitik nach Kräften zu fördern, die Tätigkeit der Kirche war nicht minder auf die Erziehung der Germanen zur Kulturarbeit gerichtet und zwar vor allem durch das Beispiel der produktiven Arbeit der Missionare selbst. Die irischen Mönche der Kolumbaregel, die sich bald mit der Benediktinerregel verschmolzen hat, sollten tagsüber sich in körperlicher Arbeit so müde machen, daß sie der Schlaf schon auf dem Wege zum Lager befällt. Diese Männer, welche den Weinkrug nur zum Schein mit den Lippen berührten, in den einsamsten Gegenden der Urwälder mit täglich siebenstündiger Handarbeit fruchtreiche Gefilde schufen, als freie Klostergenossenschaft in einfachen Hütten hausten, in schmucklosen Kirchen den Gottesdienst pflegten und in allen Fällen der körperlichen Not freudig Hilfe leisteten, mußten auf das Gemüt der Germanen einen tiefgehenden, bleibenden Einfluß gewinnen.

Buchseite 103 In der Verwaltung großer Grundherrschaften war die Kirche, welche auch hier über die reichen Erfahrungen der Römer verfügte, der Wirtschaftsweise aller Franken natürlich weit überlegen. Selbst Karl der Große hat die Anregung zu seiner ausgezeichneten Wirtschaftsanordnung für die Königshöfe (capitulare de villis) der vortrefflichen Verwaltung der Kirchenbesitzungen entlehnt. In welchem Maße deshalb unsere Kultur in der Feld-, Garten- und Hauswirtschaft mit Uebertragungen aus der römischen Kultur arbeitet, bezeugt unsere Sprache, welche die Wörter Linse, Wicke, Kohl, Rettich, Kirsche, Pflaume, Pfirsich und Lilie, Esel, Maultier, Pfau, Fasan, Kammer, Keller, Fenster, Speicher, Ziegel, Schindel, Spiegel, Schüssel, Pfanne, Korb, Kiste, Schrein und Kissen, Sohle, Schürze und selbst Käse und Butter aus dem Lateinischen entlehnt hat. Auf den zahlreichen Klosterhöfen bestellte der Bauer das Land und züchtete sein Vieh nach jenen Regeln, die ihm der Klostermaier vorgeschrieben. Das geerntete Getreide wurde in der Klostermühle vermahlen und in der Klosterbäckerei verbacken. Aus den Klostergärten verbreitete sich die Kunst des Gemüsebaues, des Obst- und Weinbaues usw.

§ 7. Bei jedem Kloster wie bei jedem Bistum waren Schulen errichtet. So wurde die Sprache der kirchlichen Kreise, nämlich das Lateinische, die Sprache der Gebildeten überhaupt. Namentlich das Benediktinerkloster St. Gallen erfreute sich durch seine Mönchgelehrten und Mönchkünstler weithin eines besonderen Rufes. Klösterliche Baumeister und Steinmetze entfalteten eine rege Tätigkeit. Erzguß, Glasmalerei, Mosaikarbeit, Holzschnitzerei und Goldschmiedekunst fanden hinter den Klostermauern eifrige und eigenartige Pflege. Hier war die Heimstätte der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks, in welchen der Geist des Christentumes eine Verbindung mit Buchseite 104 den Formen der Antike eingegangen ist und so den romanischen Stil geschaffen hat. In Metz und in den niederrheinischen Klöstern blühte die Elfenbeinschnitzerei. Die Textilindustrie beschäftigte in den Benediktinerabteien am Rhein und an der Donau emsige Hände. Den Mönchen von St. Emeran in Regensburg wurde die Kunst der Purpurfärberei nachgerühmt. Zu der heiligen Klausnerin Luitbirg, die bei Halberstadt in einem ausgehölten Felsen auf der Klus, einem Vorberge des Harzes, hauste (gestorben um 870), schickte Bischof Anskar von Bremen junge Mädchen zum Handarbeitsunterricht. An den Hauptverkehrsstraßen und insbesondere an der großen Pfaffengasse des Mittelalters, dem Rheinstrome, entlang, waren die Klöster zu großen europäischen Gasthöfen geworden. Die fremden Botschafter, die Königsboten, die Hofbeamten, angelsächsische Mönche, sprachkundige Italiener, herumziehende Sänger, Kaufleute, sie alle suchten und fanden ihre Reiseherberge in den reichen Klöstern. In den Klosterräumen wurden, wie in einer Notariatskanzlei, alle wichtigen Geschäfte abgeschlossen. Im Jahre 811 klagten die Fuldaer Mönche gegen ihren Abt bei Karl dem Großen: sie seien zu Maurern degradiert, durch übermäßige Bauarbeit ermüdet, ihr Kloster sei durch das weltliche Treiben, durch Handel und Lehensverträge und Geldgeschäfte aller Art entweiht. Wer könnte es da nicht verstehen, daß ein Staatsmann wie Karl der Große seine Mönche und seine Klöster mit ihren Leistungen wohl zu schätzen wußte? Trotzdem bleibt auch hier dieser gewaltige Herrscher frei von jeder Einseitigkeit: er verbietet das Mönchwerden, um die Verödung seiner Königshöfe zu verhüten und verbietet, daß ein Grundstück, welches dem Könige zinspflichtig sei, Gegenstand einer Schenkung an die Kirche werde.

§ 8. Die Verwaltungsorganisation des fränkischen Staates war jener der Kirche angepaßt. Buchseite 105 Dem Machtgebiete des Bischofs entsprach das des Grafen, dem des Archidiakon das des Centenar. Da die kirchlichen Funktionäre vermöge ihrer lateinischen Bildung für die neuen Aufgaben des weltlichen Staates zumeist besser geeignet schienen, als die altfränkischen Grafen und Centenare, wurden sie immer häufiger mit neuen staatlichen Aufträgen betraut. In den neu eroberten Gebieten war die Frankenkirche ein besonderes wichtiges Machtmittel, um die Besiegten in Untertänigkeit zu erhalten. Den Friesen und Sachsen ist das Christentum unter dem Schutz des fränkischen Staates gebracht worden. Als beide Germanenstämme sich gegen die Frankenherrschaft erhoben, richtete sich ihr Angriff nicht minder auch gegen die Vertreter der Kirche. Der Organisation der Armen- und Krankenpflege im Reiche diente vor allen die Zehntabgabe, welche als Kirchensteuer erhoben wurde. Die Ueberwachung von Maß und Gewicht auf den Märkten wurde nicht den Grafen, sondern den Bischöfen übertragen, welche auch für die Münze zu sorgen hatten. Und da man zur einheitlichen Ordnung von Maß und Gewicht ein Normalmaß und Normalgewicht brauchte, schickte Karl der Große zu dem Benediktinermutterkloster Monte Casino in Italien, um beides von dort für sein Reich zu holen. Den Bischöfen wurde vielfach schon die Immunität für bestimmte Gebiete mit den damit verbundenen Einnahmen aus Bußgeldern u.s.w. verliehen. Selbst das Heerbannaufgebot ist ihnen vereinzelt übertragen worden. Und als Karl zur Kontrolle der Rechts- und Verwaltungspflege seines weiten Reiches das Institut der Königsboten einrichtete, wurden die kirchlichen Würdenträger wieder bevorzugt, weil sie reich genug waren, „um keine Geschenke gegen Unschuldige annehmen zu müssen.“

§ 9. Schon unter den Merowingern war die Kirche reich namentlich an Grundbesitz. Sie soll damals mehr Buchseite 106 als den dritten Teil des gesamten Kulturlandes besessen haben. St. Germain des Prés bei Paris hatte im VIII. Jahrhundert einen Besitz von 442'150 Hektar mit einer abhängigen Bevölkerung von 10'026 Seelen und einer jährlichen Grundzinseinnahme von 605'628 Frs. Fulda, das Kloster des heiligen Bonifatius, war nicht lange nach seiner Gründung mit 15'000 Hufen Land nicht weniger begütert.

Die Quellen, aus denen dieser Riesenbesitz der Kirche geflossen ist, waren die Geschenke der Gläubigen und die für die Armenpflege angesammelten Reserven. Als dann zu Anfang des VIII. Jahrhunderts die ausgezeichnet berittenen islamischen Heere durch Spanien erobernd vorgedrungen sind und die fränkische Kriegsmacht zur Abwehr dieser großen Gefahr ein besseres Reiterheer benötigte, haben die Frankenfürsten in Zeiten der Not vielfach das Verfügungsrecht über das Grundeigentum der Kirche in Anspruch genommen. Die Kirche hat sich nachträglich damit abgefunden, gegen entsprechende jährliche Zinsleistung derjenigen, denen die Nutznießung des Kirchengutes durch den Fürsten zugewiesen war. Der entscheidende Sieg Karl Martells zwischen Tours und Poitiers über die Araber (732) war die Frucht dieser Maßnahmen. Das verständnisvolle Zusammenwirken von Kirche und Staat führte das Frankenreich aufwärts von Stufe zu Stufe bis zur gebietenden Höhe des Karolingerweltreiches.

§ 10. Im Mittelpunkte des Karolingerreiches steht Karl der Große selbst Er war der gewaltigste Herr, welchen germanische Völker jemals bewundert und gehaßt haben. Mit stahlharter Ausdauer hat er sein neues Weltreich auf den Grundsätzen der Arbeit und der Gerechtigkeit nach jenen großen Richtpunkten aufgebaut, die er den besten Ueberlieferungen der Kirchenväter entlehnen konnte. In den ersten 30 Jahren seiner Regierung führten ihn seine Heerzüge gegen unruhige Buchseite 107 Nachbarn fast alljährlich über die Grenzen zu neuen Siegen. Seine Herrschaft reichte vom Ebro in Spanien bis zur Raab an der Westgrenze Ungarns, von der britannischen Mark und der Eider an der Nordgrenze Holsteins bis zum Golf von Neapel. Dazu pflegte Karl freundschaftliche Beziehungen zu dem Chalifen von Bagdad, Harun al Raschid, er schlichtete Thronstreitigkeiten der sarazenischen Fürsten in Spanien, leitete dazu Verhandlungen mit der Regierung des oströmischen Reiches und empfing Gesandte der Christen aus Jerusalem, welche um seinen Schutz zu bitten kamen, nachdem der Kaiser von Byzanz sich zu schwach dazu erwiesen habe. Soweit er auf seinen fast ununterbrochenen Rundreisen die Klagen seiner Untertanen nicht persönlich hören und abstellen konnte, schickte er mit besonderer Sorgfalt auserlesene Königsboten zur Kontrolle der gesamten Rechtsprechung und Verwaltung und ließ sich von diesen über alles Wichtige genau berichten. Der Kaiser selbst legte sich den Titel eines Schirmherrn der Armen, Witwen und Waisen bei. Karl warb die größten Gelehrten seiner Zeit, wie den Angelsachsen Alkuin und Peter von Pisa, den Langobarden Paulus Diakonus u. A. für die von ihm gegründete Hofschule, in welcher fast alle führenden Männer der folgenden Generation unter seinen Augen gebildet wurden. Unablässig blieb er bemüht, den Schulunterricht für sein Volk zu fördern. Persönlich zensierte er Schularbeiten und hat noch im reifen Mannesalter sich selbst Unterricht erteilen lassen. Geradezu mustergültig bleibt Karls Kolonisationspolitik auf sächsischer Erde. Nachdem er durch einen scharfen Angriff gegen die Mitte des Landgebietes dasselbe in zwei Teile gesprengt, ging er seit 777 mit der Christianisierung der Sachsen vor, indem er die acht westfälischen Bistümer einrichtete. Dann ließ er auf dem Buchseite 108 Reichstage zu Paderborn die Großen des Landes taufen. Wer von nun an abfiel, war Rebell. 782 mißlang der Versuch, durch gemeinsamen Kampf gegen die Slaven den Gegensatz zwischen Sachsen und Franken auszugleichen. Als sich die Heere begegneten am Sündelgebirge, überfielen die Sachsen das fränkische Aufgebot und vernichteten es. Dafür folgte die strenge Strafe bei Verden an der Aller (wenn auch nach neuerer Forschung die Zahl der getöteten Sachsen mit 4500 etwas zu hoch gegriffen erscheint). Noch einmal rafften sich die Sachsen auf zum offenen Kampfe in der Feldschlacht. Als sie hier abermals geschlagen wurden, unterwarf sich der sächsische Adel, ließ sich taufen und wurde von nun an durch gute Stellen begünstigt und dauernd gewonnen. Die sächsischen Bauern aber setzten den Kampf gegen die Franken unermüdlich fort, bis Karl zum letzten Mittel griff und die sächsischen Bauern „entwurzelte“. Ganze Bauerndörfer wurden von Sachsen nach Franken und umgekehrt auf königlichen Befehl „verpflanzt“. Erst damit war für immer aller Widerstand hingeschwunden. Mehr noch! die Sachsen hatten sich mit den Franken vereint. Hundert Jahre später ruht die Leitung der deutschen Geschicke in der starken Hand des sächsischen Stammes. Bei all dem fand Karl noch Zeit, die Wirtschaftsführung seiner Königshöfe bis auf die Zahl der Eier zu kontrollieren, die sie ihm zur Ablieferung brachten. Wer so in unermüdlicher Arbeit den Wohlstand seines Reiches zu fördern beflissen war, konnte auch bei seinen nächsten Angehörigen Müßiggang nicht dulden. Selbst den Königstöchtern wurde befohlen, im Frauengemach Wolle zu spinnen, „damit sie nicht auf unnütze Einfälle kommen“.

§ 11. In seiner Wirtschaftspolitik folgte Karl der Große vor allem den Grundsätzen des heiligen Buchseite 109 Augustinus, wie sie in dessen Büchern über die Bürgergemeinde Gottes niedergelegt sind. Als um die Wende des VIII. ins IX. Jahrhundert Notjahre in seinem Reiche sich einfanden, erließ er ein Verbot der Ausfuhr von Lebensmitteln und Preistaxen für den inländischen Verkehr, um der übermäßigen Preistreiberei entgegen zu treten. Die königlichen Güter wurden angewiesen, ihre Getreideüberschüsse billig an Bedürftige zu verkaufen. Wo die Not die Leute aus ihren bisherigen Wohnsitzen vertrieb, wurde ihnen besonderer kaiserlicher Schutz gegen die Habgier der Wucherer gewährt mit dem Privileg, sich anderwärts, wo es ihnen beliebte, niederzulassen. Seinen Königsboten gab Karl eine eingehend motivierte Verordnung gegen den Wucher und gegen die Habgier. Nach dieser Verordnung des großen Frankenkönigs ist alles das Wucher und „Uebermaß“, was mehr empfangen wird, als gegeben war. Wer 1 Scheffel Getreide gab, um dafür später 1 1⁄2 Scheffel Getreide zu empfangen, war ein Wucherer. Jedem Kauf und Verkauf zur Zeit der Not wurde die Rechtsgültigkeit versagt, wenn Leistung und Gegenleistung ungleich waren. In diesem Falle hatte die, unter dem Druck der Notlage gestandene Partei das Recht, das Geschäft nachträglich durch Rückgabe des Kauf- oder Verkaufspreises rückgängig zu machen. Auch das Zinsnehmen hat Karl als Wucher verboten. Die Habsucht, die Gier nach dem Reichtume und die Ungerechtigkeit wurden von ihm als schwere Sünden verdammt. Dazu kam die Einrichtung fester Verpflegungsstationen für die Armen, wesentliche Erleichterungen des Aufgebotes zu einem Heereszuge für jene Gegenden, welche von der Notlage betroffen waren, ausdrückliche Verpflichtung der Reichen zum Almosengeben u.s.w.

Buchseite 110 § 12. In besonderem Maße eigenartig war die Stellung Karl des Großen zur römischen Kirche. Er fühlte sich nicht nur als Herr seines Staates, sondern auch als Herr seiner Kirche innerhalb seiner Bürgergemeinde Gottes. Es erschien ihm selbstverständlich, daß seine Kirche ganz in den Dienst seines Staates gestellt wurde und daß er in allen kirchlichen Angelegenheiten oberste Instanz blieb. Karl präsidierte persönlich den Konzilien des fränkischen Episkopats, er ernannte nicht nur seine Bischöfe und Aebte, er schickte ihnen auch Dispositionen für ihre Katechismuspredigten, über deren Abhaltung er sich wieder berichten ließ, er normierte das geistliche Recht, beaufsichtigte das ganze kirchliche Leben und den Bildungsgang der Geistlichen. Auf seinem ersten Römerzuge (773/4) besuchte Karl den Papst Hadrian I. in Rom, beschwor mit ihm über dem Grabe der Apostelfürsten in germanischer Weise einen Bruderbund und schaltete als Patricius von Rom und Gebieter des Langobardenreiches. Als dieser selbe Papst Hadrian die Akten des zweiten Konzils zu Nicäa (787—790) über die Bilderverehrung dem Könige der Franken zuschickte, erschienen die berühmten „Karolinischen Bücher“ (libri Carolini), welche auf der Synode von Frankfurt (794) unter Karls Vorsitz von dem gesamten fränkischen Episkopat einmütig angenommen wurden. In diesem „Werke des ausgezeichneten Frankenkönigs Karl gegen die törichten und anmaßenden Beschlüsse einer griechischen Synode zu Gunsten der Bilderverehrung“ (so der amtliche Titel dieser Schrift) ist beides, sowohl die Bilderverehrung wie die Bilderzerstörung, verworfen worden. Dem Papst wurde das königliche Buch amtlich übermittelt. Er begnügte sich mit einer formalen Verwahrung gegen dessen Tendenz. Sein Nachfolger Papst Leo III. (795—816) übersandte nach seiner Wahl dem Frankenkönige die Schlüssel von Buchseite 111 St. Peter und das Banner (Vexillum) der Stadt Rom, datierte seine Urkunden nicht nur nach dem Jahre seines Pontificats, sondern auch nach Karls Regierungsjahren und ließ in einem Saale des Lateran ein Mosaik anbringen, welches — im Vergleich mit dem gegenüberstehenden Mosaik — Karl den Großen als Nachfolger des römischen Kaisers Konstantin zur Darstellung bringt. Im Jahre 799 mußte Leo vor seinen persönlichen Feinden aus Rom flüchten und eilte, Schutz suchend, zu Karl dem Großen nach Paderborn. Dieser ließ den Papst unter fränkischer Bedeckung nach Rom zurückführen und erschien dort im folgenden Jahre (800) mit einem starken Heere selbst, um auch über den Pontifex zu richten, der von seinen Gegnern schlimmer Vergehen angeklagt war. Am Weihnachtsfeste 800 krönte dann Leo Karl den Großen als römischen Kaiser. Von nun an ist Karl Schirmherr der römisch-katholischen Kirche und der Idee nach als römischer Kaiser Herr der Welt. In Rom aber, wo das Schwert des Frankenkönigs für Ruhe und Sicherheit sorgte, konnten jetzt die ersten Blüten einer christlichen Kunst auf römischem Boden sich entfalten, welche in ihren Formen die Beziehungen zur neuen fränkischen Kultur erkennen lassen.

Daß für Karl die neue Würde eine besondere Bedeutung hatte, geht daraus hervor, daß er noch das goldne Szepter, den Thron und die Krone als Abzeichen seiner neuen Macht angenommen und im Jahre 802 alle Bürger seines Reiches einen neuen persönlichen Treueid schwören ließ, welcher alle jene Verpflichtungen enthielt, die der Vasall seinem Lehensherrn gegenüber einging. Bei der ganz überwiegenden Bedeutung des Grundbesitzes in der damaligen fränkischen Volkswirtschaft führte die Logik der weiteren Entwickelung notwendigerweise zur Verallgemeinerung des Vasallenverhältnisses und seiner Ausdehnung über alle Kreise der Bevölkerung.

Buchseite 112 § 13. All diese intimen Wechselbeziehungen zwischen Kirche und Frankenreich brachten eine Reihe eigenartiger Bildungen im Rechts- und Wirtschaftsleben, welche gewiß zu Anfang den gegebenen Verhältnissen durchaus entsprochen haben, im Laufe der Geschichte aber über kurz oder lang zu Neubildungen und Konflikten führen mußten.

Freie wie Sklaven, welche aus Furcht vor ihren Verfolgern sich unter die Türe oder in den Vorhof der Kirche flüchteten, standen im Schutze der Kirche. Verletzungen dieses kirchlichen Asylrechts wurden von der weltlichen Macht bestraft. Wer an kirchlichen Feiertagen knechtische Arbeit verrichtete, wurde unfrei, also mit einer weltlichen Strafe belegt. Mord, Forstfrevel, Münzverbrechen und Wucher wurden mit kirchlichen Strafen geahndet. Diese Vermischung des kirchlichen und weltlichen Strafrechts hat dazu geführt, daß das System der Geldbußen der alten germanischen Volksrechte sich in das System der Kirchenstrafen eingeschlichen. Bei den Angelsachsen fanden sich Rechtsvorschriften, welche eine Kompensation der kirchlichen Bußzeit durch Almosen zuließen. Das Bußbuch von Reims hat schon eine förmliche Preistabelle für gute Zwecke ausgearbeitet, wonach die Ablösung einer kirchlichen Jahresbuße durch 26 Schilling, die einer dreijährigen Buße durch ein Almosen von 26 Schilling im ersten, 20 im zweiten und 18 im dritten Jahre gestattet war. Als Karl der Große nach seinem Avarensiege im Jahre 791 ein dreitägiges Fasten gebot, war ein Dispens vom Verbot des Weintrinkens für diejenigen vorgesehen, die 1 Schilling pro Tag an die Kirche entrichteten. Es ist durchaus germanische Rechtsprechung, wie auch die Institution des Wehrgeldes beweist, daß eine Sühne durch Geldzahlung geleistet werden kann. So hat Karl der Große im Kapitulare vom Buchseite 113 Jahre 803 verfügt, daß die Ermordung eines Subdiakon mit 300, eines Diakon mit 400, eines Presbyter mit 600 und eines Bischofs mit 900 Schilling Buße bestraft werde. Die altkirchliche Lehre von der Sündensühne durch Almosen, verwandelte sich, in Anlehnung an das Buß- und Wehrgeldsystem des altgermanischen Strafrechtes, in eine Ablösung der Kirchenbuße durch Geldzahlung und legte damit den Keim zu jener späteren kirchlichen Ablaßpraxis, welche in der Reformationsbewegung eine so hervorragende Rolle gespielt hat.

§ 14. Hierher gehört auch das Institut der Eigenkirchen. Die Gründung einer Kirche ohne Ausstattung mit Grundbesitz war bei der damaligen Naturalwirtschaft undenkbar. Wo eine neue Kirche entstanden war, erwies sie sich auch als vorzügliches Mittel, ein größeres Einkommen anzuziehen. Es lag deshalb nahe, daß fränkische Grundbesitzer es rentabel fanden, neue Kirchen auf ihren Besitzungen ins Leben zu rufen. Zu diesem Behufe errichtete man an einem geeigneten Orte ein entsprechendes Gebäude, ließ dieses als Kirche weihen, einen häufig unfreien Knecht des Grundherrn auf der nächsten Priesterschule für die geistlichen Funktionen heranbilden und auch weihen. Damit war dann die kirchliche Neugründung fertig. Der unfreie Knecht und Priester mußte seinem Herrn bei Tisch aufwarten, Wein einschenken, er hatte die Reitpferde der Frauen zu lenken, beim Auszug zur Jagd die Meute zu führen u.s.w. Für all’ diese Dienste, wie für seine priesterliche Tätigkeit gab ihm sein Herr soviel, als ihm beliebte. War der Knechtpriester damit nicht zufrieden, so gab es noch eine Zulage in Prügeln. Das Einkommen der neuen Kirchen in Spenden und Almosen der Gläubigen, im Kirchenzehnt u.s.w. gehörte natürlich dem Grundherrn, der auch das Recht hatte, seine KirchenBuchseite 114gründung als rentables Vermögensobjekt zu verkaufen, zu vererben und zu verpfänden. Im Jahre 819 wurde den schlimmsten Mißbräuchen dieser Einrichtung dadurch begegnet, daß geboten wurde: diese unfreien Priesterknechte schon vor der Priesterweihe frei zu lassen, dem dann also freien Geistlichen ein gewisses Minimaleinkommen zu sichern und über seine priesterlichen Funktionen hinaus keine weiteren Dienstleistungen von ihm zu fordern. Es wurde den Grundherren ferner verboten, die Priester ihrer Eigenkirchen zu prügeln und auszubeuten. Nur unter der Voraussetzung, daß das Kirchengebäude und der Gottesdienst nicht gestört würden, war auch ferner gestattet, Eigenkirchen zu verkaufen und zu übertragen.

§ 15. Diese Grundsätze fanden analoge Anwendung auch auf die Klöster, Abteien und Bistümer. Keine dieser Neugründungen entstand ohne innige Anlehnung an eine große grundherrliche Familie, deren vornehmste die königliche war. Mit den reichen Schenkungen an Land und Einkünften aller Art war damals schon nach der Rechtsauffassung der Zeit selbstverständlich der Anspruch verbunden, die kränklichen Söhne, die unverheirateten Töchter der Familie in dem betreffenden Kloster nach Wunsch unterzubringen, die freiwerdenden Abt- und Bischofsstellen mit einem Mitglied oder einem besonderen Günstling der Familie zu besetzen. So kamen nur zu häufig Laien in den Besitz von Abteien. Ja man hat nicht selten schon damals einem Laien mehrere Abteien übertragen. Für das Amt eines Bischofs wurde ja nur minimale wissenschaftliche Bildung verlangt. Der Abt und der Bischof verfügten vor allem über den Besitz und das Einkommen der Klöster und Bistümer. War der neue Abt ein gewalttätiger oder übel veranlagter Charakter, dann kam es sogar zu Aufständen der Mönche gegen ihren Abt, zur Auswanderung eines größeren Teiles der Buchseite 115 Mönche aus dem Kloster. Auch in den Nonnenklöstern gab es ärgerliche Scenen.

Solche Zustände mußten eine kirchliche Reformbewegung im Sinne einer Befreiung der Kirche aus der Laienhand über kurz oder lang hervorrufen. Nicht minder war die überragende Stellung Karls des Großen in seinem Reiche auf die Dauer unhaltbar. Seine gewaltige Einzelperson konnte den Karolingerstaat schaffen, als die Zeit reif dazu war, aber sie konnte den Karolingerstaat nicht erhalten. Dazu bedurfte es einer, von den wechselnden Zufälligkeiten der einander folgenden Regenten unabhängigen objektiven Organisation der Gesellschaft und des Staates. Zu diesem Zwecke stand nur der Grundbesitz als Basis zur Verfügung. Die nächste Entwicklung mußte zur Ausbildung des Lehensstaates führen. In der lehensstaatlichen Einheit entfalteten sich dann die Konflikte der kirchlichen Reformbewegung um so breiter, je mehr die immer häufigeren Berührungen mit der islamischen Kulturwelt die Ausbildung der Geldwirtschaft und des Kapitalismus neben dem Grundbesitz förderten. Erst mit der Herrschaft des Geldes kam dann eine kurze Herrschaft der Kirche über die Staatsgewalt, welcher die Auflösung der Einheit des christlichen Abendlandes in eine Vielheit von Staaten und durch Angliederung neuer Staaten die Ausbildung des modernen europäischen Staatensystems folgte.

§ 16. Was Caesar im I. Jahrhundert vor Christus und Tacitus im I. Jahrhundert nach Christus über die Germanen berichten, läßt sie als Kriegsvölker erscheinen, welche die Grundzüge ihrer Heeresverfassung auf die Ordnung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse angewendet haben. Nach dem Recht der Kriegsbeute hatte jeder freie Germane gleichen Anspruch an Land und Bodenfrüchten. Besonders hervorragende Krieger und namentlich der König erhielten ausgedehntere Landzuweisungen. Die Hundertschaft als militärische Untereinheit hat auch als Ansiedlungseinheit gegolten u.s.w.

Im V. und VI. Jahrhundert nach Christus sind bei Besetzung jener römischen Gebiete, deren Verschmelzung unter fränkischer Herrschaft im wesentlichen der Machtbereich des Karolingerstaates geworden ist, die verschiedenen Germanenstämme je nach Lage der Verhältnisse ungleich zu Werke gegangen. Die Goten und Burgunder hielten sich an die römische Quartierordnung, und zwar in der Weise, daß bei den Ostgoten ein Drittel, bei den Burgundern und Westgoten zwei Drittel der größeren Güter des Landes den Kriegern zur Besiedlung überwiesen wurden, die Langobarden nahmen ein Drittel des Ertrages der Güter, deren Bewirtschaftung sie der besiegten Bevölkerung weiterhin überließen. Die Vandalen wählten sich, gezwungen durch ihre Isolierung im fernen Süden, eine für ihre Volkszahl ausreichende ganze Landschaft, aus welcher die bisher ansässige Bevölkerung der Römer verjagt wurde. Die Franken und Alamannen dagegen fanden im nordöstlichen Gallien so viel ganz herrenloses Land, daß ihre Bedürfnisse leicht gedeckt wurden und nur wenige Siedler bis an das Loire- und Rhonegebiet vorzudringen Buchseite 117 brauchten. Alles nach der Besiedelung übrig gebliebene herrenlose Land fiel mit den römischen Staatsdomänen dem Könige zu, der dadurch zum weitaus größten Grundbesitzer wurde. Im Frankenreich der Merowinger erscheint mithin von Anfang an durch das Königsland neben den verhältnismäßig gleich großen Landlosen der freien Franken der Großgrundbesitz zahlreich vertreten.

§ 17. Das germanische Königstum war in den eroberten römischen Provinzen Rechtsnachfolger des römischen Kaisers geworden. Die oberste Gewalt in Gesetzgebung, Rechtssprechung und Verwaltung, welche ursprünglich der Volksversammlung des wehrfähigen Volkes gehörte, war zum Teil an die regelmäßige Heeresversammlung am 1. März (Märzfeld) übergegangen, bald aber fast vollständig in der Hand des Königs vereint. Selbst unverantwortlich, hatte der König die Befugnis, bei Strafe zu gebieten und zu verbieten (den Königsbann) und erlangte mit dem Königsgericht auch die oberste richterliche Gewalt. Seine Verordnungen und Entscheidungen waren an die Volksrechte gebunden, welche auf römischen Boden zur Verhütung willkürlicher Rechtssprechung bald schriftlich festgelegt wurden. So das Recht der salischen Franken und der Burgunder im V., das der Ripuarier und Alamannen im VI. Jahrhundert.

Einen Geburtsadel, wie die Jarle der Nordgermanen, die Earle der Angelsachsen und die Ethelinge der Sachsen gab es bei den Franken neben dem Königshause der Merowinger nicht mehr. Die oberste Schicht des Volkes waren die Freien, zwischen ihnen und den Unfreien bildeten die Liten einen besonderen Stand, der sich wahrscheinlich aus römischen Kolonen und freigelassenen Sklaven zusammensetzte.

§ 18. Auch die Frankenkönige haben sich mit einem persönlichen Gefolge (antrustiones) umgeben, einer Buchseite 118 Schaar streitbarer Mannen zur Wehr und zur Ehr. Zur Ausübung der Herrschaft im Reiche waren viele Beamte, die Grafen (comites) und Herzöge (duces) unentbehrlich.

Zu dem persönlichen Gefolge, den Tischgenossen des Königs, gehörten: der Seneschall (Altknecht) und der Schenk, welche die Aufsicht über die Lieferungen zum Unterhalt des Hofes und den gesamten Dienst des königlichen Tisches führten, der Marschall, welcher über Marstall und den Troß zu wachen hatte, der Kämmerer, dem die Hut des königlichen Schatzes unterstellt war, der Pfalzgraf, welcher die Geschäfte des Hof- und Pfalzgerichtes leitete, der Referendarius, der die Ausfertigung der königlichen Urkunden besorgte und die königlichen Siegel bewahrte, und endlich vor allem der Hausmeier (maior domus), ursprünglich der Anführer der königlichen Garde und Hausminister, dann Stellvertreter des Regenten und bald selbst Träger der Königskrone.

Die Grafen hatten innerhalb kleiner Bezirke, welche sich in germanischen Landen meist mit den Gauen, auf vorher römischem Boden mit den Stadtgebieten deckten, den König zu vertreten. Der Graf bot die kriegstüchtige Mannschaft auf und führte sie an, er hatte gewisse polizeiliche Befugnisse, den „Grafenbann“, er überwachte die Gerichtsversammlungen an den Malstätten, wo sich das Volk nach Hundertschaften zum Rechtsspruch eingefunden. Ueber mehrere Grafen waren Herzöge gesetzt, vorzugsweise als Anführer im Kriege, meist zugleich Grafen in einem engeren Bezirke. Sie wurden vom König ernannt. Nur die Alamannen, Bayern und Thüringer hatten Herzöge, die Normannen in der Betragne standen unter Grafen als erblichen Herzögen.

§ 19. All diese Gefolgsmannen und beamteten Grafen und Herzöge mußten vom Könige für ihre Dienste natürlich entlohnt werden. Womit? Der Buchseite 119 Geldverkehr war zwar keineswegs vollständig verschwunden, aber die Geldeinnahmen des Königs waren im Ganzen doch nur gering. Sie konnten nur zum Teil als Beamtenbesoldung verwendet werden, sodaß sie für den einzelnen Beamten nur ein Nebeneinkommen bedeuteten. Der Graf z. B. erhielt ein Drittel der eingehenden Strafgelder seines Bezirks. Bei dem gewaltigen Reichtum des Königs an Grundbesitz aber, der noch fortgesetzt durch neue Eroberungen und Konfiskationen des Vermögens rebellischer Großen vermehrt wurde, lag es nahe, die Antrustionen, Grafen und Herzöge mit Erträgnissen aus Königsland für ihre Dienste zu bezahlen.

Gewiß ist es nicht selten vorgekommen, daß Königsland dem Einzelnen zu freiem Eigen geschenkt wurde. Aber als Regel konnte diese Art der Entlohnung nicht gelten. Der Reichtum und damit die wirtschaftliche Selbständigkeit des Königs wären sonst doch zu rasch verloren gegangen. Diese große und ernste Gefahr schien gemieden zu sein, wenn das Königsland den königlichen Dienstleuten nur zur Nutznießung geliehen wurde und der König Eigentümer desselben blieb. In Anlehnung an römisch-rechtliche wie an altgermanische Rechtsinstitute hat sich unter diesen Verhältnissen folgende Art der Landleihe ausgebildet.

Der betreffende Beamte oder Gefolgsmann legte seine gefalteten Hände in die des Königs und verpflichtete sich durch einen besonderen Eid, seinem Herrn immer treu und gewärtig zu sein, worauf der König ihm Schutz und Beistand zusicherte und eine entsprechende königliche Besitzung mit den dazu gehörigen Unfreien und Liten zuerst auf Lebzeiten des Königs, bald aber auf Lebzeiten des Beliehenen ihm zur Nutznießung übertrug. Den so Beliehenen bezeichnete man bald mit dem keltischen Ausdruck Buchseite 120 vassus oder vasallus. Das ganze Rechtsinstitut erhielt den Namen Vasallität oder den der ähnlichen römisch-rechtlichen Einrichtung commendatio.

Mit diesem Vasallitätsverhältnis verknüpfte sich bald die Immunität. Nach römischem Recht bezeichnete man damit die Abgabefreiheit des königlichen Grundbesitzes, die auch dann erhalten blieb, wenn derselbe in andere Hände übergegangen war. Bei den Franken hatte sich damit auch die Ueberlassung aller mit diesem Grundbesitz verbundenen königlichen Gefälle und bald selbst die Wahrnehmung aller königlichen Rechte einschließlich der Gerichtsbarkeit innerhalb des betreffenden Gebietes verknüpft, sodaß die Amtsgewalt der königlichen Beamten aus dem Immunitätsgebiet vollständig ausgeschlossen schien.

§ 20. Neben dem Könige verfügte die Kirche im Frankenreiche gleichfalls über einen ungeheuren Grundbesitz, der aus verschiedenen Quellen zusammengeflossen war.

Zunächst hatten der fromme König und die Großen den Kirchen, Bistümern und Klöstern Besitzungen mit den dazu gehörigen Leuten zu vollem Eigentum geschenkt. Dann übertrugen fränkische Bauern, um himmlischen Lohn dafür zu gewinnen, ihr Land vielfach der Kirche. Aber zur Hufe des Gemeinfreien gehörten in der Regel keine unfreien Arbeitskräfte. Die Kirche hatte mithin ein naheliegendes Interesse daran, die bisherigen Bodenbearbeiter dem Bauernlande zu erhalten. Und die Bauern waren wieder interessiert daran, daß ihnen und eventuell ihren Nachkommen die Nahrung erhalten bliebe. Um diesen Interessen auf beiden Seiten zu genügen, trennte man Besitz und Eigentum in der Weise, daß der Bauer sein Land der Kirche zu vollem Eigen gab, dann Buchseite 121 aber gegen Ausstellung eines Bittbriefes (precaria) für mäßigen Zins auf Lebensdauer Nutznießung und Besitz der Hufe zurück erhielt. Der vorher vollfreie Franke war damit allerdings in ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche getreten. Aber diesem Freiheitsverluste standen ganz bestimmte bedeutende Vorteile gegenüber. Die Bauernhufe nahm von nun an Teil an der vorzüglichen Wirtschaftsorganisation des kirchlichen Grundbesitzes. Der jetzt durch Landleihe mit der Kirche verbundene Bauer stand unter ihrem mächtigen Schutze. Er war jetzt durch Angliederung an einen Großbetrieb gegen die üblen Folgen von Mißernten gesichert. Er war von nun an befreit von der Verpflichtung zur Teilnahme an den oft lästigen häufigen Gerichtsversammlungen der Hundertschaft und des Gaues und zumeist auch frei von dem immer kostspieligen Heeresaufgebot, wobei sich jeder Krieger selbst verpflegen mußte. Das gegen Bittbrief übertragene Gut hieß beneficium. Endlich haben die Kirchenverwaltungen und namentlich die Klöster durch Rodungen mit ihren überschüssigen Arbeitskräften auf Neuland weite Flächen Landes selbst der Kultur gewonnen. Diese Hufen wurden mit Nachkommen ihrer Eigenleute und gegen Bittbrief auch mit Nachkommen freier Bauern besetzt.

Auch dem Großgrundbesitz der Kirche ist vielfach das Privileg der Immunität verliehen worden. Die Großen des Reichs, welche mit königlichen Domänen ausgestattet waren, folgten dem Beispiel der kirchlichen Grundverwaltung in umfangreichen Rodungen auf Neuland. Auch sie verlangten für diese neuen Besitzungen das Recht der Immunität. Im VII. Jahrhundert war es mit dieser Entwickelung schon dahin gekommen, daß fast 1⁄4 alles Grundbesitzes im Frankenreiche der Amtsgewalt der königlichen Beamten entrückt war.

Buchseite 122 § 21. Zweifelsohne wurde damit die Auflösung des Frankenreiches in eine große Zahl selbständiger Territorialgebiete vorbereitet. Die Königsgewalt im Vollbesitz ihrer Rechte und im Uebermaß ihrer Aufgaben fühlte sich indes durch all diese Ansätze zu neuen Bildungen zunächst kaum beengt. Des Reiches Grenzen wurden ja immer weiter, die Kriege deshalb nicht seltener, wohl aber dehnten sich die Heereszüge auf immer größere Entfernungen aus. Die Masse des Frankenheeres bestand noch aus freien Bauern, die als Fußvolk kämpften. Die Schwierigkeiten in der Ueberwindung langer Wegstrecken ließen deshalb die praktische Bedeutung einer Vermehrung der Reiterzahl im Kriegsdienste deutlich genug hervortreten. Als dann noch ein so gefährlicher Gegner, wie die arabischen Eroberungsheere sich eingefunden, dessen vorzügliche Reiterei sich überall glänzend bewährt hatte, da lag es nahe, das Institut der Vasallität, mit dessen Hilfe die königliche Reitergarde erstanden war, im Interesse erhöhter Schlagfertigkeit des fränkischen Heeres wesentlich auszubreiten. Die Großen des Reiches hatten schon begonnen, nach dem Vorbilde ihres Königs sich auch ein reitendes Gefolge zu halten, dessen Mitglieder mit Nutznießungsrechten an dem Grundbesitz ihres Herrn ausgestattet waren. Solche Vasallen wurden homines, ihre Herren seniores genannt. Der König fand es ratsam, solche seniores mit großem und tüchtigem Reitergefolge seinerseits mit Königsland zu belehnen, um im Kriegsfalle sich diese Verstärkung seiner Reitertruppe zu sichern. Von ausschlaggebender Bedeutung aber mußte es nun sein, den Weg zu finden, auf welchem der riesige Grundbesitz der fränkischen Kirche für eine wesentliche Vermehrung des berittenen Vasallenheeres nutzbar gemacht werden konnte.

Buchseite 123 Nach dem willkürlichen Vorgehen Karl Martells wurde durch die Vereinbarungen zwischen seinen Söhnen und den Leitern der fränkischen Kirche diese Frage dahin gelöst, daß der Frankenfürst berechtigt war, neue Vasallen nach Beneficialrecht in den Grundbesitz der Kirche einzuweisen. Das Eigentumsrecht der Kirche wurde dabei zwar ausdrücklich anerkannt und sogar vereinbart, daß diese neue Art von Vasallen einen nicht unbedeutenden Grundzins an die Kirche als Eigentümerin ihres Beneficialbesitzes entrichten sollten. Aber die weitere Entwickelung der Dinge hat diesen Punkt des Vertrages bald beseitigt. Das Kirchengut war tatsächlich in jenem Augenblicke Königsgut geworden, in welchem die Notwendigkeit einer einschneidenden Reorganisation des Heeres dies forderte.

§ 22. Der glänzende Sieg des reorganisierten Frankenheeres über die so allgemein gefürchteten Araber brachte dieser neuen Politik mit ihrer eigenartigen Militärvorlage bald eine nur zu augenfällige Anerkennung. Die Großen des Reiches wetteiferten von nun an miteinander, sich ein möglichst glänzendes Gefolge zu halten. Der Frankenfürst zeigte sich den Herren mit besonders großem Gefolge besonders gnädig. Die Kirchenfürsten konnten bald schon ihrer persönlichen Sicherheit halber auf eigene Vasallen nicht verzichten, an deren Spitze sie rasch gelernt hatten, ohne Zagen mit in den Kampf zu ziehen. Wenn einmal die Staatsgewalt im Interesse der notwendigen Vermehrung der Reiterei vor dem Grundbesitz der Kirche doch nicht halt machte, mußte es den Kirchenfürsten zweckmäßig erscheinen, sich diesen Grundbesitz vielleicht dadurch zu erhalten, daß man selbst ihn mit Vasallen und reisigen Dienstmannen besetzte. Dieses immer allgemeiner hervorbrechende Streben einer Vermehrung des berittenen KriegsBuchseite 124volks, das mit Nutznießungen an Grundstücken besoldet war, hat im Frankenreiche jenen eigenartigen Landhunger groß werden lassen, der gewiß zu den gewaltigen Rodungen in den folgenden Jahrhunderten wirksamen Antrieb gegeben hat, aber auch von Anfang an nicht vor den verwerflichen Mitteln des Wuchers in Zeiten der Not, vor der List und selbst vor roher Gewalt zurückschreckte, um den freien oder freigewordenen fränkischen Bauern ihre Hufen zu entreißen.

Mit lautem Jammer haben sich daher im Jahre 811 die ärmeren Bauern an Karl den Großen gewandt; sie würden von den Grafen und ihren Beamten wie von den bischöflichen und klösterlichen Grundherren um ihr Eigentum gebracht. Wollten sie diesen Räubern ihr Eigengut nicht abtreten, dann suchten sie jede Gelegenheit auf, um sie zu Gerichtsstrafen zu verurteilen oder in Kriegsfällen immer gegen den Feind aufzubieten, bis sie so arm geworden seien, daß sie, gleichviel ob gutwillig oder nicht, den Machthabern ihr Gut übertragen müßten. Daß es darauf allein abgesehen sei, gehe daraus hervor, daß die andern, die ihre Hufe diesen Herren schon übertragen hätten, unbehelligt daheim bleiben könnten.

Karl der Große hat in der Tat auf diese beweglichen Klagen hin die Vernichtung des kleinen freien bäuerlichen Grundbesitzes durch geeignete Maßregeln wenigstens etwas aufzuhalten vermocht. Der Druck des Heeresdienstes wurde in der Weise erleichtert, daß von vier Hufenbesitzern künftig nur einer zur Heeresfolge verpflichtet war, wobei ihn die drei anderen unterstützen sollten. Auch beschränkte Karl die Pflicht, zu dem Gerichtsthing sich einzufinden, auf die sieben dazu erwählten Schöffen. Die Teilnahme an dem soBuchseite 125genannten „Umstand“ wurde in das Belieben der einzelnen Besitzer gestellt. Unter der schwachen Regierung seiner Nachfolger aber wurde dem unaufhaltbaren Prozeß einer zu Gunsten der Großen ausschlagenden sozialen Umbildung kaum mehr entgegen getreten. Die jetzt immer häufigeren feindlichen Einfälle, die Bürgerkriege und zahllosen Fehden brachten nur zu regelmäßig schwere Hungersnöte ins Land. Mißernten infolge ungünstiger Witterungsverhältnisse fehlten auch nicht.

So brach denn die Freiheit der großen Mehrzahl der fränkischen Bauern im Laufe des VIII. und namentlich des IX. Jahrhunderts zusammen. Freiwillig oder unfreiwillig fanden sie Unterschlupf bei den großen weltlichen und geistlichen Grundherren. Nur in vereinzelten Gebieten, wie in Friesland, in Dithmarschen, in Westfalen, in den Alpen, in Teilen von Südfrankreich, in den Pyrenäen haben sich Bauern in größerer Zahl frei vom Herrenrecht erhalten können.

§ 23. Die Bedürfnisse der Heeresverfassung blieben für die fortschreitende soziale Organisation des Volkes maßgebend. Als die tiefen Massen des Fußvolkes die entscheidenden Schlachten schlugen, war jeder Krieger ein vollberechtigter Volksgenosse und die Ackerverteilung als Regel eine gleichmäßige. Als die größere Ausdehnung des Reiches aber mit den Siegen über die Araber und die ebenfalls berittenen Ungarn das Schwergewicht der Heeresmacht vom Fußvolk auf die Reiterei übertrug, die — um Tüchtiges zu leisten — mit Roß und Waffen in steter Uebung bleiben mußte, konnte eine weitgehende Differenzierung im soliden Aufbau des Volkes nicht ausbleiben. Eine Differenzierung der Arbeit war notwendig. Der Eine bebaute die Hufe, der Andere übte sich in den Waffen und führte die Kriege des Reiches. Buchseite 126 Auch eine Differenzierung nach dem Maße der Rechte der Einzelnen war in einem so groß gewordenen Reiche bald notwendig. Da standen der König mit seinem Gefolge, die Herzöge, Grafen und geistlichen Würdenträger, als die höher berechtigten, gegenüber den einfachen Reitern, den Bauern und allen übrigen als den minder Berechtigten. Und weil die materielle Unterlage für all diese Stufenbildungen nur der Grundbesitz sein konnte, mußte die reale Entwickelung notwendigerweise zunächst über die Interessen der gemeinfreien Bauern hinweggehen und zur Bildung großer Grundherrschaften kommen. Wer aber bei Betrachtung jener Unsumme von Unrecht und böser Gewalt, welche mit all diesen Umwandlungen verbunden waren, zu lange verweilt, wird sich notwendigerweise den Einblick in die innere Zweckmäßigkeit dieses geschichtlichen Werdeprozesses verschließen. Daß trotz alledem der so entstandene Lehnsstaat für seine Zeit nicht nur etwas Neues, sondern auch etwas Großes für die staatliche Entwickelung bedeutete, lassen am besten jene Lehrsätze erkennen, die das Mittelalter aus den Verhältnissen des Lehnsstaates sich heraus gelesen hat.

§ 24. Der Theorie nach erstreckt sich die Einheit der lehnsstaatlichen Verfassung zuletzt über die ganze Erde, mindestens aber über das ganze christliche Abendland. An der Spitze dieser, aus militärischen Bedürfnissen hervorgegangenen Staatsform hatte Gott — in Konsequenz der vorausgegangenen Verschmelzung des Frankenreichs mit der Kirche im Karolingerstaate — zwei Schwerter gesetzt: das geistliche und das weltliche Schwert — Papst und Kaiser. Beide übten im göttlichen Auftrage und unter göttlicher Gnade die Weltherrschaft aus. Weil beide „Herren der Welt“ waren, waren auch beide Herren des Landes und des geBuchseite 127samten Grundbesitzes. Sie belehnten ursprünglich mit Land und Amt. Die von der kaiserlichen und päpstlichen Krone belehnten Vasallen belehnten wieder andere, diese letzteren abermals andere u.s.w. Aber „belehnt“ konnte nur werden, wer „Heerschild“ hatte, mithin der neuen Heeresorganisation angehörte. Pfaffen, Frauen, Juden, Bürger und Bauern waren ohne Heerschild und damit aus dem Lehensverbande ausgeschlossen. Die verschiedenen Lehnsverträge stuften sich nach dem Sachsenspiegel (um 1230 niedergeschrieben) in sieben Heerschilde ab. Die kaiserliche, königliche bezw. päpstliche Krone führten den ersten Heeresschild. Wer nur von diesen Kronen direkt belehnt war, führte den zweiten. Da die weltlichen Fürsten sich zumeist von geistlichen Fürsten hatten belehnen lassen, führten die geistlichen Fürsten den zweiten, die weltlichen den dritten Heerschild. Der Lehensträger gehörte nämlich immer einer tieferen Stufe an, als der Lehensherr. Es folgte als der vierte Heerschild die freien Herren, als der fünfte die Bannerherren, als sechster die Ritter und als siebenter endlich die Nicht-Ritterbürtigen, genannt die Einschildigen. Infolge dieser Lehnsordnung hatten die Beamten des Karolingerstaates aufgehört, eigentliche Beamte zu sein. Der Herzog und der Graf waren Vasallen des Königs oder der Kirche geworden, das Herzogtum, die Grafschaft gehörten ihnen als ihr Lehen zu eigenem Rechte. Das Amt und das als Sold dazu ihnen übergebene Beneficium waren so miteinander verschmolzen, daß das Amt selbst auch als Gegenstand der Verleihung, als Lehen aufgefaßt wurde. Das ganze Lehnsverhältnis war auf einen gegenseitigen Treueid begründet. Der Vasall war seinem Herrn zu treuen Diensten verpflichtet, aber auch der Lehnsherr mußte dem Vasallen Schutz nach Kräften leisten. Beistand in Not war wechselseitige Pflicht. Auch nahmen die Buchseite 128 Kriegsartikel keine Rücksicht auf Familienbeziehungen der Einzelnen. Der Vasall mußte dem Kriegsrufe seines Herrn gegen alle folgen, welche nicht der direkt übergeordneten Stufenreihe des Lehnstaates angehörten, also auch gegen den eigenen Bruder, Sohn oder Vater. So lange der Vasall diese Treue hielt, war er in seinem Lehen gesichert. Entstand ein Rechtsstreit, so konnte jeder Lehensträger nur durch seine Genossen gerichtet werden. Das Lehnsrecht hat so das Recht des Einzelnen dem Mächtigen gegenüber in ein heiliges Recht verwandelt. Das konnte in einer Epoche der Roheit und Eigenmacht nur heilsam wirken. Wer nicht zum Heeresverband gehörte, mußte daheim die Felder bebauen und als Angehöriger der grundholden Bevölkerung Abgaben und Dienste leisten. Aber auch hier fand der Einzelne jenes Maß von Schutz und Sicherheit, welches das Hofrecht der Grundherrschaft ihm gewährleistete.

All diese Sätze des Lehensrechtes bieten indeß nur für eine ganz bestimmte Zeit ein einigermaßen zutreffendes Bild. Die Zeitperiode, die wir unter dem Namen Mittelalter zusammenfassen, war so wenig verknöchert, vielmehr so angefüllt mit fortwährenden Umbildungen und Revolutionen, daß nur eine Darstellung, welche die Entwickelung der einzelnen großen Interessengruppen zeichnet, das Verständnis der mittelalterlichen Geschichte erschließen kann. Wenden wir uns deshalb zunächst der Entwickelung des Bauernstandes zu.

§ 25. Die Bevölkerung, welche im Karolingerstaate den Boden bearbeitete, setzte sich zusammen aus Sklaven, Liten (Halbfreien) und freien Bauern. Die Ausbildung des Lehenstaates zerriß die freie Bauernschaft zunächst in zwei Klassen: ein kleiner Teil behauptete seine Freiheiten: reiche Hüfner, welche sich Pferde hielten, wurden durch Precarie (§ 20) reisige Dienstmannen Buchseite 129 (Ministerialen) der Kirchenfürsten oder der Grafen und Herzöge, die Masse der freien Bauern aber sank hinab zu zins- und dienstpflichtigen Hufnern und verschmolzen als solche mit den Liten und Unfreien im IX. Jahrhundert zu einer Klasse grundholder Bauern oder Hintersassen. Aber die neue Organisation, welche diese Hintersassen jetzt in den großen Grundherrschaften erhielten, gab sofort wieder Anlaß zu neuen Differenzierungen.

Diese Herrschaftsgebiete hatten eine ansehnliche Ausdehnung. Geistliche Grundherrschaften erreichten als Regel 2200—4500 Hektar, aber solche mit 7500—15'000 Hektar waren keine Seltenheit. Kleine Laiengrundherrschaften besaßen zwar nur gegen 800 Hektar, die fürstlichen Grundherrschaften jedoch waren wesentlich größer. Ueberall war der Kleinbetrieb beibehalten worden. Die Hufenwirtschaften der Bauern hatten durch ihre Aufsaugung in große Grundherrschaften keine wesentliche Aenderung erfahren. Aus der früheren Dorfgemeinde wurde ein grundherrlicher Fronhof, auf welchem wie vorher neben dem Vollhufner der Halbhufner, der Leerhäusler mit ihrem eigenen Schmiede und ihrem eigenen Zimmermann wohnten. Wie vorher in der Dorfgemeinde, so war man jetzt in der Fronhofswirtschaft bestrebt, alle ökonomischen Bedürfnisse möglichst in der eigenen Wirtschaft zu decken. Nur etwa Salz, Eisen und Mühlsteine mußten gekauft werden. Die Aufsicht über den Fronhof wurde von einem Meier geführt, welchen der Grundherr bestellt und in der Regel aus den Hufenbauern selbst ausgewählt hatte. Seine Aufgabe war es, die Zinsleistungen aller Art als Zwischenhebestelle der Grundherrschaft in Empfang zu nehmen und nach den ihm gewordenen Anweisungen abzuliefern. Er beaufsichtigte die unfreien Dienstleistungen der Hintersassen, die etwa zu Rodungen auf Neuland, zu Wegebauten, Wasserbauten verwendet wurden. Unter seinem Buchseite 130 Vorsitze versammelte sich die Gerichtsgemeinde des Fronhofs, um nach Hofrecht das Urteil zu finden. Nach seinen Anordnungen wurde die Bestellung der Felder im Flurzwange ausgeführt. Er bestimmte die Reihenfolge, nach welcher die grundherrliche Mühle, das grundherrliche Brauhaus benutzt wurde und vereinnahmte für den Grundherrn den auch dafür zu leistenden Zins usw. Mehrere solcher Fronhöfe gehörten bei ausgedehnten Besitzungen zu einer Propstei. Das natürliche Zentrum aller Fronhöfe bildete der Herrensitz des Grundherren. Hier gab es neben den Zinsbauern noch Fischer, Jäger, Roßhirten, Schäfer, Weinbauern, Gärtner und Handwerker aller Art in hofrechtlicher Abhängigkeit. Eine besondere Organisation des Nachrichtendienstes und des Transportwesens sorgte für regen Verkehr zwischen Herrenhof und Fronhöfen. Der vom Grundherren und seinen Leuten mit Hilfe der unfreien Dienstleistungen bewirtschaftete Teil der Grundherrschaft hieß „Salland“ oder Salgut im Gegensatz zu den Zinshufen der Hintersassen.

In jenen Gebieten des christlichen Abendlandes, in welchen sich römische Städte mit römischen Verkehrswegen besser erhalten hatten und die Gunst der klimatischen Verhältnisse Spezialkulturen wie Weinbau, Olivenbau, Obstkultur in gesuchten Qualitäten ermöglichte, wie in Italien und im südlichen Gallien, war auch der römische Großbetrieb mit Verpachtung an routinierte Provinzialen für größere Grundbesitzungen beibehalten worden.

§ 26. Die Blütezeit dieser Art von Bodenbewirtschaftung unter persönlicher Leitung der großen Grundherren fällt in das X. und XI. Jahrhundert. Im Laufe des XI. Jahrhunderts sind plötzlich eine Anzahl von Herrenhöfen in „Städte“ verwandelt, deren Bewohner aus hofrechtlich abhängigen Leuten „Bürger“ geworden waren. Buchseite 131 Damit zeigten sich den Grundherren neue, interessante und rentable Aufgaben, welche ihr Interesse in solchem Maße in Anspruch nahmen, daß sie sich von jetzt ab von der persönlichen Leitung ihrer Grundherrschaften mehr und mehr zurückgezogen haben. Seit dem Jahre 1095 hatten die Kreuzzüge begonnen. Eine große Zahl adliger Kreuzritter versuchten im Orient ihr Glück und verkauften vorher ihren heimischen Grundbesitz. Der Grundmarkt wurde dadurch stark mit Angebot belastet. Gleichzeitig nahmen die Pflichten der Ritterschaft des christlichen Abendlandes jedes Mitglied immer mehr in Anspruch, was abermals die Grundherren von der Selbstverwaltung ihrer Grundherrschaften fern halten mußte. Die wagemutigen Normannen, germanische Bewohner von Skandinavien und Dänemark, waren im VIII. und IX. Jahrhundert für den Karolingerstaat an seiner Nord- und Südgrenze eine schwere Plage geworden. Sie gewannen im Osten die Herrschaft über Slaven und Finnen, drangen in dem heutigen Rußland erobernd vor, gründeten das russische Reich mit der Hauptstadt Nowgorod und schlugen im Dienste des Kaisers von Byzanz als „Waräger“ die Schlachten des oströmischen Reiches. Diese gefährlichen Feinde sind nur dadurch Freunde des christlichen Abendlandes geworden, daß Karl der Einfältige, der König von Frankreich, im Jahre 911 ihnen die Normandie als Lehen überließ, und die neuen Ansiedler sich zum Christentum bekehrten. In den Jahren 1059 und 1130 folgte die Belehnung der Normannen mit Apulien und Sizilien durch den Papst. Im Jahre 1066 eroberte Wilhelm von der Normandie England und knüpfte auch dieses Reich enger an die römische Kirche. In eben dieser Zeit verfolgte man ganz allgemein gegen die noch heidnischen Ungarn und slavischen Völker die Politik: sie durch das Schwert, das Kreuz und die deutsche Buchseite 132 Pflugschar dem christlichen Abendlande anzugliedern, was schon Karl dem Großen bei dem Sachsenstamme so gut gelungen war. Bistümer, Mönchs- und geistliche Ritterorden wurden die Träger einer großen Kolonisationsbewegung, die gegen den Osten von Europa erobernd vorgedrungen ist und im Norden bis an die Küsten der Ostsee, im Süden bis nach Siebenbürgen ihren Einfluß erstreckte. Durch all diese Aufgaben wuchs die Nachfrage nach tüchtigen christlichen Bauern außerordentlich.

§ 27. Große dauernde Nachfrage nach bäuerlichen Arbeitskräften, vermehrtes Angebot von Grundherrschaften und ein immer ausschließlicheres Interesse der Grundherren für die Pflichten ihres Schildamts, wie für die neue städtische Entwickelung mit ihrem Renteinkommen mußten notwendiger Weise einschneidende Veränderungen in den Rechtsverhältnissen der bäuerlichen Hintersassen hervorrufen. Unter Führung des Meiers hatten sich die Bewohner der Fronhöfe bald eine gewisse rechtliche Selbständigkeit erworben, die zu einer grundholden Genossenschaft sich auswuchs, welche mit ihrem bisherigen Grundherren neue selbständige Geschäftsverträge zum Abschluß brachte. In der Normandie hat diese Hofgenossenschaft schon im XI. Jahrhundert begonnen, gegen Zahlung eines Lehnsgeldes das persönliche Herrschaftsrecht der Grundherren abzulösen und den bisherigen Fronhof gegen eine wesentlich erhöhte Summe als freie Leute von dem Grundherren zu pachten. Bis ins XIII. Jahrhundert hatte sich diese Umwandlung der unfreien Hintersassen in freie Zeit-, Lehens- oder Erbpächter, neben denen jetzt freie Lohnarbeiter in den Dörfern erscheinen, ziemlich allgemein vollzogen. Der Meier war jetzt zu einem freien Rentbeamten des Grundherrn aufgerückt. Im Buchseite 133 westlichen Deutschland finden wir den Meier als Lehnsmann des Grundherren, welcher mit dem Fronhof erblich bewidmet ist und der im Laufe des XIII. Jahrhunderts es auch noch verstanden hat, sich vom Lehnsnexus zu befreien. Als Herr des Fronhofs erblickte er dann in den Zinsbauern seine Grundholden. So sind im westlichen Deutschland aus den alten Meierhöfen Rittergüter geworden, die von den Zinsleuten der Frongenossenschaft umwohnt blieben. In Niedersachsen sind durch Abwanderung der hofgenossenschaftlichen Bevölkerung in Neurodungen des Mutterlandes oder in das Kolonisationsgebiet des Ostens größere Gutsbetriebe unter dem ritterbürdig gewordenen Meier als Erbpächter entstanden. Die umfangreichen Rodungen auf deutschem Boden im XII. Jahrhundert bezeugen die zahllosen Ortsnamen auf rode, brand, schneid und hagen, welche aus dieser Zeit stammen. Rodbauern waren schon im XI. Jahrhundert freie Pächter des Grundherrn, welche auf 5 bis 7 Jahre von jedem Zins befreit waren und dann nur eine mäßige Erbpacht zu zahlen hatten. Im südlichen Frankreich und Italien verbreitete sich innerhalb des Produktionsgebietes der Spezialkulturen der Teilbau, welcher den persönlich freien Pächter einen bestimmten Prozentsatz des Naturalertrages (etwa die Hälfte) an den Grundherrn abzuliefern verpflichtet.

§ 28. Durch die nach dem Osten Europas vordringende Kolonisation wurde 1⁄3 der Fläche des heutigen Deutschlands gewonnen. Auch hier erfolgte die Besiedelung von Anfang an unter günstigem Recht. Die ersten deutschen Kolonisten waren Niederländer, Vlamen und Holländer gewesen, die durch furchtbare Mißjahre aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie haben Moos- und Sumpfgebiete im westlichen Deutschland für den Ackerbau gewonnen. Auch bei der Kolonisation des Buchseite 134 slavischen Bodens im Osten gingen sie voran. Ihnen folgten die Sachsen, dann auch die Thüringer, Franken und Bayern. Von den kirchlichen Organisationen zeichneten sich hier namentlich die Orden der Prämonstratenser und Cisterzienser aus. Hie und da, wie im westlichen Mecklenburg und auch in der Mark Brandenburg wurden die Slaven systematisch ausgerottet oder doch ihrer Ländereien beraubt. Anderswo wie im östlichen Mecklenburg, in Pommern, im ganzen Sorbenlande, der Markgrafschaft Meißen, in Schlesien blühten überall zwischen den slavischen Ringdörfern deutsche Siedlungen empor. In Brandenburg z. B. ging die Besiedelung in folgender Weise vor sich. Die slavische Bevölkerung eines Dorfes wurde kurzer Hand verjagt und das dazu gehörige Gebiet einem Locator zur Besetzung mit Deutschen übergeben. Der Locator erhielt 2 bis 4 Hufen für sich, 2 Hufen wurden der Pfarre zugewiesen, die andern standen zur Vergebung an bäuerliche Siedler offen, die der Locator heranzuziehen hatte. Gelang die Besiedelung, so wurde der Locator Erbschulze des Dorfes und als solcher Beamter des Lehensherrn, der seinen Grundbesitz zu Lehen trug. Die Bauern bildeten unter ihm eine Gemeinde. Sie saßen zu Erbzinsrecht und im Rechte freien Zuges, sobald sie für einen Ersatzmann gesorgt hatten Nach einer Anzahl von Freijahren, die bei Urbarmachungen bis zu 16 Jahren stiegen, zehnten sie der Kirche und zahlen dem Grundherrn mäßige Zinsen. Die Kolonialhufen, in welche der Locator das ihm angewiesene Land aufzuteilen hatte, umfaßten 60 bis 120 Morgen (à 1⁄4 Hektar) gegen nur 30 bis 40 Morgen der altfränkischen Hufe.

Ueberblicken wir diesen lehnsstaatlichen Entwickelungsgang, so sehen wir zunächst die Mehrzahl der freien Bauern im VII., VIII. und IX. Jahrhundert ihre Buchseite 135 persönliche Freiheit verlieren, um sich mit den Halbfreien und Unfreien zur Masse der grundholden Bauernschaft zu verschmelzen, die dann im XI. und XII. Jahrhundert sich aus ihren persönlichen Abhängigkeitsfesseln lösen. Für die große Masse der bäuerlichen Bevölkerung hat sich damit das lehnsstaatliche Verhältnis bereits ausgelebt und zwar mit einer wesentlichen Verbesserung ihrer kulturellen Verhältnisse.

§ 29. Wie ist es in der gleichen Zeit den Vertretern der edlen Reiterei ergangen?

Die Lehensherren der verschiedenen Stufen hatten ursprünglich aus freien wie aus unfreien Leuten den Stand der Ministerialen, ihre reisigen Dienstmannen gebildet, die dem persönlichen Gefolge zugehörten und zumeist Ausrüstung wie Verpflegung aus dem grundherrlichen Wirtschaftsbetriebe erhielten. Der reisige Dienstmann eines Grafen stand unter dem niederen Hofrecht, der freie Bauer unter dem besseren Landrecht. Trotzdem hob Einfluß wie Ansehen den Reitersmann sichtlich über den Bauersmann empor. Bald war es Sitte geworden, dem Dienstmann ein Dienstlehen zu geben. Und als im XI. und XII. Jahrhundert die Grundherren sich von der persönlichen Leitung ihrer Grundherrschaften zurückzogen, um in den Städten und auf den Burgen ihrem Schildesamte zu leben, erhielten auch Ministeriale das Salgut zu Lehen. Die kaiserliche Politik fand es im XI. und XII. Jahrhundert ratsam, die Erblichkeit dieser Dienstmannenlehen zu begünstigen und damit ihre persönliche Abhängigkeit von dem Grundherrn wesentlich abzuschwächen. Am meisten jedoch wurde die soziale Stellung der Ministerialen durch die Kreuzzüge begünstigt. In diesem großen gemeinsamen Unternehmen des christlichen Abendlandes gegen das islamische Morgenland Buchseite 136 kämpften und lagerten die reitenden Dienstleute Schulter an Schulter mit den Fürsten und Königen. Manch tapferer Schwabenstreich brachte dem einfachen Reitersmann Ruhm über viele stolze Lehnsherren. Die verfeinerten Sitten der Araber in Kleinasien übertrugen nach Europa den Minnedienst, das Minnelied und die Wappenkunde, wie das Turnier mit einem eigenen Kodex der gesamten ritterlichen Sitten und Gebräuche, die von nun an im Abendlande in dem „höfischen Leben“ zusammengefaßt wurden. Aus all dem wuchs die mittelalterliche Idee und Vorstellung des christlichen Rittertums empor. Ritterschaft und Adel wurden identische Begriffe. Der Adel war jetzt die bewaffnete Ritterschaft des Reiches, der Kaiser als weltliches Oberhaupt der Christenheit der erste Ritter. Es gab keinen französischen, deutschen oder englischen Adel. Das Rittertum des Mittelalters ruhte, wie die Kirche, auf einem internationalen Gedanken. Die Ritterschaft des christlichen Abendlandes war eine einheitliche Genossenschaft geworden, die, wie auch die Kirche, das Reich, die gelehrte Bildung, keine nationalen Grenzen kannte. Es darf daher nicht überraschen, daß zunächst schon im Laufe des XII. Jahrhunderts ursprünglich unfreie reisige Dienstleute der Gewalt des Grundherrn entwachsen sind, um als „freier niederer Adel“ dem hohen Adel der Fürsten, Herzöge und Grafen zur Seite zu stehen. Es war die einfache Konsequenz dieser Tatsache, daß zu Ende des XII. Jahrhunderts durch kaiserliches Gebot dem Bauern das Eintreten in die Reihe der Ministerialen versagt wurde. Die ritterliche Genossenschaft wurde nach unten abgeschlossen. Ihre Ergänzung blieb im wesentlichen auf die ritterbürtigen Nachkommen beschränkt, welche vorschriftsmäßig die Schule als Knabe, Page und Knappe durchzumachen hatten, bevor sie den Ritterschlag erhielten, Buchseite 137 der sie mit feierlichem Eide nicht nur dem Kaiser und Könige, sondern vor allem der römischen Kirche zu Treuen verpflichtete. So ist also ein großer Teil des Adels aus ursprünglich hörigen, unfreien Dienstmannen hervorgegangen. Der Rittergürtel ließ jeden Unterschied zwischen eigentlichem Adel und Hörigen verschwinden.

Diesen veränderten Verhältnissen entsprechend geschah die Besetzung der neuen Kolonialgebiete östlich der Elbe mit ritterlichen Reitern in der Weise, daß neben der Dorfgemeinde der Bauern das Gut des Knappen oder Ritters (Rittergut) mit einem Umfange von 4—6 Hufen vorgesehen wurde (zu je 60—120 Morgen). Der Knappe hatte mit 2—3 Spießjungen, der Ritter mit 3—4 reisigen Knechten anzureiten. Für diesen Reiterdienst war das Rittergut frei von Steuern und bäuerlichem Zins. Der ungeschmälerte Ertrag des Gutes vertrat des Ritters Sold. Der Ritter besaß sein Gut unter Obereigentum seines Lehnsherrn. Statt einer streng lehnsstaatlichen Unterordnung der Bauern unter den Ritter beobachten wir hier im XII. und XIII. Jahrhundert eine Siedlung der freien Bauern neben dem Rittergute. Neue Zeiten mit anderen Verhältnissen standen vor der Türe.

§ 30. Die persönlichen Dienstmannen des Kaisers und seine Beamten, die Herzöge und Grafen, waren nach dem Kaiser die Spitze des Karolingerstaates. So lange ein Karl der Große die Regierung führte, blieben die hochgestellten Herren Beamte und Dienstleute, Sobald aber die Zentralgewalt in schwachen Händen ruhte oder böser Zwist in der Herrscherfamilie Bewerbungen um eine größere Gefolgschaft hervorrief oder die Degeneration der Karolinger dazu zwang, einen der bisher ersten Beamten zum Könige zu wählen, oder die von Hause aus zweiköpfige Spitze des Lehnsstaates ihren unausbleiblichen Buchseite 138 Kampf um die Vorherrschaft zum Austrag brachte — da bot sich auch für die ersten Hof- und Staatsbeamten des Karolingerstaates Gelegenheit, die Frage der Rangordnung für ein bestimmtes Territorium zu ihren persönlichen Gunsten zu entscheiden. Von jeder kraftbewußten Persönlichkeit war in solcher Lage nichts anderes zu erwarten. Die Antrustionen, Grafen und Herzöge mußten eines Tages selbständige Territorialfürsten werden und damit die Verfassung des Lehnsstaates zertrümmern. Für die historische Betrachtung bleibt nur übrig zu berichten, wann und unter welchen Umständen dieser Wandel geschehen ist.

Schon der erste Nachfolger Karls des Großen, Ludwig der Fromme, wurde 833 von seinen aufständischen Söhnen gefangen, von den Bischöfen des Reichs abgesetzt und erst nach einer öffentlichen Kirchenbusse in der Marienkirche von Soissons wieder auf den Thron gehoben. Karl der Dicke ist 887 im Ost- und Westfrankenreiche wegen Feigheit seines Königsamtes enthoben worden. Ihm folgte im Ostfrankenreiche Arnulf von Kärnten und dann als letzter der Karolinger Ludwig das Kind im Alter von 6 Jahren (899—931). Das deutsche Reich schien sich in die Herzogtümer Sachsen, Franken, Bayern, Schwaben und Lothringen auflösen zu wollen.

Nur die furchtbaren Einfälle der Ungarn, Slaven und Dänen haben die Großen endlich gezwungen, ihren tüchtigsten und machtvollsten Genossen zum König zu wählen: Heinrich I. (919—936) den Erneuerer des deutschen Reiches. Ihm folgte sein würdiger Sohn Otto I. der Große (936—973). Aber wie geht es jetzt in der herrschenden Königsfamilie zu? Im Jahre 938 empört sich Thankmar, der Halbbruder des Königs. Im Jahre darauf beginnt sein jüngerer Bruder einen gefährlichen Aufstand. Im Jahre 941 versucht derselbe KönigsBuchseite 139bruder einen Mordanschlag gegen Otto I. Im Jahre 976 folgt die Empörung eines Vetters gegen Otto II. (973—983). Es war also kein durchschlagendes Hilfsmittel zur Sicherung der Königsherrschaft, wenn Otto I. die deutschen Herzogtümer und die ertragreichsten geistlichen Fürstentümer vor Allem an seine Verwandten vergeben hatte. Seit Ottos III. Einsetzung (983—1002) mußte auf lange Jahre die Vormundschaft die Regierungsgeschäfte führen. Die wachsende Selbständigkeit der Großen setzte es durch, daß gerade seit diesem Augenblicke Reichsamt und Lehen der Herzöge und Grafen erblich werden. Die eiserne Faust Konrads II. und seines Sohnes Heinrichs III. (1039—56) hat dann zwar noch einmal die großen Lehensherren zu unbedingtem Gehorsam niedergezwungen. Eine Fürstenverschwörung gegen diesen letzten Kaiser wurde 1055 noch rechtzeitig unterdrückt. Aber unter seinem im Alter von 6 Jahren ihm folgenden Sohne erhoben sich die Fürsten nunmehr im Bunde mit dem Papsttum über das Kaisertum. Der Vereinigung der fürstlichen und päpstlichen Macht ist der Kaiser unterlegen. Mit Heinrich V. (1106—1125) und Lothar (1125—1137) folgen bereits die Kaiser von des Papstes Gnaden. Die großen Vasallen der Karolingerzeit sind jetzt die Fürsten der Staufenzeit geworden. Mit Beginn des XIII. Jahrhunderts ist die Territorialherrschaft bereits fest begründet. Die Stammesherzogtümer fühlen sich dem Könige durchaus ebenbürtig. Die alten Königsrechte: das Gericht, das Münzrecht, Einkünfte verschiedener Art, die Verfügung über das noch herrenlose Land, sind in die Hände der ehemaligen Beamten und königlichen Gefolgsleute gekommen. Sobald die Territorialgewalt souverän wird, wird die Zersplitterung des Reiches unheilbar. Der Sohn folgte seit dem XIII. Jahrhundert dem Range des Vaters. Das Amt ist Adel und Sache des Blutes Buchseite 140 und der Abstammung geworden. Das deutsche Reich verwandelte sich aus einem König- und Kaiserreiche in eine aristokratische Republik. Der Kaiser hörte auf, Herr und Gebieter zu sein und ist bald nur noch Repräsentant des Reiches.

§ 31. Indeß sind die neuen Territorialfürsten damit nur der weltlichen Spitze des Lehnsstaates Herr geworden. Die Herrschaft des päpstlichen Schwertes besteht gerade jetzt in bisher ungeahnter Machtfülle weiter. Diese päpstliche Herrschaft beschränkt sich nur auf das lose Band der Oberlehnsherrschaft oder auf den praktischen Inhalt jenes Treueides, den jeder Ritter der Kirche geleistet hatte. Der Papst wird im XII. und XIII. Jahrhundert als Herr der Christenheit tatsächlich Eigentümer des gesamten Vermögens der christlichen Kirchen. Das bedeutete in Deutschland den Eigentumsanspruch von 1⁄3, in England 1⁄2, in Frankreich 1⁄7 des gesamten Grund und Bodens. Seit Papst Innocenz III. (1198 bis 1216) werden diese gewaltigen Rechtsansprüche durch Erhebung direkter Steuern auf alles Kircheneinkommen (Kreuzzugssteuern) geltend gemacht, die sich rasch zu einer Besteuerung der gesamten Christenheit erweitern. Mit diesen Geldsteuern ist jedoch der Boden der lehnsstaatlichen Ordnung der Dinge schon prinzipiell verlassen. Der Entwickelungsprozeß der Emanzipation der neuen Territorialfürsten auch von der päpstlichen Herrschaftsgewalt muß deshalb in anderem Zusammenhange erörtert werden.

§ 32. Anders als in Deutschland gestaltete sich die Geschichte der Grafen- und Herzogsgewalt in Frankreich. Nachdem auch hier Karl der Dicke als unfähiger Herrscher abgesetzt worden war, wählten die Großen des Reiches nicht den Mächtigsten, sondern einen kleineren ihrer Genossen zum Könige: den Grafen Otto von Buchseite 141 Paris. Und in dieser Wahl war man nicht einmal einig. Eine Gruppe der Wähler trat für einen Gegenkönig aus dem Hause des Karolingergeschlechts ein. Die Herrschaft dieser Gegenkönige dauerte volle hundert Jahre. Der lästigen Einfälle der Normannen suchte man dadurch Herr zu werden, daß man ihnen im Jahre 911 ein bestimmtes Gebiet im nördlichen Frankreich unter königlicher Oberhoheit überließ. Frankreich selbst wurde ein Lehen des deutschen Reiches. Erst vom Jahre 987 ab, wo der letzte Karolinger in Schimpf und Schande zu Grunde geht, ist die Herrschaft der Kapetingerkönige eine unbestrittene. Sie hatte trotzdem zunächst noch nicht viel zu bedeuten. Die großen Grafen fühlen sich dem Könige ebenbürtig und waren ihm an Macht oft weit überlegen. Der Süden mit seinen vielen Städten aus römischer Zeit und seinen seither regeren Beziehungen zu Italien und Spanien trennte sich vom Norden. Statt zu herrschen, begnügten sich die Kapetingerkönige vielmehr durch kleine Geschenke die freundliche Zuneigung der großen Herren zu erhalten. Ungehindert verfügten die Grafen und Herzöge über das Kirchengut und über die Kirchenämter und waren dabei fortgesetzt bestrebt ihr Machtgebiet durch Kriege und Fehden auf Kosten ihrer Nachbarn zu erweitern. Um die damit verbundenen gräulichen Verwüstungen des Landes und furchtbaren Quälereien namentlich der grundholden Bauernschaft etwas zu mildern, wurde von der ersten Hälfte des XI. Jahrhunderts ab durch die französische Kirche der Gottesfriede (Treuga Dei) gepredigt. Wenigstens an den Tagen der Woche, die durch die letzten Tage des Erlösers geheiligt waren, von Mittwoch abend bis Montag früh, sollte jede Fehde untersagt sein und diejenigen, welche in dieser Zeit Gewalttätigkeiten ausübten, mit dem Kirchenbann belegt werden. Die ohnehin schon schwierige Lage des französischen Buchseite 142 Königs wurde im Jahre 1066 dadurch noch verschärft, daß einer der mächtigsten französischen Lehnsträger, Herzog Wilhelm von der Normandie, sich England eroberte. Schon im XI. Jahrhundert werden von den Grafen und Herzögen Grafschaftssteuern in ihren Gebieten erhoben und nach ihrem Belieben verwendet. Ein Zerfallen des Westfrankenreiches in selbständige Territorialgebiete schien unausbleiblich.

§ 33. Da waren es zwei Faktoren, welche der Entwickelung dennoch den anderen Weg weisen sollten.

Durch 900 Jahre blieb die französische Königskrone in dem Hause der Kapetinger. Die übermächtigen Großen schienen sich wenig darum zu kümmern, daß die kleine Königswürde schon im XII. Jahrhundert erblich wurde. Die Kapetinger aber konnten ruhig abwarten, bis die rechte Gelegenheit gekommen war, Frankreich in einen Einheitsstaat zu verwandeln. Diese Gelegenheit kam denn auch mit dem Beginn der Kreuzzüge (1095), welche das französische Königtum von seinen gefährlichsten Vasallen befreite, die sich an den neuen Eroberungen im Orient mit Eifer beteiligten. Die französische Kirche und die Bevölkerung der Städte, welche ebenso wie der König von dem Adel bedroht wurden, schlossen sich enger zusammen, um schon unter Ludwig IV. (1108—1137) die raubgierigen Burgherren zu bestrafen. Ihre gemeinsame Politik aber mußte vor allem gegen den König von England gerichtet werden, welcher um die Mitte des XII. Jahrhunderts allerdings als Vasall der französischen Krone die Hälfte von ganz Frankreich besaß, während der König selbst kaum ein Viertel des Landes zu seinem gesicherten Besitz rechnen durfte. Der Kapetinger Philipp II. (1180—1223) benutzte nun die Abwesenheit des englischen Königs Richard Löwenherz auf seinem Kreuzzuge, um trotz seines feierlichen Gegenversprechens Buchseite 143 in Johann ohne Land, dem Bruder des Abwesenden, einen eigenen Kandidaten auf den englischen Thron zu bringen. Aber kaum fühlte sich dieser in seiner Position gesichert, als Philipp II. ihn vor sein Lehnsgericht zitierte. Da Johann mit Berufung auf seine Würde als König von England zu erscheinen sich weigerte, erklärte Philipp ihn durch lehnsgerichtlichen Spruch all seines französischen Besitzes für verlustig und eroberte diese Gebiete zum größten Teile. Als hierauf eine Vereinigung des Königs von England mit dem deutschen Kaiser, dem Welfen Otto IV., dem Herzog von Brabant und dem Grafen von Flandern zu Stande kam, siegte Philipp in der Schlacht bei Bouvines (1214) mit den Fußvolkkontingenten seiner Städte glänzend über die vereinigte Vasallenreiterei der Gegner. So legten die Kapetinger den Grundstein zu einer nationalen Einigung Frankreichs unter ihrem Szepter in einer Zeit, in welcher die weltliche Spitze des mittelalterlichen Lehnsstaates schon so schwach geworden war, daß bald darauf (1247) der Papst Innocenz IV. die deutsche Kaiserkrone im Auslande ausbieten mußte, weil in Deutschland keiner der Großen mehr auf ihren Besitz reflektierte.

Indeß: nationale Einigung Frankreichs — städtische Fußvolkkontingente — Vereinigung der Krone, der Kirche und des Volkes gegen den hohen Adel — das alles sind Begriffe und Vorgänge, die nicht mehr dem lehnsstaatlichen Systeme angehören. Auch deren weitere Entwickelung wird daher in anderem Zusammenhange zu betrachten sein.

§ 34. Wiederum eigenartig lagen die Verhältnisse in England. Dem normannischen Eroberer Wilhelm I. (1066—1087) waren die revolutionären Entwickelungstendenzen, welche die lehensstaatliche Ordnung auf dem Kontinent zum Nachteile für die Zentralgewalt in sich trug, natürlich nicht unbekannt geblieben. Sein Streben Buchseite 144 war deshalb von Anfang an darauf gerichtet, die englische Königskrone gegen diese Gefahr möglichst sicher zu stellen. Der König mußte vor allem reich sein. Wilhelm I. erhob deshalb für die Krone den Rechtsanspruch auf den gesamten Grund und Boden des eroberten England. Die angelsächsischen Adligen, welche das Land gegen ihn verteidigt hatten, wurden als Rebellen behandelt und ihr ganzes Habe oder doch ein Teil desselben eingezogen. Aus dem Ganzen sonderte der König zunächst einen gewaltigen Besitz für die Krone aus. Dann wurden die normannischen und französischen Gefolgsleute und Siegesgenossen mit Kronlehen ausgestattet. Den Kirchen und Klöstern wurde ein bestimmter Besitz zugewiesen. Da und dort wurde freier bäuerlicher Besitz belassen. Kurz: der Eroberer führte nach seinem Ermessen eine Neuverteilung des gesamten Grundbesitzes in England durch. Da für die Krone noch Gefälle und Einkünfte verschiedener Art vorgesehen wurden, schien die Königsmacht auf absehbare Zeit ökonomisch gesichert und unabhängig gestellt. Damit jedoch die vom Könige verliehenen Rechtsansprüche am Grund und Boden in England sich nicht in der üblichen Weise zu Gunsten der Beliehenen verschieben konnten, ließ Wilhelm I. in den Jahren 1083—1086 ein Reichsgrundbuch anlegen, das den Namen „Domesday Book“ (abgeleitet von dem angelsächsischen Worte domesday — „Tag des Gerichts“) erhielt. Hier wurden alle Kronlehen, Kirchengüter, freie Bauergüter, der städtische Besitz und die Höfe der Unfreien mit den darauf lastenden Abgabepflichten eingetragen und der König hielt streng auf gewissenhafte Erfüllung aller Pflichten.

Trotz dieser klugen weitschauenden Politik kam unter Johann (ohne Land) (1199—1216) das englische KönigsBuchseite 145tum in bedrängte Lage. Es verlor, wie bereits erwähnt, fast alle seine reichen Besitzungen in Frankreich: Maine, Touraine, Guienne, Gascogne, mußte im Streit mit der römischen Kirche dem Papst Innocenz III., den Lehenseid für die englische Krone leisten (1213), und jetzt erhoben sich auch die großen Vasallen. Aber ihr Streben ist nicht, wie anderwärts, darauf gerichtet, als Territorialfürsten sich unabhängig vom Könige zu machen. Die im Reichsgrundbuch fixierten Rechte an Grund und Boden geben ihrer Politik eine ganz andere Richtung. Wenn in dem Domesday Book die Rechtsansprüche des Königs auf den Boden des Landes den Grundbesitzern gegenüber fixiert waren, dann wollten die Vasallen und ihre Anhänger auch die Rechte der Untertanen der Königsgewalt gegenüber verbrieft haben. Während in Frankreich der König mit der Kirche und den Städten gegen den hohen Adel kämpfte, waren in England Kirche, Adel und Städte einig der übermächtigen Königsgewalt gegenüber. So wurde 1215 auf der Wiese Runnemelde bei Windsor die Magna Charta libertatum, die Grundlage der heutigen englischen Verfassung mit dem Könige vereinbart. Die Aemter der Bischöfe und Aebte sollten nicht mehr durch das Belieben des Königs, sondern durch die freie Wahl der Geistlichen besetzt werden. Die Verfügungsgewalt des Königs auf die Nachfolge im Lehen sollte zu Gunsten der Erblichkeit der Lehen beschränkt sein. An Stelle des Lehnsdienstes sollte die Zahlung eines Schildgeldes treten. Die Erhebung von Hilfsgeldern als ordentliche Steuern für den König sollte nur nach vorheriger Zustimmung der Prälaten und Barone zulässig sein. Jeder Freie sollte nur von seinesgleichen nach Landrecht gerichtet werden. Die Städte sollten ihre Privilegien behalten und die Kaufleute freien Verkehr haben. Es sind bereits moderne Volksrechte, Buchseite 146 welche mit diesem Schriftstücke dem englischen Könige abgerungen wurden. Aber die Einführung eines Reichsgrundbuchs in den Jahren 1083—86 war ja auch bereits eine moderne gesetzgeberische Tat. Wilhelm der Eroberer hat dem englischen Volksleben den eigentümlichen Charakter eines bunten Nebeneinander von alten und neuen Formen aufgedrückt. Trotzdem wird die entwickelungsgeschichtliche Betrachtung für England die Periode des Lehnsstaates bereits 150 Jahre nach der normannischen Eroberung mit der ersten königlichen Bewilligung der Magna Charta abschließen müssen.

§ 35. Kaiser und Papst. Ein arabisches Sprichwort aus der Zeit Muhammeds lautet: „Es gibt nur einen Gott, wenn es zwei gäbe, würden sie miteinander kämpfen.“ Der Kampf zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Schwerte um die Vorherrschaft im Lehensstaate war etwas naturnotwendiges. Trotzdem war auch die doppelte Spitze ein notwendiger Bestandteil der lehensstaatlichen Verfassung. Schon der Karolingerstaat charakterisierte sich als ein Verschmelzungsprodukt der römischen Kirche mit dem Frankenstaate in der Weise, daß trotzdem beide ihre selbständigen Organisationen bewahrten. Wie hätte es im Lehensstaate anders sein sollen, nachdem er als organische Kulturfortsetzung des Karolingerstaates hervorgewachsen ist? Es wäre für Beide um das XI. Jahrhundert wiederholt ein Leichtes gewesen, die andere Spitze ohne viel Kraftanstrengung auszuschalten. Sie taten es nicht. Kaiser und Papst bedurften einander. Die Karolingerkönige haben immer wieder dem Papste in Rom durch das Frankenschwert die persönliche Sicherheit gewährleistet. Als dann unter dem Kinde Ludwig (899 bis 911) Deutschland in seine Herzogtümer zu zerfallen drohte, und die einzelnen Herzöge mit voller Eigenmächtigkeit über das Kirchengut verfügten, da waren es die deutschen Buchseite 147 Bischöfe und Aebte, welche im Einverständnis mit dem Papste all ihren Einfluß aufboten, um die Großen des Reichs zu einer glücklichen Königswahl zu bewegen. Und als die zügellose städtische Aristokratie Roms mit ihren Günstlingen den päpstlichen Stuhl im X. und in der ersten Hälfte des XI. Jahrhunderts verunzierten, als die großen römischen Adelsgeschlechter der Crescentier und der Tuskulaner um die päpstliche Würde wie um ein Besitztum ihrer Familien kämpften, da haben die deutschen Kaiser Otto der Große (936 bis 973), Otto II. (973 bis 983), Otto III. (983 bis 1002) und namentlich noch Heinrich III. (1036 bis 56) das Papsttum dadurch gerettet, daß sie als römische Patrizier das Ernennungsrecht für das römische Bistum ausübten und die Wahl des Papstes von Rom nach Deutschland verlegten. Trotzdem mußte das XIII. Jahrhundert den Zusammenbruch der kaiserlichen Herrlichkeit und die Alleinherrschaft des Papstes über das christliche Abendland bringen, weil in einer Zeit, in der das Geld seine unheilvolle Herrschaft angetreten hat, der Kaiser verarmt, der Papst aber infolge jener Ereignisse, welche die Kreuzzugszeit begleiteten, zum reichsten Herrn der Christenheit geworden war.

§ 36. Macht und Ansehen der Kaiserkrone hatten mit Karl dem Großen ihren Höhepunkt erreicht, um von da ab fast fortgesetzt zurückzuweichen, Heinrich I. und Kaiser Otto dem Großen gehorchte nur ein Teil des ehemaligen Frankenreiches: das Ostfrankenreich (Ostarihi) am Rhein, Elbe, Main und Donau, dem noch Italien zugefügt worden war. Die Weltherrschaft des deutschen Kaisers war für außerdeutsche Länder ein bloßer Name oder auf kurze Zeit eine bloße Oberlehensherrlichkeit mit bescheidenen Tributleistungen geblieben. Die Weltherrschaft des deutschen Kaisers beschränkte sich tatsächlich auf die Herrschaft über Italien.

Buchseite 148 Der Reichtum der deutschen Kaiserkrone bestand aus dem von Pfalzgrafen verwalteten Reichsgrundbesitz und aus jenen Einkünften aus Zöllen, Gerichtsgeldern, Lehensabgaben aller Art, deren Verwaltung in den vom Kaiser nicht selbst beherrschten Gebieten den Grafen und Herzögen als kaiserlichen Statthaltern überlassen war. Aber schon Heinrich I. und Otto I. haben erkannt, daß für die kaiserlichen Verwaltungsgebiete der Herzöge und Grafen die große Gefahr bestand, durch die immer entschiedener hervortretende Erblichkeit dieser Aemter der Krone verloren zu gehen. Otto I. begann deshalb die Herzogtümer mit seinen nächsten Verwandten zu besetzen. Und als durch das rebellische Verhalten der Söhne und Vettern diese Politik nicht als die richtige beibehalten werden konnte, waren von Otto dem Großen bis auf Heinrich IV. (936 bis 1106) die deutschen Kaiser bemüht, ihre Macht auf den Schultern der deutschen Kirchenfürsten zu gründen. Ganze Grafschaften und Herzogtümer wurden den deutschen Bischöfen und Aebten als kaiserliches Lehen übertragen. Während unter den letzten Karolingern die Kirchenfürsten sich kaum der Gewalttätigkeiten der weltlichen Fürsten erwehren konnten, scheinen jetzt die geistlichen Fürstentümer mit ihrer stetig wachsenden Macht die weltlichen Grafschaften fast zu verschlingen. Für diese Reichslehen in geistlicher Hand war die Erbfolge der Lehensträger ausgeschlossen. Mit jeder Handänderung fielen diese Herrschaftsgebiete wieder an den Kaiser zurück, welcher sie an seine zuverlässigen Getreuen von Neuem vergeben konnte. Das Kirchengut war Reichsgut geworden. Beim Aufgebot des kaiserlichen Vasallenheeres standen die geistlichen Fürsten nicht nur dem Range, sondern auch der Truppenstärke nach an erster Stelle. Ein Aufgebotsbrief des Kaisers Ottos II. von 981 fordert Buchseite 149 die Stellung von 1990 Panzerreitern, wovon 1482 die geistlichen Herren, 508 die weltlichen Vasallen des Reiches stellen sollten. Manch einer dieser streitbaren Bischöfe hat inmitten seiner Vasallenreiter in der offenen Feldschlacht den Tod für Kaiser und Reich gefunden.

§ 37. Trotzdem war auch auf solche Weise das Vermögen der deutschen Kaiserkrone gegen den Zusammenbruch nicht versichert.

Die Vermögensverwaltung der kaiserlichen Krongüter blieb in der naturalwirtschaftlichen Organisation stecken. Ohne geordnete Buchführung irgend welcher Art, die damals im christlichen Abendlande auch noch garnicht bekannt war, hatte man das System der naturalen Ueberschußanweisung für die einzelnen Domänen beibehalten. Diese Ueberschüsse wurden durch die Gewohnheit fixiert. Die bei steigenden Preisen der Produkte steigenden Erträge der Güter sind dem Kaiser nicht zugute gekommen. Wohl aber wurde aus dem Domänenvorstand häufig ein Erbpächter, welcher zur Lieferung von bestimmten Naturalien an den Kaiser verpflichtet schien. Und aus der Erbpacht ist schließlich das Erbeigen geworden. Die betreffende Domäne aber war damit der kaiserlichen Vermögensverwaltung entfremdet. Die Einnahmen der Krone aus den Konfiskationen der Güter rebellischer Vasallen, aus der Erbfolge in das Gut der Erbenlosen und aus den Eroberungen auf slavischem Gebiet waren zwar vom X. bis XII. Jahrhundert noch sehr beträchtlich. Aber auch die neuen Grundbesitzerwerbungen wurden dem so leicht Verlust bringenden System der naturalwirtschaftlichen Verwaltung unterstellt. Schon im XI. Jahrhundert hören die kaiserlichen Reichsforsteinhegungen auf, um durch Einhegungen der Territorialherren ersetzt zu werden.

Buchseite 150 Trotzdem bestand die eigentliche Schwäche der ökonomischen Position der Kaiserkrone weniger in dem Mangel an Grundbesitz und weit mehr in dem Mangel an Geldeinnahmen zu einer Zeit, in welcher die Ansprüche an die Hofhaltung immer größer wurden, die Warenpreise sich fortwährend erhöhten, die Anforderungen an die „Milte“ des Königs sich steigerten und das Geld sich anschickte, die Welt zu regieren. Die großen kaiserlichen Regalien wie die Zölle, das Geleitrecht, die Markt- und Münzhoheit, welche jetzt sehr wohl große und immer steigende Geldbeträge hätten abwerfen können, waren leider von Anfang an nur zu willig an die Territorialherren verschleudert worden. Die immer wieder erneuerten Versuche, eine allgemeine Reichssteuer einzuführen, sind von Heinrich IV. bis auf Otto IV. (1066 bis 1215) regelmäßig gescheitert. Nur die Reichsstädte fanden sich bereit, eine Pauschalsumme, welche mit jeder einzelnen Stadt von Jahr zu Jahr besonders vereinbart werden mußte, dem Kaiser zu steuern. Außerdem blieben der Krone die veralteten Servitien der Abteien und Propsteien mit den Ehrengeschenken der Fürsten, das bedenkliche Mittel der Zwangsanleihe und der systematischen Verpfändung von Kirchengut als verschleierte Zwangsanleihe und endlich die längst verhaßten Einnahmen für den Verkauf von geistlichen Aemtern und die Erteilung von Reichslehen mit den Einkünften aus den für den Kaiser zurückbehaltenen Reichsabteien. Schon der bedenkliche Charakter verschiedener Positionen dieser kaiserlichen Einnahmen bezeugt, daß die verfügbaren Mittel hinter den Anforderungen der großen Aufgaben des Kaisers weit zurückblieben.

§ 38. Wahrscheinlich am meisten hatte unter den ungenügenden Geldeinnahmen des Kaisers die RechtsBuchseite 151pflege zu leiden. Seitdem unter den letzten Karolingern die großen Grundherren die Möglichkeit erkannt hatten, als Territorialherren zur Selbstherrlichkeit zu gelangen, war auch jeder einzelne derselben bestrebt, seinem Landhunger zu fröhnen und sein Gebiet auf Kosten seiner Nachbarn zu erweitern. Damit hat sich jene Rechtslage ausgebildet, welche als die Herrschaft des Faustrechtes bezeichnet wird. Möglichst unvermutet, an einem hohen kirchlichen Feiertage etwa, fiel der böse Nachbar mit seinen Waffenknechten und seinen Gefolgsleuten über den Ahnungslosen her, vernichtete die Ernten, quälte in scheußlicher Weise die fremden Grundholden durch Augenausstechen, Blenden, Verstümmeln und Totschlagen, zerstörte den Herrensitz des selbst gewählten Gegners und schaltete nach Belieben über dessen und seiner Familienmitglieder Tod und Leben. Das ganze Besitztum wurde dann vom Gegner eingezogen, weil es nach Fehderecht „erworben“ war. Diesen anarchistischen Zuständen gegenüber waren die Könige in der Regel machtlos. Es fehlten die Mittel, um etwa eine auserwählte Truppe unter der Führung von Königsboten regelmäßig das Land durchreisen zu lassen, um das Recht zu schützen und das Unrecht zu kränken. So blieb es denn den Grafen und Herzögen und den Vögten der geistlichen Herrschaften überlassen, an Ort und Stelle den Königsfrieden zu wahren. Aber diese Herren gehörten in der Regel selbst zur Zunft der Raubritter und waren nur zu häufig der schlimmsten Einer. Und schließlich waren ja damals auch die Könige der Meinung, daß Verrat und Meuchelmord durchaus erlaubt seien, wenn es sich um Beseitigung eines unbequemen Gegners handle.

Als der Verkehr zunahm, machte man mit den wohlhabenden Reisenden ein besonderes Geschäft dadurch, daß man diese zwang, sich auf ihrer Straße geleiten zu lassen, und dafür eine möglichst hohe Buchseite 152 Summe erpreßte. Man zögerte aber auch nicht, diese Erwerbsart in der Weise abzukürzen, daß man den Wandersmann einfach ausplünderte und gefangen nahm, um ihn nur gegen entsprechendes Lösegeld wieder frei zu geben. Dieser so weit gehenden Unsicherheit gegenüber war man in erster Linie auf die Selbsthilfe angewiesen, die durch den Bau befestigter Burgen wesentlich verstärkt wurde. Aber diese Hilfe blieb naturgemäß eine recht lückenhafte. Wer nicht selbst eine Burg besaß und für den Fall der Not das Recht erwerben wollte, sich eine Burg öffnen zu lassen, hatte dafür eine entsprechend hohe Summe zu zahlen.

§ 39. Da kam die, von den großen Grundherren in ihrem Besitz besonders oft geschädigte französische Kirche auf den Gedanken, den mangelnden Königsfrieden durch einen „Gottesfrieden“ (Treuga Dei) zu ersetzen. Und damit hat die Rechtsentwickelung in ihrer mittelalterischen Hilflosigkeit einen Weg eingeschlagen, der seltsamer Weise heute noch bei den echt zünftigen Staatsmännern als der normale gilt. Man war damals zwar im Prinzip der Ueberzeugung, daß jede Gewalttat als Unrecht zu verbieten und zu bestrafen sei. Weil aber überall böse Gewalttaten verübt wurden, hielt man ein prinzipielles Verbot für zu weitgehend. Man machte deshalb der herrschenden Lebensweise möglichst weitgehende Konzessionen und begnügte sich damit zu fordern, daß die letzten Tage des Erlösers geheiligt seien, also von Mittwoch Abend bis bis Montag früh jede Fehde bei Strafe des Kirchenbannes zu unterbleiben habe. Drei Tage der Woche blieben damit dem Faustrecht freigegeben. Diese kirchliche Bewegung begann etwa mit dem Jahre 1053. Bald wurden auch die hohen kirchlichen Feiertage in den Gottesfrieden mit einbezogen. Die dann folgende Kreuzzugsbewegung war der allgemeineren Ausbreitung des Buchseite 153 Gottesfriedens günstig. Friedrich I. bestimmte im Jahre 1187 bei Strafe der Ehrlosigkeit, daß die Fehde sich wenigstens dadurch von einem gemeinen räuberischen Ueberfall unterscheiden müsse, daß sie 3 Tage vorher angesagt werden müsse. Die rohe Rauflust der Ritter suchte man seit dem XI. Jahrhundert durch die Sitte der Turniere in weniger gefährliche Bahnen zu lenken. Gegen die skandalösen Ausbeutungen des Geleitrechts richteten sich besondere Reichsbeschlüsse von 1201, 1208, 1234, 1235 usw. Trotzdem blieb natürlich noch mehr als genügend Unrecht ungesühnt. Aber die bescheidene Besserung der groben Mißstände, welche auf diese Weise erreicht wurden, führten sich auf die Initiative der Kirche zurück, die dort eingetreten war, wo die Schwäche der staatlichen Gewalt jede zeitgemäße Aktion unterlassen hatte. Dieser unleugbare Erfolg der Kirche veranlaßte sie auch andere Reformfragen, ohne Rücksicht auf die kaiserliche Initiative, in Angriff zu nehmen. Und dazu war ja allerdings seit geraumer Zeit gerade für die Kirche mehr als genügend Anlaß geboten.

§ 40. Schon mit den ersten Kirchenbauten im Frankenreiche durch die Grundherren war es Sitte geworden, Kirchen und Klostergründungen nicht nur als eine Tat zur Ehre Gottes, sondern auch als ein rentables geschäftliches Unternehmen zu betrachten. Es erschien als selbstverständlich, daß der Grundherr bei „seinen“ Kirchen, Klöstern und Bistümern über die überschüssigen Einnahmen zu Gunsten seiner Tasche verfügen konnte, daß er diese Kirchen, Klöster und Bistümer dazu benutzte, um seine Angehörigen zu versorgen, oder — wie Kaiser Konrad II. (1024—1039) — die Erbfolgefrage dadurch zu lösen, daß er seine sämtlichen Söhne bis auf zwei, von denen der eine kinderlos war, gezwungen hat, Kleriker zu werden, oder daß er von einem Bewerber der Buchseite 154 Abt- und Bischofsstelle, welcher nicht zu seiner Familie gehörte, sich eine entsprechende Geldsumme für Uebertragung dieses Amtes zahlen ließ. Schon seit dem V. Jahrhundert ist es Sitte gewesen, nicht den Würdigsten, sondern denjenigen zum Bischof zu weihen, der die größere Geldsumme dafür zahlte. Ebenso war man längst daran gewöhnt, die Abtswürde besonders reicher Abteien als Grundherr selbst zu behalten, oder einem andern Laien zu vergeben, um in beiden Fällen zwar das feste Einkommen zu beziehen, die Abtsstelle aber durch einen Vikar, welcher nur bescheidene Vergütung erhielt, versehen zu lassen. Unter den sächsischen und fränkischen Kaisern hatte diese Verschmelzung der weltlichen und kirchlichen Dinge dazu geführt, daß die Bischöfe infolge ihrer Ueberhäufung mit Grafen- und Herzogspflichten die Zeit nicht erübrigen konnten, um ihre Pfarreien zu inspizieren. Mit dem zunehmenden Reichtum der Kirchen tauchte bei der damals zulässigen Priesterehe unter den Verhältnissen des Lehenstaates noch eine besondere Gefahr auf. Sehr häufig konnte man nämlich beobachten, daß die Priestersöhne nicht allein das Erbteil ihrer Väter erhielten, sondern auch das Kirchengut als ihr Erbteil in Anspruch nahmen. Je reicher die Kirchen wurden, desto energischer war deshalb das Volk wie die Grundherren für ein Verbot der Priesterehe. Wo dagegen, wie im bäuerlichen Friesland, die Kirchen verhältnismäßig arm blieben, bevorzugten die Kirchengemeinden ebenso entschieden verheiratete Priester.

All diese Mißstände mußten um so härter empfunden werden, je mehr sich im Volke das Verständnis für die christlichen Lehrsätze verbreitete. Eine entsprechende allgemeine Reformbewegung konnte nicht ausbleiben.

§ 41. Den Gepflogenheiten jener Zeit ohne Druckerpresse und ohne geordnete Registraturen entsprechend erBuchseite 155folgte die erste Reaktion gegen die herrschenden kirchlichen Mißstände in der Weise, daß Jemand sich eine klare Vorstellung darüber zu geben versuchte, wie diese Verhältnisse nach seiner Auffassung eigentlich am besten geordnet sein würden, um dann im Sinne dieses seines Programms fertige Urkunden herzustellen, welche beliebige Zeit ruhten, um später auf einmal als angeblich echter urkundlicher Beweis eine ganz bestimmte Rolle zu spielen. So sind viele Städtefreiheiten und Reichsprivilegien der verschiedensten Art entstanden. Und so sind auch die pseudo-isidorischen Dekretalien mit der Urkunde über die sog. konstantinische Schenkung ins Leben getreten.

Die Reformbewegung, getragen durch das lebendige Bedürfnis und das bessere Beispiel, ist um das Jahr 910 in dem französischen Kloster Cluny erstanden. Die Cluniacenser führten alle Mißstände in der Kirche auf die Oberherrschaft der Welt zurück. Aus diesen weltlichen Fesseln mußte die Kirche befreit werden. Die Anstellung von Geistlichen durch Laien (Laieninvestitur) sollte nach ihrer Auffassung verboten sein, ebenso die Vergebung geistlicher Stellen und Pfründen an Laien. Die Besetzung der Bischofs- und Abtsstellen sollte durch freie kanonische Wahl erfolgen. Es sollte verboten sein, gegen Geldzahlung kirchliche Weihen zu erteilen und kirchliche Stellen zu vergeben (Simonie). Das Kirchengut sollte für den weltlichen Arm unantastbar bleiben, Kirche wie Kirchengut sollten Christus allein gehören. Endlich forderten sie strenge und sittenreine Erziehung und Lebensweise der Kleriker nach den Grundsätzen der Armut und der Uneigennützigkeit und eben deshalb das Verbot der Priesterehe (Cölibat).

§ 42. Mancher deutsche Kaiser stand auf dem Boden dieser kirchlichen Reformbewegung. Schon Ludwig der Buchseite 156 Fromme (814—840) hat die Bestrebungen der Entweltlichung der Klöster unterstützt und die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche anerkannt. Otto I. (936—973) war ein tief religiöser frommer Mann und für seine Zeit der Mittelpunkt einer sittlichen Renaissance. Otto III. (983—1002) war ausgesprochener Anhänger der asketischen kirchlichen Weltanschauung. Heinrich II. (1002—1024) hat einige Klöster dadurch entweltlicht, daß er den größeren Teil ihres Grundbesitzes, auf welchem weltliche Verpflichtungen ruhten, an Reichsvasallen nach Lehensrecht vergab. Auch Konrad II. (1024—39) hat die Entweltlichung der Klöster im Sinne Heinrich II. weiter geführt. Kaiser Heinrich III. (1036—56) hat drei Päpste in Rom eingesetzt, welche entschiedene Anhänger der kirchlichen Reformbewegung waren, und ist in den deutschen Reichssynoden mit dem Papst gegen die Simonie und gegen die Priesterehe (Cölibat) aufgetreten.

Da kam im Jahre 1056 Heinrich IV. als sechsjähriger Knabe zur Nachfolge, unter der Vormundschaft seiner Mutter, der Kaiserin Agnes. Wie die Fürsten im Reiche, so benutzte auch die päpstliche Partei in Rom diese Gelegenheit, um sich von der kaiserlichen Gewalt möglichst zu emanzipieren. 1059 wurde durch päpstliches Dekret der Einfluß des römischen Adels und des deutschen Kaisers auf die Papstwahl beseitigt und zum ersten Male dem Papst eine zweifache Krone verliehen, wovon die untere die „Königskrone von Gottes Gnaden“, die obere die „Kaiserkrone von St. Peters Gnaden“ bedeutete. Die Kaiserin Agnes war nachträglich damit einverstanden. Dann wurde die päpstliche Würde einem Manne übertragen, welcher schon bei fünf vorhergehenden Päpsten die weltlichen Geschäfte des päpstlichen Stuhles geleitet hatte und prinzipieller Anhänger der kirchBuchseite 157lichen Reformbewegung war: Gregor VII. (1073 bis 1085). Das Verbot der Priesterehe, der Simonie und der Laieninvestitur wurde streng durchgeführt und mit hoher Sittenstrenge das päpstliche Amt verwaltet.

Inzwischen hielt der leichtfertige junge Heinrich IV. in Goslar einen üppigen Hof. Schon unter seinem haushälterischen Vater Heinrich III. war die finanzielle Lage des kaiserlichen Hauses eine so bedenkliche, daß die deutsche Kaiserkrone zum ersten Male versetzt wurde, um dringend nötige Geldmittel flüssig zu machen. So mußte Heinrich IV. natürlich bald tief verschuldet sein. Um Geld zu beschaffen, griff er wieder zum Verkauf der kirchlichen Aemter und Weihen, behielt die beiden reichen Reichsabteien Lorch und Corvey für sich und verschenkte gegen ein Dutzend solcher Reichsabteien an deutsche Bischöfe, um sie in guter freundschaftlicher Stimmung zu erhalten. Dazu der Streit Heinrichs mit seiner Gemahlin, mit den deutschen Fürsten, mit den Sachsen — ist es möglich, daß dieser Weg nicht nach Canossa und nach Ingelheim hätte führen können?

§ 43. Indeß lag das wahrhaft Bedenkliche der damals für die deutschen Kaiser gegebenen Situation nicht in der Bedeutung des kaiserlichen Bußganges nach Canossa, sondern in der unzureichenden Beantwortung der so nüchternen Frage: Woher bezieht die Kaiserkrone die unbedingt erforderlichen Geldmittel, nicht um alle großen kaiserlichen Aufgaben lösen zu können, aber um doch wenigstens den drohenden ökonomischen Bankrott zu verhüten?

Die von Heinrich IV. angewendeten Mittel des Verkaufs geistlicher Aemter und kaiserlicher Lehen und der Uebertragung der reichsten Abteien auf den Kaiser und seine Freunde hatten das seit Beginn der Kreuzzüge so Buchseite 158 lebhafte religiöse Empfinden der großen Mehrheit aller maßgebenden Kreise gegen sich und mußten schon deshalb als unanwendbar erscheinen. Trotzdem konnte der Kaiser nicht kurzer Hand auf sein Ernennungsrecht der Bischöfe und Aebte verzichten. Seit mehr als 1 1⁄2 Jahrhunderten hatten die deutschen Kaiser mit fleißigen Händen in den deutschen geistlichen Fürstentümern einen gewaltigen Reichtum an Reichsgütern aufgehäuft, die bis dahin ihren Charakter als Reichsgüter beibehalten hatten. Die Krone mußte im Interesse der Selbsterhaltung bestrebt sein, diesen Reichtum dem Reiche zu bewahren. Im Jahre 1111 schien Papst Paschalis II. bereit zu sein, auf diesen gesamten Besitz im Namen der Kirche zugunsten des Reiches zu verzichten, wenn von Seiten des Reichs auf die Laieninvestitur verzichtet würde. Aber hiergegen erhob sich aus den Kreisen der hohen deutschen Geistlichkeit ein einmütiger Entrüstungssturm. Daß der Papst darauf zum Nachgeben bereit war, ist leicht zu verstehen. Das Papsttum schien damit zunächst nichts zu verlieren, daß die deutsche Kirche reich blieb. Anders mußte diese Frage von der kaiserlichen Politik beantwortet werden. Die Einziehung des wirtschaftlich von der Kirche gut entwickelten Reichsbesitzes in kirchlichen Händen zugunsten der Krone hätte bei sorgsamer Verwaltung wahrscheinlich sofort alle finanziellen Sorgen der Kaiser beseitigen können. Heinrich II. und Konrad II. waren ja auf diesem Wege schon vorangegangen. Doch die geistlichen Fürsten waren schon zu reich und zu mächtig und die Kaiserkrone schon viel zu arm geworden, als daß sie es härte wagen dürfen, auf solche Weise aus allen ökonomischen Verlegenheiten sich zu befreien. Das Nachgeben von Seiten der Krone bedeutete deshalb hier den ersten Schritt zur Umbildung der geistlichen Reichslehen in geistliche reichsunmittelbare Territorien. Das Kompromiß, Buchseite 159 welches unter solchen Umständen 1122 durch das Wormser Konkordat zu Stande kam, hat diese Tatsache nur wenig verschleiert. Das uneingeschränkte kaiserliche Ein- und Absetzungsrecht der Bischöfe und Aebte wurde beseitigt, und auf die kaiserliche Einführung in die Regalien beschränkt, die bedeutungsvoll genug durch die Belehnung mit dem Szepter erfolgte. Wie bald schon sollte vergessen sein, daß diese geistlichen Besitzungen zu einem wesentlichen Teile als angesammeltes Reichseigentum entstanden waren. Alles ist Kirchengut geworden. Und damit war dieser gewaltige Reichtum dem Kaiser verloren und tatsächlich der päpstlichen Macht zugefallen.

§ 44. Nachdem die Versuche zur Einführung einer allgemeinen Reichssteuer mißlungen waren und auf die Einziehung der Reichsgüter in kirchlichen Händen verzichtet wurde, konnte das Ansehen der Kaiserkrone nur noch auf einen möglichst großen Privatbesitz begründet werden. Geldeinnahmen wurden am meisten benötigt. Die geldwirtschaftliche Entwickelung war in Italien weit mehr als in Deutschland zur Durchbildung gekommen. So wurde denn die kaiserliche Politik auf neue Erwerbungen in Italien gerichtet. Hier wurden zunächst 1118 die Güter der verstorbenen Markgräfin Mathilde erworben. Inzwischen hatte seit dem XI. Jahrhundert der Beginn des Studiums des römischen Rechts in Oberitalien juristische Begriffe und Auffassungen verbreitet, welche einem kaiserlichen Eingriff in die Verhältnisse der lombardischen Städte sehr günstig waren. An Stelle der bis dahin herrschend gebliebenen Auffassung der Kaisermacht im Sinne des heiligen Augustin, trat die Lehre des römischen Absolutismus im Sinne der späteren römischen Kaiserzeit. Darnach waren die Regalien unveräußerliche Bestandteile der kaiserlichen Buchseite 160 Hoheitsrechte. Für die Finanzpolitik kamen hier namentlich die Zölle und das Münz- und Marktrecht in Betracht. Man hat berechnet, daß diese Regalien aus den lombardischen Handelsstädten jährlich die für damals sehr hohe Summe von 18 1⁄2 Millionen Mark dem Kaiser liefern würden. Der Krieg begann, Mailand wurde von Grund aus zerstört (1162). In dem 1183 zwischen dem Kaiser und den lombardischen Städten geschlossenen Frieden mußte freilich zur größeren Hälfte auf diese Einnahmen verzichtet werden. Aber die Macht des Geldes war damals eine so gewaltige, daß die noch gezahlten Millionen zu einem wesentlichen Teile das Aufblühen des kaiserlichen Ansehens unter Friedrich Barbarossa (1152—1190) bewirken konnten. Der Kaiser aber war deshalb unablässig bemüht, seine italienischen Besitzungen tunlichst zu erweitern.

Sein Sohn Heinrich VI. (1190—1197) heiratete die Erbin des leistungsfähigen sicilianischen Normannenreiches. Der außerordentliche Glücksfall einer Gefangennahme des englischen Königs Richard Löwenherz, welcher für seine Freilassung die Summe von 10 Millionen Mark dem Kaiser zahlte, ermöglichte im Jahre 1194 auch die Eroberung des Königsreichs Sicilien. Die Hohenstaufen hatten den Schwerpunkt der finanziellen Unterlage ihrer kaiserlichen Macht aus Deutschland nach Italien verlegt.

§ 45. Aber das deutsche Kaisertum war damit nicht gerettet. Die aus den deutschen lehensstaatlichen Verhältnissen entnommenen kaiserlichen Beamten waren mit den Verhältnissen der aufblühenden oberitalienischen Handelsstaaten in keiner Weise vertraut und traten hier möglichst ungeschickt auf. Diese Handelsstaaten erfreuten sich seit Beginn der Kreuzzüge einer außerordentlichen Zunahme ihres Reichtums. Sie selbst strebten nach der Buchseite 161 Handelsherrschaft über die Welt des Mittelmeeres. Wie hätten sie sich unter ein kaiserliches Regiment dauernd beugen sollen, dessen Lebensfähigkeit wesentlich von ihren Steuerzahlungen abhing? Es kam deshalb sehr rasch zu Zwistigkeiten und kriegerischen Kämpfen, bei welchen auf Seiten der lombardischen Städte unvergleichlich reichere Mittel zur Verfügung standen. Endlich hat gerade die unmittelbare und fast ständige Nachbarschaft zwischen Kaiser und Papst wesentlich zur Verschärfung der persönlichen Gegensätze zwischen beiden beitragen müssen, die für die kaiserliche Familie in einer Zeit, die von dem Gifthauch des Kapitalismus schon durchweht war, um so gefährlicher wurden, als seit Innocenz III. (1198—1216) es dem Papsttum bald gelingen sollte, der ganzen Christenheit eine päpstliche Geldsteuer aufzuerlegen. Mit Hilfe dieser Steuereinnahmen konnte der Papst im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts in einem Jahre über 16 Millionen Mark verfügen, welche Summe sich durch Ablaßpredigten und Schuldaufnahmen noch wesentlich erhöhen ließ. Das Jahreseinkommen Kaiser Friedrich II. (1215—1250) aus seinem Königreich Sizilien, das den weitaus wertvollsten Teil seiner Einnahmen ausmachte, wird auf nicht ganz 1 1⁄2 Millionen Mark angegeben. Konnte es bei einer solchen Verteilung der materiellen Machtmittel zweifelhaft sein, welcher von beiden Gegnern der völligen Vernichtung preisgegeben war?

Die Gegenkönige Philipp von Schwaben und Otto IV. (1198—1215) überboten sich gegenseitig in bedenklichen Verschenkungen aus dem Reichsgute. Friedrich II., (1215—1250) wurde in Deutschland erst anerkannt, als er sich zu Opfern entschlossen hatte, die den Territorialherren, den geistlichen Fürsten und der Kurie Teile der ehemaligen Kaisermacht sicherten. Friedrichs Sohn Konrad IV. (1250—1254) verpfändete den letzten Buchseite 162 Rest der Hoheitsrechte des Reiches für ein kleines Heer, mit dem er nach Italien ging, um dort mit seinem Bruder Manfred für Erhaltung des sizilianischen Erbreichs zu kämpfen. Am 29. Oktober 1268 fiel auf dem alten Markt in Neapel das Haupt Konradins des letzten Sprößlings des schwäbischen Kaiserhauses der Hohenstaufen unter dem Beile des Henkers. Es war die kaiserlose die schreckliche Zeit (1254—1273). Fast alle Fürsten, Adelige und Städte suchten sich im deutschen Reiche „reichsunmittelbar“ d. h. möglichst selbstständig zu machen. Dem Ausverkauf des Reichsgrundbesitzes und der Reichshoheiten war der Bankerott der lehenstaatlichen Kaiserkrone mit der Vernichtung der kaiserlichen Familie gefolgt. Damit schließt die eigentliche Epoche des Lehensstaates.

§ 46. Mit dem Niedergang der Hohenstaufen war der Charakter der deutschen Kaiser und der deutschen Kaiserkrone ein völlig anderer geworden. Die Reichsfürsten sahen sich in ihrer Entwickelung zur vollen Souveränität auf Kosten der Kaiserwürde soweit vorgeschritten, daß es zunächst keinem von ihnen nach der Stellung des ziemlich ausgeraubten Reichsoberhauptes gelüstete. Der Kaiserthron wurde deshalb für „arme“ Reichsgrafen frei (Rudolf von Habsburg 1273 bis 1291, Adolf von Nassau 1292 bis 1298, Heinrich von Luxemburg 1308 bis 1313) nachdem diese Würde vorher sogar an Ausländer meistbietend vergeben worden war (Interregnum 1254 bis 1273). Erst als die Geschichte dieser Reichsgrafen gezeigt hatte, daß der deutsche Kaiser noch im Stande sei, durch Vergebung frei werdender Reichslehen an Mitglieder seines Hauses und durch eine kluge Heiratspolitik sich eine imponierende „Hausmacht“ zu schaffen, um auf diesem Wege, wenn auch nicht Kaiser im lehensstaatlichen Sinne, so doch der Erste unter den Reichsfürsten zu werden, interessierten sich auch die Reichsfürsten wieder mehr für die Kaisercarriere. Die ursprüngliche Universalität der lehensstaaatlichen Kaiseridee hatte sehr realen Erscheinungen gegenüber aufgehört, noch „zeitgemäß“ zu sein. Die Einheit des christlichen Abendlandes unter dem weltlichen Schwerte des Kaisers war einer Vielheit nationaler und territorialer Staaten gewichen. Um das heilige römische Reich deutscher Nation herum hatten sich jetzt allmählich in Europa die Königreiche Frankreich, Spanien, England, Norwegen, Schweden, Dänemark, Polen, das Großfürstentum Buchseite 164 Littauen mit den Königreichen Neapel, Sizilien und Sardinien, dem Kirchenstaate und der Republik Venedig in Italien als durchaus selbständige Staaten gruppiert. Wenn im XVI. Jahrhundert unter Kaiser Karl V. und seinen Nachfolgern wieder Weltherrschaftspläne deutlich genug hervortreten konnten, so handelte es sich um politische Bestrebungen, die auf dem Geldreichtum und den weltweiten Handelsbeziehungen der Untertanen beruhten, es handelte sich um Erscheinungen der Geldwirtschaft und des Kapitalismus, nicht mehr um Anschauungen die dem Lehensstaate und dessen Ideenwelt eigen waren. Folgerichtig erklärte deshalb der Kurverein zu Rhense 1338, daß der deutsche Kaiser ohne Beteiligung des Papstes, durch einfache Majorität der deutschen Kurfürsten gewählt werde, wie schon seit 1179 die Papstwahl ausschließlich den Kardinälen vorbehalten blieb. Der letzte in Rom gekrönte deutsche Kaiser war Friedrich III. (1440 bis 1493). Seit Ferdinand I. (1556 bis 1564) erfolgte die Krönung von Kaiser und König in Frankfurt am Main. Die Gemeinschaft des geistlichen und weltlichen Schwertes, deren Trennung schon mit der Neuordnung der Papstwahl von 1179 eingeleitet wurde, fand so auch in dem rein zeremoniellen Vorgange der Kaiserkrönung keinen Ausdruck mehr.

Das Geld war seit dem XI., XII. und XIII. Jahrhundert als meistbestimmender, bald als fast allein bestimmender Faktor in die Geschichte des christlichen Abendlandes eingetreten. Seine Macht hat nicht nur das lehensstaatliche Kaisertum vernichtet, sie hat auch die Ausbildung der vielen nationalen und territorialen Staaten wesentlich begünstigt, das Lehensheer der ritterlichen Vasallen überflüssig werden lassen und in die Verhältnisse der hörigen dienstpflichtigen Bauern zunächst bessernd eingegriffen, um später zumeist ihre Lage wesentlich zu verBuchseite 165schlechtern. Weil jedoch in dieser damit eingeleiteten langen Reihe gewaltiger Revolutionen die mehr chronologische Betrachtungsweise nur zu sehr gewohnt ist, die Ereignisse als Verdienst oder Schuld einzelner Personen aufzufassen, wird jede objektivere Geschichtsauffassung gezwungen sein, die großen entwickelungsgeschichtlichen Tatsachen in ihrem inneren logischen Zusammenhange mit dem großen Gegensatze zwischen Land und Geld zur Darstellung zu bringen.

§ 47. Die spezifische Verfassung des Lehensstaates ist die Summe jener Konsequenzen, welche sich aus der Tatsache ergeben, daß ein Volk auf der Basis seines Landgebietes sich einheitlich organisiert. Nur der Landbesitz gilt als „echtes Eigen“. Jedes Recht an Grund und Boden muß sich direkt oder indirekt auf eine Verleihung durch den König bezw. Kaiser als Repräsentanten der Gesamtheit zurückführen. Nach dieser Verleihung gliederten sich die Heerschilder, denen das übrige Volk in Diensten und Arbeiten auf dem Boden untergeordnet war. Auf der alleinigen Organisationsbasis des unvermehrbaren und unbeweglichen Grundbesitzes war für Staat und Gesellschaft nur eine ständische Gliederung möglich, wobei ein Stand dem anderen diente, eine Autorität die andere stützte und die notwendigen Naturalleistungen unfreie Arbeitsverhältnisse schufen. Weil aber der mittelalterliche Lehensstaat aufs Engste mit der römischen Kirche verflochten war, zeigten alle seine Glieder eine charakteristische Verschmelzung von Kirche und Staat.

Trotzdem war in der germanischen Geschichte früh schon das Geld nicht unbekannt geblieben. Römische und später syrische und jüdische Händler durchzogen das Land, um den Bernstein an der Küste der Ostsee, frisische Tücher, kostbare Felle usw. aufzukaufen. Karl dar Große, welcher die römische Münzordnung Buchseite 166 beibehalten hatte, erließ im Jahre 806 eine Verordnung an die Königsboten, in welcher der Aufkauf von Getreide und Wein in Zeiten der Not zum Zwecke des Wiederverkaufs mit entsprechendem Gewinn als Wucher bei strengen Strafen verboten wurde. Also muß es schon damals Spekulanten und ein spekulatives Kapital im Lande gegeben haben. Die Königsboten Karls des Großen versuchte man zu bestechen mit arabischen Goldmünzen, orientalischen Mänteln, cordovanischem Leder, antiken Vasen usw. Produkte, deren Vorhandensein im Reiche Karl des Großen das Bestehen internationaler Handelsbeziehungen zur Voraussetzung hatte. Auch das Karolingerreich vereinnahmte gelegentlich bedeutende Mengen edlen Metalles. Die Eroberung des großen Ringwalles zwischen Donau und Theiß im Jahre 796 hatte einen unermeßlichen Schatz, die vieljährige Kriegsbeute der Avaren aus dem Raube der Völkerwanderung, in die Hände der Franken fallen fassen. Karl der Große konnte deshalb seine Gefolgsmannen nicht nur mit ausgedehnten Grundherrschaften, sondern auch mit Silber und Gold beschenken. So kann es denn nicht überraschen, daß gelegentlich eines Römerzuges eben dieses Gefolge von einem venetianischen Händler in Pavia viele und kostbare orientalische Prunkgewänder kaufte. Neben dem König und seinen Grafen verfügten damals die Bistümer und Abteien zum Teil über reiche Edelmetallschätze, welche im X. und XI. Jahrhundert gegen entsprechende Sicherheit zu billigem Zinse ausgeliehen wurden. Mußten doch auch die Kirchen nicht nur ihre kostbaren Reliquien, sondern auch ihre kirchlichen Prunkgewänder durch Vermittelung des Handels aus dem Orient beziehen. Ja selbst der alte kaiserliche Krönungsmantel war von kunstfertigen arabischen Händen gebildet worden. In den italienischen HandelsBuchseite 167städten, in Südfrankreich, wie in Flandern war auch während der Völkerwanderung der Handelsverkehr nicht vollständig ins Stocken geraten. Das Geld und der mobile Besitz waren also immer da, aber in so kleinen Mengen, daß sie im Leben des Volkes keine hervortretende Rolle spielen konnten.

§ 48. Auch das hat die Zeit geändert. In Deutschland war seit dem XI. Jahrhundert für Zins- und Giltigkeiten die alternative Geldzahlung zugelassen. Seit dem XII. Jahrhundert finden wir eine Verallgemeinerung der Schatzung d.h. der direkten Abgabe der nicht hofhörigen Leute an den Territorialherrn in Geld. Seit dem XIII. Jahrhundert ist der städtische Geldumlauf gesichert. Seit dem XIV. Jahrhundert dringt das Geld auch in die ländlichen Verhältnisse ein. Mit dem XVI. Jahrhundert beherrscht die Geldwirtschaft alle Verhältnisse.

Das entscheidende Ereignis in dieser Entwickelung bilden die Kreuzzüge (1096 bis 1291). Schon vor Beginn derselben hatten namentlich die italienischen und französisch – burgundischen Handelsstädte einen lebhaften Verkehr mit dem kapitalistisch hoch entwickelten Handel des islamischen Weltreichs unterhalten. Bei dem fortschreitenden Verfall dieses Weltreiches verschärfte sich dann nicht nur die schlechte Behandlung der christlichen Händler wie der Pilger auf der Reise nach Palästina, es steigerten sich auch die Aussichten auf Erfolg im Falle eines kriegerischen Angriffs des christlichen Abendlandes gegen das islamische Reichsgebiet. Schon waren die Waffen der christlichen Reiche auf der pyrenäischen Halbinsel gegen die Mauren, die der Genueser, Pisaner und Normannen gegen arabische Teilherrscher im Mittelmeere siegreich vorgedrungen. Die kirchliche Reformbewegung Buchseite 168 hatte das religiöse Empfinden der Völker des christlichen Abendlandes wesentlich gesteigert. Neben dem Verlangen, die heiligen Stätten Jerusalems aus den Händen der Ungläubigen zu befreien, wirkten partielle Hungersnöte (1095 und 1145/47), die Aussicht auf maritime Eroberungen im Mittelmeere, auf die im Orient möglichen Gewinne zusammen, um unter Führung des Papsttums, die italienischen Handelsstädte mit den normannischen Eroberern Süditaliens und den frommen Kreuzzugsrittern den Kampf um das heilige Grab mit dem Islam beginnen zu lassen.

§ 49. Es ist wichtig, die wirtschaftspolitischen Wirkungen der Kreuzzüge auf den verschiedenen Etappen ihrer Bewegung zu beobachten.

Von Hause aus waren in den ersten Kreuzzügen die Ausrüstungskosten den Privatmitteln der Kontingentsherren und ihrer Vasallen überlassen. Aber auch auf den Durchzugslanden: Italien, Oesterreich, Ungarn, byzantinisches Reich, mußten sich diese Krieger auf eigene Rechnung verpflegen. Wo in Palästina die Kreuzfahrer auf die Zufuhr von Lebensmitteln durch die italienischen Handelsstaaten angewiesen waren, weil in den Wüsten keine Lebensmittel erbeutet werden konnten, mußten die Kämpfer ums heilige Grab abermals in ihre eigene Tasche greifen. Die Vorbereitungen eines Kreuzzuges stellten deshalb ganz außergewöhnliche Ansprüche an den Geldvorrat der betreffenden Länder. Was an edlem Metall irgendwie in der Familie, bei Freunden und Bekannten aufgetrieben werden konnte, wurde den Kreuzfahrern mitgegeben. Da diese Hilfsquellen nur zu regelmäßig nicht ausreichten, griff man zu dem Mittel der Schuldaufnahme. Die Edelmetallvorräte der bisherigen Geldgeber: der Bistümer und Abteien versagten rasch. Wo ein Zug von Kreuzfahrern die Heimat verlassen hatte, Buchseite 169 war mit ihm auch fast alles Bargeld aus dem Lande verschwunden. Wer konnte in dieser allgemeinen Geldnotlage noch helfen? Nur die Juden. Sie hatten einen guten Teil ihres mobilen Vermögens selbst durch die Stürme der Völkerwanderung zu retten gewußt. Ihre Stellung war schon im Frankenreich keine ungünstige. Karl der Große bediente sich eines Juden als Gesandten für sein Reich, um mit dem Chalifen in Bagdad Handelsbeziehungen anzubahnen. Jetzt bot man den Juden im Falle ihrer Niederlassung eine Reihe wichtiger Privilegien. Während den Christen das Zinsnehmen für ein Darlehen im allgemeinen als Wucher verboten war, sicherte man nun den Juden die Handelsfreiheit und das Recht zu, gegen Zinsen, oder wie man damals zu sagen pflegte gegen „Judenschaden“, Geld zu leihen. Sie erhielten ihre eigene Gerichtsbarkeit, das Recht des Sklavenhandels, sie durften Christen als Ammen und Knechte verwenden u.s.w. Der übliche Judenschaden scheint damals sich zwischen 40 und 50% pro Jahr bewegt zu haben. Es werden aber auch Judenzinsen bis zu 174% und mehr berichtet. Die Darlehen gewährten sie gegen Verpfändung mobiler und immobiler Güter. Für Grundbesitzungen wurde der Verpfändungsvertrag in die Form eines bedingten Kaufvertrages gekleidet. Wenn der Schuldner den vereinbarten Betrag zu dem festgesetzten Termine nicht leisten konnte, war der Gläubiger Eigentümer des betreffenden Landes. So kam es nach Beginn der Kreuzzüge innerhalb der Bevölkerung rasch zu einer ungeheueren Vermögensverschiebung durch Vermittlung des Geldes. Der Handel blühte hinter den Kreuzzugsheeren auf. Den Juden waren die alten Handelswege nach dem Orient wie nach dem Herzen von Asien längst bekannt. Bald gehörten den Geldgebern eine Reihe der schönsten Besitzungen des Adels, ganze Dörfer Buchseite 170 und fast ganze Städte. Die Judenverfolgungen hatten schon mit dem ersten Kreuzzuge begonnen, meist ausgehend von den armen Pilgern, welche meinten, zur Plünderung der Juden ein Recht zu haben, weil sie die älteren Feinde des Christentumes und die Mörder des Heilandes seien. Die bald immer mehr hervortretenden gewaltigen Vermögensverschiebungen gaben dieser antisemitischen Bewegung immer neue Nahrung. Die Landesherren und Bischöfe schützten nicht überall die Juden gegen die Ausraubung durch die aufgeregte Volksmasse. Häufig teilten sich die Landesherren und Städte in den Ertrag der nach bestimmten Rechtsnormen durchgeführten „Expropriation der Expropriateure“. Außerdem wurde durch päpstliche Bulle der Kreuzfahrer von der Pflicht entbunden, während der Dauer seiner Abwesenheit Schuldzinsen zu entrichten und die Eröffnung der Exekutionsverfahren gegen Kreuzfahrergut innerhalb dieser Frist verboten.

Aber — man konnte die gewerbsmäßigen Geldleiher und Handelstreibenden nicht mehr entbehren. Bald wurden deshalb den Juden von neuem ihre früheren Privilegien bestätigt. Der Reichtum in ihrer Hand nahm von neuem zu. Darauf folgte ihre abermalige Enteignung. Und so ging das Spiel der Kräfte weiter, bis die Landesherren die Juden unter ihren besonderen Schutz nahmen, sie damit zu ihren Leibeigenen machten, um allein das Recht zu üben, das in den Händen und Taschen der Juden sich ansammelnde Vermögen von Zeit zu Zeit auszuschröpfen. In Deutschland sind so unter Kaiser Konrad III. (1138—1152) die Juden zu „kaiserlichen Kammerknechten“ (servi camerae) geworden. Weil aber auch damit die Rechtsauffassung bestehen blieb, daß den Juden jederzeit ihr Vermögen genommen werden könne und außerdem bald durch das Auftreten christlicher Buchseite 171 Banquiers und christlicher Kaufleute die Stimmung gegen die Juden sich noch verschärfte, begann mit dem XV. Jahrhundert die Wanderung der Juden von Mitteleuropa nach dem Osten, nach Polen und Rußland. Nur die kapitalistisch hoch entwickelten Länder wie Holland und England sahen im XVI. und XVII. Jahrhundert schon gerne die Zuwanderung der Juden mit ihrem Geldreichtume. Hier begann auch zuerst ihre politische Gleichstellung mit der einheimischen christlichen Bevölkerung.

Wo, wie in den italienischen Städten, die gewerbsmäßigen Kreditgeber von Anfang an Christen waren, kam es rasch zur Ausbildung einer neuen Aristokratie des Geldes, welche zur Beseitigung der lehensstaatlichen Verfassung in Oberitalien wesentlich beitrug und zu einem guten Teil an der weiteren Befestigung der Geldwirtschaft und des Kapitalismus in Europa mitgewirkt hat.

§ 50. Während sich diese Vorgänge in der Heimat der Kreuzzugsheere abspielten, können wir auf dem Wege bis nach Palästina folgende Begünstigungen des Geldes und der Geldwirtschaft wahrnehmen.

Die ungeheure Steigerung des Personenverkehrs durch das Mittelmeer nach Syrien und Palästina haben den Handelstädten in Italien und Südfrankreich, welche die Ueberfahrt besorgten, gewaltige Geldeinnahmen zugeführt. Dieser wesentlichen Zunahme des Personenverkehrs folgte ein nicht minder starkes Anwachsen des Warenverkehrs und notwendigerweise auch eine entsprechende Zunahme des internationalen Zahlungs- und Geldverkehrs. Schon der erste Kreuzzug entpuppte sich in Syrien und Palästina als ein Beutezug der land- und geldhungrigen Machthaber. Im dritten Kreuzzuge ließ Richard Löwenherz von England nach der Eroberung von Akkon (1191) 2000 Gefangene niederBuchseite 172metzeln, weil Saladin nicht ohne weiteres das auf 200'000 Goldstücke angesetzte Lösegeld für sie bezahlte, wie bei Abschluß der Kapitulation angenommen wurde. Dann ist das Kreuzherr über diese Leichen hergefallen, um in deren Eingeweiden nach Gold zu suchen, das die Gefangenen möglicherweise verschluckt haben könnten. Bei seinem Weggange aus Palästina hat derselbe Richard Löwenherz islamische Gefangene gegen Lösegeld an Saladin freigegeben, dafür aber nicht wie verabredet war, christliche Gefangene ausgelöst, sondern dieses Geld für sich behalten und jene ihrem Schicksal überlassen. Im Lager der Kreuzheere hatte die leidenschaftliche Spielwut um Geld bald so bedenkliche Zustände herbeigeführt, daß die Lagerstatuten bestimmten: Ritter und Kleriker dürfen innerhalb 24 Stunden nur 1  1⁄2 Pfund Silber (etwa 150 Mark) verspielen, wenn aber Erzbischöfe oder Fürsten in der Spielergesellschaft anwesend waren, bestanden für das Geldverspielen keine Schranken. Solche Bestimmungen sind um so beachtenswerter, als die Kreuzfahrer im Orient für jede aufgenommene Schuldsumme Wucherzinsen zu entrichten hatten. Selbst die geistlichen Ritterorden, wie die Templer und Johanniter, welche nach dem mönchischen Gelübde der Keuschheit, des Gehorsams und der Armut zum Kampf gegen die Ungläubigen gegründet waren, wurden in solchen Zeiten rasch reiche und mächtige Handelsleute, die dem Parteizwist und dem Konkurrenzneid soweit verfallen konnten, daß in Akkon bald die Tempelherren alle anwesenden Johanniter, bald die Johanniter alle anwesenden Templer überfielen und erschlugen. Es kann deshalb kaum überraschen, daß in der gleichen Zeit die italienischen Handelsstaaten Genua, Pisa und Venedig auf orientalischem Gebiete sich gegenseitig blutige Schlachten lieferten und sich gegenseitig dem gemeinsamen Feind verrieten. Bis Buchseite 173 zu solchem Maße hatten sich während der Kreuzzüge die kapitalistischen Leidenschaften der Völker des christlichen Abendlandes an dem glänzenden Reichtum des Orients entzündet.

§ 51. Trotz dieser scharf hervorstechenden Konflikte der kapitalistischen Entwickelung vollzog sich in Mitteleuropa die Einführung der Geldwirtschaft so allmählich, so ganz selbstverständlich, in organischer Weiterbildung der bestehenden Verhältnisse, daß dem Quellenforscher für die wichtigsten Vorgänge keinerlei Ueberlieferungen zu Gebote stehen.

Die heimische Wiege der Geldwirtschaft ist die Stadt mit ihren Bürgern im Gegensatz zum Land mit seinen Bauern und Rittern als den historischen Vertretern der Naturalwirtschaft. Im XI. Jahrhundert hören wir auf einmal von deutschen Städten und deutschen Städtebürgern. Im XII. und XIII. Jahrhundert mehren sich die Städtegründungen. Im deutschen Nordosten allein hat man für diese Zeit 350 Städte gezählt. Woher kam die Stadt und die Stadtfreiheit im Gegensatze zur ständigen Gebundenheit des Landes innerhalb der lehensstaatlichen Verfassung?

In Italien und Südfrankreich ist es einzelnen alten Städten wie Amalfi, Venedig, Marseille, Toulouse gelungen, ihre selbständige Magistratsverfassung aus der Römerzeit durch die Wirren der Völkerwanderung zu erhalten. Bei der tiefgehenden Abneigung der Germanen gegen Städte, ist selbst für Köln, Trier, Mainz, Metz, Straßburg, Augsburg u.s.w. unter der Herrschaft der Franken die Verfassung der Landgemeinden zur Einführung gekommen. Ein Graf oder Bischof herrschte über die Masse der unfreien Leute, die ihm zu Diensten und Reichnissen verpflichtet waren. Wie ist daraus die Stadtfreiheit entstanden? Unsere historischen Quellen Buchseite 174 schweigen darüber. Aber dieser ganze tiefgreifende Umbildungsprozeß ist trotzdem nationalökonomisch unschwer zu erklären.

Durch die Bildung der großen Grundherrschaften war eine erhöhte Konzentration wirtschaftlicher Güter in einer Hand gegeben, welche naturgemäß einen quantitativ gesteigerten Konsum des Grundherrn veranlaßte. Dieser größere Vorrat an Verbrauchsgütern konnte durch Austausch gegen andere Güter leicht in eine qualitative Verbesserung des Konsums sich verwandeln. Es ist bekannt, welche Anregungen daraus die Anfänge des Handels geschöpft haben. Mit dieser Verfeinerung und Vervielfältigung der Verbrauchs-Bedürfnisse des Grundherren kam es notwendigerweise auch zu einer höheren Wertschätzung der bis dahin zumeist unfreien gewerblichen Arbeit. Der naturgemäße Ausdruck hierfür war die, im Verhältnis zur Landarbeit höhere Entlohnung der besseren gewerblichen Arbeit. Da aber die landesübliche Entlohnung zum Lebensunterhalte ausreichte, war mit dieser höheren Entlohnung die Möglichkeit der Ansammlung eines mobilen Vermögens in der Hand dieser noch unfreien Arbeiter gegeben. Und an diese Tatsache knüpfen sich eine Reihe wichtiger Konsequenzen, die zu einer Zertrümmerung der Lehensverfassung zunächst in der Stadt führen mußten.

§ 52. Was die bäuerliche Arbeit als Ertrag der Felder erntet, das verdankt sie vor allem in sichtlicher Weise dem Segen Gottes, wie er sich über das unvermehrbare und unbewegliche Land alljährlich ausgießt. Dem Bauern ist deshalb die Achtung vor der Autorität kirchlicher und weltlicher Obrigkeit bis zu dem Maße zur zweiten Natur geworden, daß selbst das politische Programm der Bauernkriege diese Grenze innehielt. Nicht Buchseite 175 minder ist aus dem gleichen Grunde dem Bauern die ständische Gliederung der Gesellschaft und seine Unterordnung von Hause aus verständlich. Der Händler erblickt ebenso wie der gewerbliche Arbeiter in den ökonomischen Resultaten seiner Bemühungen vor allem das Resultat seiner Energie, seiner Klugheit und Geschicklichkeit. Sein beliebig vermehrbares, bewegliches Vermögen ist deshalb gewissermaßen die materielle Fortsetzung seiner eigenen Persönlichkeit. Ein wesentlich gesteigertes Selbstbewußtsein ist die natürliche Folge. Damit tritt an Stelle der Achtung vor der Autorität eine schärfere Kritik der obrigkeitlichen Handlungen, an Stelle einer fast selbstverständlichen Unterordnung das lebendige Bedürfnis nach Freiheit, Gleichheit und Anteilnahme an der obrigkeitlichen Gewalt, an Stelle einer konservativen Vorliebe für Erhaltung des Bestehenden die entschiedene Neigung für Annahme zweckmäßiger Neuerungen. Und während der Bauer glaubt, mit der gelegentlich guten Ernte wie mit einem Mißwachs des Jahres sich bescheiden zu müssen, wird die Gewinnstgröße der händlerischen und gewerblichen Tätigkeit bald nur eine Frage der besseren Organisation des Unternehmens, die mit dem wachsenden Verkehr und mit der stetig wachsenden Gewinnsucht in der einen oder der anderen Form der Weltherrschaft zustrebt.

All diese in der Ausbildung des mobilen Vermögens und in der Entstehung der Geldwirtschaft enthaltenen Evolutionsideen kamen in Fluß, sobald der einfache praktische Fall eintrat, daß der Grundherr von seinen Untergebenen ein Darlehen aufnahm. Anlaß hierzu bot sich gerade damals genügend häufig. Sobald jedoch ein solches Geschäft abgeschlossen war, verpflichtete sich der Grundherr zu bestimmten Leistungen an seine Buchseite 176 Untergebenen. Das aber bedeutete den Umsturz der lehensstaatlichen Ordnung. Denn wer im Lehensstaate Reichnisse empfängt, ist der Herr, wer sie leistet, der Knecht. Dieser Darlehensvertrag machte den Knecht zum Herren, den Herrn zum Knechte. So war denn leicht begreiflich der Grundherr jetzt damit einverstanden, daß das Stadtgebiet von dem System des Lehensstaates ausgenommen wurde. Die Stadtluft machte frei! Kein Zinshuhn flog über die Stadtmauer! Bald war die hofrechtliche Vergangenheit der Stadt vergessen. Der Gegensatz zwischen Stadtrecht und Lehensrecht, zwischen Geldwirtschaft und Naturalwirtschaft, zwischen Stadt und Land war geschaffen. Gewiß verdankt unsere moderne Kultur der Entstehung der Geldwirtschaft und der Städte außerordentlich viel. Hier sind die herrlichen romanischen und gotischen Dombauten und Rathäuser im XIII. bis XV. Jahrhundert entstanden, denen dann Renaissancebauten folgten. Die wissenschaftlichen Studien, deren Aufleben die Völker des christlichen Abendlandes ihren Beziehungen zu den Arabern und Byzantinern verdankten, fanden vor allem in den Städten ihre Pflege. Die Sonne der neuen Zeit mit ihren wichtigen Erfindungen und Entdeckungen war zunächst in den Städten aufgegangen und von dem geldwirtschaftlichen Interesse getragen worden. Erst der wesentlich gesteigerte Verkehr hat eine rationellere Getreideversorgungspolitik ermöglicht. Die Periode der Wanderung in Hungersjahren wurde durch die Errichtung von Getreidemagazinen — in Deutschland durch Kaiser Karl IV. vom Jahre 1362 — und durch wesentliche Erweiterung der Getreidezufuhrgebiete abgeschlossen. Aber der gesteigerte internationale Verkehr, wie er durch die Kreuzzüge eingeleitet wurde, brachte auch eine Reihe furchtbarer Volksseuchen aus dem Orient nach Europa. Und Buchseite 177 der gleichen geldwirtschaftlichen Wurzel entstammen all jene großen Konflikte und Krisen, welche der Geschichte der Völker des christlichen Abendlandes angehören und als Reformation, Bauernkriege, politische und soziale Revolution, Niedergang der Völker usw. in diesem Zusammenhange als organische Entwickelung erkannt und betrachtet werden sollen.

§ 53. Große weltweite Organisationen, wie die Kirche im Mittelalter, können zur Erfüllung ihrer Aufgaben des Reichtums nicht entbehren. Einsichtsvolle Schenkungen haben deshalb früh schon dazu beigetragen, die römische Kirche wohlhabend zu machen. Zur Zeit des Papstes Gregors des Großen (590 bis 604) umfaßte ihr Grundbesitz 85 Quadratmeilen, die als Streubesitz auf Italien, Gallien, Illyrien, Dalmatien, Afrika und Kleinasien sich verteilten. Dem folgten weitere große Schenkungen unter den Langobarden- und Frankenkönigen. Zu Beginn der Kreuzzüge schätzte man den Grundbesitz der Kirche in Frankreich auf 1⁄3, in England auf 1⁄2, in Deutschland auf 2⁄5 des ganzen Landes. Mit Aufkommen des geldwirtschaftlichen Verkehrs wuchs auch in Rom das Bedürfnis nach Geldeinnahmen. So ist im IX. Jahrhundert in England der Peterspfennig entstanden und nach und nach in den nordischen Reichen Dänemark, Schweden und Norwegen, in Polen und in den Gebieten des deutschen Ordens eingeführt worden.

Da kamen die Konflikte mit den Muslimen.

Selbst Rom wurde schon 846 von plündernden arabischen Horden heimgesucht. Das islamische Prinzip des auf Eroberung ausziehenden bewaffneten Propheten machte sich in der römischen Kirche unangenehm bemerkbar. In den Kreuzzügen tritt dann auch die christliche Kirche ihren Feinden und Widersachern mit Waffen entgegen. Und dabei zeigte es sich bald, daß Kriege durch Geld unterhalten werden müssen. Die erdrückende Last der Selbstausrüstung ließ den Kreuzzugseifer der Ritter rasch erlahmen. Niemand konnte sich der Erkenntnis verschließen, daß es ein Unsinn sei, vom Krieger, der für Buchseite 179 alle kämpft, auch noch die alleinige Tragung der Kriegskosten zu verlangen. So versuchten denn vor dem 2. und 3. Kreuzzuge zunächst England und Frankreich durch einen allgemeinen Steuerzehnt, der sich auch auf den Kirchenbesitz erstreckte, die erforderlichen Geldmittel aufzubringen. Das führte zu scharfen Protesten auf Seiten der Geistlichkeit, welche sehr entschieden die Auffassung vertrat, daß nicht der Staat, sondern nur die Kirche das Bezehntungsrecht für Kirchengüter besitze. Diese Streitfrage wurde dem Papst zur Entscheidung vorgelegt. Die daran sich knüpfenden Erwägungen führten im Jahre 1199 zur Einführung der päpstlichen Kreuzzugssteuern durch Innocenz III., durch welche das Prinzip der Steuerfreiheit der Kirchengüter und der Kleriker der weltlichen Macht gegenüber gewahrt blieb.

Außerordentlich begünstigt wurde diese päpstliche Entscheidung durch jene eigenartigen Wandlungen, welche die Lehre vom Kirchengut im Laufe der Jahrhunderte durchgemacht hatte. Ursprünglich war das Kirchengut ein angesammelter Gütervorrat, welcher zum Teil für Unterhalt der Kirche, des Lichtes u.s.w. bestimmt war, im Wesentlichen aber dazu diente, um im Bedarfsfalle für die Armen verwendet zu werden. Man hat deshalb das Kirchengut unter den ersten Christen als „Armengut“ bezeichnet. Dann war mit der Annäherung der christlichen Kirche an den römischen Staat Kirchengut „Bischofsgut“ geworden. Unter der Frankenherrschaft war das Kirchengut zwar Eigentum der Kirche, aber der fränkische König hatte das Verfügungsrecht darüber. Der Niedergang der Karolinger wandelte das Kirchengut in Bayern z.B. in „Herzogsgut“. Dann wurde das Kirchengut als „Reichsgut“ betrachtet, bis die Kirchenreformer die Theorie aufstellten: Kirchengut sei „Christi Gut“, Buchseite 180 eine Auffassung, welche auch von Thomas von Aquin geteilt wurde. Die zu Ende des XIII. Jahrhunderts verkündete Lehre sah in dem Kirchengut „Papstgut“, welcher Auffassung die Theorie von dem Gesamteigentum der Kirche als einheitliche Institution folgte. Die drei zuletzt genannten Theorien begünstigten die Besteuerung der Kirchengüter durch den Papst gleich sehr. Denn nach der Theorie der göttlichen Proprietät besteuerte der Papst als Vertreter Gottes, nach der Papaltheorie als Eigentümer, nach der Gesamtkirchentheorie als Vertreter dieser Gesamtkirche.

§ 54. Im Allgemeinen charakterisierten sich die päpstlichen Kreuzzugssteuern als kombinierte Vermögens- und Einkommensteuer, insofern vom Grundbesitz ein entsprechender Prozentsatz des Einkommens, vom mobilen Vermögen ein entsprechender Prozentsatz des Wertes erhoben wurde und zwar auf Grund eines besonderen Steuerkatasters. Die Steuern wurden nicht regelmäßig, sondern nach Bedarf, dann aber mehrere Jahre hintereinander erhoben. In der Einforderung wie in der Bemessung dieser Steuern war der Papst prinzipiell unbeschränkt und nicht einmal an die Verwendung der Einnahmen zu dem zuerst bekannt gegebenen Zwecke gebunden. Die Domherren und Patrone der Kirchengüter protestierten zwar gegen diese Rechtsauffassung und forderten die Zustimmung der Steuerträger für Besteuerung wie für Zweckänderung. Solange aber die weltliche Gewalt mit der Kurie einig war, wurde mit aller Strenge gegen nichtzahlende Geistliche mit Exkommunikation, Gefangennahme und Einziehung der Güter und Pfründen vorgegangen. Immerhin zeigten diese Vorgänge schon die Schwäche der ganzen Steuerorganisation.

Besonderes Interesse verdient noch die Zahlungsart dieser päpstlichen Steuern. Die verschiedenen Teile des Buchseite 181 christlichen Abendlandes waren wirtschaftspolitisch wenig gleichmäßig entwickelt. Namentlich in den nördlich gelegenen Ländern hatte die Geldwirtschaft kaum Eingang gefunden. Hier konnten die Steuern nur in Naturalien wie getrocknete Fische, Wolle, Getreide u.s.w. entrichtet werden. Andere Länder konnten zwar diese Abgaben in barer Münze zahlen, aber das Münzwesen war damals wenig geordnet, sehr ungleich und fast alle Münzen waren zu Soldzahlungen in Palästina, Aegypten oder Syrien unverwendbar. Die päpstliche Steuererhebung mußte deshalb all diese verschiedenartigen Steuerleistungen in eine für den damaligen internationalen Verkehr gangbare Münze umwandeln, um dann erst den Steuerertrag dem Papste zur Verfügung zu stellen. Zur Lösung dieser Aufgabe bediente sich die päpstliche Politik besonderer Kollektoren, welche den norditalienischen Kaufmannskreisen entnommen waren. Diese beauftragten Kaufleute übernahmen die Naturalien an Ort und Stelle zum Lokopreis für eigene Rechnung, um sie dann auf geeignet erscheinenden Märkten zu verwerten. Sie übernahmen die Zahlungen in den verschiedenen Landesmünzen nach dem Metallwert, um die Gesamtsumme dann in gangbaren Goldmünzen an jenen Plätzen zu hinterlegen, welche vom Papste namhaft gemacht wurden. Unter diesen sind London, Paris, Venedig an erster Stelle zu nennen. Zumeist gehörten diese päpstlichen Kollektoren der Wollzunft an. So hat der direkte geschäftliche Verkehr zwischen Italien und den nordischen Ländern Europas in Wolle und wollenen Tüchern sich außerordentlich belebt. Aber auch der Verkehr mit Geldanweisungen und Wechselbriefen ist erst durch diese päpstlichen Einrichtungen im christlichen Europa zur Einführung gekommen. Die Gewinnstchancen der Kollektoren waren bei diesen kompliBuchseite 182zierten Geschäften um so größer, je häufiger noch Kreditgeschäfte mit den Klerikern und kirchlichen Instituten damit verbunden waren. Wer den nach dem Steuerkataster eingeforderten Betrag nicht bezahlen konnte, ließ sich von den Kollektoren Vorschuß geben, wofür Kirchengut oder später fällig werdende Bezüge verpfändet wurden. Trotz der Wucherzinsen, welche in solchen Fällen die Kaufleute berechneten, fanden sie in der Beitreibung ihrer Ausstände volle Unterstützung von Seiten der päpstlichen Gewalt. Kleriker welche nicht zahlen konnten, wurden exkommuniziert, das verpfändete Kirchengut den Gläubigern ausgeliefert. Das Amt eines päpstlichen Steuereinnehmers bot deshalb vorzügliche Gelegenheiten, sich rasch zu bereichern. An Bewerbern um diese Stellen fehlte es nicht. Im XIII. Jahrhundert wurden diese pästlichen Kollektoren zunächst den Städten Piacenza, Asti, Cahors, dann Bologna und Siena entnommen, im XIII. Jahrhundert kamen die päpstlichen Geldgeschäfte in die Hand der florentiner Banken und namentlich in die der Medici. Der florentinische Goldgulden, welcher seit 1252 geprägt wurde, ist auf diesem Wege zur Weltmünze geworden. Seit dem letzten Viertel des XV. Jahrhunderts traten die Augsburger Fugger diese Erbschaft der Medici an, um sie bis zu ihrem Bankrott Mitte des XVI. Jahrhunderts zu behalten.

§ 55. Der finanzielle Ertrag der Kreuzzugssteuern war ein ganz außerordentlicher. Ihr Jahreserträgnis wird für das letzte Drittel des XIII. Jahrhunderts von Gottlob auf 20 Millionen Franken geschätzt. Die ordentlichen französischen Staatsrevenuen waren in dieser Zeit nach Abzug der Erhebungskosten 4'800'000 Franken. Der päpstliche Zehent aus Frankreich aber erreicht 5'280'000 Franken. Die päpstliche Steuereinnahme aus England wird auf 4 Millionen Franken angegeben. Das größte Privatvermögen innerhalb des christlichen Abendlandes war im Buchseite 183 XV. Jahrhundert das der Medici, welches für 1440 auf 5 Millionen Mark geschätzt wird. Der Reichtum der Fugger soll im Jahre 1546 40 Millionen Mark erreicht haben. Durch Ablaßpredigten und Anleihen konnten diese Geldeinnahmen des Papstes noch derart gesteigert werden, daß von Martin IV. (1281 — 1285) nach Gottlob berichtet wird, er habe in den 4 Jahren seines Pontificats die enorme Summe von 366 Millionen Mark für politische Zwecke aufgewendet. Das wären pro Jahr 91 1⁄2 Millionen Mark. Wenn auch diese Ziffer wesentlich zu hoch gegriffen sein mag, so bleiben doch die Päpste des XIII. Jahrhunderts durch ihr Besteuerungssystem die reichsten Herren der Christenheit.

Hand in Hand damit ging eine ungeheure Zunahme der politischen Macht der Päpste. Innocenz IV. (1243 bis 1254) kämpfte gegen Kaiser Friedrich II., unterstützte die deutschen Gegenkönige Heinrich Raspe und Wilhelm von Holland, wie den Kaiser Balduin im Osten, schenkte viele Millionen Ludwig dem Heiligen von Frankreich zu seinem Feldzug gegen Aegypten, ebenso den Königen von Aragonien und Kastilien zu ihren Kämpfen gegen die Mauren und schickt dem Könige von Norwegen reiche Subsidien zu dessen Eroberungszügen gegen die heidnischen Sambitten und Esthen. Fast alle Könige und Fürsten standen jetzt im Sold des Papstes und bemühten sich, aus seinen so wohl gefüllten Geldkisten einen möglichst großen Anteil zu erbitten. Es kann deshalb kaum überraschen, daß auf diese Weise die Päpste dem erstrebten Ziele der Universalmonarchie immer näher rückten. England, Schottland, Polen, Ungarn, Bulgarien, Aragonien und Sizilien waren päpstliche Lehen geworden und die deutsche Kaiserkrone wurde von Rom aus vergeben.

§ 56. Dennoch vermochte diese Politik des Geldreichtums und der politischen Macht für die Kirche Buchseite 184 keine dauernden Erfolge zu zeitigen. Es konnte nicht ausbleiben, daß damit Mißstände verschiedener Art sich verknüpften, welche kritisch denkende Männer um so leichter zu öffentlichen Anklagen veranlaßte, je weniger diese Zustände mit den Worten des Evangeliums in Einklang zu bringen waren. Die erste Reaktion dieser Art erwuchs aus der Pariser Theologenschule des Peter Abälard (1079—1142). Ihr am meisten hervorragender Schüler war Arnold aus Brescia in Italien. Er führte das Verderben der Kirche vornehmlich auf ihren Reichtum zurück. Abhilfe könne durch Beseitigung der Verweltlichung der Kirche und des Klerus und durch Rückkehr zum Christentum der Apostel erreicht werden. Er forderte deshalb Verzichtleistung der Kirche auf weltliche Macht und irdischen Besitz. Anfangs durch den Papst Cölestin II. begünstigt, bemächtigte sich Arnold dann selbst der politischen Macht in Rom und fand 1155 ein gewaltsames Ende. Aber auch der berühmte Kreuzzugsprediger Abt Bernhard von Clairvaux (1091—1153) erkannte die Gefahren des wachsenden Reichtums für die Kirche. Das Kloster Cluny war ihm schon zu wohlhabend geworden. Es war nicht nach seiner Meinung, daß die cluniacensische Kirchenreform von einer Befreiung der Kirche aus weltlichen Fesseln zu einer Verweltlichung der Kirche führte. Mit seinen Genossen gründete er in tiefer Waldeinsamkeit das Kloster Clairvaux in Burgund, und seinem Schüler, dem nachmaligen Papste Eugen III. (1145—1153) gab er bei Uebernahme seines hohen Amtes ernste Mahnungen gegen den Reichtum der Kirche mit auf den Weg. Im Jahre 1170 begann die Bewegung des Petrus Waldus, eines reichen Kaufmanns in Lyon, welcher seinen gesamten Besitz unter die Armen verteilte. Nach seiner Auffassung war die Kirche zu Grunde gerichtet worden durch die erlangte weltliche Herrschaft. Seine Buchseite 185 Tätigkeit war darauf gerichtet, durch Verbreitung der heiligen Schrift in Wort und Tat die Wiederherstellung der ursprünglichen Reinheit der Kirche bei freiwilliger Armut zu erreichen. Die Evangelien wurden in die Sprachen des Volkes übersetzt und den Laien in die Hand gegeben, welche auch predigen durften. Waldus fand namentlich unter den Woll- und Seidenwebern viel Anhänger. Die Waldenser Prediger, die zumeist Laien waren, durften nichts besitzen und waren zum fortwährenden Reisen und Predigen verpflichtet. Anfangs wollte sich die neue Gemeinde vom Papste nicht trennen. Das Bibellesen und die Laienpredigt brachten sie jedoch mit der Kirche in Konflikt. Sie wurden verfolgt und dadurch zerstreuten sich die Waldenser Weber über Frankreich bis nach Flandern, über Norditalien und Deutschland bis nach Böhmen, um überall unter der gewerblichen Bevölkerung der Städte ihre Lehren zu verbreiten.

§ 57. Trotz all dieser Zeichen der Zeit wurde die Kirche in der einmal begonnenen Entwickelung immer weiter gedrängt. Die Mißerfolge der Kreuzzugsbewegung führten im Jahre 1190 zur Einführung der päpstlichen Kreuzzugssteuern. Damit wuchs der Reichtum und die weltliche Macht der Kirche immer mehr, die damit in Verbindung stehenden Uebelstände wurden immer augenfälliger. Die erhofften Siege des Kreuzheeres blieben aus. Die Bewegung, welche gegen den Erbfeind der Christenheit mit dem begeisternden Rufe „Gott will es“ in Scene gesetzt, und als ein offizielles Unternehmen der kirchlichen und weltlichen Macht des christlichen Abendlandes mit ungeheuren Opfern fast zwei Jahrhunderte lang (1096 bis 1270) geführt wurde, ist kläglich gescheitert. Die meisten ursprünglich über die islamischen Araber verbreiteten Nachrichten erwiesen sich Buchseite 186 als unzutreffend. Wohl aber verfielen die Kreuzzugsstaaten rasch der Habgier und Sittenlosigkeit, sodaß Niemand von ihrer baldigen Vernichtung überrascht werden konnte. Eine solche Kette von Mißerfolgen der von Rom aus regierten christlichen Welt mußte die Autorität und das Ansehen der Kirche in weiten Volkskreisen ebenso tief erschüttern, als in unseren Tagen die Autorität der russischen Staatsverfassung durch die Mißerfolge den japanischen Heeren gegenüber. Fast überall tauchten im XIII. Jahrhundert in den gewerblichen und handelsreichen Städten neue Sekten auf, welche in dem Reichtum und in der Verweltlichung der Kirche die Ursachen aller Mißstände erblickten und die Rückkehr zu den Zuständen der apostolischen Kirche durch Säkularisierung der Kirchengüter zu Gunsten des Staates und der Gesellschaft forderten. Der römischen Kirche, welche dem Islam bereits den auf Eroberung ausziehenden bewaffneten Propheten nachgeahmt hatte, blieb nun folgerichtig nur übrig, auch den Ketzercode mit dem Ketzermeister und dem Inquisitor der Araber zu übernehmen. Von 1208 bis 1229 wüteten in Südfrankreich die Albingenserkriege, welche auf beiden Seiten den Verlust von Hunderttausenden gefordert und die schönsten Gegenden in der Provence und in Oberlanguedoc furchtbar verwüstet haben, um schließlich zu einem Gebietszuwachs für den König von Frankreich zu führen.

§ 58. Aber auch unter den besten, der Kirche treuen Söhnen wurde jetzt die Ueberzeugung erkennbar, daß sie in dem Reichtum und in der weltlichen Macht der Kirche eine schwere Schädigung des Christentums erblickten. Franz von Assisi verlangte von seinen Brüdern nicht nur den Verzicht auf persönlichen Besitz, sondern auch den Verzicht auf gemeinsamen Besitz und Dominikus Buchseite 187 suchte ihm darin zu folgen. Mit voller Begeisterung wurden allerwärts diese Priester der Bettelorden, die Franziskaner und Dominikaner, vom gläubigen Volke aufgenommen. Sechzig Jahre nach seiner Gründung (1210) zählte der Franziskanerorden rund 8000 Klöster mit über 200'000 Mönchen. Und doch sollten auch diesen idealen Gründungen die Versuchungen des Reichtums nicht erspart bleiben. Für die Dominikaner wurde durch Papst Martin V. 1425 das Ordensverbot, Güter zu erwerben, aufgehoben. Bald darauf sind die Dominikaner in dem Besitz reicher Pfründen. Für die Franziskaner hat Papst Nikolaus III. (1279) das Eigentum an dem zum Gebrauch notwendigen Dingen, nach der Lehre Christi über den Weg zur Vollkommenheit, der Kirche übertragen. In den Jahren 1297 und 1305 wurde Rom von einigen Franziskanern bekämpft als das Haupt der Fleisch gewordenen Kirche. Papst Johann XXII. verwarf die Auffassung, daß Christus und die Apostel weder persönlich, noch gemeinsam etwas besessen hätten. Der Franziskanergeneral Michael von Cesena protestierte und Johann XXII. antwortete mit dem Inquisitionsverfahren. Als dann auch die Klöster der Franziskaner vielfach reich wurden, hat sich dieser Orden in der Beobachtung des Armutsprinzips gespalten.

§ 59. Bevor noch die Reaktion im Volke gegen den Reichtum und die politische Macht der Kirche tiefere Wirkungen zeitigen konnte, kam es aus den gleichen Gründen zu einem ernsten Konflikt zwischen der geistlichen und weltlichen Gewalt. Die Politik der Kurie hat in ihrer Rivalität mit der Machtstellung der deutschen Kaiser schon vom XII. Jahrhundert ab die Loslösung der slavischen, ungarischen und nordischen Länder von der Organisation der deutschen Kirche bewirkt. Immer größer wurde die Zahl der selbständigen Nationen, Buchseite 188 welche sich unter wesentlicher Mithilfe der päpstlichen Politik aus der ursprünglichen Einheit des christlichen Abendlandes differenzierten. Man schien in Rom nach dem Grundsatz „teile und herrsche“ zu handeln und dabei jene Erfahrungen mit den Herzogsgewalten zur Zeit des Niederganges der Karolinger vergessen zu haben, welche lehrten, daß dieses politische Prinzip der Teilung nur dann ein richtiges ist, wenn die Teile nicht auch mächtig werden können. Im letzteren Falle bleibt die Verständigung mit Vielen weit schwieriger, als mit Einem.

Daß der Papst die Kirchensteuern einführte und erhob, damit waren alle Fürsten, einschließlich des Kaisers Friedrichs II., einverstanden. Die kirchliche Gewalt schien nach der damals herrschenden Ueberzeugung weitaus am besten befähigt, Geldeinnahmen aus dem Volke flüssig zu machen. Noch zu Anfang des XVI. Jahrhunderts vertraten Kaiser und Reich die Auffassung, daß am sichersten durch Ablaßpredigten die nötigen Geldmittel zur Verteidigung der Ostgrenze des deutschen Reiches aufgebracht würden. Die päpstlichen Kirchensteuern haben die spätere Einführung der Staatssteuern ganz wesentlich vorbereitet. Die anderen Fragen: ob der Papst dauernd allein über die Verwendung der Kirchensteuer-Erträge verfügen solle? oder ob die Könige in ihren Ländern zur Besteuerung des Kirchenvermögens berechtigt seien? wurden erst aktuell, als die Päpste diese Gelder nicht nur zur Bekämpfung des Islam, sondern bald häufiger noch zur Verfolgung ihrer anderen politischen Zwecke verwendeten. Dieser nicht mehr kirchliche Verwendungszweck trat im Kampfe gegen die Hohenstaufen so scharf hervor, daß Papst Innocenz IV. (1248—1254) erklären konnte: „Die Niederwerfung der Staufen in Italien und ihr Ersatz durch eine dem Papste freundliche Dynastie Buchseite 189 übertrifft alle Werke der Frömmigkeit.“ Als wichtigstes Werkzeug zur Vernichtung der Hohenstaufen fungierte in der Hand der Kurie das französische Königshaus. Die französischen Heere erhielten zu diesem Zwecke ungezählte Millionen aus der päpstlichen Kasse. Unter Clemens IV. wurden in den Jahren 1265/66 nicht nur die Erträge der Kirchensteuern ausgeschöpft und die kostbaren Kirchengefäße verkauft, es wurde auch für Schuldaufnahmen alles verpfändet, bis auf den St. Peter und den Lateran. Dem Papste blieben kaum mehr die Mittel, um seinen Haushalt zu bestreiten und klagend schrieb er an Karl von Anjou: „Wir sind erschöpft und die Kaufleute ermattet. Willst du ein Wunder, etwa daß wir Erde und Stein in Gold verwandeln?“ Wenn es aber für den Papst recht war, die zur Förderung der Kreuzzüge eingeführten Steuern für ganz andere politische Zwecke zu verwenden, warum sollte dann das Gleiche für die Fürsten unbillig sein? So wurde es jetzt Mode, daß die Könige ein Kreuzzugsgelübde ablegten, oder auf sonstige vom Papst gemachte Vorschläge scheinbar eingingen, sich dafür reiche Mittel von der Kurie überweisen ließen und dann die so erhaltenen Gelder für ihre Zwecke verwendeten. Welch ungeheures Feld eröffnete sich damit der politischen lntrigue! Speziell das französische Königshaus war durch opferwillige Schenkungen der Päpste so verwöhnt und dadurch für einen eventuellen Kampf mit dem Papste so gestärkt worden, daß es zum mindesten die Steuern aus dem Kirchenvermögen in Frankreich als seine Steuern zu betrachten anfing. Und daraus ist der ernste Konflikt zwischen dem Papst Bonifaz VIII. und dem König Philipp IV. dem Schönen von Frankreich enstanden.

§ 60. Philipp IV. hatte 1294 einen Krieg mit Eduard I. von England begonnen, zu dessen Führung Buchseite 190 er eine allgemeine Kriegssteuer auch für die Kleriker und das Kirchenvermögen innerhalb seines Landes ausschreiben ließ. Die Kleriker weigerten sich, diese Steuer zu zahlen und ergriffen die Berufung nach Rom. Papst Bonifaz VIII. antwortete mit der Bulle Clericis Laicos von 1296, in welcher er alle Fürsten, welche ohne Einwilligung des Papstes die Geistlichen und das Kirchengut besteuerten, mit dem Kirchenbann bedrohte. Philipp erwiderte darauf sofort mit einem Ausfuhrverbot für Gold, Silber, Lebensmittel, Pferde, Wagen und untersagte allen Fremden Aufenthalt und Handel in Frankreich ohne königliche Erlaubnis. Damit waren die sämtlichen Bezüge des Papstes aus dem Kirchengute in Frankreich gesperrt. Bonifaz mußte nachgeben und schrieb in einem Briefe an Philipp: er würde eher die Hände nach den Kelchen, Kreuzen und heiligen Gefäßen ausstrecken, als Frankreich Schaden leiden lassen. Die Bulle Clericis Laicos wurde Frankreich gegenüber zurückgenommen. Dieser Mißerfolg sollte wieder gut gemacht werden durch eine zweite Bulle von 1301 Ausculta fili, worin jeder für einen Ketzer erklärt wird, der nicht glaube, daß der König dem Papste wie in geistlichen so in weltlichen Dingen unterworfen sei. Philipp antwortete darauf mit einem Reichstag zu Paris (April 1302), in welchem zum ersten Male bürgerliche Vertreter der Städte neben den Baronen und Prälaten erschienen sind. Hier wurde der Beschluß gefaßt, das Parlament sei, nächst Gott, nur dem Könige unterworfen und dieser trage seine Gewalt von Niemand zu Lehen! Und als nun Bonifaz VIII. in seiner Bulle Unam sanctam von 1302 die Grundsätze der päpstlichen Weltherrschaft proklamierte und fünf Monate später Bann und Absetzung über Philipp aussprach, ließ dieser den Papst auf italienischem Boden überfallen. An den Folgen dieser Gefangennahme starb Bonifaz bald Buchseite 191 darauf. Sein Nachfolger Benedict XI. lebte nur kurze Zeit. Durch Geld und Intriguen gelang es dem Könige, den Erzbischof von Bordeaux als Clemens V. auf den päpstlichen Stuhl zu setzen. Dieser wurde das gefügige Werkzeug Philipps und mußte sich 1309 herbeilassen, seine Hofhaltung fortan aus Rom nach der päpstlichen Besitzung Avignon in Südfrankreich zu verlegen, den Kirchenbann über Philipp aufzuheben und die von Bonifaz erlassenen Strafbullen für ungültig zu erklären. Der Sieg des aufstrebenden fürstlichen Absolutismus über die Päpste in weltlichen Sachen hatte begonnen.

§ 61. Der fast 70jährige Aufenthalt der Päpste in Avignon (1309 bis 1378), welcher von vielen Kirchenschriftstellern als „Babylonisches Exil“ der Päpste bezeichnet wird, führte zu einer ganzen Reihe wichtiger Konsequenzen.

Das Privileg der Steuerfreiheit des Klerus und der Kirchengüter der weltlichen Gewalt gegenüber und das ausschließliche Recht des Papstes, Kirchensteuern zu erheben, gingen verloren. Frankreich, und bald auch England, Aragonien, Sizilien und Böhmen erhielten das Recht, Kleriker und Kirchengüter innerhalb ihres Herrschaftsgebietes zu besteuern. In diesen Königreichen hatte man mithin von da ab die zwei Steuerherren: den Papst und den König. Und wie energisch wurde diese neue staatliche Steuerquelle namentlich in Frankreich ausgebeutet. Philipp soll binnen zehn Jahren 400 Millionen Franken Steuern von seinem Klerus erhoben haben. Da blieb für die päpstliche Kasse nicht mehr viel zu holen übrig. Das neue Rechtsverhältnis führte auch bald dazu, daß der Papst erst mit Fürsten und Bischöfen verhandeln mußte, bevor er Kirchensteuern erheben und empfangen durfte.

Buchseite 192 Philipp IV. begnügte sich indeß nicht mit dem Besteuerungserfolg. Der Templerorden, welcher 1119 als „arme Mitstreiter Christi“ in Jerusalem gegründet worden war, hatte inzwischen einen ungeheuren Reichtum angesammelt. Damit war auch in seinen Reihen Zucht und Ordnung dahin. Die liegenden Güter der Tempelritter wurden auf 25 bis 65 Millionen Franken geschätzt. Daneben betrieben sie außerordentlich umfangreiche Handelsgeschäfte, unterhielten eine eigene stattliche Seeflotte mit vorzüglichen Schiffen. Ihr Haupthaus der „Tempel“ in Paris, war eine internationale Börse. Bei dem gewaltigen internationalen Geldverkehr, der durch die Hände dieser päpstlichen Ritter ging, gewann der Orden die Stellung einer finanziellen Großmacht, um deren Gunst sich Könige bewarben. Diese Tempelherren, welche ihrer Nationalität nach überwiegend Franzosen waren, beabsichtigten größere Territorialgebiete in Frankreich zu erwerben, um da dauernd ihre Macht zu konzentrieren. Philipp IV. konnte ein solches Vorhaben nicht billigen. Außerdem reizte ihn der ungewöhnliche Reichtum des Ordens. So begann der König mit List und Gewalt den Ketzerprozeß gegen den Templerorden, welcher ihm das Recht und die Möglichkeit der Vermögenskonfiskation eröffnete. Der Prozeß dauerte von 1307—1313. Papst Clemens V. wurde zur Aufhebung des Ordens gedrängt. Das Ordensvermögen mußte der König in der Hauptsache mit den Johannitern teilen. Philipp IV. hat also durch den Templerprozeß die Säcrilarisation der Kirchengüter durch die Staatsgewalt bereits eingeleitet.

§ 62. Bald sollten sich noch ungünstigere Folgen für die Kirche zeigen. Die Päpste in Avignon unter dem bestimmenden Einfluß des französischen Königs, trieben naturgemäß französische Politik. Nicht nur die KirchenBuchseite 193steuern, welche aus allen Ländern der Christenheit erhoben wurden, wanderten zu einem hohen Prozentsatze in die Kassen des französischen Staates. Auch der ganze kirchliche Einfluß des Papstes wurde zu Gunsten Frankreichs verwendet. Es konnte nicht ausbleiben, daß bei dem jetzt erwachenden Nationalbewußtsein in den anderen Staaten der Papst weniger als das Haupt der Christenheit und mehr als das Haupt der französischen Kirche im Dienste des französichen Staates erscheinen mußte. Mit der Verbreitung dieser Auffassung in Klerikerkreisen aber konnten Strömungen nicht ausbleiben, welche die stolze Einheit der christlichen Kirche in eine Reihe von fast selbständigen Nationalkirchen zu zersplittern drohte.

So war das Streben des französischen Königs damals darauf gerichtet, wenn möglich den deutschen Kaiserthron selbst einzunehmen, jedenfalls aber mit einem der französischen Politik ergebenen Kandidaten zu besetzen. Das führte zu einem Konflikt zwischen Papst Johann XXII. und dem Kaiser Ludwig dem Bayern, über welchen der Kirchenbann und die Absetzung durch den Papst 1324 ausgesprochen wurde. Von Avignon aus blieben jedoch diese Maßnahmen unwirksam. Eine Reihe hervorragender Gelehrter wie Marsilius von Padua, Wilhelm von Occam, Ubertino da Casale sammelten sich um Ludwig den Bayern und traten mit wissenschaftlichen Waffen für die Souveränität des Staates in weltlichen Dingen ein, wie das vorher schon die sizilianischen Gelehrten des Kaisers Friedrichs II. in Anlehnung an das arabische und byzantinische Staatsrecht und dann die Pariser Juristen für Philipp IV. getan hatten. Unter dem Eindruck dieser wissenschaftlichen Ausführungen rafften sich die deutschen Kurfürsten (1338) im Kurverein zu Rense zu der Erklärung auf, daß jeder rechtmäßig gewählte deutsche König Buchseite 194 auch ohne päpstliche Krönung der rechtmäßige römische Kaiser sei. Als dann aber auch Kaiser Ludwig der Bayer weitgehende Hausmachtspolitik trieb, fand sich rasch unter dem Einfluß päpstlicher und französischer Bestechungsgelder eine Majorität der deutschen Kurfürsten, welche den am französischen Hofe erzogenen nachmaligen Kaiser Karl IV. noch zu Lebzeiten Ludwigs des Bayern 1346 wählten und damit dessen Absetzung aussprachen. Nicht die allgemein päpstliche, sondern die französische Politik hatte in diesem Falle über die altdeutsche Zerrissenheit gesiegt.

§ 63. Am bedauerlichsten für die Kirche war es vielleicht, daß sie selbst auf der Bahn kapitalistischer Entwickelung noch weiter fortgedrängt wurde. Die neue Einrichtung der Hofhaltung in Avignon steigerte den Geldbedarf des Papstes. Der Verlust des ausschließlichen Besteuerungsrechts der Kirchengüter in einer Reihe von Staaten und besonders das fast völlige Ausbleiben von Einnahmen aus dem Kirchenstaate mußte die päpstlichen Einnahmen bedeutend mindern. Der immer drängende Geldbedarf der französischen Politik blieb nicht aus. Die Kurie wurde deshalb gezwungen, immer neue Arten zur Erschließung größerer Geldeinnahmen zu erfinden. So folgte der Periode des Ausbaues der direkten Kirchensteuern (Kreuzzugssteuern) die Periode der indirekten Kirchensteuern, die die Bedenken gegen das ganze kapitalistische Steuersystem der Kurie nur wesentlich steigern konnten.

Die päpstlichen Einnahmen wurden damit etwa aus folgenden Titeln bezogen:

Noch Bonifaz VIII. hatte im Jahre 1300 den Jubelablaß verkündet, durch den zwei Millionen Fremde nach Rom gekommen sein sollen. Er lieferte so reiche Gelderträge, daß zwei Priester durch Tag und Nacht mit Buchseite 195 Rechen in den Händen beschäftigt waren, das auf dem Altar des heiligen Petrus in der Peterskirche von den Gläubigen ausgeschüttete Geld einzustreichen. Ursprünglich sollte dieser Jubelablaß nur alle hundert Jahre verkündet werden. Der chronische Geldbedarf aber hat diesen Zeitraum bald auf 50, 33 und selbst 25 Jahre verkürzt. Zu diesen freiwilligen Abgaben gehörten auch der Peterspfennig und die Geschenke der Prälaten gelegentlich der visitatio ad limina apostolorum. Die noch verbliebenen Kreuzzugssteuern verwandelten sich in einen päpstlichen Zehent auf Kircheneinkommen. Die Almosen und Vermächtnisse für das heilige Land wurden von der Kurie eingezogen. Dazu kamen die Konfirmations- oder Provisionsgebühren als Abgabe, welche die neu ins Amt gekommenen kirchlichen Würdenträger für die päpstliche Bestätigung zu entrichten hatten. Schon im XIII. Jahrhundert mußte hierfür das Bistum Brixen 4000 Goldgulden, die Erzbistümer von Trier, Mainz und Salzburg je 10'000 Goldgulden, Rouen je 12'000, Cambrai 6000, Toulouse und Sevilla je 5000 Goldgulden entrichten. Die Palliengelder sind nach Empfang des Palliums, ein wenige Finger breiter, weißer wollener Umhang, von den Erzbischöfen zu zahlen, ebenso die Taxen bei Empfang der päpstlichen Bullen. Bistümer, Klöster und Kirchen, welche durch besondere päpstliche Privilegien der allgemeinen Kirchenorganisation nicht unterstellt sind, unterliegen dafür einem besonderen Zensus. Nach den Reservationen und Annaten waren die Einkünfte aller nicht besetzten kirchlichen Stellen, die der Papst sich reserviert hatte, und nach ihrer Besetzung ein Teil der Einkünfte des ersten Jahres an die päpstliche Kasse abzuführen. Die sog. Spoliengelder umschlossen das Recht, das Vermögen eines Klerikers, über welches nicht testamentarisch zu guten Zwecken verfügt war, oder dessen Buchseite 196 Verfügung sich der Papst vorbehalten hatte, für allgemeine kirchliche Zwecke in Anspruch zu nehmen. Commenden waren Zahlungen für die Gewährung der Anwartschaft auf eine Pfründe an eine Person, welche zur Zeit noch unmündig war. Unter Unionen oder Inkorporationen verstand man Zahlungen für die Erlaubnis der Vereinigung mehrerer Pfründen in einer Hand. Dazu kamen noch die Tribute, welche die als päpstliche Lehen getragenen Königskronen zu entrichten hatten.

All diese Steuern wurden während der Hofhaltung der Päpste in Avignon am fleißigsten in Frankreich und England erhoben. Englands reiche Ergiebigkeiten boten der Kurie den Anlaß, dieses Land einen Garten von Kostbarkeiten und einen unerschöpflichen Brunnen zu nennen. Bald klagte das englische Parlament, daß die dem Papste jährlich bezahlten Abgaben fünf mal so groß seien, als der Ertrag der königlichen Steuern. Die Wiclifsche Reformationsbewegung beginnt.

§ 64. Auch die englische Krone war ein päpstliches Lehen geworden. Johann ohne Land hatte sie im Jahre 1213 gegen die Verpflichtung eines jährlichen Tributs von 1000 Pfund Silber aus den Händen des Papstes Innocenz III. entgegen genommen. Diese Tributleistung wurde in England ungern gesehen. Eduard I. (1272—1307) wußte denn auch von einem solchen Vasallentribut nichts. Eduard II. (1307—1327) gab wieder nach, Eduard III. (1327—1377) jedoch weigerte sich 1366 entschieden, den seit 33 Jahren rückständigen englischen Vasallentribut an die Kurie zu leisten. Schließlich hat im Jahre 1374 der Papst ganz darauf verzichtet. Bei dem Verlauf dieses Streites aber waren die engeren Beziehungen der Kurie zu Frankreich von wesentlicher Bedeutung.

Schon den König Philipp IV. von Frankreich gelüstete es nach dem Reichtum der aufblühenden flandeBuchseite 197rischen Städte. Die Ausbreitung ketzerischer Strömungen daselbst dienten als Vorwand, um über Flandern herzufallen. Eben dieses Flandern war das wichtigste Absatzgebiet für die englische Wolle, aus welchen Geschäftsbeziehungen auch dem Könige von England reiche Einnahmen zufielen. England unterstützte deshalb die Flamen gegen Frankreich. Englische Bauernsöhne dienten als Söldner im Dienste der flanderischen Städte. Und als 1328 die männlichen direkten Erben Philipps IV. ausgestorben waren, erhob der englische König Eduard III. als Sohn einer Tochter Philipps IV. Anspruch auf den französischen Thron. Damit begann der mehr als hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England (1339—1453). Nachdem die englischen Waffen zunächst siegreich waren, wandte sich das Blättchen 1364 und England verlor wieder die meisten seiner Besitzungen in Frankreich. Mitten in dieser ernsten Kriegsnot mußte 1366 die Forderung des mit dem Landesfeinde eng verbündeten Papstes, den rückständigen Vasallentribut von 33'000 Pfund Silber zu entrichten, von der öffentlichen Meinung in England als ein Schimpf empfunden werden. Clemens wollte ferner den durch den langen Krieg oft verarmten Adel Frankreichs dadurch etwas unterstützen, daß er reiche englische Pfründen an Franzosen vergab. Darauf antwortete ein englischer Parlamentsbeschluß vom 18. Mai 1343: Die Kurie gebe, seitdem Avignon an Roms Stelle getreten sei, der Kirche ein Aergernis durch Habsucht und Ungerechtigkeit. Die Reservationen, Provisionen und Versorgung ausländischer Kleriker mit den reichsten englischen Pfründen seien der Kirche ebenso schädlich, wie dem Lande. Durch die Landesfremden werde der Gottesdienst vernachlässigt und die Güter ins Ausland verschleppt. Das widerspreche dem Willen des Stifters der Kirche. — Als dennoch vom Papste abermals solche Versuche gemacht Buchseite 198 wurden, haben 1350 König und Parlament die Statute of Provisors angenommen, durch welche verboten wurde, große englische Pründen auswärts zu vergeben. 1353 folgte die Statute Praemunire, welche die Berufung an päpstliche Gerichte mit den härtesten Strafen belegte. Die um 1362 in England niedergeschriebenen „Gesichter Peters des Pflügers“ führten aus: „Das Geld, das schlimme Geld hat die Kirche vergiftet“.

„Als Kaiser Konstantin aus Gunst
Mit Geld und Gut die Kirch’ begabte,
Mit Land und Leuten, Lehensrecht und Zins,
Da hörte man, hoch aus den Höhen,
von himmlischen Heerscharen rufen: «Heut hat des Herrn heilige Braut, Die Kirche, kränkendes Gift gegessen, Vergiftet sind alle, denen gegeben Des guten Petrus Gewalt.»

§ 65. Die Zeit der englischen Niederlagen und der französischen Siege mußte naturgemäß die Kritik des kapitalistischen Systems der Kurie in England verschärfen. Dabei trat als Führer der Bewegung der Pfarrer und Universitätslehrer John Wiclif auf. Nachdem er im Jahre 1366 des Königs Weigerung, den Vasallentribut an den Papst zu entrichten, energisch unterstützt hatte, forderte er 1369 die Besteuerung der Kirchengüter durch die Krone, welcher er auch das Recht zuerkannte, im Falle finanzieller Not die Kirchengüter einzuziehen. Der ganze Schwerpunkt der notwendigen Kirchenreform lag nach seiner Auffassung in der Beseitigung des Reichtums und der Habsucht der Kirche. Erst dann würden jene Personen, welche nur nach weltlicher Macht trachten, sich nicht mehr in die Kirchenstellen eindrängen. Er verherrlichte die Armut Christi und stellte dem den Reichtum und die kapitalistische Buchseite 199 Politik seiner Nachfolger gegenüber. Die Väter hätten die Kirchen ausgestattet zum Unterhalt der Geistlichen, nicht zur Machterweiterung des Papstes. Der nach Reichtum begierige Papst sei nicht mehr Nachfolger Christi, sondern bereite dem Anti-Christ den Weg. Die Säkularisation des Kirchengutes sei auch deshalb prinzipiell zulässig, weil es kein absolutes Eigentum gebe. Das Eigentum an wirtschaftlichen Gütern sei kein Dominium, sondern ein Ministerium, das durch jeden schweren Mißbrauch die Berechtigung seiner Stellung verliere. Es müsse auch verboten werden, daß eine Person des größeren Einkommens halber mehrere Kirchenämter übertragen erhalte. Die Exkommunikation des Papstes aus wirtschaftlichen Gründen sei wirkungslos. Auch der Papst könne von Laien getadelt und gestraft werden. Die Kirche müsse wieder zur Reinheit der apostolischen Zeit zurückkehren. Wiclif begann deshalb die Bibelübersetzung ins Englische, um die Evangelien der Masse des Volkes zugänglich zu machen. Seine letzten Konsequenzen führten zu einer unabhängigen demokratischen englischen Nationalkirche.

Dennoch kam es jetzt nicht zur Trennung von Rom, nicht zur Säkularisation der Kirchengüter in England. Eduard III. hatte schon 1331 viel Weber, Färber und Walker aus Flandern zur Uebertragung ihres Gewerbes nach England gebracht. Damit waren auch viel Ketzer ins Land gekommen. Die Pestverheerungen namentlich von 1340 hatten einen unruhigen Geist in die englische Arbeiterbevölkerung hineingetragen, dem wiederholt mit strengen Maßnahmen begegnet werden mußte. Gerade jetzt war 1381 ein großer englischer Bauernaufstand ausgebrochen, den das hauptstädtische Proletariat unterstützte und der nur durch listige Gewalt überwunden wurde. In solch unruhigen Zeiten wollte man Buchseite 200 von einer Säkularisation der Kirchengüter nichts wissen. Man kam sogar zu dem Schluß, daß die Wiclifschen Lehrsätze über das Kircheneigentum einen allgemeinen Sturm gegen das Eigentum überhaupt predigten. 1382 wurden die Wiclifschen Lehren auf einer Kirchenversammlung zu London verdammt. Und bald darauf begann in England wie in den Nachbarländern eine allgemeine Ketzerverfolgung.

§ 66. Die Mißstände in der Kirche blieben bestehen. Immer neue krankhafte Erscheinungen im Völkerleben des christlichen Abendlandes mußten deshalb hervortreten. Nicht nur England mit Deutschland, auch Italien mit Rom war durch den viel zu langen Aufenthalt der Päpste in Avignon aufs Höchste erregt. Nachdem alle Bitten und Vorstellungen die Rückkehr der päpstlichen Hofhaltung nach Rom nicht bewirken konnten, zwang das römische Volk mit den Waffen in der Hand die nach dem Tode Gregors XI. (1378) zur Papstwahl in Rom anwesenden Kardinäle, einen Italiener zum Papst zu wählen, welcher seinen Sitz in Rom nehmen würde. Das Kollegium nominierte Urban VI., dann aber verließ die Mehrzahl der Kardinäle, welche Franzosen waren, Rom und wählte Clemens VII. zu ihrem kirchlichen Oberhaupte, der in Avignon seinen Sitz nahm. So ist das Schisma entstanden. Die christliche Kirche war in zwei feindliche Heerlager gespalten. Hinter dem avignonser Papst stand hauptsächlich Frankreich, hinter dem Papst in Rom Deutschland und England. Die beiden feindlichen Päpste belegten sich gegenseitig mit Bann und Interdikt. Das Papsttum bekämpfte sich selbst. Die Völker des christlichen Abendlandes sahen die päpstlichen Bannstrahlen machtlos erlöschen. Die doppelte Hofhaltung (in Rom und in Avignon) und der Kampf innerhalb der Kirche verschlangen noch größere Summen als bisher. Deshalb Buchseite 201 wurden jetzt allgemeine Ablaßpredigten häufiger und der Verkauf kirchlicher Aemter an den Meistbietenden bürgerte sich ein. Diese höchst unerfreulichen Zustände dauerten von 1378 bis 1409. Innerhalb der gesamten Christenheit wurde der Ruf nach „Reformation der Kirche an Haupt und Glieder“ erhoben. Die damit erwachte Bewegung führte zu den drei Reformkonzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414 bis 1418) und Basel (1431 bis 1443). Das Konzil von Pisa setzte die beiden Gegenpäpste ab und einen dritten ein, aber ohne die Fähigkeiten zu besitzen, seine Entscheidung auch durchzusetzen. Die beiden Gegenpäpste blieben, der zu Pisa erwählte Papst trat als dritter Gegenpapst hinzu. Das zweiköpfige Schisma war zu einem dreiköpfigen gesteigert worden. (1409 bis 1417)! So brachte das „babylonische Exil“ von Avignon die erste Kirchenspaltung von oben. Die kirchlichen Organe allein besaßen nicht mehr so viel Ansehen, um das Schisma beseitigen zu können. Deshalb mußten jetzt die staatlichen Mächte mobil gemacht werden. Das Reformkonzil zu Konstanz wurde zu einem europäischen Kongreß, an welchem fast ebensoviel Vertreter der Staaten wie Kirchenfürsten teilnahmen. Auch die Kirchenfürsten stimmten jetzt nach Nationen getrennt. Beteiligt waren Italien, Deutschland, Frankreich, England und später noch Spanien. Kaiser Sigismund nahm hervorragenden Anteil. Die drei Gegenpäpste wurden durch Konzilbeschluß abgesetzt bezw. zur Abdankung genötigt und ein neuer Papst Martin V. (1417 bis 1431) eingesetzt, welcher allgemeine Anerkennung fand. Das Schisma war endlich beseitigt worden. Die weitere Durchführung des Reformationswerkes blieb einem neu zu berufenden allgemeinen Konzil vorbehalten. Kurz vor seinem Tode hat dann Martin V. das Baseler Konzil zu diesem Buchseite 202 Zwecke einberufen. Die Annaten wurden aufgehoben, die Appellationen nach Rom beschränkt, Beschlüsse gegen die päpstlichen Reservationen gefaßt. Als aber das Konzil weiter gehen wollte, wurde es vom neuen Papst Eugen IV. gesprengt (1437). Bei einem solchen Gange der kirchlichen Reformationsarbeiten war es längst wieder aus dem Volke zu einer neuen größeren Reformationsbewegung gekommen, welche von dem böhmischen Priester und Prager Universitätsprofessor Hus eingeleitet wurde.

§ 67. Das Königreich Böhmen war im XIV. Jahrhundert ungewöhnlich rasch reich geworden. Das schon 1237 erschlossene Kuttenberger Silberbergwerk blieb bis ins XV. Jahrhundert das ergiebigste Europas. Dazu kamen Goldwäschereien an der Moldau und der Luzic, Wollmanufakturen und ein ausgedehnter Handel. Der am französischen Hofe erzogene böhmische König Karl I. wurde als Karl IV. (1346—1378) Kaiser von Deutschland. Das goldene Prag erstand. Im Jahre 1348 wurde die Prager Universität als erste in Deutschland gegründet. Die große Masse des czechischen Volkes beschäftigte sich mit dem Landbau und war arm geblieben. Der böhmische Adel suchte sein Unterkommen im Söldnerdienste. Zur Durchführung der Neuerungen hatte der böhmische König viel Ausländer, namentlich Deutsche, herangezogen. Die vier Nationen an der Prager Universität waren die böhmische, bayerische, sächsische und polnische Nation. Große Reichtümer hatten sich in der Kirche namentlich an jenen Plätzen angesammelt, wo Bergbau, Handel und Gewerbe blühten. Und das waren wieder jene Orte, an denen besonders viele Nichtböhmen vertreten waren. Der Erzbischof von Prag besaß 17 große Herrschaften in Böhmen, dazu Herrschaften in Mähren und Bayern und Buchseite 203 kleinere Güter in Menge. Sein Hofstaat wetteiferte mit dem des Königs. Dem Domkapital zu St. Veit waren über 100 Dörfer ganz oder zum Teil als Beneficien angewiesen. Der Dompropst allein war im Besitz der großen Herrschaft Wollin und etwa 12 kleinerer Güter. Bei dem üblich gewordenen Verkauf der kirchlichen Aemter konnte das Angebot der ärmeren Böhmen mit dem der reichen Ausländer selten konkurrieren. So waren die besten Stellen zumeist mit Nicht-Böhmen besetzt, während den Böhmen überwiegend die ärmeren Stellen blieben.

§ 68. Unter solchen Verhältnissen war der Bauernsohn Johannes Hus Lehrer an der Universität Prag geworden. Bei seiner glänzenden Begabung für Sprache und Rede fand er vom Könige wie vom Erzbischof persönliche Förderung. Aus der Literatur hatten die Wiclif’schen Schriften einen besonders nachhaltigen Einfluß auf ihn gewonnen. Seit 1402 trat er in Prag als Prediger immer entschiedener auf gegen den Reichtum und die politische Macht der Kirche und forderte von einer gründlichen Reform der Kirche an Haupt und Gliedern insbesondere die Einziehung aller Kirchengüter. Dadurch sah sich die zumeist ausländische, reiche Geistlichkeit in ihrem Einkommen bedroht. Die ausländischen Nationen an der Universität standen mit diesen Geistlichen in enger Beziehung. Daß die Hus’schen Reformpredigten mit den Wiclif’schen Schriften in engstem Zusammenhange standen, war bekannt. Also begann die Universität ihre Angriffe gegen die Wiclif’schen Schriften. 45 Sätze wurden als ketzerische Irrtümer bezeichnet. Hus verteidigte Wiclif. Der ganze Streit wurde durch die Stellungnahme zum Schisma noch komplizierter. König Wenzel hatte sich aus politischen Gründen von Gregor XII. losgesagt und verlangte, daß die Prager Universität gleich ihm sich in dem neuen Streite neutral erkläre. Aber nur Buchseite 204 die böhmische Nation folgte seinem Wunsche. Der König steigerte deshalb den Einfluß der böhmischen Nation an der Universität. Die damit nicht zufriedenen ausländischen Professoren und Studenten wanderten aus und gründeten die Universität Leipzig (1408).

Inzwischen hatte sich die Stimmung in den Reihen der reichen Geistlichkeit gegen Hus wesentlich verschärft. 1408 wurde ihm die Ausübung geistlicher Funktionen untersagt. Papst Alexander V. bedrohte im folgenden Jahre jede Verbreitung der Wiclif’schen Lehren mit der Excommunication. 1410 wurden in Prag die aufgefundenen Wiclif’schen Schriften öffentlich verbrannt und Hus mit dem Kirchenbann belegt, weil er einer Vorladung zur Verantwortung vor dem päpstlichen Gericht in Avignon nicht Folge leistete. Als aber der Pisaner Papst Johann XXIII. — gegen dessen Person der später vom Konstanzer Konzil eingeleitete Kriminalprozeß die Anklage auf 80 schwere Verbrechen erhob — zur Führung eines rein politischen Krieges gegen den König von Neapel 1412 auch den Ablaß in Prag predigen ließ, wandte sich Hus mit aller Entschiedenheit dagegen. Es kam zu lärmenden Volksaufläufen. Die päpstlichen Bullen wurden öffentlich verbrannt. Das Band zwischen Hus und der hierarchisch gegliederten Kirche war zerrissen. Er verließ Prag, um auf verschiedenen Burgen befreundeter Edelleute sein Reformationsprogramm auszuarbeiten, das die Rückkehr zu den Grundsätzen der Evangelien erstrebte.

§ 69. Das Reformationskonzil zu Konstanz hatte auch die Beilegung der kirchlichen Wirren in Böhmen auf seine Tagesordnung gesetzt. Hus war geladen, erschienen und predigte in Konstanz öffentlich seine Ansichten. Die hierarchische Macht sah sich dadurch zum Einschreiten veranlaßt. Bald darauf erfolgte seine Verurteilung als Ketzer.

Buchseite 205 Hus’ Hinrichtung erregte in Böhmen eine furchtbare Entrüstung. Seine Anhänger, Hussiten genannt, wollten mit Gewalt ihre, vom Konzil verworfene Lehre durchsetzen. Die Hussitenbewegung war von Anfang an nicht nur von religiöser, sondern auch von nationaler Begeisterung getragen. Das böhmische Volk in Stadt und Land schloß sich zusammen. Die Kirchengüter wurden eingezogen. Siegreich schlugen die Hussiten alle gegen sie geschickten Heere und fielen dann plündernd in die umliegenden Länder ein. Jetzt endlich versuchte das Baseler Reformkonzil eine Verständigung mit den Hussiten auf gütlichem Wege. Es wurde zugestanden, daß der Besitz von Kirchengütern in Laienhänden nicht als Kirchenraub gelten solle. Auf dieser Basis erfolgte 1433 eine Einigung mit dem Adel und den reichen Prager Bürgern. Die sogenannten Taboriten, der radikalere Flügel, wurden 1434 besiegt und Kaiser Sigismund konnte endlich wieder in Prag einziehen, wo er bald darauf ausdrücklich anerkannte, daß die Rückerstattung des vorher eingezogenen Kirchengutes in das Belieben eines jeden Herrn und jeder Gemeinde gestellt sei. In der Frage der Enteignung der Kirchengüter hatte für Böhmen die Hussitenbewegung gesiegt. Außerdem erhielt durch sie der Zug der Zeit: die in der Kirche historisch gewordenen Verhältnisse an dem Wortlaut der heiligen Schrift kritisch zu prüfen auf ihre Zuverlässigkeit, eine weitere Stärkung im Volke. 1473 wurde die Uebersetzung der Bibel ins Böhmische begonnen. Bald waren mehrere böhmische Druckereien damit beschäftigt, böhmische Bibeln fürs Volk herzustellen. Die Inquisition, welche 1461 gegen die böhmischen Brüder aufgeboten wurde, konnte nur eine weitere Verbreitung dieser Sekte in den benachbarten Ländern bewirken, wodurch für neue Konflikte eine immer größere Anteilnahme des Volkes sich vorbereitete.

Buchseite 206 § 70. Die Theorien des fürstlichen Absolutismus sind mit den Hohenstaufen unterlegen, weil diese arm und ihre Gegner, die Päpste, reich waren. Denn die Entscheidung auch dieses Konfliktes wurde durch das Schwert herbeigeführt. Und in dieser Zeit der Söldnerheere war der Reichste auch der Mächtigste, dem der Erfolg von Anfang an gesichert blieb. Die französische Königskrone, welche im päpstlichen Solde reich und mächtig geworden war, siegte dann über das Programm der Weltherrschaft der Päpste bis zu dem Maße, daß der Papst ein Werkzeug der französischen Politik wurde und sogar mit der Konfiskation von Kirchengütern durch die französische Krone einverstanden war. Der französisch gewordene Papst hat die Entstehung des Bedürfnisses nach Nationalkirchen unmittelbar hervorgerufen. Das Schisma war die Spaltung der Kirche unter verschiedenen nationalen Päpsten. Seine Beseitigung durch das Reformkonzil zu Konstanz konnte nur durch Intervention der Staatsgewalten gelingen. Nachdem man dem König von Frankreich die Besteuerung der Kirchengüter zugestanden, konnte das gleiche Recht den anderen geschlossenen Königreichen nicht vorenthalten werden. Der Besteuerung des Kirchengutes durch den Staat folgte die Besetzung der Kirchenstellen durch den König. Der fürstliche Absolutismus hatte die Weltherrschaft der Päpste als Erbe anzutreten begonnen. Ueber diese einschneidende Aenderung ihrer Lage waren die Päpste selbst am wenigsten im Unklaren. Mit Martin V. (1417 bis 1431) beginnt unmittelbar nach dem Konstanzer Konzil die landesherrliche Politik der Päpste im Kirchenstaate. Nur wo der Papst selbst absoluter Landesherr war, konnten in Zukunft seine Einkünfte und seine weltliche Macht gesichert erscheinen.

Buchseite 207 § 71. Zu diesen Verschiebungen in dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat kamen noch eine Reihe wichtiger Veränderungen in den allgemeinen Zeitverhältnissen. Die Freiheit der Städte wurde mehr und mehr unter das fürstliche Szepter gebeugt. Der Kampf zwischen den Zünften und Geschlechtern erleichterte diese Privilegienentziehung. Die Feuerwaffen und das Söldnerwesen mit der fortschreitenden Ausbreitung der Geldwirtschaft zwangen auch den Adel in den Dienst der Fürsten. Eine wachsende Anhäufung revolutionärer Ideen schien nur durch eine starke Fürstengewalt niedergehalten werden zu können. In dem Maße als sich die gewerblichen Zünfte in ihrem Kampfe gegen Handelsgesellschaften und Monopol aller Art enger zusammenschlossen, wurde dem weniger Bemittelten das Aufrücken in den Mittelstand erschwert. Es bildete sich ein städtisches Proletariat, dem bald auch ein ländliches Proletariat als Folge der erschwerten Zuwanderung nach der Stadt zur Seite stehen mußte. Die Lage der Bauern wurde seit Einführung des römischen Rechtes vielfach eine sehr ungünstige. Aber auch in den wohlhabenderen und gebildeteren Kreisen herrschte jetzt eine ausgesprochene Vorliebe für Neuerungen und Umbildungen aller Art. Der Humanismus, welcher das mittelalterliche Denken zu einer allgemein menschlichen „humaneren“ Bildung weiter führen wollte, vertiefte sich mit begeistertem Studium in die Literatur der Griechen und Römer, idealisierte das Leben dieser Völker zu einem Musterbilde menschlicher Vollkommenheit und trachtete, dasselbe literarisch, politisch und sozial nachzuahmen. Es erwuchs daraus die Epoche der Renaissance. Diese neue geistige Bewegung, welche selbst die führenden Kreise der Kirche erfaßte und beherrschte und für deren Einflußnahme die vorausgegangenen Buchseite 208 überaus zahlreichen Universitätsgründungen den Boden wesentlich vorbereitet hatten, war der Erhaltung der kirchlichen Zustände kaum günstig. Gegenüber den bestehenden Verhältnissen gerade auf kirchlichem Gebiete kam eine scharfe Kritik mehr und mehr in Uebung. Statt einer Erhaltung des Bestehenden und einer Fortsetzung der Tradition wurde die Rückkehr zu früher gewesenen idealeren Zuständen erstrebt. In dieser allgemeinen Auffassung deckte sich die Bewegung des Humanismus und der Renaissance mit den meisten kirchlichen Reformationsbestrebungen seit dem XIII. Jahrhundert. Humanismus und Reformation stützten und stärkten sich gegenseitig. Die technische Erfindung der Buchdruckerkunst trug all diese Bestrebungen in weiteste Kreise. Die Entdeckung neuer Erdteile mußte den Glauben an das Anbrechen einer ganz neuen Zeit mächtig stützen. Und die Fortdauer bedenklicher kirchlicher Zustände namentlich in Deutschland hat dafür gesorgt, daß bei all diesen sich vorbereitenden Umbildungen die Kirche nicht übergangen wurde.

§ 72. Martin Meyer, der Kanzler des Mainzer Erzbischofs schrieb 1456 an den neu ernannten Kardinal Aeneas Sylvius Bartholomäus de Piccolomini, nachmals Papst Pius II.: „Tausend Manieren wurden ausgedacht, unter denen der römische Stuhl uns wie Barbaren auf seine Manier unser Geld wegnimmt. Dadurch ist unsere Nation jetzt in Armut versunken. Nun aber sind unsere Fürsten aus dem Schlafe erwacht und haben zu bedenken angefangen, wie sie diesem Unheil begegnen möchten. Ja sie haben beschlossen, das Joch völlig abzuschütteln und sich die alte Freiheit widerzugewinnen.“ Aeneas Sylvius antwortete darauf in einer besonderen Schrift, in welcher er auf die Blüte von Handel und Bergbau in Deutschland hinwies und ausführte: Die Kirche Buchseite 209 würde ohne die deutschen Geldsendungen arm sein und ihre großen Aufgaben nicht erfüllen können. Ohne Reichtum sei es nicht möglich, Hervorragendes zu leisten und angesehen zu sein. Die Einnahmen aus dem Kirchenstaate aber wären noch unsicher und gering. — Wie vorher Frankreich und England, so war jetzt Deutschland mit den nordischen Ländern die Hauptgeldbezugsquelle der Kurie, an welcher sie um so energischer festhalten mußte, je sicherer die Länder mit nationaler Einigung unter königlicher Gewalt für größere Geldleistungen verschlossen blieben.

§ 73. Die weltlichen Mächte selbst schienen die kuriale Besteuerung in Deutschland erhalten zu wollen. Alle Versuche einer Reichsreform waren gegen Ende des XV. Jahrhunderts gescheitert. Der „Gemeine Pfennig“ blieb selbst als „Türkenpfennig“ bei fast jedermann verhaßt. Dauernd wurden die Reichsinteressen durch unzulängliche Geldeinnahmen geschädigt. Kaiser Maximilian I. (1493 bis 1519) war fortwährend in Geldverlegenheiten und trug sich deshalb mit immer neuen Plänen, diesem empfindlichen Mangel seiner Regierung zu begegnen. So kam er auch auf den Gedanken, sich zum Papst wählen zu lassen. Es fehlten nur die 300'000 Dukaten, welche nach seiner Information notwendig waren, um die Kardinäle für seine Wahl zu gewinnen. Indeß war auch diese seine Information unzureichend, weil sie die Bedeutung der Bulle „cum tam divino“ zur Verhütung simonistischer Papstwahlen unterschätzte. Wie die Dinge lagen, schienen Ablaßpredigten das beste Mittel zu sein, um aus dem deutschen Volke größere Geldbeträge für öffentliche Zwecke zu erschließen. In diesem Sinne hatte sich der deutsche Adel 1476 bei Beratung der Reichsreform geäußert. Nach der gleichen Richtung zielten die Vorschläge der Reichsstadt Nürnberg. Buchseite 210 Die Landesfürsten mit dem Kaiser Maximilian waren mit einer immer wiederkehrenden Besteuerung des deutschen Volkes durch Ablaßpredigten ganz einverstanden. Gestritten wurde nur darüber: wer den Geldertrag dieser Predigten zuletzt erhalten sollte? und in welchem Prozentsatze die Landesfürsten daran zu beteiligen wären? Als zu Ostern 1501 in der Nähe von Mastrich auf dem Kopftuch einer jungen Frau sich ein großes goldfarbenes Kreuz zeigte, da war es Kaiser Maximilian, welcher durch ein besonderes Flugblatt die Nachricht von diesem „Kreuzwunder“ tunlichst verbreitete und dabei die Ansicht vertrat, daß in diesem Zeichen die Aufforderung des Himmels zu einem Kreuzzuge gegen die Türken zu erblicken wäre. Wenn mit den kirchlichen Aemtern und Pfründen ein einträglicher Handel getrieben wurde, an dem sich auch die Augsburger Fugger beteiligten, und wenn einzelne Personen bis 24 und mehr kirchliche Pfründen in ihrer Hand vereinigten, so konnte das in Deutschland kaum überraschen, wo selbst die Königs- und Kaiserwahl so offen zu einem Geldgeschäft erniedrigt worden war, daß die Wahlstimmen der einzelnen Kurfürsten Zug um Zug gegen die vereinbarte Geldanweisung aufgekauft wurden. Und wenn der Reichtum der Kirchen und Kirchenfürsten sich am längsten in Deutschland erhielt, so mußte das hier schon deshalb selbstverständlich erscheinen, weil es Sitte geworden war, die nachgeborenen Fürstensöhne mit den reichsten Kirchenstellen zu versorgen. Kaum schien man darauf zu achten, daß namentlich durch die Mystiker Wiclif’sche und Hus’sche Ideen über die Notwendigkeit einer allgemeinen Säkularisation alles Kirchengutes im Volke immer allgemeinere Verbreitung gefunden hatten. Als die Volkspredigten des Sackpfeifers von NiklasBuchseite 211hausen Hans Böheim gegen Kaiser und Papst, Priester und Adel täglich schon 30 bis 40'000 Pilger heranlockten, beschränkte sich der Graf von Wertheim darauf, eines Tages den reichen Schatz der Niklashauser Kapelle zu konfiszieren, um ihn mit den Bischöfen von Mainz und Würzburg zu teilen. Man hätte wahrscheinlich diesen Schatz von Neuem wieder anwachsen lassen, um ihn abermals leeren zu können, wenn Böheim eines Tages nicht auf den Gedanken gekommen wäre, den Würzburger Bischofssitz zu erobern, und hierbei seinen Tod gefunden hätte.

§ 74. In dieser Zeit wurde ein neuer päpstlicher Ablaß für die ganze Christenheit zur Vollendung der Peterskirche in Rom verkündet. Albrecht von Brandenburg war als Erzbischof von Mainz päpstlicher Generalkommissär für jenen Teil von Deutschland geworden, zu dem auch Kursachsen gehörte. Der Anlaß für diese Ernennung des Mainzer Erzbischofs war folgender: Albrecht hatte bei seiner Ernennung zum Erzbischof für sein Pallium 30'000 Dukaten zu entrichten, welche Summe ihm die Augsburger Fugger geliefert. Durch Zahlung der weiteren Summe von 10'000 Dukaten an die päpstliche Kasse erhielt der Erzbischof das Generalkommissariat für den Ablaß mit der Vereinbarung, daß die eine Hälfte des Ertrages der Ablaßpredigten zur Abzahlung der Albrecht’schen Schuld bei den Fuggern dienen sollte. Da das Haus Fugger auch Hauptbanquier der Kurie war, begleitete ein Fugger’scher Geldeinnehmer den Ablaßkasten, um nach jeder Predigt die Verrechnung in Ordnung zu bringen. Dieser Ablaß kam durch die thüringischen Lande auch in die Nähe von Wittenberg und veranlaßt den Augustinermönch und Universitätsprofessor Dr. Martin Luther, am 31. Oktober 1517 seine Thesen gegen Buchseite 212 den Ablaß an die Schloßkirche zu Wittenberg anzuschlagen.

Diese Ablaßthesen wandten sich keineswegs im Prinzip gegen den päpstlichen Ablaß. These 71 lautet: „Wer wider die Wahrheit des apostolischen Ablasses redet, der sei verflucht und verdammt!“ Luther richtete seine Angriffe lediglich gegen die Ablaßkommissare, welche statt des päpstlichen Befehls ihre eigenen Träume predigten (These 70). Als solche Ueberschreitungen des päpstlichen Auftrages werden genannt: „Der päpstliche Ablaß macht den Menschen von aller Strafe frei und selig“ (21). „Sobald der Groschen im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt“ (27). „Das Kreuz mit dem Wappen des Papstes aufgerichtet, vermag so viel als das Kreuz Christi“ (79). Luther wünscht den Ablaß vorsichtig gepredigt (41): „Wer den Armen etwas gibt, tut besser als wer Ablaß nimmt“ (43). „Wer nicht übermäßig reich ist, soll sein Geld nicht für Ablaß verschwenden“ (46). „Ablaßlösen sei ein freies Ding und nicht geboten“ (47). Erst gegen Schluß der Reihe seiner Thesen teilte Luther einige scharfe Fragen der Laien mit, welche im Prinzip die Geldeinnahme als die Hauptsache bei diesen Ablaßpredigten erscheinen lassen. Luthers Landesherr, der reiche Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen verbot dann die päpstliche Ablaßpredigt, damit sein Land nicht wegen des Mainzer Palliums in Kontribution genommen werde.

§ 75. Durch das an diese Thesen sich anschließende „Mönchs- und Professorengezänke“ kam auch Luther dazu, wie vor ihm Hus und Wiclif, die Tradition der Kirche zu verwerfen und das Recht der individuellen Vernunftskritik an den bestehenden kirchlichen Verhältnissen und Ansichten auf der Basis der Evangelien für sich in Buchseite 213 Anspruch zu nehmen. Darauf folgte die päpstliche Bannbulle, die auch von Luther öffentlich verbrannt wurde. Der Bruch mit der römischen Kirche war vollzogen. Die Druckerpresse verbreitete die Nachricht über all diese Ereignisse in früher ungeahntem Maße durch Mitteleuropa. Die überall unmittelbar vorausgegangenen Ablaßpredigten hielten das Interesse für solche Mitteilungen wach. Die landesherrlichen Gewalten erwiesen sich stark genug, um die aufständigen Bauern und die durch Bibellesen verwirrten „Schwarmgeister“ zu dämpfen. So vollzog sich denn die wieder in Fluß gekommene kirchliche Reformationsbewegung in solcher Form, daß an weltlicher Gewalt dem fürstlichen Absolutismus zugeflossen ist, was der Kirche genommen wurde. Auf dem Reichstage zu Nürnberg 1522 richteten die deutschen Stände eine lange Reihe von Beschwerden gegen den römischen Stuhl, gegen dessen Gelderpressungen und Satzungen und erklärten, sich selbst helfen zu wollen, falls von Rom aus kein Wandel geschaffen werde. Der Reichstag zu Speyer 1526 hat dann den Landesherren und Reichsstädten das Reformationsrecht zuerkannt nach dem Grundsatze: wer die Regierungsgewalt in Händen hat, entscheidet auch über den Glauben seiner Untertanen! (cujus regio, ejus religio). 198 Städte und viele Landesfürsten zogen die Kirchengüter ein und führten den Gottesdienst nach jenen Grundsätzen durch, welche Luther in tunlichster Anlehnung an die Apostelzeit aufgestellt hatte. Nur für die Kirchenfürsten in Deutschland wurde bald der „katholische Vorbehalt“ eingelegt, wonach diese Fürsten allerdings im Falle eines Uebertritts zur Reformation Amt und Würden verlieren sollen. Die allgemeine Einziehung der Kirchengüter hat sich dadurch für Deutschland bis zum Jahre 1806 verzögert. Diese letzte deutsche SäkuBuchseite 214larisation wird in ihrem Wert auf mehrere hundert Millionen Gulden, nach ihrem Jahreseinkommen auf 33 1⁄2 Millionen Mark geschätzt. Aber auch außerhalb Deutschlands sind jetzt Reformatoren erstanden, welche eine Trennung von Rom und den Ausbau einer neuen Kirchenordnung durchführten, so Zwingli in Zürich, Calvin zuletzt in Genf. Des letzteren Anhänger haben sich ungemein rasch durch Frankreich und die Länder am Rhein verbreitet. Jetzt vollzog sich auch 1527 die Reformation mit Säkularisation der Kirchengüter in Schweden, 1536 in Norwegen und Dänemark, 1533 die englische Reformation unter Heinrich VIII., welcher die Kirchengüter einzog und sich an Stelle des Papstes setzte. Die Einnahmen der Kurie in Rom gingen außerordentlich zurück. Auf dem Konzil zu Trient (1545—1563) wurden die Ablaßpredigten in der bisher üblichen Form, die Provisionen, die Annaten, die Palliengelder, die Spoliengelder, Unionen und Incorporationen u.s.w. mit der Excommunication wegen Zahlungsverweigerung abgeschafft. Doppelt wichtig erwies sich nun die Energie, mit welcher Alexander VI. und Julius II. die landesherrliche Gewalt des Papstes im Kirchenstaate ausgebreitet und gesichert hatten. Der Kapitalismus ist aus der Kirche im wesentlichen beseitigt. Die religiösen Bewegungen mit ihren ökonomischen Konflikten gehören von jetzt ab der Geschichte des fürstlichen Absolutismus an.



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