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Inhalt Band 2
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Buchseite 1 Zweiter Teil.

Entwickelungsgeschichte
der Völker.

(Fortsetzung.)

Buchseite 2 ist leer. Buchseite 3 D.

Entwicklungsgeschichte des arabisch –
islamischen Weltreiches.



Vorbemerkung und Literatur. Die heute noch herrschende Darstellung läßt auf die römische Geschichte die Geschichte der europäisch-germanischen Entwicklung unmittelbar folgen. Auch historische Spezialuntersuchungen bringen vielfach den Werdegang einzelner Institute und Einrichtungen nur bis nach Italien zur Darstellung. Woher stammt der Wechsel und sein Recht? — aus Italien. Woher kommt die kaufmännische Buchführung? — aus Italien. Auch das Bankwesen hat man bis vor Kurzem in Italien entstehen lassen.

Der gewaltige Fortschritt der orientalischen Studien in unseren Tagen hat unsere Kenntnisse in diesen Dingen ganz wesentlich erweitert und vervollkommnet. Es kann heute nicht mehr bezweifelt werden, daß das richtige Verständnis unserer ganzen europäisch-mittelalterlichen Geschichte das Eindringen in die Geschichte des arabisch-islamischen Weltreiches und damit in die orientalische Geschichte überhaupt zur unerläßlichen Voraussetzung hat. Es ist eine recht bedenkliche Lücke der bisher herrschenden Auffassung, die christlich-abendländischen Völker fast mehr als Kulturfortsetzung der römischen, griechischen und höchstens noch der jüdischen Geschichte zu betrachten. Was wir in unseren heutigen volkswirtschaftlichen Erscheinungen unter dem Begriff „Kapitalismus“ zusammenfassen, führt sich entwicklungsgeschichtlich ganz überwiegend auf das arabisch-islamische Reich zurück. Es kann schon deshalb hier gesagt werden, daß wir den Wechsel, das Bankwesen, die kaufmännische Buchführung dem Orient zu verdanken haben. Was wir heute deutsches Handelsrecht nennen, das ist ein Recht, an welchem die HandelsBuchseite 4völker des Orients seit Jahrtausenden in der raffiniertesten Weise gearbeitet haben.

Unsere nationalökonomische Literatur hat dadurch wenig gewonnen, daß sie die Geschichte des Orients fast vollständig vernachlässigt hat. Prof. Bücher würde nach Kenntnisnahme von dieser Geschichte niemals seine so energisch verteidigte Theorie aufgestellt haben: bis zur Entstehung des modernen Staates reiche die ausschliesslich haus- und stadtwirtschaftliche Epoche und erst von da ab sei die volkswirtschaftliche Entwicklung zu datieren. Das arabisch-islamische Weltreich hatte längst die volkswirtschaftliche Organisation zu einer geradezu großartigen Entfaltung gebracht. Diese so notwendige Beschäftigung der Nationalökonomie mit der orientalischen Geschichte muß freilich eine andere sein, als sie von Prof. Gustav Schmoller in seinem „Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ beliebt wurde. Was hier im letzten Bande (1904 erschienen) auf Seite 1125 ff. über arabisch-islamische Verhältnisse gesagt wird, ist Satz für Satz unrichtig. Von fachmännischer Seite wurden deshalb diese Schmoller’schen Ausführungen mit Recht als „eine Mißhandlung der islamischen Geschichte“ bezeichnet! Man wird uns also zubilligen, einen zeitgemäßen Literaturbeitrag geliefert zu haben, wenn wir im Nachfolgenden erstmals eine nationalökonomische Darstellung der Entwicklungsgeschichte des islamischen Weltreichs bieten. Für die besondere fachmännische Beratung darf auch an dieser Stelle dem Herrn Professor Martin Hartmann vom orientalischen Seminar in Berlin aufrichtiger Dank zum Ausdrucke gebracht werden.

Aus der Literatur sind hier vor allem zu nennen: A. Müller, der Islam im Morgen- und Abendlande, 2 Bde. Berlin 1885 und 1887. Alfr. von Kremer, Kulturgeschichte des Orients. 2 Bde. Wien 1875 und 1877. Derselbe, Ueber das Einnahmebudget des Abbasidenreiches vom Jahre 306 H. (918–919 n. Chr. )Wien 1887. Th. Nöldeke, Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der Sasaniden, aus der arabischen Chronik des Tabari, Leyden 1879, J. Wellhausen, Das arabische Reich und sein Sturz, Berlin 1902, A. Sprenger, Babylonien, das reichste Land in der Vorzeit und das lohnendste Kolonisationsfeld für die Gegenwart, Heidelberg 1886, ferner: Alfr. von Kremer, Ibn Chaldun, Sitzungsbericht der philos.-histor. Klasse der Akademie der Wissenschaften, Wien 1879, M. de Slane, les prolégomènes d’Ibn Khaldoun, traduits en Buchseite 5 français et commentés, Paris 2 Bde. 1865, Jos. Kohler moderne Rechtsfragen bei islamitischen Juristen, Würzburg 1885, derselbe, Die Commenda im islamischen Rechte, Würzburg 1885, derselbe islamisches Obligationen- und Pfandrecht, Zeitschft. f. vergl. Rechtswissenschaft 6. Bd. 1886 S. 208 ff., derselbe juristischer Excurs zu Peis, babylonische Verträge, Berlin 1890, derselbe, Ein Bankhaus vor 2500 Jahren im „Zeitgeist“, Beiblatt des Berliner Tageblatt No. 29 Juli 1901. Grasshoff das Wechselrecht der Araber, Berlin 1899, Schaube, Studien zur Geschichte und Natur des ältesten Cambium in Conrad’s Jahrbücher f. Nationalökonomie u. Statistik Bd. LXV. S. 153 ff., derselbe Betrachtungen zur Entstehungsgeschichte der Tratte, Zeitschft. d. Savingny-Stiftung, germanist. Abt. Bd. XIV. S. 111 ff. Palgrave, a narrative of a year’s journey through Central and Eastern Arabia 2 Bde. London 6. Aufl. 1871.

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§ 1. Die Entstehung einer Weltherrschaft aus verhältnismäßig kleinen und bescheidenen Anfängen hat naturgemäß vor allem zur Voraussetzung, daß nicht gleichzeitig ein großes machtvolles Staatswesen in politischer Nähe existiert. Die Zeitrechnung der Muhammedaner beginnt mit der Flucht ihres Propheten Muhammed (d. h. der Vielgepriesene) von Mekka nach Medina im Jahre 622 n. Chr., von den Arabern Hidschra genannt. Persien und das byzantinische Reich sind die beiden Großstaaten, gegen welche die Ausbreitung der arabischen Macht in erster Linie gerichtet sein mußte, und zu deren politischen Aufgaben es gehört hätte, den Emporkömmling zur rechten Zeit unschädlich zu machen. Hierzu waren damals die Zeitverhältnisse in Persien, wie in Byzanz wenig geeignet. Beide Großstaaten hatten in langen Kämpfen sich gegenseitig geschwächt. Thronstreitigkeiten, theologischer Zwist, Bürgerkriege und Zersplitterungsbestrebungen im eigenen Lande füllten die Tagesgeschichte aus. Eine immer beBuchseite 6denkliche Unterschätzung des Gegners tat das Uebrige. So kam es, daß sowohl die Perser wie die Byzantiner dem ungewöhnlich rasch aufstrebenden Reiche der Araber erst dann ihre Aufmerksamkeit schenkten, als es für beide bereits zu spät war.

§ 2. Die Heimat der welterobernden Araber ist bekanntlich die südwestlichste große Halbinsel Asiens, die durch den persischen Golf als Teil des indischen Ozeans vom Kontinent Asien getrennt wird und durch die syrisch-arabische Wüste mit ihm zusammenhängt. Durch die Landenge von Suez mit Afrika bezw. mit Aegypten verbunden und durch das rote Meer von diesen geschieden, repräsentiert das Land der Araber, bei ausgedehnter Küstenbildung, ein Uebergangsglied zwischen Asien und Afrika. Die Ausbreitung der Herrschaft nach diesen beiden Erdteilen konnte dadurch nur begünstigt werden. Die Flächenausdehnung des Landes ist eine große. Sie wird auf wenig unter drei Millionen Quadratkilometer, also auf etwa ein Viertel von Europa geschätzt. Davon sollen nach Palgrave drei Viertel anbaufähiges Land sein. Der herrschende Wassermangel jedoch hat der Pflanzenwelt zum überwiegenden Teile den Charakter der östlichen Sahara aufgedrückt. Die ausgedehnten Wüsten haben die dort wohnenden Menschen gezwungen, sich der Zucht von Tieren zu befleißigen, welche zur Ueberwindung von Entfernungen im Wüstenlande besonders geeignet sind. Daraus ist das ausgezeichnete arabische Pferd und das, für solche Gegenden unersetzliche, Menschen und Lasten tragende arabische Kamel hervorgegangen. Das arabische Pferd und das arabische Kamel sind von den gewaltigen Eroberungszügen der Araber untrennbar. Nur mit ihrer Hilfe war es den arabischen Herren möglich, durch die Wüsten von Indien, Persien, Kleinasien und Nordafrika mit überlegener Schnelligkeit sich zu bewegen und durch ein Buchseite 7 immer ganz überraschendes Auftreten den Gegner in eine weniger günstige Lage von Anfang an zu versetzen.

§ 3. Die Bevölkerung der arabischen Halbinsel wird für die Zeit Muhammeds auf etwa 5 Millionen Einwohner geschätzt, die zumeist nach Art der heutigen Beduinen im weitgestreckten Lande ein Nomadenleben führten. Das Volk war noch streng nach Familien und Stämmen gegliedert und von einem noch ungebändigten Freiheitsdrange getragen. Durch eine Reihe von Jahrhunderten hat es die Unterjochungsversuche der babylonischen, assyrischen, ägyptischen und persischen Könige abgewiesen. Und selbst das römische Weltreich hat hier nur Teilerfolge erzielen können. So war den Arabern der Kampf ihr Lebenselement geworden. Fehlte es an einem auswärtigen Feinde ihrer Freiheit, so kämpften sie unter sich um Blutrache, um einen Brunnen, um Weidegründe für ihre Herden, oder auch um ganz nichtssagende Dinge, wie um ein paar zertretene Lercheneier oder um den zweifelhaften Ausgang eines Pferderennens jahrzehntelang die blutigsten Fehden. Bei all dem hatten sich bestimmte Regeln einer gewissen ritterlichen Moral ausgebildet, deren Summe Muruwwa (virtus, Tugend) genannt wird. Die Wahrung der Ehre des Stammes und der Familie und die rachsüchtige Bekämpfung Aller, die derselben Abbruch getan, standen hier an erster Stelle. Trotz aller Freiheitsliebe aber hielt man sich durch einen einmal abgeschlossenen Vertrag gebunden. So wurde bei jeder Erledigung der Herrscherwürde durch Wahl, und nicht durch Erbrecht, der Nachfolger bestimmt. Aber so lange nicht ganz besondere Umstände gewaltsam sich geltend machten, wählte man den neuen Herrscher immer wieder aus der gleichen Familie. Großmütig waren die alten Araber in der Uebung der Gastfreundschaft, wie in der Beschützung der Verfolgten, die in ihren Zelten Schutz gesucht haben. Die Stellung Buchseite 8 der Frau war eine freie und hoch geachtete. Sie konnte unverschleiert ausgehen und auch männliche Besuche empfangen. Es galt als eine grobe Verletzung der guten Sitte, in Gegenwart einer Frau unanständige Reden zu führen. Die reiche poetische Begabung dieses Volkes findet ihren Ausdruck in der großen Zahl von schönen Volksgesängen, welche den alten Stammesfehden gewidmet sind. Aber auch für die uralte Tätigkeit des Handels: möglichst billig kaufen und möglichst teuer verkaufen, zeigten schon die alten Araber ebenso viel Neigung wie Verständnis. Eine Gelegenheit, sich zu bereichern, ließ man auch dann nicht gerne unbenützt vorübergehen, wenn die Erwerbsart die Form der Razzia angenommen und mithin nichts anderes als ein mit List und Gewalt ausgeführter Raubzug war. Die geographische Lage des Landes als Verbindungsbrücke zwischen drei Erdteilen — wenn wir berechtigter Weise neben Asien und Afrika auch noch Europa hinzurechnen — mußte dem Volke die Betätigung des Handels naherücken, die auch durch religiöse Sitten begünstigt wurde. Die alten Araber waren Götzendiener, die in der Kaaba in Mekka ein uraltes und weit im Lande anerkanntes Heiligtum besaßen, das durch Pilger fleißig besucht wurde. Bei der Länge des Weges, welcher zurückzulegen war, und den mancherlei Gefahren, welche in diesem kriegerischen Lande mit einer langen Reise verknüpft waren, mußte die Einrichtung großer Pilgerkarawanen zu ganz bestimmten Zeiten des Jahres geboten erscheinen. Solche Pilgermonate waren dann „heilige“ Monate geworden, in denen das Kämpfen durch Sitte und Verträge unbedingt verboten war. Die Zeit aber, in welcher die Pilgerkarawanen in Mekka zusammenkamen, bot auch die beste Gelegenheit zum Abschuß von Handelsgeschäften. So war das Volk und sein Land, das in überraschend kurzer Zeit zur Weltherrschaft kommen sollte.

Buchseite 9 § 4. Der erste Führer des arabischen Volkes auf der Bahn zur Weltherrschaft war sein Prophet Muhammed. Geboren zu Mekka im Jahre 571 n. Chr. aus dem Stamme Koreisch, lernte er als kleiner mekkanischer Kaufmann auf Handelsreisen nach Syrien die jüdische und christliche Religion kennen. Durch seine Vermählung mit der reichen Kaufmannswitwe Chadidscha in Mekka ökonomisch unabhängig geworden, suchte er in der Gebirgseinsamkeit der Umgegend von Mekka die Antwort auf die Frage nach der rechten Religion für das arabische Volk. Erfüllt von seiner neuen Gotteserkenntnis begann er nach ernsten seelischen Kämpfen öffentlich davon Zeugnis zu geben gegen den in Mekka herrschenden heidnischen Götzendienst. Er war deshalb ein Prophet im wahren Sinne dieser Bezeichnung. Wenn der deutsche Sprachgebrauch unter dem Worte „Prophet“ eine Person versteht, welche die Zukunft vorhersagt, so ist darin eine ungeheuerliche Entstellung der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes enthalten, deren sich die hebräische, griechische, lateinische und arabische Sprache nicht schuldig gemacht haben.

§ 5. Mit seinem festen Glauben an nur einen Gott (Allah), in dessen Willen man sich gläubig zu ergeben habe (Islam), verknüpfte Muhammed ein feines Empfinden für soziales Recht. Er wird in seiner kaufmännischen Praxis oft genug Gelegenheit gefunden haben, den volkswirtschaftlich vernichtenden Einfluß namentlich der Geldkapitalisten kennen zu lernen. Dieser Gefahr gegenüber mußte nach seiner Auffassung das Volk bedingungslos geschützt werden. Nach Muhammed war deshalb jede Form des Zinses für ein Gelddarlehen verboten. Aber der islamische Wucherbegriff ging nach Professor Kohler darüber noch weit hinaus und umfaßte jeden Geldgewinn aus dem Moment der Zeit. Die heute an unseren Börsen so sehr beliebten sog. „Kostgeschäfte“ (contractus Buchseite 10 mohatrae) waren schon zu Muhammed’s Zeiten den Arabern bekannt und nach dem Propheten als Wucher verboten, sobald zwischen Kaufs- und Verkaufspreis eine Gewinndifferenz zu Gunsten des Geldgebers verblieb. Ebenso war der Aufkauf und das Einsperren von Ware zum Zwecke einer Preistreiberei streng untersagt. Es gab Bestimmungen gegen den unlauteren Wettbewerb, zur Sicherung des Markenschutzes u.s.w. Trotz des streng zur Durchführung gekommenen Zinsverbotes war das Geld nicht verurteilt, nutzlos im Kasten zu liegen. Um das Kapital des Einen, der die Fähigkeit nicht besaß, damit zu produzieren, mit der wirtschaftlichen Tätigkeit und Befähigung des Anderen, der über kein oder nicht genügend Kapital verfügte, in Verbindung zu bringen, bediente Muhammed selbst sich der Kommanditgesellschaft (commenda, arabisch Kirad), welches Institut deshalb von dem islamischen Recht mit besonderer Vorliebe behandelt wurde. Daraus ergeben sich nach Professor Kohler folgende allgemeine Rechtsgrundsätze: Der Gerant wird durch eine Reihe von Bestimmungen gegen Auswucherung durch den Kapitalisten geschützt. Der Gerant hat volle Aktionsfreiheit. Der Kapitalist hat nicht das Recht, seine geschäftliche Tätigkeit durch Einreden zu stören. Wohl aber soll sich der Gerant im Prinzip aller unsicheren Spekulationen enthalten. In der Regel bringt der Kapitalist nur bares Geld in das Kommanditverhältnis ein. Werden von ihm noch andere unbare Einlagen gemacht, so gilt dafür ausdrücklich nur der genau nachgewiesene Selbstkostenpreis. Der Gerant erhält für seine Tätigkeit keinen Lohn, aber Ersatz für seine Reise- und Aufenthaltskosten. Nachdem die Geschäftsunkosten gedeckt sind und das Kapital zurückerstattet ist, wird der verbleibende Gewinn in der Regel zu gleichen Teilen zwischen dem Geranten und dem Kapitalisten geteilt. In ähnlicher Buchseite 11 Weise lauten die Bestimmungen für die Gesellschaften und Genossenschaften mit beschränkter und unbeschränkter Haftpflicht. Nach der heute herrschenden volkswirtschaftlichen Organisation ist das spekulative Privatkapital Leiter des Unternehmergeistes der Nationen. Nach der Auffassung Muhammed’s hat die schaffende produktive Arbeit die Leitung und dem Kapitalisten ist eine nachgeordnete Position zugeteilt. Erst auf dieser besseren Rechtsbasis hatte der Freihandel und die Freizügigkeit, für welche der Prophet durch ausdrückliches Verbot der Grenzzölle und aller Verbrauchsabgaben eingetreten ist, volle soziale Berechtigung.

§ 6. Zu seiner strengen Rechtlichkeit im wirtschaftlichen Verkehre mit Nebenmenschen kam noch eine ungewöhnlich umfassende Fürsorge für die Armen, Kranken und Bedürftigen und eine für jene Zeit außerordentliche Milde gegen Sklaven. Als Almosen- oder Armensteuer führte der Prophet eine allgemeine Vermögenssteuer ein, von welcher nur die kleineren Vermögen und dann der Grundbesitz befreit waren. Letzterer hatte statt der Armensteuer den Zehent als Grundsteuer zu entrichten. Die größeren Vermögen wurden von der Armensteuer mit einer leicht ansteigenden Progression erfaßt. Der normale Steuersatz scheint etwa 2 1⁄2% gewesen zu sein. Diese allgemeine Steuer zur Unterstützung der Armen, Kranken und Bedürftigen galt als eine religiöse Verpflichtung, an deren Erfüllung die Verheißung geknüpft war, daß damit der Geber und sein Besitztum von allen Sünden gereinigt werde. Dem ganzen Charakter dieser Steuer entsprach auch eine rücksichtsvolle Form der Erhebung. Schlechte, kranke und alte Tiere sollten bei der Steuereinschätzung nicht gezählt werden, wohl aber war der Steuereinnehmer beauftragt, kein als Steuerzahlung angebotenes Tier zurückzuweisen. Ergänzend kommt noch Buchseite 12 hinzu die streng eingeschärfte Verpflichtung, durch Almosen und Stiftungen sich an der Fürsorge für Arme, Kranke und Pilger zu beteiligen.

Der Sklave, welcher nach römischem Recht eine Sache war, über welche der Herr ohne Einschränkung nach Belieben verfügte, hat bei Muhammed als Mensch gegolten. Den Herren war eine menschenwürdige Behandlung ihrer Sklaven geboten. Sie sollten auch mit Arbeit nicht überlastet werden. Es war eine der wichtigsten Aufgaben der Polizei, die Einhaltung dieser Gebote zu überwachen. Bei der jährlichen Verteilung des Ueberschusses aus der Staatskasse wurden auch die zum Islam gehörenden Sklaven berücksichtigt. Der islamische Sklave war für sich erwerbsfähig. Die Freilassung der Sklaven wurde in besonderem Maße begünstigt. Verschiedene Verletzungen der religiösen Pflichten konnten durch Freigabe eines Sklaven gesühnt werden.

Hierher gehört noch der Grundsatz voller Gleichberechtigung aller Gläubigen (Muslemin) und die tolerante Behandlung der Juden und Christen, welche durch besondere Verträge gegen bestimmte Tributleistungen sich ihren Besitz, ihre Erwerbsfähigkeit und ihre Religionsausübung sichern konnten. Charakteristischer Weise enthielt der Wortlaut dieser Verträge die Beifügung: „So lange Gott will!“

§ 7. Aber Muhammed war nicht nur von seinem Glauben an den einzigen Gott durchdrungen und von idealen Rechtsempfindungen getragen, Muhammed war auch ein Kenner des arabischen Volkscharakters und hat wohl schon zu Anfang seines Prophetenberufes großen Zielen einer national-arabischen Politik Rechnung getragen. Auch in seiner Brust wohnten zwei verschiedene Seelen. Seine Religion war ihm auch Politik und zwar Buchseite 13 nicht nur Kirchenpolitik. Muhammed wollte neben dem Jenseits auch das Diesseits gewinnen. Das arabische Volk, wie es damals war, mußte ein fast unüberwindliches Eroberungsheer liefern, sobald es nur gelingen wollte, die im höchsten Maße partikularistisch veranlagten Volksstämme zu einer nationalen Einheit zusammenzufassen. Die neue Religion allein mit ihrem Bekenntnis zu einem Gott und seinem Propheten konnte zwar eine begeisterte und unbedingt ergebene Gemeinde von einigen tausend Köpfen schaffen, zur Einigung der Nation genügte das nicht. Muhammed sah sich deshalb vor allem auch veranlaßt, die ergiebigtsten Quellen der Stammesfehden zu verstopfen. Hier stand in erster Linie die Blutrache. Sie wurde unter den Gläubigen bei Todesstrafe verboten und durch eine Bußgeldleistung ersetzt. Weiter wurde das Weintrinken und Hazardspielen untersagt, weil auch hierdurch viel Feindschaft unter den Gläubigen entstanden ist und die vorgeschriebenen Gebetsübungen leicht vernachlässigt wurden. Diese Gebetsübungen versammelten fünfmal täglich die Gläubigen in der Moschee, wo dann sämtliche Handbewegungen des Vorbeters von den Anwesenden in genau gleichem Tempo nachgeahmt wurden. Dazu an jedem Freitag die Predigt, welche dem Führer der Gemeinde Gelegenheit bot, auch alle öffentlichen Angelegenheiten zur Sprache zu bringen. Man hat mit Recht gesagt: „Die Moschee war der Exerzierplatz der Muslimen, die hier als Araber endlich einmal gehorchen lernten“ ! Aber all das würde bei den so habgierigen Wüstenhelden nicht zugereicht haben, die nationale Einheit zu schaffen, wenn es Muhammed nicht gelungen wäre, aus der Gemeinde der Gläubigen eine Geschäftsgemeinde mit ungewöhnlich reichen Gewinnaussichten zu machen und zwar selbst auf die Gefahr hin, damit als Prophet die Grenze des sittlich Berechtigten weit zu überschreiten.

Buchseite 14 § 8. Als Muhammed im Jahre 622 n. Chr. mit seinen Fluchtgenossen (Mohadschir) von Mekka nach Medina sich gerettet hatte, stand er und seine Gemeinde mit den Mekkanern auf dem Kriegsfuße. Mit der Zunahme der Hülfsgenossen aus Medina (El Anssar) erstarkte die kriegerische Macht der neuen Vereinigung. Deshalb konnten Ueberfälle und Gefechte gewagt werden. Die dabei eroberte Beute wurde verteilt und zwar so, daß 1⁄5 die Staatskasse, 4⁄5 die Gemeindemitglieder nach Maßgabe ihrer Anteilnahme an dem kriegerischen Unternehmen erhielten. Grund und Boden hat man den Besiegten zur Bebauung überlassen gegen Abgabe der Hälfte des Naturalertrags, welche als „Grundsteuer der Unterworfenen“ — im Gegensatze zur Grundsteuer der Gläubigen, welche sich auf den „Zehent“ beschränkte — der Staatskasse zugute kam. Den Muslimen wurde verboten, in den eroberten Gebieten Grundbesitz zu erwerben, um eine Schwächung der kriegerischen Kräfte durch Ansiedlung von Gemeindemitgliedern in den neuen Ländergebieten zu verhüten. Versöhnt wurden die Gläubigen mit dieser, im ersten Augenblicke etwas überraschenden Maßnahme dadurch, daß der in der Staatskasse nach Deckung des Staatsbedarfs verbleibende Einnahmeüberschuß an die Gemeindemitglieder zur Verteilung kam. So wurde ihnen statt des Grundbesitzes der Grundertrag ausgeliefert. Die erste Anwendung dieser Verteilungsgrundsätze durch den Propheten findet sich nach der Eroberung von Cheibar im Jahre 628 n. Chr. (7. Hidshra). Noch heute nennt man im islamischen Reiche das Staatsvermögen „das Schatzhaus der Muslime“ (bait-mâl almoslimyn).

§ 9. Für die Gläubigen wurde diese Eroberungspolitik in die Formel des Religionskrieges und in den besonderen Auftrag gekleidet: „Bekämpfet die UnBuchseite 15gläubigen, bis sie Euch demütig die Steuer zahlen!“ Aber weil damit die Sache der Religion die Sache des gemeinsamen rücksichtslosen Erwerbs geworden war, konnte jetzt der Kern der niemals wankenden Strenggläubigen (der Anssars und der Mohadshirs) von der großen Masse der immer beutehungrigen Beduinen umschlossen werden, um die erobernden Heere bald lawinenartig anwachsen zu lassen. Schon genügte die einfache Aufforderung des Propheten, sich anzuschließen, um die Beduinenstämme in den entlegensten Bezirken zur Ablegung der so kurzen Bekenntnisformel: „Es gibt nur einen Gott und Muhammed ist sein Prophet“, wie zur Zahlung der gering bemessenen und schonend erhobenen Armensteuer zu veranlassen und damit das Anteilrecht an stetig wachsenden Beuteerträgen einzutauschen. Auch die stolze Aristokratie von Mekka, die in ihrem Herzen immer nur das goldene Kalb angebetet, hat sich jetzt formell nach und nach zur neuen Religion bekannt. Hatte doch der Prophet bei seinem militärischen Besuch in Mekka selbst die noch ungläubigen Koreischiten mit Geschenken förmlich überhäuft, „um ihre Herzen zu besänftigen“, wie der Koran sich dazu äußert. So war es für die Mekkaner nicht schwer, zu erkennen, daß mit Muhammed mehr zu verdienen war, als gegen ihn. Und mit dieser Einsicht war merkwürdiger Weise immer die „göttliche Berufung zum wahren Glauben“ verbunden.

§ 10. Der Erfolg, der ja der Gott nicht nur der Asiaten ist, war damit zunächst an die Fahne des Propheten geknüpft worden. Es ist ihm die nationale Einigung der Araber in überraschend kurzer Zeit geglückt. Aber nicht auf den Schlachtfeldern von Syrien und Persien, sondern bei der Verteilung der hier gewonnenen, fast unermeßlichen Beute ist die Vielheit der arabischen Stämme zu einer staatlichen Einheit Buchseite 16 zusammengeschweißt worden. Der Politiker Muhammed hat auf solche Weise in kurzer Zeit Erstaunliches erreicht. Aber der Prophet Muhammed ist damit von der Höhe seiner Gotteserkenntnis und der sozialen Gerechtigkeit in das niedrige Gebiet der Organisation des gewaltsamen Erwerbs hinabgestiegen. Es nutzte wenig, dem groß angelegten Raubzuge das Mäntelchen des „heiligen Krieges“ umzuhängen. Die Mehrzahl der Streiter und die besten Feldherren kümmerten sich wenig um den ganzen Islam. Ihnen war es lediglich um Beute zu tun. Ihr Säbel war ihr Koran, ihre Geldbörse ihre Sunna. Wie bald wird deshalb das Bekenntnis zum neuen Glauben lediglich an der Pünktlichkeit der übernommenen Zahlungen gemessen. Es konnte das Verwerfliche des ganzen Unternehmens nur wenig mildern, daß die eroberte Beute nach der persönlichen Beteiligung am Kampfe zur Verteilung kam und daß z. B. Soldaten, welche vor den Feind geführt wurden und nicht kämpften, ihren Anspruch auf Beuteanteil verloren haben.

Zur segenbringenden produktiven Arbeit wurde deshalb der gewaltsame Raub doch nicht. Unversöhnt und unversöhnlich standen innerhalb der Gemeinde um Muhammed die Strenggläubigen und die Glaubenslosen, die streng rechtlichen Idealisten und die habgierigen Raubtiere in Menschengestalt neben einander. Der Prophet selbst war so sehr ein sündiger Mensch geblieben, daß er sich nicht scheute, unbequeme Gegner durch Meuchelmörder beseitigen zu lassen. Nach seiner Religion war der Wucher verboten, die Unterstützung der Armen und Kranken, wie die milde Behandlung der Sklaven eine ernste Pflicht, aber der im Großen organisierte Raubmord bildete die weitaus wichtigste politische Aufgabe der Gemeinde der Gläubigen und der politische Meuchelmord war zum Mindesten gestattet. Nicht das soziale Recht zum Buchseite 17 Schutze der Arbeit gegen den Wucher jeder Art, sondern das Kriegsrecht als Rechtsordnung des gemeinsamen Erwerbs durch Gewaltakte war der weitaus wichtigste Teil der ganzen muhammedanischen Rechtsordnung. Das alles mußte zu einem Ende mit Schrecken führen, wenn auch zeitweilig noch so glänzende Erfolge vorausgingen. Bevor wir jedoch den ebenso verwickelten wie interessanten Prozeß der Auflösung der arabisch-islamischen Weltherrschaft kennen lernen, soll hier der Verlauf der großen Eroberungszüge mit den Kennzeichen der Blüteperiode der islamischen Kultur betrachtet werden.

§ 11. Das muhammedanische Kriegsrecht läßt sich etwa in folgende Sätze zusammenfassen: Die wehrfähigen Männer in Waffen werden getötet, Frauen und Kinder als Sklaven mit der gesamten beweglichen Habe weggeführt. Die Bauern werden geschont. Die Ländereien von Grundeigentümern, welche im Kampf gegen den Islam gefallen oder landesflüchtig geworden sind, werden konfisziert und als Staatsdomänen behandelt. Den Bauern bleibt ihr Grundeigentum, doch übt der Sieger das Recht, so viel Steuern von ihnen zu erheben, als sie tragen können. Zumeist werden die bereits vorhandenen Besteuerungsarten beibehalten. Die Grundeigentümer zahlen die Grundsteuer (charag) und mit der übrigen Bevölkerung die Kopfsteuer (gizja), beide entsprechen dem tributum soli und tributum capitis der Römer. In Ländern mit Goldwährung (Aegypten und Syrien) zahlten als Kopfsteuer alle erwachsene männliche Personen jährlich 40 Frs., in Ländern mit Silberwährung (Mesopotamien, Ostarabien, Persien) zahlten die Reichen jährlich 80, die mittlere Klasse 40, die Armen 20 Frs. In Aegypten gab es 8 Millionen Kopfsteuerzahler à 40 Frs., welche für richtige Steuerzahlung sichtbare bleierne Kontrollmarken am Halse trugen. In Babylonien wurden nach der Buchseite 19 Eroberung 550'000 Kopfsteuerpflichtige gezählt. Zölle und Verbrauchsabgaben wurden abgeschafft und Freihandel und Freizügigkeit allgemein eingeführt. Soweit als irgend angängig, blieb den Besiegten die lokale und kommunale Selbstverwaltung. Die gesamte Staatsbuchhaltung wurde zunächst nicht arabischen Händen, sondern Angehörigen der besiegten Völker anvertraut. So gab es in den byzantinischen Provinzen, in Persien, Aegypten und Syrien griechische Christen als Staatsbuchhalter, während in Babylonien und Mesopotamien Priester mit dieser Aufgabe betraut wurden. In den persischen Gebieten blieb wie vorher der persische Rittergutsbesitzer (Dihkan) mit der Steuereinhebung beauftragt. Angehörige der Besiegten finden wir auch als Polizeisoldaten verwendet. In den eroberten Gebieten war es den Arabern verboten, Grundbesitz zu erwerben. Andererseits wurden die Christen und Juden aus Arabien ausgewiesen, so daß das Stammland ausschließlich den Arabern reserviert blieb. Der Araber sollte nur als Eroberer, Regent und Regierungsgehilfe in den neuen Ländern erscheinen. Es blieb Sache der Besiegten, für die Herren des Landes zu erwerben und zu produzieren.

Neben der gewaltsamen Unterwerfung durch die Schärfe des Säbels kannte Muhammed auch die freiwillige Unterwerfung, für welche besondere Kapitulationen vereinbart wurden, die naturgemäß der kriegerischen Eroberung gegenüber gewisse Begünstigungen geboten haben.

Weiter spielte die Bekehrung zum wahren Glauben eine einschneidende Rolle. Wer die kurze einfache Bekenntnisformel: „Es gibt nur einen Gott und Muhammed ist sein Prophet“, aussprach und die üblichen Verpflichtungen zu erfüllen bereit war, gehörte zur Gemeinde. Eingegliedert wurde er in das streng nach Familien und Stämmen organisierte Volk durch seine Annahme als Klient von Buchseite 20 einem der arabischen Familienhäupter. Er gewann damit seinen Anteil an der Kriegsbeute, sobald er sich dem Kriegsdienst widmete. Unter allen Umständen partizipierte er an dem Ueberschuß der arabischen Staatskasse. Er war damit von der Kopfsteuer befreit. Aber auf sein Grundeigentum mußte er verzichten; das fiel im Interesse der Steuererträge an seine bisherigen Religionsgenossen zurück.

Endlich gehören hierher die bereits erwähnten Bestimmungen über Beute- und Staatseinkommenverteilung: 1⁄5 der Kriegsbeute gehörte dem Staat, 4⁄5 wurde unter die beteiligten Kriegsleute verteilt. Die Steuererträge kamen nach Abzug der Verwaltungskosten der betreffenden Provinzen ebenfalls in die Kasse der Zentralregierung, aus welcher die Ueberschüsse als Staatsdotationen an die Mitglieder des arabischen Volkes bis auf den Säugling an der Mutter Brust und den Klienten und gläubigen Sklaven verteilt wurden.

§ 12. Um für die siegende Macht dieses Kriegsrechts einigermaßen eine richtige Vorstellung zu gewinnen, wird es notwendig sein, sich die ökonomischen Verhältnisse zu vergegenwärtigen, wie sie zu Beginn der islamischen Eroberungen waren.

Die ahnenstolze Aristokratie von Mekka bezog ihr Haupteinkommen wahrscheinlich aus dem Karawanenhandel. Man rechnete dabei damals auf einen Gewinn von 50 bis 100% des angelegten Kapitals. Eine Karawane repräsentierte den Wert von 5 bis 800'000 Frs. An einer solchen Karawane war eine Reihe von Geschäftsleuten beteiligt. Nicht jede Karawane kam unberaubt an ihrem Reiseziele an. Die häufigen Stammesfehden werden gewiß den geschäftlichen Verkehr auch nicht gefördert haben. Trotzdem waren diese Verhältnisse im Ganzen nicht ärmlich zu nennen. Die Silberwährung hatte seit längerer Zeit Geltung. Aber Buchseite 21 die Geldbeträge, mit denen auch die Reichsten im Lande rechneten, waren nicht groß in unserem Sinne. Die höchste Ziffer, für welche die arabische Sprache ein einheitliches Wort besaß, war 1000. Der sprachliche Ausdruck für jede höhere Ziffer mußte durch Zusammensetzung gefunden werden. So bezeichnete man eine Million mit Tausend mal Tausend. Als nach den siegreichen Schlachten in Syrien einem Araber von seinen Landsleuten Vorhaltungen darüber gemacht wurden, daß er seinen Beuteanteil mit nur 1000 Frs. viel zu billig veräußert habe, soll dieser ganz erstaunt ausgerufen haben: „Ich wußte garnicht, daß es eine höhere Ziffer als 1000 gibt!“ Als zu Beginn der Regierung des Nachfolgers des Propheten (Chalife) Omar I. (644—656 n. Chr., 22—34 H.) der Statthalter von Bahram 1⁄2 Million Franken nach Medina zur Zentralkasse brachte, die augenblicklich keine Ausgaben hatte, weshalb der ganze Betrag zur Verteilung an das arabische Volk bereit stand, fragte der Chalife in seiner Verlegenheit die Gemeinde, ob er ihnen das viele Geld mit Metzen zumessen solle? Ein Mann aus dem Volke habe dann mitgeteilt, daß die Perser ihren Staatsschatz durch einen Dywan (Rechnungshof) in Ordnung halten ließen, so solle man es auch machen. Das war die Zentralregierung zu einer Zeit, als gerade ein Ländergebiet von der Ausdehnung des Deutschen Reiches und Oesterreich-Ungarns erobert wurde. Noch war der bescheidene Staatsschatz in der Privatwohnung des Chalifen aufbewahrt. Noch trieb der Chalife persönlich die jungen Kamele auf die Staatsweiden. Noch hatte der Chalife nicht einmal ein besonderes Einkommen in seiner Eigenschaft als Regent. 6000 Frk., welche der erste Chalife Abu Bakr (632—634 n. Chr., 10—12 H. ) aus der Staatskasse in einer Notlage entliehen, mußten seinem Auftrage gemäß seine Verwandten nach seinem Tode zurückerstatten. Derselbe Abu Bakr hatte in seiner zweijährigen Regierungszeit die Buchseite 22 Ueberschüsse aus der Staatskasse noch gruppenweise an je 100 Personen ausgezahlt. Die Summen, welche verteilt wurden, waren noch klein. Im ersten Jahre gab es 10, im zweiten 20 Frk. pro Kopf, Männer, Frauen, Kinder, Klienten und Sklaven gleich gerechnet. Wie mußte die als lösbar erkannte Aufgabe, die fabelhaften Schätze von Babylonien, Syrien, Aegypten und Persien zu erobern, auf die Spannkraft dieses Volkes einwirken?

§ 13. Anders lagen die Verhältnisse bei jenen Ländern, über welche das ganze Ungewitter hereinbrechen sollte. In Persien herrschten seit Jahren Thronstreitigkeiten, welche schon zu lange in blutige Bürgerkriege ausgeartet waren. Das darunter schwer leidende Volk sehnte sich nach Frieden. Der Kaiser Heraklius von Byzanz war fast immer in großer Geldverlegenheit, so daß die ohnehin nur mit 80—120 Frs. jährlich bezahlten Söldner von Zeit zu Zeit überhaupt keine Löhnung erhielten und dann in der Regel sich weigerten, gegen den Feind zu kämpfen, bis die rückständigen Lohnzahlungen ausgeglichen waren. Früher aus der Heimat ausgewanderte arabische Stämme saßen durch Mesopotamien bis nach Kleinasien zerstreut und waren zumeist zum Christentume übergetreten. Aber dieses Christentum war unter dem Einfluß des Bilderstreites in Byzanz so sehr zu einem Götzendienste entartet, daß das einfache klare Gottesbekenntnis des Islam dem Volke als ein religiöser Fortschritt erscheinen mußte, den als solchen die christlichen Araber um so leichter erkannten, je günstiger die klingenden Bedingungen waren, welche von den siegreich vordringenden islamischen Heeren ihnen für ihren Anschluß geboten wurden. In Sicilien hausten die byzantinischen Steuerzahler [Steuereintreiber] in einer so fürchterlichen Weise, daß die Einwohner sich empörten und die Muhammedaner zur Befreiung herbeiriefen. In Spanien war man gerade Buchseite 23 damit beschäftigt, die zahlreichen Juden mit Gewalt zum Christentume zu bekehren. Jeder Abfall von der Zwangsreligion wurde bei ihnen mit Geißelung und Vermögenskonfiskation bestraft. Dazu kam eine maßlose Bedrückung der Bauern durch die Geistlichkeit und den gothischen Adel, der unter sich wieder fortwährend in Fehde lag. Auch hier war die herrschende Klasse der schlimmste Feind des Landes und die Masse der einheimischen Bevölkerung hat den Sieg der islamischen Waffen als eine Befreiung aus schwerer Not empfunden.

§ 14. Der Siegeszug des Islam mußte unter solchen äußeren und inneren Verhältnissen alle Erwartungen weit übertreffen.

In der Entscheidungsschlacht bei Bedr (624 n. Chr., 2 H.) in welcher die junge Gemeinde um Muhammed ihre Existenz gegen die mekkanische Aristokratie zu verteidigen hatte, kämpften 306 Mann mit 70 Kamelen und 2 Pferden bei Muhammed gegen 950 Mann mit 700 Kamelen und 100 Pferden auf der feindlichen Seite. In der Schlacht bei Akraba (633 n. Chr., 11 H.), als ein Jahr nach des Propheten Tod die erwachten Abtrennungsgelüste unter den arabischen Stämmen niedergeschlagen und die nationale Einheit mit Waffengewalt wieder hergestellt wurde, kämpften 4000 Muslims gegen 8000 Gegner. In der Entscheidungsschlacht gegen die Byzantiner in Syrien am Hiromax im Jahre 636 n. Chr., 15. H. und also nur drei Jahre nach der Schlacht bei Akraba kämpften 25 bis 30'000 Muslims gegen 80'000 Byzantiner und Armenier. Nur ein Jahr später in der Schlacht bei Kadesia, welche das Perserreich unterworfen hat, standen 38'000 Araber 80'000 Persern gegenüber. Im Jahr 636 n. Chr. sollen höchstens 80'000 Mann außerhalb der Heimat gestanden sein. Für das Jahr 650 n. Chr. wird das Heer des Islam auf 250'000 bis 300'000 Mann geschätzt. Im Buchseite 24 Jahre 651 n. Chr., also 29 Jahre, nachdem Muhammed aus Mekka nach Medina flüchten mußte, um sein Leben zu retten, beherrschte der Islam ein Gebiet in der Ausdehnung von etwa der Hälfte Europas; 120 Jahre später umfaßte das arabisch-islamische Weltreich ein Gebiet von der Ausdehnung des europäischen Kontinentes und noch einmal die Fläche von Deutschland und Oesterreich-Ungarn hinzugerechnet. Von den Säulen des Herkules und dem großen Ozean des Westens bis zu den fabelhaften Meeren der Finsternis, wie die Araber den indischen Ozean nannten, dehnte sich der von ihnen unterjochte Teil der Erde aus.

§ 15. Als Organisator dieses Weltreiches haben wir den bereits wiederholt genannten Chalifen Omar I. zu bezeichnen. Die aus der Gemeinde gegebene Anregung, eine geordnete Staatsbuchhaltung einzuführen, fand bei ihm volle Beachtung. Nach byzantinischem Muster wurde ein Volksregister angelegt, in welches die Gliederung des Volkes nach Stämmen und Familien mit Klienten und Sklaven, mit Geburten und Todesfällen und mit den Freilassungen der Sklaven u.s.w. eingetragen wurden. An Hand dieser Bevölkerungsliste setzte Omar die Höhe der Staatsdotationen fest und zwar nach Maßgabe der Verdienste des Einzelnen um den Islam. An erster Stelle wurden die Witwen des Propheten bedacht mit einem Jahresgehalt von 100'000 bis 120'000 Frs. Die noch lebenden Teilnehmer an der Schlacht bei Bedr erhielten 50'000 Frs. jährlich. Weitere Gruppen der Bevölkerung wurden mit 40'000, 30'000, 20'000, 5000, 3000 und 2000 Frs. bedacht. Je 1000 Frs. jährlich gehörten für jedes Kind an der Brust und für Sklaven und Klienten. Außerdem erhielt jeder Einwohner von Medina monatlich zwei Metzen Weizen und zwei Maß Essig in natura geliefert. Jeder Soldat bekam — statt nur 80 bis Buchseite 25 120 Frs. jährlich, wie in Byzanz — 2000 Frs. jährlich, dazu monatlich in der Provinz Irak 15 Sad Weizen und ein bestimmtes Quantum Schmalz, in Aegypten 15 Sad Weizen und ein bestimmtes Quantum Schmalz, Honig und Linnen, in Syrien und Mesopotamien 2 Modd Weizen und je drei Kisten Oel, Schmalz und Honig. Endlich gehörte dem Soldaten der entsprechende Anteil an 4⁄5 der eroberten Beute. Nach dem entscheidenden Siege bei Kadesia über die Perser wurde der Wert der in Ktesiphon allein eroberten Schätze amtlich auf 900 Millionen Franken ermittelt. Auf jeden Soldaten sind davon 12'000 Frs. entfallen. Jetzt verfügte der gewöhnliche Mann unter den Arabern über ein so großes Einkommen, wie es vor Muhammed kaum die reichsten Leute in Mekka gehabt haben. Unter solchen Umständen wird es gewiß begreiflich, daß das siegreiche Heer der Araber ebenso lawinenartig angewachsen ist, wie in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts die Goldsucherstädte auf den besten aluvialen Goldfeldern in Nordamerika und Australien.

§ 16. Den besten Herrschern des arabisch-islamischen Weltreiches kann man die Anerkennung nicht versagen, daß sie in einer Reihe von Maßnahmen nach großen wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten gehandelt haben. Als unmittelbar nach der Eroberung von Persien, Syrien und Aegypten im Jahre 639 n. Chr., 18 H. eine Hungersnot mit einer verheerenden Seuche in Arabien ausbrach, die auch Syrien heimsuchte, ließ Omar I. in weniger als einem Jahre eine Art Suezkanal herstellen, indem er durch den Landstreifen zwischen Kairo und dem roten Meere einen Kanal bauen ließ, auf welchem die mit Getreide beladenen Schiffe vom Nil direkt nach der arabischen Küste fahren konnten. Es wird berichtet, daß von da ab die Getreidepreise in Mekka und Medina auf das Niveau der Buchseite 26 ägyptischen Getreidepreise gefallen seien. Hier blieb die Brotversorgung der Hauptstadt Medina von Aegypten abhängig. Durch die Verlegung der Zentralregierung nach Damaskus (661 n. Chr.) in die so fruchtbare Ebene des wasserreichen Baroda wurde die Brotversorgung der Residenzstadt mehr in unmittelbarer Nähe gesichert, bis endlich die Residenz der Abbasiden (750 n. Chr.) nach Bagdad mitten in die eigentliche Kornkammer des Reiches wanderte. Auch im arabisch-islamischen Weltreiche ist also — wie einst in Rom — die Reichsregierung dem Getreide nachgezogen.

Während die arabischen Eroberer die städtische Bevölkerung zumeist die ganze Strenge ihres Kriegsrechtes fühlen ließen, haben sie ausnahmslos den Bauer schonend behandelt. In einer Reihe von Fällen hören wir von großartigen Bewässerungsanlagen, welche die arabische Regierung im Interesse der Landkultur, später auch im Interesse der Wasserversorgung der Städte habe ausführen lassen. Den Landwirten wurden aus der Staatskasse Millionen als Meliorationskredit zinsfrei zur Verfügung gestellt. Die Blüte, welche das landwirtschaftliche Gewerbe unter der arabisch-islamischen Regierung erreichte, ist selbst in Spanien und Sicilien inzwischen nicht wieder erreicht worden. Wie man auch die Literatur der Landwirtschaft zu fördern bemüht war, geht daraus hervor, daß schon damals ein landwirtschaftlicher Kalender mit Angaben über die landwirtschaftlichen Arbeiten zu den verschiedenen Jahreszeiten erschienen ist.

§ 17. Wie müssen Handel und Gewerbe sich entfaltet haben, nachdem innerhalb dieses gewaltigen Ländergebiets uneingeschränkter Freihandel und volle Freizügigkeit zur Geltung kamen! Schon unter den ersten Omaijaden-Chalifen Moawija und Addalmelik (661—705 n. Chr., 39 bis 83 H.) ist man allgemeiner zur Goldwährung überBuchseite 27gegangen und hat eine geordnete Prägung arabischer Goldmünzen begonnen. Die vorgeschriebenen Pilgerfahrten nach Mekka haben auch jetzt den Verkehr zwischen den entlegensten Gebieten des Reiches wesentlich gefördert. Die Organisation der Reichspost soll 930 Stationen gezählt und in der Provinz Irak allein dem Staate jährlich vier Millionen Franken gekostet haben. Die arabischen Reichspostkursbücher sind unsere ersten geographischen Werke geworden. Die Leistungsfähigkeit dieser Reichspostanstalt war eine so hervorragende, daß sie gelegentlich den Transport ganzer Heeresabteilungen von Bassra und Kufa nach den indischen Provinzen übernehmen konnte. Wir haben in der Blütezeit des arabischen Welthandels zweifelsohne mit einem jährlichen Geldumsatze von Milliarden zu rechnen. Dementsprechend finden wir eine umfassende Ausbildung des Zahlungsverkehrs in diesem Weltreich mit Geldanweisungen, aber auch mit einem ausgedehnten Wechselverkehr, dementsprechend ein gut durchgebildetes Handels- und Wechselrecht.

Sogar ganz moderne Fragen, wie die Verstaatlichung der städtischen Grundrente finden wir im arabischen Weltreiche längst gelöst. Ein Abbasidenchalife Motasim fühlte sich in Bagdad nicht mehr behaglich und beschloß deshalb im Jahre 836 n. Chr. (221 H.) etwa 15 Meilen stromaufwärts sich eine neue Residenzstadt zu bauen. So entsteht mit einem Aufwande von etwa 200 Millionen Franken das neue prächtige Ssamarra mit seinen Staatspalästen für den Chalifen, für die Soldaten und für die Beamten. Im Stadtbauplan waren breite Straßen und große freie Plätze vorgesehen, von denen ein entsprechender Raum an die Kaufleute zum Aufstellen ihrer Verkaufsbuden vermietet wurden. Der Ertrag dieser staatlichen Grundstücksverpachtung soll dem Chalifen jährlich eine Einnahme von 10 Millionen Franken gebracht haben.

Buchseite 28 Aus der staatlichen Finanzverwaltung ist m.W. nur einmal aus späterer Zeit die Aufnahme einer Staatsanleihe bekannt geworden. Als Regel galt für den guten Staatshaushaltsplan, keine Schulden zu machen, sondern einen möglichst großen Staatsschatz in barem Gelde anzusammeln. So hinterläßt der Chalif el Mansur (754 bis 775 n. Chr.) einen Staatsschatz von 960 Millionen Franken, Harûn Rashid (786 bis 809 n. Chr.) einen solchen von 900 Millionen Franken. Der ausgezeichnete Chalife Abderrachmann III von Cordova (912 bis 961 n. Chr.) hat sein jährliches Staatseinkommen von 125 Millionen Franken zu 1⁄3 für das Heer, zu 1⁄3 für allgemeine Kulturzwecke und zu 1⁄3 zur Ansammlung eines Staatsschatzes verwendet, dessen Höhe im Jahre 951 n. Chr. die Summe von 400 Millionen Franken erreichte. Im Jahre 1903/4 hatte das heutige Spanien eine Staatseinnahme von rund 1 Milliarde Franken, wovon 416 1⁄2 Millionen — oder nahezu die Hälfte — im Dienste der rund 9 Milliarden betragenden Staatsschulden verausgabt wurden, während für Armee und Marine und für Zwecke der allgemeinen Kultur je etwa 174 Millionen Franken Verwendung fanden.

Daneben dürfen großartige Einrichtungen zu Gunsten der Armen, der Kranken und der Pilger nicht unerwähnt bleiben.

§ 18. Die Raschheit, mit welcher nach Beginn der arabischen Weltherrschaft große Städte aus der Erde wuchsen und die wirtschaftlichen Werte sich vervielfältigten, kann mit der besten modernen Entwickelungsperiode der Vereinigten Staaten von Nordamerika verglichen werden. Baßra und Kufa, welche erst etwa 640 n. Chr., 18 H. als ständige Militärlager gegründet wurden, haben 30 Jahre später je eine Bevölkerung von 150'000 bis 200'000 Einwohner. Bagdad hat in kurzer Zeit eine Million Einwohner erreicht. Cordova „die helle Buchseite 29 Zierde der Welt, die junge herrliche Stadt, stolz auf ihre Wehrkraft, berühmt durch die Wonnen, die sie umschließt, strahlend im Vollbesitz aller Dinge“ — wie sie um das Jahr 960 n. Chr. die gelehrte Nonne Hrotswitha von Gandersheim gepriesen hat, beherbergte 1⁄2 Million Einwohner. Eine gleich hohe Einwohnerzahl hatte Damaskus unter den Omaijaden. Auch Kairo soll eine Million, Alexandrien 1⁄2 Million Einwohner gehabt haben u.s.w. Ein Mann verkaufte an den ersten Omaijaden-Chalifen in Damaskus etwa 661 n. Chr., 39. H. ein Haus zum Preise von 60'000 Frs. Als man ihm sagte, daß er damit sein Haus offenbar viel zu billig verkauft habe, antwortete er: „Ich habe dieses Haus kurz vor Muhammed um einen Schlauch Wein gekauft.“ Eben dieser nachmalige Chalife Moawija wurde vom Propheten „ein armer Schlucker“ genannt, weil er in Mekka nie einen Pfennig Geld in der Tasche hatte. Er brachte es als Chalife auf ein Jahreseinkommen von über 100 Millionen Franken. In der besten Zeit erreichte das Chalifeneinkommen pro Jahr 300 bis 400 Millionen Franken und mehr. Die Mutter des Chalifen Harûn Rashid verfügte jährlich über ein Einkommen von 160 Millionen Franken. Ein reicher Hashimide unter dem Chalifen Al Mahdy (775 bis 785 n. Chr.), in Baßra wohnhaft, hatte ein tägliches Einkommen von 100'000 Frs., er soll 50'000 Klienten gehabt haben. Ein Juwelier schätzte selbst sein Vermögen auf 200 Millionen Franken ein. Unter Omar I. bezieht der Statthalter einer Provinz ein Jahresgehalt von 12'000 Frs., bald aber ist das Statthalter- und Ministereinkommen per Jahr auf drei und selbst auf 13 Millionen Franken gestiegen. Der Leibarzt des Chalifen Harûn Rashid erhielt jährlich 120'000 Frs. an Geld und 160'000 Frs. in Naturalien und Geschenken. Das Richtergehalt in Kairo betrug im Jahre 827 n. Chr. 48'000 Frs. per Jahr u.s.w. Mit diesen für uns heute noch vielfach Buchseite 30 unerreichten Ziffern darf nicht etwa die Vorstellung verknüpft werden, es wäre damals alles ganz unverhältnismäßig teuerer gewesen, als heute. Denn diese Annahme wäre durchaus unzutreffend. Bei der Erbauung von Bagdad (763 n. Chr.) wurde nach Sprenger als Tagelohn für einen Arbeiter 2 2⁄5 Pfg., für einen Werkmeister und Aufseher 4 7⁄10 Pfg. gezahlt. Im Jahre 985 n. Chr. kostete ein Essen in einem mit allem Komfort ausgestatteten Restaurant in Bagdad 8 1⁄3 Pfg. In Kesker konnte man 1224 n. Chr. 24 fette große Brathähne um 1 Frs. kaufen. Im Verhältnis zu diesen Ziffern muß der Preis für Brotgetreide (Weizen und Gerste) als verhältnismäßig hoch bezeichnet werden, wenn er für die Zeit der Erbauung von Bagdad auf 50 bis 60 Mk. per 1000 Kilo angegeben wird. Eine naheliegende Erklärung hierfür bietet sich in der Tatsache, daß Getreide eine hohe Steuer zu tragen hatte, während die Produkte der Viehhaltung unbesteuert blieben. Im Ganzen aber bestätigen all diese Ziffern nur immer wieder: die arabisch-islamische Kultur war nicht auf der Arbeit des Volkes, sondern auf dem organisierten Raub der herrschenden Klasse aufgebaut. Deshalb hatte die Masse der Beherrschten so wenig Anteil an derselben.

§ 19. Entsprechend dieser ganz außergewöhnlichen Zunahme des Reichtums der herrschenden Klasse war auch die Größe des Luxus. Wiederholt wird von Privatpalästen berichtet, deren Bau einen Aufwand von 20 Millionen Franken und mehr erforderte. Es wird von Torflügeln erzählt aus Ebenholz mit Goldblech. Als Baumaterial wird vielfach Marmor bevorzugt. Im Empfangsraum speisen Löwen aus Gold das Wasserbecken. Dazu kostbare Teppiche, Stuckarbeiten, chinesische Vasen, Lacksachen, goldene Kandelaber und kostbare Möbel. Die Kochkunst wird so hoch geschätzt, daß ein Abbassidenprinz sich nicht zu gut dünkt, ein Kochbuch zu schreiben. Ein Gericht aus FischBuchseite 31zungen kostet pro Person 1000 Frs. Feine Parfümerien werden mit Gold aufgewogen. Die Damenhemden sind aus feinem venetianischem Gazestoff verfertigt. Eine Tapete, welche im Jahre 964 n. Chr. für den Fatamidenpalast nach Aegypten geliefert wird, kostete 220'000 Frs. [Für] junge, besonders schöne Sklavinnen, welche in der Musik- und in der Tanz- und Dichtkunst gut unterrichtet sind, werden bis 80'000, 100'000 und 170'000 Frs. bezahlt. Ein Liedercyklus, den ein Sänger vor dem Chalifen vorgetragen, bringt ein Honorar von 300'000 Frs. Bei der Hochzeit eines Chalifen wurden über die als Gäste geladenen Damen Körbe mit großen echten Perlen als Geschenke ausgeschüttet. Unter die gleichfalls geladenen Großen des Reiches und hohen Offiziere hat man kleine Papierstreifen ausgestreut, auf welchen die Namen großer Grundbesitzungen verzeichnet waren. Wer einen solchen Zettel sich aneignete, war Eigentümer der betreffenden Grundherrschaft geworden. Andere Zettel trugen die Bezeichnung von Reitpferden, Sklaven u.s.w. Es wird von einem Handspiegel aus Silber und Gold berichtet, dessen Handhabe ein einziger großer Smaragd war. In dem Chalifenpalast zu Bagdad befand sich ein goldener Garten, dessen Bäume aus Gold statt der Früchte Edelsteine trugen und dessen Blumen und Vögel aus Gold mit Schmelz hergestellt waren.

§ 20. Mit dem Reichtum und mit dem Luxus ist immer auch eine gewisse Blüte der Kultur verbunden. Gesättigte und zufriedene Existenzen sind duldsam gegen Andersgläubige. Wir finden in den besten Zeiten der islamischen Geschichte die Vertreter der verschiedenen Religionsbekenntnisse friedlich mit einander im Verkehre stehen. Die dadurch geförderte größere Unbefangenheit des Urteils mußte mit dem regeren Meinungsaustausch auf der Basis der reichen Mittel, welche zur Verfügung standen, zu tüchtigen Leistungen auf verschiedenen Wissensgebieten Buchseite 32 führen. Die Ueberlieferung berichtet denn auch von einer Reihe berühmt gewordener Hochschulen, auf denen neben der Theologie die Jurisprudenz, die Grammatik, die Philosophie, die Geschichte, die Geographie, Mathematik, die Kulturwissenschaften und die Medizin gepflegt wurden. Einsichtsvolle Regenten waren bemüht, die besten wissenschaftlichen Werke fremder Kulturvölker durch Uebersetzungen ins Arabische dem Volke zugänglich zu machen. So sind namentlich die Werke der griechischen Autoren den Arabern bekannt geworden. Auf Vervollständigung der Bibliotheken wurden z.T. ganz besondere Mühen verwendet. Die Bibliothek von Cordova soll 400'000 Bände gezählt haben. Aber auch die allgemeine Volksbildung wurde in einzelnen Teilen des Reiches gepflegt. Aus Spanien wird für das Jahr 960 n. Chr. erzählt, daß in Andalusien fast Jedermann lesen und schreiben konnte, während gleichzeitig im übrigen Europa selbst hochgestellte Personen, soweit sie nicht der Kirche angehörten, über diese elementaren Fertigkeiten nicht verfügten. Die höhere landwirtschaftliche Kultur des damals herrschenden Orients hat in Europa wie in Afrika ihre deutlichen Spuren zurückgelassen. Mit der Ausdehnung, Einrichtung und Organisation des arabischen Welthandels konnte sich um das Jahr 750 n. Chr. der Handel keines anderen Reiches der Erde vergleichen. Nicht minder haben sich Gewerbe und Industrie ausgebreitet. Die arabische Papierfabrikation aus Baumwolle hat im XI. und XII. Jahrhundert das Pergament in Europa verdrängt. In der Herstellung seidener Prachtgewänder mit Goldfäden hatten Irak und Syrien ein tatsächliches Monopol. Dazu kommt die Herstellung besonders wertvoller Teppiche und Tapeten, von kostbaren Möbeln, köstlichen Wohlgerüchen, von schönen Buchbinderarbeiten, kunstvollen Zelten, von berühmten Waffen und Rüstungen u.s.w.

Buchseite 33 § 21. Für die Volkswirtschaftslehre bietet noch die Tatsache ein besonderes Interesse, daß auch die arabische Welt — ähnlich der griechischen — zu einer Zeit, in welcher der Untergang des Reiches schon besiegelt war, den Aristoteles der arabischen Kultur hervorgebracht hat: Ibn Chaldun. Geboren zu Tunis im Jahre 1332 n. Chr., aus einer angesehenen Familie des spanischen Arabien stammend, mit den Verhältnissen fast der ganzen arabischen Welt aus persönlicher Augenscheinnahme bekannt, starb er im Jahre 1406 n. Chr. als Oberrichter und Sekretär des Sultans in Kairo. Professor von Kremer hat ihn den ersten kritischen Kulturhistoriker mit induktiver Methode genannt. Sein Hauptwerk beschäftigt sich mit dem großen volkswirtschaftlichen Problem des Fortschritts und Niederganges der Völker. Seine Endresultate klingen in einem heute noch vielfach vertretenen Pessimismus aus: jedes Reich und jedes Volk geht nach einer bestimmten Zeit zu Grunde. Seine diesbezüglichen Untersuchungen ruhen auf einer ungewöhnlich umfassenden Basis. Er berücksichtigt die geographische Lage des Landes, Sitte, Moral, Religion, privates und öffentliches Recht, die Zeitverhältnisse, die Rassenfrage, die Landesverteidigung und ganz besonders die volkswirtschaftlichen Verhältnisse. Er untersucht das Geld bis in die letzten Konsequenzen der Kapitalistenherrschaft, die Bevölkerungsfragen mit der Brotversorgungspolitik und der öffentlichen Gesundheitspflege, er beschäftigt sich mit der Steuerpolitik und dem Finanzwesen, mit den Staatsmonopolen, der Agrarpolitik, der Handels- und Händlerpolitik. Schon Ibn Chaldun kennt den Unterschied zwischen Tauschwert und Gebrauchswert. Er schreibt sehr viel zutreffendes über Luxus und Reichtum. In seiner Getreidepreispolitik will er zu niedrige und zu hohe Getreidepreise gleich sehr vermieden wissen, ohne dabei zu vergessen, daß ein guter Markt für Getreide im Interesse des ganzen Buchseite 34 Volkes am meisten zu wünschen sei. Wenn der Getreidebau viel einbringt, zieht der Staat den meisten Nutzen daraus. Hier finden sich deutlich die Elemente der Ricardo’schen Grundrententheorie. Die Arbeitsteilung wird eingehend als wichtige Quelle des Reichtums und der Kultur behandelt. Und selbst der Begriff „Lieferwaren“ unserer modernen Börsenusancen findet sich schon bei Ibn Chaldun. Wie Professor Kohler moderne Rechtsfragen mit entschiedenem Vorteile für unsere Kenntnisse an den Entscheidungen und Theorien der alt-islamischen Juristen gemessen hat, so kann auch unsere nationalökonomische Wissenschaft nur gewinnen, wenn sie endlich beginnt, sich mit den Ausführungen des Ibn Chaldun näher bekannt zu machen.

§ 22. Der Chalife Omar I., den wir bereits als Organisator des arabisch-islamischen Weltreiches kennen gelernt haben, hatte als sein Testament folgende Regierungsätze hinterlassen: „Ich empfehle meinen Nachfolgern die Fluchtgenossen und Hülfsgenossen des Propheten, die Bewohner der militärischen Standlager, die Einsammler der Steuern. All diesen sollten nur solche Steuern auferlegt werden, als sie freiwillig zahlen. Ich empfehle die Beduinen, die die Wurzel der Araber und der Kern des Islam sind, sie sollen ihre Armensteuern unter ihre Armen verteilen. Die Verträge mit den Ungläubigen soll man halten und sie nicht zu sehr mit Steuern belasten.“ Auf seinem Sterbebette schlägt Omar I., mit Umgehung seines eigenen Sohnes, Othmann als seinen Nachfolger vor. Als er die Liste der Staatsdotationen festsetzte, riet ihm seine Umgebung, in seiner Eigenschaft als Chalife sich an erster Stelle zu bedenken. Er tat es nicht, sondern setzte an erste Stelle die Witwen des Propheten, um sich selbst an zweiter Stelle, in der gleichen Reihe mit einer größeren Zahl seiner Glaubensgenossen mit etwa der halben Summe zu begnügen. Man ersieht aus alldem: innerhalb des von Muhammed einmal gegebenen Raubrechtes war Omar in Buchseite 36 ehrlicher Weise bemüht, dem menschlichen Gerechtigkeitsempfinden treu zu bleiben und auch die Henne nicht zu schlachten, welche die goldenen Eier in das „Schatzhaus der Muslime“ legen sollte. Die große Mehrzahl der im Staate maßgebenden Gläubigen liebte eine weniger ideale Lebensauffassung. Kaum hatte Muhammed die Augen geschlossen, als auch die zentralarabischen Stämme bereits die Erklärung nach Medina schickten, sie wollten zwar beim Islam bleiben, aber keine Armensteuer mehr zahlen, m.a.W. sie wollten die Vorteile des Islam genießen, aber möglichst ohne Gegenleistung ihrerseits. Was vielleicht noch bedenklicher war: es fanden sich jetzt schon falsche Propheten, welche die Methode Muhammeds nachzuahmen versuchten, um als direkte Beauftragte Gottes eigene Religionsanhänger zu gewinnen und durch deren Hülfe zu politischer Macht und vielleicht auch zu ökonomischem Reichtum zu gelangen. Von da an bis in unsere Tage wird die muhammedanische Welt immer wieder von Unternehmern heimgesucht, welche den Prophetenberuf als ein ausgezeichnetes Geschäft betrachten und in der Tat oft genug dabei ausgezeichnete Geschäfte machen. Der erste Chalife Abu Bakr verstand solchen Bestrebungen gegenüber keinen Spaß. Seine Antwort an die zentralarabischen Stämme lautete: „Unbedingte Unterwerfung unter den Islam oder Krieg bis zur Vernichtung!“ Der Ausgang der Schlacht bei Akraba hat seiner Politik zunächst Recht gegeben. Aber das Blut, das hier vergossen wurde, um die heidnisch-arabischen Stämme unter die Fahne des Islam zu zwingen, war deshalb nicht vergessen. Denn trotz des Koran hielten die Araber auch weiter an ihrem alten Grundsatze fest: „Meine Rache muß ich haben und sollte die Welt darüber zu nichte gehen!“ Die Gelegenheit zur reichlichen Heimzahlung an die frommen Herren von Medina boten nur zu Buchseite 37 bald die habgierigen Pläne von Mitgliedern der Familie Koreisch, der bekanntlich auch der Prophet entsprossen war, und für welche der Koran eine besondere Anweisung auf die geschäftlichen Erträge des islamischen Unternehmens enthielt.

§ 23. Der Nachfolger von Omar I. war Othmann geworden, ebenfalls ein Koreischite. Er war nicht blind jenen schamlosen Diebstählen gegenüber, deren sich die arabischen Herren im neuen islamischen Reiche befleißigten. Sein Streben war deshalb darauf gerichtet, vor allem die Steuereinhebung von den Funktionen der Statthalter in den Provinzen zu trennen. Der Statthalter von Aegypten Amr schrieb ihm darauf ganz offen: „Wenn hier ein Anderer die Steuer einzieht, dann bin ich in der Lage eines Mannes, welcher die Kuh bei den Hörnern festhält, während ein Anderer sie melkt.“ Othmann war zu schwach, um den verdienten General, welcher Aegypten dem Islam erobert hatte, die Staatskuh nicht weiter melken zu lassen. Diese seine persönliche Gutmütigkeit ließ die Ansprüche seiner nächsten mekkanischen Verwandten immer maßloser werden. Seinem Vetter, dem „armen Schlucker“ Moawija, gab er den Statthalterposten für Syrien in Damaskus und schenkte ihm die in Syrien gelegenen Staatsdomänen, deren Erträge bisher in die Staatskasse geflossen waren. Othmann durchbrach somit das so wichtige Omar’sche Staatsgrundgesetz, wonach kein Araber außerhalb Arabiens Grundbesitz erwerben sollte. Auch die übrigen guten Staatsämter besetzte er mit seinen Verwandten und Günstlingen, welche alle wie die Raben gestohlen haben. Das Omar’sche System der Jahresdotationen aus der Staatskasse an die Gläubigen wurde damit durchbrochen. Die Einnahmen der Staatskasse genügten bald nicht mehr für die Auszahlungen, an welche sich die Gläubigen nur zu rasch gewöhnt hatten. Die Masse der Gläubigen sah sich gegenBuchseite 38über den Verwandten und Günstlingen Othmann’s entschieden benachteiligt. Die Unzufriedenen sammelten sich in Medina, stürmten das Haus des Chalifen und als der alte Herr nicht abzudanken beliebte, wurde er ermordet. Zu seinem Nachfolger hat man den strenggläubigen Ali, Schwiegersohn des Propheten Muhammed, (656 n. Chr. ) ausgerufen.

Mit dieser Wendung der Dinge war natürlich die in fette Staatspfründen eingewiesene mekkanische Aristokratie nicht einverstanden. Der Statthalter von Damaskus Moawija verweigerte die Anerkennung des neuen Chalifen und bereitete sich mit seinen ihm ergebenen syrischen Truppen auf den Kampf vor. Der schlaue Amr in Aegypten schloß sich Moawija an. Ein anderer Statthalter Ja Ala nahm aus seiner Provinz die wohl gefüllte Staatskasse mit nach Mekka, wo sie als Kriegskasse gegen Ali und seinen Anhang diente. Kräftigen Zuzug erhielten die nimmersatten Mekkaner aus den Reihen der durch die Schlacht bei Akraba zum Islam gezwungenen zentralarabischen Stämme. Der blutige Bürgerkrieg dauerte von 656—661 n. Chr. Durch die bessere List und größere Verschlagenheit siegten die religionslosen Geschäftsleute über die ehrlicheren Gläubigen. Ali wurde ermordet und dem Sieger Moawija gehörte die Beute: das Chalifat von 661—680 n. Chr. Er verlegte den Regierungssitz des Reiches aus der heiligen Stadt Medina, nach dem weniger heiligen, aber prächtig gelegenen Damaskus. Die Herrschaft der Omaijaden-Chalifen hatte begonnen.

§ 24. Eben diesem Moawija hatte Keis Ibn Ssaad in einem Briefe geschrieben: „Du bist nichts als ein mekkanischer Götzendiener, ungern bist Du in den Islam ein- — gern wieder ausgetreten.“ Der Götze, welchen dieser Nachfolger der Propheten und Fürst der Gläubigen anbetete, war das goldene Kalb. Mit wenigen Ausnahmen haben die Mitglieder der Omaijadenfamilie keinen Hehl Buchseite 39 daraus gemacht, daß ihnen die religiösen Vorschriften des Islam lästig seien. Als lustige Lebemänner und unersättliche Zecher zogen sie es vor, sich durch das fünfmalige tägliche Gebet und durch die Freitagspredigt nicht immer stören zu lassen. Der Chalife Jezyd I, Sohn und Nachfolger des Moawija, ließ sich in der Moschee durch den Obersten seiner Leibgarde vertreten. Walid I (705—715 n. Chr. ) soll sogar eine verkleidete Haremsdame als Vertreterin an seiner Stelle in die Moschee geschickt haben. Mit der Freiheit und Gleichheit der Araber war es jetzt vorbei. Der kluge, schlaue Absolutismus mit Gift und Dolch und ohne moralisches Gewissen war mit Moawija zur Herrschaft gekommen. Seinen Sohn Jezyd hatten die Araber schon 670 n. Chr. als seinen Nachfolger im Chalifate nicht mehr zu wählen, sondern nur auf Befehl anzuerkennen. Dabei wurden in der Moschee neben jede zweifelhafte Persönlichkeit zwei Soldaten mit entblößten Schwertern gestellt, welche den Auftrag hatten, den Betreffenden im Falle einer Verweigerung der Anerkennung sofort nieder zu hauen. Die Strenggläubigen waren natürlich diesem Chalifen ein Dorn im Auge. Aus irgend welchem Anlaß wurden bald hier bald dort Vertreter dieser Richtung aufgegriffen, hingerichtet und ihr Vermögen zu Gunsten der Staatskasse und damit vor allem zu Gunsten des Chalifen konfisziert. Doch die arabische Rache blieb auch jetzt nicht aus. Nach jeder Hinrichtung dieser Art war am folgenden Tage der Vollstrecker eine Leiche.

§ 25. Schonender behandelte Moawija die Geldgier des Volkes. Die von Omar I angesetzten Staatsdotationen wurden wieder ausgezahlt, nachdem in dem vorausgegangenen Bürgerkriege die Zahl der zu den höchsten Bezügen Berechtigten gelichtet war. Diese Dotationen wurden auch dadurch etwas gekürzt, daß man die 2 1⁄2% der Armensteuer bei der Auszahlung zurück behielt. Buchseite 40 Um trotzdem tunlichst reiche Mittel für den Chalifen übrig zu behalten, wurde das Finanzwesen streng geordnet. In der Steuererhebung wurden den Statthaltern der Zentralkasse gegenüber in der Weise die Hände gebunden, daß Moawija das Steuersoll jeder Provinz einschätzte und vom Statthalter die Ablieferung dieser Summe alljährlich verlangte. Es ist begreiflich, daß der habgierige Chalife in diesen seinen Steuereinschätzungen nicht niedrig zu greifen gewohnt war. Die Provinz Irak z.B. hatte danach jährlich 100 Millionen Franken zu zahlen. Durch welche Erpressungen diese Summen aufgebracht wurden, war dem Chalifen gleichgültig. Wo es nötig war, wurden einfach durch Vermögenskonfiskationen bei den Reichsten die Barbestände der Steuerkassen ergänzt. Eine bessere Ordnung des Münzwesens, die erste Organisation der Reichspost, welche zugleich die Aufgaben der Geheimpolizei zu besorgen hatte, traten ergänzend hinzu. Und nachdem das Chalifat genügend gesichert schien, wurde auch wieder der vom Propheten befohlene „heilige Krieg“ gegen die Ungläubigen in Szene gesetzt. Transoxanien und Chorassam wurde erobert. Bis nach dem Indus drangen die siegreichen Heere vor. Der Raubzug gegen das byzantinische Reich führte zur ersten Belagerung von Konstantinopel, die freilich erfolglos blieb.

§ 26. Nach dem Tode des gefürchteten Moawija (680 n. Chr.) begann der Bürgerkrieg von neuem aufzulodern. Die frommen Muslime wollten keinen Glaubenslosen als „Fürst der Gläubigen“ haben. Man hatte Jezyd freilich im Jahre 670 n. Chr. als Nachfolger des Chalifen anerkannt. Aber diese Anerkennung konnte mit Recht als eine erzwungene bezeichnet werden. Man hielt sich deshalb durch dieselbe nicht gebunden. Von der Gegenseite wurde daraus gefolgert, daß Eide überhaupt nicht mehr bindend seien. Und bald ließ man Buchseite 41 Eide, die einigermaßen als haltbar gelten sollten, fünfzig mal schwören. Dieser zweite Krieg der Strenggläubigen zur Beseitigung der Herrschaft der Glaubenslosen dauerte 13 Jahre (680—693 n. Chr.). Er wurde mit höchster Erbitterung geführt und endete abermals mit dem Siege der Omaijaden. Von den Soldaten des Chalifen, unter der Führung eines heidnischen Arabers, welcher seine Rache für Akraba an der Familie des Propheten haben wollte, wird Hussein, der Sohn des Ali und Enkel des Propheten mit den besten Freunden der Prophetenfamilie bei Kerbela hingeschlachtet und der Kopf des Hussein an den Chalifen nach Damaskus geschickt. Auf dem Zuge gegen die heilige Stadt Medina, dem Hauptsitze der orthodoxen Partei, wurde den Soldaten des Chalifen doppelte Löhnung gegeben, Medina zerstört, die Moschee des Muhammed geschändet und 2400 Hülfsgenossen des Propheten mit 2300 strenggläubigen Koreischiten niedergemacht, der Rest der Bevölkerung in die Sklaverei abgeführt. Auch Mekka wurde belagert und selbst die Kaaba nicht geschont. Mit solchen Ereignissen wurde der Religionskrieg eingeleitet. Wenige Jahre später fand sich ein neuer Prophet, welcher sich für einen Sohn des Ali ausgab und an den Glaubenslosen ein Rächer für Hussein werden wollte. Auch die ehrgeizigen Mekkaner schlossen sich diesem neuen Unternehmen an, das 687 n. Chr. im Blute erstickt wurde. Inzwischen war der Säufer Jezyd I. nach dreijähriger Regierung gestorben. Sein schwacher Sohn Moawija II. war nach einer Regierung von nicht ganz einem Jahre aus dem Wege geräumt worden. Der dann folgende Chalife Merwan II. (683—685 n. Chr.) fand durch die Hand seiner Gattin seinen Tod. Erst mit Abdalmelik I. (685—705 n. Chr.), dem größten der Omaijaden-Chalifen, der wenigstens sein Gewissen mit keinem Giftmord belastet hat, beginnt allmählich die BeBuchseite 42ruhigung des Reiches, die im Jahre 693 n. Chr. zur Einigung der Parteien führte.

§ 27. Solche Religionskriege mit dem raschen Wechsel der Chalifen mußten die Finanzen des Reiches tief erschüttern. Von dem Bezug der von Omar I. ausgesetzten Staatsdotationen war längst keine Rede mehr. Die Einnahmen der Staatskasse reichten nicht einmal aus. den Truppen der Regierung ihren Sold zu zahlen. Zu Beginn seiner Regierung mußte sich Abdalmelik dazu verstehen, die von Byzanz drohenden räuberischen Einfälle durch besondere Tributleistungen abzuwenden, um sich so den Rücken zu sichern, und alle vorhandenen Streitkräfte endlich zur Niederwerfung der heimischen Gegner zusammenfassen zu können. Außergewöhnliche Dienste wurden hierbei dem Chalifen von einem Schulmeister aus einem persischen Gebirgsdorfe mit Namen Haggag geleistet, den Abdalmelik auf seinem Heereszuge persönlich kennen gelernt und sofort zum Heerführer und Statthalter der so wichtigen Provinz Irak ernannt hatte. Mit eisernem Besen hat dieser Neumuslim in die, durch lange Religionskriege sehr verwilderten Staatsverhältnisse Ordnung gebracht. Wer unter seinem Regiment als Muslim vom Kriegsdienste sich drücken wollte, wurde sofort hingerichtet. Aber mit der politischen Ordnung und Unterwerfung des Volkes allein war noch nicht den jetzt wesentlich veränderten ökonomischen Verhältnissen Rechnung getragen.

§ 28. Die Araber hatten unter ihrem Propheten und den ersten beiden Chalifen gelernt, daß das islamische Reich eine Einrichtung zu ihrer ökonomischen Versorgung sei. Sie haben den vierten Chalifen ermordet, weil er sich eine merkliche Verschiebung dieser Organisation zu Gunsten seiner Verwandten und Günstlinge gestattete. Die weitere Folge dieses politischen Mordes war die Unterwerfung der Araber unter das absolute Regiment Buchseite 43 der Omaijaden, deren Herrschaft in zwei Religionskriegen, von denen der erste 6, der zweite 12 Jahre dauerte, nicht gebrochen wurde. Wollte jetzt Abdalmelik die innere Ruhe herstellen, so durfte er seine Aufgabe nicht allein in der Niederwerfung der noch vorhandenen bewaffneten Oppositionspartei erblicken. Er mußte vielmehr als kluger Fürst außerdem darnach streben, die materiellen Interessen der Araber wieder in irgend welcher Form mit der Existenz des islamischen Reiches zu verknüpfen.

Eines dieser Mittel war der Erwerb von landwirtschaftlichem Grundbesitz. Zu Gunsten der Omaijaden war ja das Verbot Omars I., außerhalb Arabiens als Muslim Grundbesitz zu erwerben, aufgehoben worden. Unter den Omaijaden hatte dann dieser Grunderwerb in den eroberten Ländern so zugenommen, daß die Provinz Irak als „Garten der Koreischiten“ bezeichnet wird. Mit diesem landwirtschaftlichen Besitz war keineswegs die landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit verbunden. Alles Land war vielmehr wieder an Bauern verpachtet. Auch dieser Erwerb von Großgrundbesitzungen spielte sich hier häufig in jenen räuberischen Formen ab, welche die deutsche Sprache mit „Bauernlegen“ bezeichnet. An Abgaben an den Staat hatte der Araber von diesen Latifundien den Zehent zu leisten. Rechnen wir also durchschnittlich eine Einnahme aus der Pachtleistung des Bauern gleich 1⁄2 des Bruttoertrages und ziehen davon die nur zu häufig von den Arabern garnicht gezahlte Staatssteuer gleich 1⁄10 des Ertrages ab, so blieb dem Grundherrn eine arbeitslose Rente in der Höhe von 4⁄10 des aus dem Boden durch die Arbeit der Bauern herausgewirtschafteten Ertrages. Die Herren Araber waren durch entsprechend große Grundbesitzungen ganz gut versorgt.

§ 29. Nun hatte aber auch diese Medaille ihre Kehrseite. Nach den Grundsätzen ihrer Religion hatten Buchseite 44 alle Gläubigen gleiche Rechte. Omar I. hat deshalb den Neubekehrten den gleichen entsprechenden Anteil an den Staatsdotationen zugewiesen und gleichzeitig auch von ihnen verlangt, daß sie auf ihren Grundbesitz zu Gunsten ihrer bisherigen Glaubensgenossen verzichteten, um die Staatseinnahmen aus der wesentlich höheren Grundsteuer der Besiegten nicht zu schmälern. Wenn aber inzwischen den Arabern gestattet wurde, außerhalb Arabiens Grundbesitzer zu werden, dann konnte es den Neubekehrten im Lande nicht verboten sein, Grundbesitzer zu bleiben. Die Steuererleichterung aber, welche durch den Uebertritt zum Islam und der Verpflichtung der Gläubigen nur zur Zahlung des Zehnt, wahrscheinlich auf 1⁄3 und 1⁄4 der bis dahin gezahlten Grundsteuer herabgegangen wäre, ungerechnet die gleichzeitige Befreiung von der Kopfsteuer, hätte mit der längeren Dauer der arabischen Herrschaft die Neubekehrungen immer mehr anwachsen lassen. Der Umstand, daß mit Haggag ein Neumuslim Vorbeter in der Moschee und Statthalter geworden war, mag diesen Bekehrungsprozeß aus ökonomischen Gründen noch mehr angeregt haben. Die Interessen der Staatskasse waren indeß mit diesen Vorgängen kaum in Einklang zu bringen. Denn der Gewinn, den der Islam mit den Neubekehrten als Zuwachs seiner Anhänger gemacht hat, bedeutete für die Steuereinnahme einen entsprechenden Verlust. Wenn nun auch den Arabern gegenüber in diesem Falle wieder ein Auge zugedrückt wurde, weil sie in dem Erwerb von größeren Grundbesitzungen einen Ersatz für die verloren gegangenen Staatsdotationen fanden, den Neubekehrten gegenüber konnte der rein fiskalische Standpunkt um so leichter vertreten werden, je weniger die herrschende Familie der Omaijaden sich um die Bestimmungen des Koran kümmerte. So erschien denn im Jahre 700 n. Chr. das Gebot, daß durch den Uebertritt zum Islam Buchseite 45 keinerlei Veränderung in den Steuerverpflichtungen bedingt sei. Die Neubekehrten hatten nach wie vor die Grundsteuer der Besiegten und die Kopfsteuer zu zahlen.

§ 30. Damit man daraus nicht etwa den Schluß ziehen konnte, es sei der Regierung des „Fürsten der Gläubigen“ weniger um die Gewinnung neuer Glaubensgenossen und mehr um die Erhaltung und Erhöhung der Steuereinnahmen zu tun, kam jetzt eine andere Methode in der Behandlung der Ungläubigen zur Anwendung. Die nach den Grundsätzen der Omar’schen Politik der Duldung mit den Ungläubigen abgeschlossenen Kapitulationen wurden aufgehoben. Ihre Kirchen und Tempel wurden niedergerissen. Das Vermögen der Reichsten unter ihnen wurde zu Gunsten der Staatskasse konfisziert. Christen, Juden und Perser mußten schon äußerlich durch ihre Kleidung als Nichtmuslime sich kenntlich machen. Die Angehörigen dieses Religionsbekenntnisses wurden aus allen Staatsämtern entlassen, um die so freigewordenen Versorgungsstellen künftig nur mit Muslime zu besetzen. Nur im Berufe der Aerzte und der Geldwechsler wurden Andersgläubige fortan noch geduldet. Die innere Notwendigkeit dieser politischen Wendung ist klar. War man aus fiskalischen Gründen gezwungen, die Neubekehrten schlechter zu behandeln als die Alt-Muslime, so mußten zum Ausgleich im Interesse des Islam die Nichtmuslime um einige Grade schlechter behandelt werden. Namentlich die Araber haben auch jetzt wieder die für sie frei gewordenen oder neu geschaffenen Staatsstellen mit dem ihnen in so hohem Grade eigenen Verständnis verwaltet. Ein Staatskommissar, welcher den Auftrag erhalten hatte, die Feuertempel der Perser im Reiche zu zerstören, wußte bei Erfüllung seiner Mission 40 Millionen Franken zu erübrigen. Die Feuertempel der armen Kultusgemeinden wurden zerstört, wo aber reiche Gemeinden entsprechende AblösungsBuchseite 46summen zahlen konnten, blieben die zum Abbruch bestimmten Tempel unberührt.

§ 31. Daß speziell den Bauern gegenüber mit der Steuerschraube über das bereits erreichte Maß nicht hinausgegangen werden könne, ohne die Staatseinnahmen selbst auf das Schwerste zu schädigen, hat der tüchtigste Statthalter Abdalmelik’s Haggag in der reichsten Provinz Irak bald genug erfahren. Nachdem die Jahreseinnahmen aus der Grundsteuer zunächst auf 118 Millionen Franken gestiegen waren, gingen sie infolge der neuen Steuererhöhungen auf 40, nach anderen Quellen sogar auf nur 16 Millionen Franken zurück. Die weitaus größte Einnahmequelle des Staates war nämlich die auf dem Getreidebau ruhende Grundsteuer. Als diese Abgabe so sehr erhöht wurde, daß die Bauern, trotz solidarischer Steuerhaftpflicht der Gemeinden, sie nicht mehr tragen konnten, ließen sie die Felder brach liegen und ernährten sich von der Viehhaltung. Haggag verfiel dann auf das Mittel, den Bauern das Schlachten der Rinder für den eigenen Bedarf zu verbieten. Aber die Erträge der Grundsteuer in Irak haben sich doch erst nach Haggag unter der milderen Regierung Omars II. (717—720) wieder auf 120 Millionen Franken gehoben.

Unter solchen Umständen blieb immer noch ein neuer Raubzug in die Länder der Ungläubigen am dankbarsten. Nachdem im Jahre 693 n. Chr. die Einigung der Muslime geglückt war, wurden unter Abdalmelik und Walid I. (705—715) die Eroberungszüge nach Osten wie nach Westen fortgesetzt. Das Unternehmen gegen Indien kostete jährlich 60 Millionen und brachte eine jährliche Einnahme von 120 Millionen. So wurden jetzt Turkestan, Cilicien, Armenien, Kleinasien, Sardinien, die Balearen und der größere Teil von Spanien dem arabisch-islamischen Weltreiche einverleibt und eine außerBuchseite 47ordentlich reiche Kriegsbeute eingeheimst. Das Chalifat erreichte damit die größte Ausdehnung als einheitliches Reich.

§ 32. Trotzdem ging die Omaijadenherrschaft bereits ihrem blutigen Ende entgegen. Die Eroberungen in den Ländern der Ungläubigen mit dem Ertrage der Kriegsbeuten erreichten allmählich ihre natürlichen Grenzen. Den fortgesetzten Angriffen der Muslime gegenüber zeigten sich die Mauern von Konstantinopel noch bis zum Jahre 1453 überlegen. Ganz Nordafrika und den größeren Teil von Spanien konnten die Araber erobern. Als sie aber durch die baskischen Pässe nach Südfrankreich einfielen, begegneten sie der Kriegsmacht des Frankenreiches unter Karl Martell. Nach der Schlacht zwischen Tours und Poitiers (732 n. Chr.) war von einem weiteren Vordringen der islamischen Waffen nach dieser Seite keine Rede mehr. Durch die fortgesetzten Eroberungen war auch das Islamische Reich bereits zu groß geworden. Ein Ländergebiet von mindestens der Flächenausdehnung des europäischen Kontinentes ließ sich, trotz der vorzüglich organisierten Reichspost, auf die Dauer von einer Stelle aus durch eine Hand nicht leiten. Schon im Jahre 756 n. Chr. löst Abderrachmann I. Spanien als Chalifat von Cordova vom einheitlichen Reiche ab und wenig über 50 Jahre später ist der Abbröckelungsprozeß im Reiche allgemein. Bevor noch diese Ereignisse eintraten, zeigten sich immer deutlicher in der Familie des Omaijaden die Symptome der Degeneration.

§ 33. Das jährliche Einkommen des Chalifen mit 300 bis 400 Millionen Franken war zu groß, um nicht maßlose Genußsucht auf Seiten des Regenten und gefährlichen Neid selbst innerhalb der herrschenden Familie aufkommen zu lassen. Die einzelnen Familiengruppen Buchseite 48 der Omaijaden bekämpften einander um das Chalifenamt und sein Einkommen und benutzten dabei in der üblichen Weise Gift und Dolch, um die Regierungszeit des jeweiligen Herrschers tunlichst abzukürzen. Jetzt erst wurde das scheußliche System der Haremswirtschaft eingeführt. Das übermäßige Einkommen der Reichen hatte gewinnsüchtige Unternehmer ein Geschäft daraus machen lassen, junge, besonders hübsche Sklavinnen zu erwerben, sie in den raffiniertesten Künsten der Verführung besonders zu unterrichten und dann zu Preisen bis 170'000 Francs an einen Liebhaber zu verkaufen. So kam die altgriechische Hetärenwirtschaft wieder auf. In gleichem Maße hielt man es für nötig, die legitimen Frauen durch die tausende, aus dem christlichen Byzanz erst bezogenen Eunuchen im Hause streng bewachen zu lassen. Es nützte wenig, daß die gleichzeitige arabische Literatur die volle Schale ihres Zornes über diese so bedenklichen Neuerungen gegossen. Selbst die Chalifen waren jetzt meist Söhne griechischer und persischer Sklavinnen. Mit den Eunuchen übernahm man aus Byzanz bald auch das altgriechische Laster der Knabenliebe. Die Sitten wurden immer roher, die Stellung der Frau eine immer ungünstigere. Die Auffassung politischer Verpflichtungen dem Gemeinwesen gegenüber reduzierte sich bis zu dem Maße, daß die Schmeichler und Günstlinge des Chalifen Hischam (724—743 n. Chr.) es für überflüssig hielten, die ihnen übertragenen Statthalterposten in den Provinzen persönlich anzutreten. Sie blieben vielmehr in der herrlichen Residenz am wasserreichen Baroda, amüsierten sich auch ferner mit dem Chalifen und schickten nach den bedauernswerten Provinzen selbst beglaubigte Procuratoren, die nur den Auftrag hatten, die Taschen ihrer Herren möglichst zu füllen. Daß sie dabei ihre eigene Tasche nicht vergessen haben, war selbstverständlich. Es kann kaum Buchseite 49 überraschen, daß unter solchen Umständen die Statthaltereien einzelner Provinzen es bald unterlassen haben, irgend welchen Ueberschuß an die Zentralstaatskasse abzuführen.

§ 34. Mitten in dieser Regentenreihe der Schlemmer und Prasser steht der einfache, milde, gerechte und fromme Omar II. (718 bis 719 n. Chr.) Die Strenggläubigen hatten große Hoffnungen auf ihn gesetzt. Jedenfalls war er ehrlich bemüht, in Recht und Sitte zu den Grundsätzen des Propheten und der ersten Chalifen zurück zu kehren. Ueberall sollte die alte Einfachheit wieder eingeführt werden. In der überprächtigen Moschee zu Damaskus wurden alle kostbaren Prunkstücke verhüllt. In der Verwaltung der Staatsangelegenheiten sollten wieder Recht und Gerechtigkeit gelten. Das so wichtige Verbot Omars I. außerhalb Arabiens als Araber keinen Grundbesitz zu erwerben, wurde erneuert. Und wenn auch die inzwischen erworbenen Rechte ausdrücklich anerkannt wurden, so sollte doch jeder neue Grundbesitzerwerb durch Araber in den eroberten Ländern null und nichtig sein. Im Hinblick auf den Wortlaut der alten Omar’schen Bestimmungen war das alles gewiß verständlich. Aber die inzwischen völlig veränderten Zeitverhältnisse mußten ein solches Gesetz in neues Unrecht wandeln. Denn die Zeit der Omar’schen Staatsdotationen war vorbei. Der Grundbesitzerwerb durch Araber in den eroberten Ländern war eine der Möglichkeiten, sich und seinen Nachkommen ein anderes arbeitsloses Einkommen und damit einen Ersatz für die verlorenen Staatsdotationen zu verschaffen. In diese ausgleichende Entwickelung durch ein Verbot einzugreifen, mußte als eine Ungerechtigkeit namentlich auf Seiten jener Araber empfunden werden, welche bis dahin noch keinen, oder einen geringen Grundbesitz in den neuen Provinzen erworben hatten.

Buchseite 50 Ferner wurde der arabische Großgrundbesitzer durch Omar II. daran erinnert, daß auch er den Zehent an die Staatskasse zu zahlen habe. Den Statthaltern aber ließ er den Auftrag zugehen, alle der Bevölkerung ungerecht auferlegten Steuern nicht mehr zu erheben. Die Statthalter und Steuereinnehmer ließen sich das nicht zweimal sagen. Die eigentlich ungerechten Steuern wurden von ihnen zwar vielfach nach wie vor erhoben, der auf der Bevölkerung lastende Steuerdruck keineswegs überall gemindert, wohl aber hatten die habgierigen Staatsverwalter jetzt eine ausgezeichnete Ausrede, um möglichst viel von den Staatseinnahmen in ihre Tasche verschwinden zu lassen und dann an die Zentralkasse zu berichten: „Nach Erlaß der ungerechten Steuern sind die Einnahmen so zurück gegangen, daß sie von den lokalen Ausgaben verschlungen wurden.“ Einzelne Statthalter hatten sogar die Unverfrorenheit, sich mit dieser Motivierung vom Chalifen noch Zuschüsse für ihre Provinzen zahlen zu lassen. So wurden denn die Kassen des Chalifen rasch leer. Die Soldzahlungen an seine Truppen blieben im Rückstand. Auch für die Mitglieder der herrschenden Familie mußte jetzt viel weniger abfallen, als früher. Die auffallende Hinneigung Omar II. zu den Aliden, welche als direkte Nachkommen des Propheten die geschworenen Feinde der Omaijaden-Dynastie waren, tat das Uebrige. Nach nicht ganz zweijähriger Regierung wurde Omar II. von seinen eigenen Verwandten vergiftet. Sein Nachfolger hat die von ihm getroffenen prinzipiellen Bestimmungen sofort wieder aufgehoben.

§ 35. Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen im Reiche war trotzdem nicht kleiner geworden. Wie das Volk noch heute für die objektiven Gewalten der volkswirtschaftlichen Verhältnisse keinen Blick hat, sondern in seiner Kurzsichtigkeit immer geneigt Buchseite 51 ist, für gute wie für schlechte Zeitverhältnisse in erster Linie den Regenten und die Regierung verantwortlich zu machen, so auch hier. Die Omaijadendynastie trug für alle ungünstiger gewordenen Verhältnisse die Schuld. Die Orthodoxen konnten diese Auffassung wenigstens mit einem gewissen Maße der Berechtigung vertreten. Es war zum Mindesten widersinnig, daß ein durch Gründung einer neuen Religion ins Leben gerufenes Staatswesen von einer Familie regiert wurde, deren Mitglieder fast durchweg eben dieser Religion feindlich gesinnt waren und deren Regentenhände nur zu stark mit heiligem Märtyrerblut sich befleckt hatten. Was durch die Tätigkeit der islamischen Missionare namentlich in Persien an Neumuslimen gewonnen wurde, nahm mit der neuen Lehre auch den Haß gegen die Omaijaden in sich auf. Die ungleiche Behandlung der Alt- und Neu-Muslime in der Besteuerung, trotz des entgegenstehenden klaren Wortlautes im Koran mag auch hier seine Rolle mitgespielt haben. Zu dieser wachsenden Macht der Strenggläubigen gesellte sich die Macht der Unzufriedenen. Beide Bewegungen wußte sich der mekkanische Aristokrat Ibrahim, ein Urenkel Abbas, und mithin der Nachkomme eines Oheims des Propheten in äußerst geschickter Weise dienstbar zu machen. Zwar siegten noch einmal die Waffen des Chalifen und Ibrahim wurde im Kerker ermordet, Aber in eben diesem Kerker hatte er seinen Anspruch auf das Chalifat an Abul Abbas abgegeben, der mit Hülfe seines Oheims und Feldherrn Abdallah den letzten Omaijaden-Chalifen Merwan II. schlug und vernichtete und als Abul Abbas I. (750 bis 754 n. Chr.) die Reihe der Abbasidenchalifen eröffnete.

§ 36. Mit der Ablösung der Omaijaden-Dynastie durch die Abbasiden ist namentlich die arabische Bevölkerung des Reiches aus dem Regen unter die Traufe gekommen. Es war also doch ein großer Irrtum, zu behaupten, die Buchseite 52 von frommen Leuten so oft verfluchten Omaijadenchalifen seien die eigentliche Ursache der immer schlechter werdenden Zeitverhältnisse. Abbas I. hatte sich selbst den Beinamen „el Saffah“, d.i. „Blutvergießer“, gegeben. So etwas wie ein menschliches Gewissen schienen die Mitglieder dieses Fürstenhauses nicht zu besitzen. Von einer ununterbrochenen Reihe von Mord, Meineid und Meuchelmord wird ihre Regierungstätigkeit begleitet. Zunächst mußten natürlich die Anhänger der gehaßten Omaijaden tunlichst rasch ins Jenseits befördert werden. Es wird berichtet, daß von diesem Loose in dem leichtlebigen Syrien allein 60'000 Menschen betroffen worden seien. Nach der Ermordung des letzten Omaijadenchalifen kam es zu einer feierlichen Aussöhnung mit den Omaijaden-Prinzen, die dann sämtlich zu einem Gastmahl nach Mekka geladen wurden, um hier — trotz der bestimmtesten feierlichsten Zusicherungen — abgeschlachtet zu werden. Wer Abbas I. nicht als Chalifen anerkennen wollte, wurde sofort hingerichtet. Wer politisch irgendwie nur verdächtig war, dem wurden Hände und Füße abgehauen. Später wurde hierfür lebendiges Einmauern beliebt. Selbst die besten Freunde des Chalifen, wie sein eigener Oheim und Feldherr Abdallah, dem er eigentlich alles zu verdanken hatte, fielen einer Mordwaffe dieses Blutvergießers zum Opfer. Diese Regierungsgrundsätze wurden von fast allen Abbasidenchalifen treu befolgt. Nur wenn der jeweilige Machthaber gerade sehr vetterlich aufgelegt war, begnügte er sich seinen eigenen Verwandten gegenüber damit, dem Opfer seiner Politik oder seiner schlechten Laune mit einem glühend gemachten Eisenstift über beide Augäpfel zu streichen und es so zu „blenden“. Diese neronische Veranlagung der Abbasiden ging so weit, daß der Chalife Mutadhid (892 bis 902 n. Chr.) in einem nervösen Wutanfall eine große Zahl seiner Diener und Dienerinnen ohne jedes Verschulden Buchseite 53 ihrerseits hinrichten ließ. Für die Person des Chalifen wurde auf solche Weise naturgemäß keine größere Sicherheit geschaffen. Unter fünf Abbasidenchalifen haben mindestens immer vier ein gewaltsames Ende gefunden. Kann es überraschen, daß unter einer solchen Regierung das ganze arabisch-islamische Weltreich in einem Meere von Blut untergehen mußte?

§ 37. Mit dieser furchtbaren Gewissenlosigkeit verknüpften die Abbasiden den Schein tiefster Frömmigkeit. Die religiösen Vorschriften des Koran wurden in der Oeffentlichkeit wenigstens auf das Gewissenhafteste erfüllt, die orthodoxe Partei in jeder Weise unterstützt. Jetzt sollte auf Kommando dem Volke wieder eine größere Religiösität beigebracht werden. Die ungünstigere Behandlung der Neumuslime in der Besteuerung, welche durch die Omaijaden eingeführt worden war, wurde unter den Abbasiden aufgehoben. Neumuslim und Araber fanden jetzt die gleiche Behandlung vor dem Gesetze, aber gewiß nicht nur deshalb, weil es so der Koran bestimmte, sondern wohl auch deshalb, weil die Abbasidenherrschaft die Unterstützung durch die neubekehrten Perser nicht entbehren konnte. Nur die beiden Chalifen Mamûn (813 bis 833 n. Chr.) und Motassim (833 bis 842 n. Chr.) sind etwas aus der orthodoxen Rolle der Abbasiden gefallen, insofern sie Gegner der extrem theologischen Richtung waren und eine freie wissenschaftliche Forschung allgemein begünstigten. Für so weitgehende Unterstützung durch die Abbasiden zeigten sich die Strenggläubigen dankbar, indem sie der Dynastie den Ehrentitel „von Gottes Gnaden“ beilegten.

Anders muß der einfache Mann im Volke vielfach gedacht und empfunden haben. Man hatte die Vereinigung der Regierungsgewalt mit der strenggläubigen Richtung vor Augen. Daß die Verhältnisse vorher unter Buchseite 54 den gottlosen Omaijaden-Chalifen immer schlechter wurden, schien selbstverständlich. Daß aber jetzt die allgemeinen Verhältnisse immer noch schlechter wurden, mußte das Denkvermögen des armen Volkes vielfach zur Verzweiflung an Gott und den Menschen bringen. Das war der Boden, aus dem die Bildung neuer Sekten und Glaubensanschauungen in ungewöhnlich großer Hast mit teils kommunistischem, teils sogar anarchistischem Charakter empor gewachsen ist. Und immer allgemeiner bestärkte sich dabei im Volke der Glaube an die Wiederkehr eines Welterlösers oder doch eines neuen Propheten, der das Volk aus allem Jammer wieder befreien werde. Bei dem furchtbaren Regiment der weltlichen Gewalt gebot die Selbsterhaltung einer jeden solchen neuen Glaubensgemeinde die Form des Geheimen und des Geheimnisvollen. So wird uns jetzt von den Zendiken, den Mosdakiten, den Ismaeliten, den Karmaten, den Fatimiden, den Charidschiten, den Dschafars, den Drusen u.s.w. denen schließlich auch die Aliden zuzuzählen sind, berichtet.

Für die bestehende Staatsverfassung und die herrschende Chalifenfamilie lag — wie die Geschichte des Islam selbst zur Genüge lehrte — in diesen geheimen Sekten eine große Gefahr. Nicht minder peinlich fühlten sich die Strenggläubigen durch diese Neuerer auf dem Glaubensgebiete berührt. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Interessenkreise zu ihrem gegenseitigen Schutze kam der furchtbare islamische Ketzerprozeß zu Stande. Für Ketzer im allgemeinen gebrauchte man das persische Wort Zendik d.h. Zauberer. Man klagte den Einzelnen des Zendikismus an. Der Großinquisitor hieß Zendikmeister. Die Ketzer wurden öffentlich verflucht und sobald man ihrer habhaft wurde, gefoltert, gekreuzigt, verbrannt oder auf irgend eine andere Art hingerichtet. Das VerBuchseite 55mögen der Ketzer wurde zu Gunsten der Staatskasse konfisziert. Die ketzerischen Bücher und Schriften wurden dem Feuer überliefert. Der Großinquisitor hatte das kirchliche Aufsichtsrecht auch über den Chalifen, welcher, unbedeutender Religionsvergehen halber, selbst strengere Bußen ohne Widerrede sich gefallen ließ. Die Hinrichtungen der Ketzer wurden im arabischen Spanien wenigstens mit öffentlichen Volksbelustigungen verknüpft. Die Einführung dieses islamischen Ketzerprozesses scheint vor dem Jahre 779 n. Chr. erfolgt zu sein. Wir hören von nun ab immer wieder von außerordentlich umfangreichen Ketzerverfolgungen. Und nicht selten wird dieser kurze summarische Prozeß auch angewendet, um persönliche oder politische Gegner rasch aus dem Wege zu schaffen.

Nicht überall ist es indeß der Staatsregierung und den Strenggläubigen gelungen, mit Hilfe des Ketzerprozesses der betreffenden Bewegung Herr zu werden. So gründete z.B. Hassan Ibn Said unter dem Chalifen Mustein (862 bis 866 n. Chr.) in Tabaristan ein unabhängiges Reich, das durch 50 Jahre bestehen konnte. Obeidallah eroberte sich im Jahre 934 n. Chr. als Haupt der Geheimsekte der Fatimiden Aegypten. Die ketzerischen Karmaten, ein Zweig der Ismaeliten, haben im Jahre 930 n. Chr. Mekka während der Wallfahrtszeit überfallen, tausende von Pilgern getötet, die berühmte Reliquie, den schwarzen Stein der Kaabe geraubt und mit nach Lahsa genommen, wo er bis 951 n. Chr. verblieben ist. Erst seit 1037 n. Chr. ist diese Sekte verschwunden. Von den Lehren dieser verschiedenen Sekten wissen wir wenig. Die auf uns überkommenen Darstellungen ihrer gehässigen Gegner, welche zumeist von Weiber- und Gütergemeinschaft erzählen, können als objektive Berichte nicht gelten.

§ 38. Zur Zeit der schon vollständigen Auflösung der arabisch-islamischen Reichsgewalt kommt zu diesen Buchseite 56 ketzerischen Sektenbildungen noch die eigenartige anarchistische Organisation der Assassinen. Hassan Ibn Ssabbach bemächtigte sich im Jahre 1090 n. Chr. der am Randgebirge des kaspischen Meeres gelegenen Felsenburg Alamut (d.i. Adlernest). Dieser Mann suchte sich aus den Reihen der Ismaeliten geeignete Werkzeuge, gab ihnen das jetzt aufkommende Opium und Haschisch, ein narkotisches Hanfpräparat, und machte dann die Leute glauben, daß die schönen Träume, welche sie gehabt, ihnen einen Einblick in die Paradiesesfreuden gewährt hätten, kraft der ihm verliehenen göttlichen Macht. Den so Betörten drückte Hassan dann einen Dolch in die Hand mit dem Auftrage, eine bestimmte Person nach seinen Dispositionen zu ermorden. Fände der Beauftragte bei Ausführung dieses Befehls seinen Tod, so komme er direkt in das Paradies, dessen Freuden er ja bereits gekostet habe. Die islamischen Todbringer dieser Art heißen „Fedwari“. Ihr Name „Assassinen“ gebildet von „Haschaschin“ wurde von dem berauschenden „Haschisch“ abgeleitet und bedeutet „Hanfraucher“. Mit der Ausbreitung dieser Sekte im Lande hielt ihre Organisation Schritt. Auf Dutzenden von Felsenburgen im Gebirge waren ihre Filialen verteilt und ein vorzüglicher Nachrichtendienst mit Brieftauben und Spionen ermöglichte die stramme einheitliche Leitung von Alamut aus.

Es ist bezeichnend für die Rolle, welche diese Anarchisten in den Kreuzzugswirren auch auf Seiten der christlichen Ritter gespielt haben, daß die damals von den Europäern in Kleinasien als Weltsprache gebrauchte französische Sprache die Worte assassin und assassinat als gleich bedeutend mit Mörder, Meuchelmord und schändlicher Gewalttat übernommen und bis zum heutigen Tage beibehalten hat. Durch 200 Jahre hat diese anarchistische Herrschaft weit verhängnisvoller auf dem arabisch-Buchseite 57islamischen Reiche gelastet, als alle Kreuzzüge des christlichen Europa. Ganz Vorderasien zitterte vor diesen Mördern. Wo irgend eine bedeutende politische Persönlichkeit sich zeigte, die das Zeug gehabt hätte, in die gänzlich zerfahrenen politischen Verhältnisse wieder etwas Ordnung zu bringen, da traf sie auch schon ein Assassinendolch. Ein Kleinfürst in Syrien ruft 1102 n. Chr. die Assassinen zum Schutze seiner Herrschaft in sein Land, wo sie sofort sich organisieren, und neue Felsenburgen bauen. Selbst der Sultan Saladdin ist zweimal nur durch einen glücklichen Zufall dem für ihn bestimmten Fedwari-Dolche entkommen und hat sich trotzdem entschlossen, nach einem Feldzuge gegen die Assassinen, mit diesem Gelichter einen förmlichen Frieden zu schliessen. Der gefürchtete Mamluckensultan Beibars in Aegypten nahm die Assassinen in seine Dienste und verwendete sie als Geheimpolizisten und Henkersknechte. Der Chalife Nassir in Bagdad setzte sich mit dem Herrn von Alamut in Verbindung, um für entsprechende Zahlungen unbequeme islamische Fürsten ermorden zu lassen. Erst das Jahr 1256 n. Chr. hat die Wogen des Mongolensturmes auch über die steilen Gipfel der Felsenburg Alamut zusammenschlagen sehen. Für die Entstehungsgeschichte und das innere Wesen des islamischen Reiches aber bleibt es im höchsten Maße charakteristisch, daß die großartigste anarchistische Organisation der Menschengeschichte zur religiösen Begründung ihrer Berechtigung sich auf den Propheten Muhammed selbst berufen konnte, welcher sich ebenfalls eines Meuchelmörders bedient hatte, um unbequeme persönliche Gegner zu beseitigen.

§ 39. Welcher Art war nun die Entwicklung der volkwirtschaftlichen Verhältnisse, welche unter den Abbasidan-Chalifen so grauenhafte Zustände herbeiführen konnte ?

Buchseite 58 Wir haben bei der Gründung ihres Weltreiches die Araber als eine gut organisierte Räuberhorde kennen gelernt, welche von der Ueberzeugung ausging, daß die Bevölkerung der übrigen Welt nur dazu bestimmt sei, für die Araber zu arbeiten und von ihnen sich beherrschen und ausbeuten zu lassen. In dem Maße, als dann der Chalife aus einem Nachfolger des Propheten ein absoluter Fürst der Gläubigen geworden war, vollzog sich auch der Prozeß der Expropriation der Araber aus den Tributleistungen der eroberten Provinzen zu Gunsten des Chalifen. Den Arabern blieb davon bald nur der 4⁄5 Anteil der Beute, welche in neuen Eroberungskriegen gemacht wurden. Als aber dieser kriegerische Beuteerwerb häufiger durch Bürgerkriege unterbrochen wurde, deren letzter Grund der Kampf um die bereits gemachte Beute war, und als nach und nach die Eroberungskriege auch deshalb ihr natürliches Ende fanden, weil andere Völker stark genug waren, die Araber erfolgreich abzuweisen, da blieb auch diesen so vornehm sich dünkenden Herren nichts anderes übrig, als nach einer anderen Art des Erwerbs Umschau zu halten.

Als Nächstliegendes kamen natürlich die Aemter des Staates in Betracht. Die Christen, Juden und Perser wurden deshalb jetzt aus allen Staatsstellen verdrängt durch Araber, welche natürlich auch in dieser neuen Position bemüht waren, sich das Möglichste anzueignen. Eine andere Erwerbsart zeigte sich den Arabern in dem Besitz von Latifundien. Die Nichtaraber mußten an den Staat eine Grundsteuer bis zur Hälfte des Bruttoertrages zahlen. Die Araber hatten nominell nur den Zehnt zu entrichten, pflegten aber nur zu häufig auch diese Verpflichtung dem Staate gegenüber nicht zu erfüllen. Nachdem aber die erzielte Pachtrente für den Nichtaraber wie für den Araber die gleiche war, mußte der Araber aus seinen GrundBuchseite 59besitzungen noch ein besonderes arbeitsloses Einkommen von mindestens 4⁄10 des Bruttoertrages ziehen. Doch das alles konnte auf die Dauer nicht genügen.

Die Polygamie durfte zu Anfang der arabisch-islamischen Geschichte die Berechtigung für sich beanspruchen, die kleine Minderheit der Eroberer, welche in der ihnen untergebenen Welt nur kleine Oasen bilden konnten, tunlichst rasch anwachsen zu lassen. Es wird erzählt, daß ein Sohn des Omaijaden Chalifen Walgas I. 60 Söhne hatte und kurz vor seinem Tode in seinem Haushalte 1000 Personen zählte. Zur Zeit des Chalifen Mamun (813—833 n. Chr.) erreichte die 750 n. Chr. zur Herrschaft gekommene Abbasidenfamilie 33'000 Angehörige. Solange aus der Staatskasse eine Jahresdotation von 1000 bis 50'000 Fr. per Kopf der arabischen Bevölkerung gezahlt wurde, konnte diese Vermehrung der Araber nicht bedenklich erscheinen — wenn auch dieser Bevölkerungszunahme gegenüber binnen absehbarer Zeit die reichste Staatskasse der Welt versagen mußte. Sobald aber diese Staatsdotationen zu Gunsten des Chalifeneinkommens aufhörten, und die Araber auf Eigenerwerb angewiesen waren, hat auch die Polygamie wesentlich zu ihrer raschen Verarmung beigetragen.

§ 40. Diese schon damit bedingte wirtschaftliche Notlage der Araber hat sich mit dem Beginn der Abbasidenherrschaft noch mehr verschärft. Wie bereits erwähnt, war der neuen Fürstenfamilie wesentlich durch die Unterstützung von Seiten der persischen Neubekehrten der Sieg über die Omaijaden gelungen. Es mußte deshalb jetzt die bis dahin ungleiche Besteuerung der Grundbesitzungen der Alt- und Neu-Muslime beseitigt werden. Wenn auch damit die Liebesgaben aus der Steuerkasse an die arabischen Großgrundbesitzer noch nicht verloren gingen, so mußten sie dieselben doch von jetzt ab auch Buchseite 60 den nicht arabischen Großgrundbesitzern zufließen sehen und, da diese Latifundienbesitzer auch sumpfige Ländereien entwässern und dürres Land in das Bewässerungssystem einbeziehen ließen, so ist es zum mindesten nicht unwahrscheinlich, daß schon dadurch eine Art lokale Ueberproduktion in landwirtschaftlichen Produkten hervorgerufen wurde. Es kommt ferner in Betracht, daß der Uebergang von der Omaijaden- zur Abbasidenherrschaft sich in der Form eines etwa 25jährigen Bürgerkrieges vollzog. Solchen Ereignissen folgt erfahrungsgemäß eine wesentliche Verschlechterung des Marktes für landwirtschaftliche Produkte und namentlich für Getreide, das nach den Steuereinschätzungen für Babylonien 80 bis 90% der gesamten Bodenproduktion ausmachte. Je billiger aber die Getreidepreise wurden, desto weniger waren die Bauern und Pächter in der Lage, ihre aus früherer Zeit recht hoch bemessenen Geldverpflichtungen den Grundherren und der Steuerkasse gegenüber weiter zu erfüllen. Aus der Not der Pächter und Bauern wurde so eine Not der Grundherrn und der Staatskasse. Aus dieser Zeit ist uns eine Fabel erhalten, durch welche der Vezir dem absoluten Fürsten ein Bild von der allgemeinen landwirtschaftlichen Notlage zu geben bemüht war. Er sei auf einer nächtlichen Wanderung, so erzählte der Vezir, in der Lage gewesen, zwei alte Eulenpaare zu belauschen, welche über die Verheiratung ihrer Kinder verhandelten. Die eine Partei habe eine größere Zahl verfallener Bauerndörfer als Mitgift gefordert. Darauf habe die andere Partei geantwortet: „An verfallenen Dörfern fehlt es uns nicht. Gott erhalte uns noch recht lange seine jetzt regierende Majestät, denn unter seiner glorreichen Regierung werden wir stets verlassene Bauerndörfer genug haben, da die Bauern wegen des Steuerdruckes alle Reißaus nehmen“.

Buchseite 61 § 41. Die Erwägungen, welche sich mit der Beseitigung dieser Notlage beschäftigten, führten unter el Mansur (754 bis 775 n. Chr.) zu einer Art Verstaatlichung des Getreidehandels. Die bisher weit überwiegenden Geldsteuerleistungen auf Getreide namentlich wurden abgeschafft und Naturalabgaben in der Höhe von 1⁄2, 1⁄3 und 1⁄4 des Bruttoertrages der Getreidefelder, je nach der Qualität des Bodens, eingeführt. (Das Mokasama – System im Gegensatze zur weit überwiegenden Geldsteuerleistung des Wazifa – Systems, das auf einem ordentlichen Grundsteuerkataster mit Parzellenvermessung beruhte, welcher im Irak zuerst, durch den Perserkönig Chosroes {531 bis 579 n. Chr.} eingeführt worden sein soll.) In großen staatlichen Scheunen (ahra), in welchen bis 1000 Tonnen Getreide gedroschen wurden, kam es zur Einsammlung der Garben. Gedroschen wurde unter Aufsicht besonderer Staatsbeamten, welche auch die richtige Ablieferung der dem Staate gehörenden Anteile kontrollierten. Solche Kontrollscheunen soll es in Babylonien allein für 266 Dörfer 6036 gegeben haben. Diese Naturalsteuerabgaben erreichten damit über 90% der gesamten Staatseinnahmen aus der Grundbesteuerung, während vorher die Grundsteuer überwiegend als Geldsteuer geleistet wurde. Im Besitze so großer Getreidemassen beherrschte der Staat bezw. sein Steuerpächter den Getreidemarkt und dessen Preisbewegung vollständig. Es kann mithin nicht überraschen, daß von jetzt ab trotz der entschieden niedergehenden volkswirtschaftlichen Entwicklung die Getreidepreise wesentlich steigen. Während nach Prof. Sprenger unter den Omaijaden ein Preis von 50 bis 60 Mk. per 1000 Ko. Brotgetreide (Weizen und Gerste) angegeben wird, erheben sich jetzt diese Preise auf 100 Mk. und mehr. Für das Jahr 969 n. Chr. wird für Bagdad ein Preis von 140 Mk. per 1000 Ko. berichtet. Da inzwischen der Arbeitslohn, Buchseite 62 welcher zur Zeit der Erbauung von Bagdad (756 n. Chr.) mit etwa 5 Pfg. pro Tag für einen Werkmeister und von etwa 2 1⁄2 Pfg. für einen gewöhnlichen Arbeiter uns überliefert ist, kaum gestiegen sein dürfte, so wird es begreiflich, daß diese Art der Getreidepolitik ganz wesentlich zum raschen Verfall der Städte beigetragen hat. Auch wird trotz der großen Lücken in den auf uns überkommenen Aufzeichnungen wiederholt erwähnt, daß ein Minister oder ein anderer Generalsteuerpächter durch Einsperren von Getreide eine solche Preissteigerung herbeigeführt habe, daß der Volksaufstand nur durch sofortige Aufhebung des Steuerpachtvertrags und kostenlose Verteilung der eingesperrten Getreidevorräte an das Volk gedämpft werden konnte.

§ 42. Mit den höheren Getreidepreisen erwachte sofort wieder die Tendenz der Latifundienumbildung. Den Bauern wurde von allen Seiten so viel zugesetzt, daß sich zu Anfang der Abbasidenherrschaft das Sprichwort im Volke gebildet hatte: Jemanden so schlecht wie einen Bauern behandeln. All diesem Leiden gegenüber gab es in vielen Fällen nur das eine Mittel, das in der germanischen Entwicklung zur Zeit Karls des Großen aus etwas anderen Gründen in Mode gekommen war, nämlich: daß der Bauer freiwillig seinen ererbten Grundbesitz einem Mächtigen zu Eigentum übertrug und von da ab mit der Stellung eines Erbpächters sich begnügte. So stand er unter dem Schutze eines einflußreichen Herrn und war nicht mehr recht- und wehrlos. Seine bisherigen Steuerverpflichtungen ermäßigten sich damit auf etwa 1⁄4, wobei freilich zu berücksichtigen ist, daß die übrigen 3⁄4 von jetzt ab an den neuen Grundherrn als Erbpachtschilling zu leisten waren. Der neue Großgrundbesitzer hatte den Zehent mit teilweisen besonderen Erhöhungen an die Staatskasse zu zahlen, was aber nur zu häufig unterblieb.

Buchseite 63 Wenn trotzdem die Latifundienbildung von nun an sich nicht als eine verheerende Krankheit im Volkskörper ausbreiten konnte, so ist das auf die reichlich geübte Sitte zurück zu führen: den beim Chalifen oder seinen Ministern aus irgendwelchem Grunde unbeliebt gewordenen Latifundienbesitzern das ganze Vermögen zu konfiszieren, meistbietend zu Gunsten der Staatskasse in einzelnen Teilen zu verkaufen oder an einen neuen Günstling ohne Land zu verschenken. Nicht selten wurde bei dieser Prozedur auch dem bisherigen Grundbesitzer der Kopf abgeschlagen.

Diese für die zunächst betroffenen Personen gewiß nicht angenehme wirtschaftspolitische Maßnahme gegen die Latifundienbildung versuchte man bald in einer Weise zu umgehen, welche für die Regierungszeit der Abbasidenchalifen charakteristisch ist. Schon Omar I. hatte nämlich Grundbesitzungen für fromme und milde Stiftungen bestimmt und sie ausdrücklich auch für die Staatsgewalt als unantastbar bezeichnet. So finden wir schon früh im arabisch-islamischen Reiche den unveräußerlichen Grundbesitz der toten Hand. Nachdem das gesamte Staatseinkommen einschließlich der Armensteuer mehr und mehr zur ausschließlichen Verfügung des absoluten Chalifen gestellt worden war, kam in gleichem Maße die Sitte frommer und milder Stiftungen auch in Grundbesitz auf und zwar für Arme, für Spitäler, für Verteidigung der Grenzen, für die heiligen Städte Mekka und Medina, für die Pilgerkarawanen u.s.w. Stiftungen dieser Art wurden jetzt von den Latifundienbesitzern in der Weise gepflegt, daß man für sich oder seine Verwandten mit einer in der Stiftungsurkunde namhaft gemachten Erbfolgeordnung innerhalb der Familie die ausschließliche Verwaltung der gesamten Einkünfte vorbehielt. So hoffte man in wirksamer Weise durch eine andere Art Familienfideikommiss sich gegen die wenig beliebten Besitzstörungen Buchseite 64 durch den Staat zu sichern. Daß dabei die Stifter und ihre Erben sich wenig um den frommen Stiftungszweck kümmerten und das Stiftungseinkommen fast ausschließlich für ihre eigene Person verwendeten, war selbstverständlich. Dieser Mißbrauch hatte bald einen solchen Umfang angenommen, daß der Chalife Harûn al Raschid (786 - 809 n. Chr.) unter dem Drucke der laut gewordenen Klagen seine eigene Mutter aufforderte, auf die von ihr gemachten Latifundienstiftungen freiwillig zu verzichten. Ihre Weigerung führte zur Säcularisation durch den Chalifen. Von da ab war es mit der so geschickt gewählten Sicherung des Latifundienbesitzes vorbei, und das Expropriations- und Wiederaufteilungsverfahren des Staates war in der Lage, mit der neuen Latifundienbildung Schritt zu halten.

§ 43. Diese beiden Erwerbsmöglichkeiten: Uebernahme einer einträglichen Staatsstelle und Aneignung eines landwirtschaftlichen Grossgrundbesitzes waren indeß längst nicht genügend, um die ungemein rasch fortschreitende Verarmung des islamischen Volkes aufzuhalten. So blieb dann schliesslich den Nachkommen der einstmaligen Herren des islamischen Weltreiches nichts anderes übrig, als sich endlich auch zur wirtschaftlichen Arbeit zu bequemen. Die Araber mussten anfangen, sich auch mit dem Handwerk, mit Handel und Gewerbe zu beschäftigen, wobei die Stufenreihe ihres Eindringens in die einzelnen Berufsarten naturgemäss von ihrer sittlichen und religiösen Anschauung abhängig war. Erst im Jahre 932 n. Chr. eröffnet der große Razy die Reihe der berühmten muhamedanischen Naturforscher und Aerzte. Von den ersten arabisch- muhamedanischen Geldwechslern, Goldschmieden und Juwelenhändlern die dem Wuchergewerbe nahestehen sollten, wird — soweit bis heute bekannt — aus dem Jahre 941 n. Chr. berichtet. Dass sich die Araber mit besonderer Vorliebe Buchseite 65 dem bäuerlichen Berufe zugewendet hätten, wird nicht berichtet. Was an Arabern in der Stadt keinen dauernden Aufenthalt nahm, lebte auf dem Lande als Beduine — eine Erscheinung welche nicht nur auf historische, sondern vielleicht mehr noch auf geographische Ursachen sich zurück führt. Die Wüste spielt nicht nur in der Urheimat Arabien, sondern in dem ganzen arabischen Weltreich eine grosse Rolle, die wahrscheinlich nur von Jenen ganz verstanden werden kann, welche die Poesie des Wüstenlebens aus eigener Anschauung kennen. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land, welcher von nun an auch in der arabisch-islamischen Geschichte eine hervorragende Bedeutung besitzt, löst sich hier nicht in Bürger und Bauer, sondern in Bürger und Beduine auf.

Der Jungbrunnen des Volkes ist deshalb bei Ibn Chaldun nicht der Bauernstand auf Feld und Weide, sondern der Beduinenstand in der Wüste. Die Reichen in der Stadt schicken ihre Kinder zur tunlichsten Kräftigung ihrer Gesundheit nicht, wie z.B. in Frankreich, zu einer bäuerlichen Familie aufs Land, sondern zu einer Beduinenfamilie in die Wüste. Das ausschliessliche Stadtleben aber wirkte auch hier rasch degenerierend auf die Bevölkerung.

§ 44. Mit diesem Uebergange des arabischen Volkes vom kriegerischen Räuberhandwerk zum wirtschaftlichen Erwerbe steht eine andere tiefeinschneidende Veränderung in innigster Verbindung d.i. die Auflösung des alten, bis dahin so streng festgehaltenen Geschlechterverbandes und seine Ersetzung in der Stadt durch die Zunftverfassung, welche von den Arabern als das System der Akilah bezeichnet wird. Nicht mehr die Geschlechtsgenossen sondern die Zunftgenossen wohnten jetzt in der Stadt nebeneinander und hatten am Markte als besondere Gilde ihren eigenen Buchseite 66 Platz. Die Zunftgenossen waren zu gemeinsamer Haftpflicht und zu gemeinsamem Schadenersatz gebunden. Wo ein Gewerbe nicht genügend Mitglieder zählte, galt das Dorf oder Stadtviertel als Zunft. Den Beginn der Auflösung des Geschlechterverbandes bezeichnet charakteristischerweise die willkürliche Einreihung jedes Einzelnen in den Heeresverband durch die Heeresleitung, ein Ereignis, welches in Vorderasien mit dem Beginn der Abbasidenherrschaft (750 n. Chr.) in Spanien erst mit der Ruhmeszeit Almansors (etwa 990 n. Chr.) zusammenfällt.

Die realistische Auffassung ging bei dieser neuen Zunftorganisation im Abbasidenreiche so weit, dass sich in der Residenzstadt Bagdad unter den Augen der Regierung auch eine Zunft der Diebe bildete. Und diese Diebsgenossenschaft kam gelegentlich zu solcher Macht, dass sie sich der Hauptstadt Bagdad bemächtigte und der Chalif, um sich und seine Schätze zu retten, es vorzog, seinen eigenen Sohn in die Diebszunft als Mitglied aufnehmen zu lassen. Dieser Situation ist es vollkommen entsprechend, wenn wir weiter hören, dass die Zunft der Diebe in Bagdad einem hohen Beamten für dessen Schutz monatlich 150'000 Frcs. zahlte, und wenn die arabischen Historiker sich als besten Beweis für die allgemeine Verarmung des Volkes auf die Tatsache berufen, dass im Jahre 989 n. Chr. die Zunft der Diebe in Bagdad der Staatspolizei für unbehelligte Plünderung der Mekkapilger nur lumpige 50'000 Frs. bieten konnte.

§ 45. Im Uebrigen fließen auch um diese Zeit in der arabisch-islamischen Weltanschauung die Begriffe Diebstahl, Raub und Erwerb, Erpressung, Bestechung und staatliche Besoldung so sehr in einander über, daß es unmöglich ist, sie auseinander zu halten. Ein Vezir, der auch nur einige Jahre seines Buchseite 67 Amtes waltete, hat selbstverständlich inzwischen neben seinen Schätzen in Edelmetall und Edelsteinen auch einen Latifundienbesitz mit einer jährlichen Rente von etwa 10 Millionen Franken „erworben“. Ein Regierungsschreiber, oder um den entsprechenden modernen Ausdruck zu gebrauchen: ein vortragender Rat im Ministerium erhält aus der Staatskasse jährlich einen Sold von 3600 Frs. aber gegen Ende seiner Beamtenlaufbahn verfügt er seltsamer Weise über ein Gesamtvermögen von 20 Millionen Franken. Daß auch die anderen Berufsstände in ähnlicher Weise sich betätigten, bestätigt ein Epigramm des berühmten syrischen Dichters Ma’rry (973 bis 1057 n. Chr.), welches besagt: „In den Wüsten hausen die Räuber von Kamelen, in der Stadt sind Räuber anderer Art. Diese nennt man Notare und Kaufherren. Jene heißen einfach Beduinen.“ Auch diese Beduinen beschränken sich jedoch nicht immer auf den Diebstahl von Kamelen. In den Jahren 900 bis 915 n. Chr. plünderten sie so eifrig die Mekkapilger, daß zwei Jahre lang diese Wallfahrt überhaupt unterblieb, und die frommen Pilger sich dann entschließen mußten, ihre Sicherheit auf der Reise nach Mekka vorher von den Beduinen zu erkaufen.

Da das „Eigentum“ bis zu solchem Maße „Diebstahl“ war, mußten die regelmäßigen Vermögenskonfiskationen durch die Staatsgewalt als eine Einrichtung ausgleichender Gerechtigkeit erscheinen. Sobald irgend Jemand durch großen Reichtum sich bemerkbar machte, ließ auch seine, nach abgekürztem Verfahren, durchgeführte staatliche Expropriation kaum lange auf sich warten. Sobald ein Minister in Ungnade fiel, wurde sein ganzes Personal mit ihm entlassen und der Minister wie zwei seiner Beamten, welche als reich bekannt waren, zu einer Geldstrafe von so und so viel Millionen Franken verurteilt. Eine Geldstrafe von nur eine Million Frs. pro Buchseite 68 Person hat als milde gegolten. Es kamen Strafzahlungen bis zu 20 Millionen pro Person vor. Es kam aber auch vor, daß dem bisherigen Vezir mit seinen Freunden Vermögen und Leben genommen wurde. In der Auffassung der damaligen Gesellschaft hatten all diese Geldstrafen keine entehrende Bedeutung.

§ 46. All diesen wirtschaftlichen Verschiebungen laufen bedeutsame Aenderungen in der Verfassung des Staates parallel. Die Zentralverwaltung des Reiches war im Vergleich zu den so einfachen Verhältnissen Omar I. recht kompliziert geworden. Während damals die Einführung einer Staatsbuchhaltung als eine außerordentliche Neuerung erscheinen mußte, zählte die Zentralregierung des ersten Abbasidenchalifen sieben Hauptkanzleien, nämlich:

  1. Die Zentralstelle der Steuern,
  2. die Kanzlei der Krongüter,
  3. den obersten Rechnungshof,
  4. die Kanzlei der Truppen,
  5. die Kanzlei der Klienten und Sklaven,
  6. die Generalpostdirektion,
  7. die Kanzlei für Buchhaltung der Ausgaben.

Hieraus lassen sich leicht das Ministerium des kaiserlichen Hauses, das Kriegsministerium, das Ministerium des Innern und der Finanzen mit dem Reichsrechnungshofe und der Reichspostverwaltung unterscheiden.

Auch die Steuerquellen haben sich entsprechend vermehrt. Wir hören unter den ersten Abbasidenchalifen von folgenden Staatseinnahmen:

  1. Grundsteuer verschiedener Art,
  2. Vermögenssteuern,
  3. Zehent von den Handelsschäften,
  4. Doppelter Zehent von Bergbau und Weide,
  5. Kopfsteuer,
  6. Münzgebühr, Buchseite 69
  7. Mautgelder,
  8. Salz- und Fischereisteuer,
  9. Grundrentensteuer für Benutzung öffentlicher Plätze,
  10. Mahl- und Fabrikationssteuer,
  11. Luxus- und Konsumsteuer.

Die daraus erzielten Einnahmen werden für die Jahre 775 bis 786 n. Chr. auf 411 Millionen Franken angegeben. Das alles konnte in einem so großen Reiche der Fürst persönlich nicht mehr überschauen. Die ersten Abbasidenchalifen bedienten sich deshalb um so lieber hierzu der Mithilfe eines ihnen verantwortlichen Staatsmannes und dessen Gehilfen, als sich auf solche Weise die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung unter Umständen leicht und vorteilhaft auf den leitenden Minister ablenken ließ. So ist Amt und Würde des islamischen Vezir entstanden, welche von 750 bis 800 n. Chr. in den geschickten Händen der alten persischen Adelsfamilie der Barmekiden ruhten.

§ 47. Nach dem Sturze der Barmekidenfamilie unter Haruûn al Raschid versuchte der Chalife Mamun (813 bis 833 n. Chr.) die Erblichkeit des Vezirates durch die Erblichkeit der Statthalterposten in den Provinzen zu ersetzen. Die erbliche Vezirwürde mochte mit der Gefahr verknüpft erscheinen, bei einer schwächlichen Persönlichkeit des Chalifen zu einer Verdrängung der ganzen Herrscherfamilie vom Throne zu führen. Mit dem erblichen Statthalter dagegen konnte eine reiche und deshalb kräftige Zentralgewalt leichter fertig zu werden hoffen und doch die Vorteile genießen, welche aus dem größeren Interesse einer erblichen Statthalterwürde an dem Gedeihen der betreffenden Provinz fließen mußte. Anfangs schienen diese Erwartungen sich zu bestätigen. Die Aghlabiden in Nordafrika haben unter Mamun Sizilien und Sardinien erobert, die von jetzt ab 200 Jahre unter islamischer Buchseite 70 Herrschaft geblieben sind. Die Einnahmen der Zentralkasse aber zeigten bald eine weniger günstige Entwickelung. Die 411 Millionen Franken in den Jahren 775 bis 786 n. Chr. sind auf 372 Millionen in den Jahren 819/20 n. Chr. und auf 293 Millionen im Jahre 845 n. Chr. zurückgegangen. Das ist ein Verlust von 119 Millionen gleich 29% binnen 59 Jahren. Weil aber das Ausgabebedürfnis des Chalifen in keiner Weise das Bestreben zeigte, sich nach der kürzer werdenden Decke zu strecken, wurde die Steuerschraube fast überall noch weiter zu drehen versucht, mit Vermögenskonfiskationen und Hinrichtungen der Reichen noch ausgiebiger vorgegangen und die Staatsämter öffentlich an den Meistbietenden vergeben. Damit steigerte sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung bis zu dem Maße, daß der Chalife Motassim (833 bis 842 n. Chr.) sich in der Mitte heimischer Truppen nicht sicher genug fühlte und sich deshalb ein Heer aus fremden Söldnern, Türken und Berbern zusammenstellte, deren Zahl bald die Höhe von 70'000 Mann erreicht haben soll. Diese Soldateska betrug sich in Bagdad so schlecht, daß die ernstesten Beschwerden darüber aus der Bevölkerung der Residenzstadt den Chalifen veranlaßten, mit seiner Leibgarde und seinen Beamten nach dem neu erbauten Ssamarra auszuwandern.

Das Los des Chalifen war damit noch schlechter geworden. Die hoch besoldete Leibgarde verwandelte sich rasch in übermütige Prätorianer, die ihre eigentliche Aufgabe darin erblickten, aus der Kasse des Chalifen so viel als möglich in ihre Taschen zu bringen. Das Stündlein der Expropriation des Chalifen hatte sich angekündigt. Nach jeder Erledigung des Thrones kam es von jetzt für den Nachfolger in erster Linie auf die Anerkennung durch die Leibgarde an. Und diese Leibgarde war immer für jenen Thronkandidaten, welcher ihr die Buchseite 71 reichsten Geschenke zusicherte. So kam es, daß bei jedem Thronwechsel der ganze Staatsschatz ausgeplündert werden mußte, nur um die Anerkennung der Prätorianer und der mächtigsten Beamten für den neuen Chalifen zu erkaufen. Die Prätorianer waren deshalb wesentlich daran interessiert, daß möglichst oft eine Neubesetzung des Chalifenthrones eintrete. Und wenn die bessere Körperkonstitution des Fürsten der Gläubigen dieses Ereignis länger hinauszuschieben drohte, wurde durch geeignete Mittel nachgeholfen. Von 13 Chalifen, welche unter der Herrschaft der Prätorianer regierten, wurden 8 abgesetzt, geblendet oder ermordet.

§ 48. Der Chalife als Puppe in der Hand der Prätorianer hatte natürlich sein Spiel mit den erbberechtigten Statthalterfamilien bald verloren. Rasch treten uns deshalb in dem seither einheitlichen Reiche fast selbständige Vasallendynastien und dann auch unabhängige Einzelstaaten entgegen, deren Bedeutung und Einfluß in dem allgemeinen Wirrwarr der politischen Verhältnisse vor allem auf der mehr oder minder machtvollen Persönlicheit des Herrschers beruhte. Als im Jahre 872 n. Chr. Ssaffar sich anschickte, den Statthalterposten für Choressan sich mit Waffengewalt zu „erwerben“, erschien ein Abgesandter des Chalifen bei ihm mit der bescheidenen Anfrage: wo Ssaffar denn seine vom Chalifen ausgefertigte Bestallungsurkunde für Chorassan habe? Da lautete die sachgemäße Antwort, indem Ssaffar auf sein Schwert schlug: „Hier ist meine Bestallung!“ Der Chalifengesandte war nicht in der Lage, gegen die Gültigkeit dieses Dokumentes Einspruch zu erheben. Irgend ein tüchtiger General, der mit seinen Söldnern dem Chalifen einmal sich nützlich gezeigt, ließ sich dafür eine erbliche Statthalterschaft übertragen und regierte hier, bis ein Stärkerer ihn verjagte. So entstanden nach 870 n. Chr. Dutzende von RäuberBuchseite 72dynastien aus jener Machtfülle, welche durch den Zersetzungsprozeß des Chalifats frei geworden war.

§ 49. Die Geldnot in der Chalifenkasse wurde immer größer. Die selbständigen oder fast selbständig gewordenen Statthalterdynastien zahlten natürlich nichts oder nur wenig an die Zentralkasse nach Bagdad. Die Staatseinnahmen sind deshalb von 411 Millionen Franken in den Jahren 775—786 n. Chr. auf 24 Millionen in den Jahren 915/16 n. Chr. zurückgegangen. Mit Mühe und Not hatte sich der Chalif Mutamid im Jahre 873 n. Chr. aus der Prätorianerstadt Ssamarra nach Bagdad zurückgerettet. Seine traurige Lage wurde damit nicht wesentlich gebessert. Die Soldrückstände erreichten gelegentlich einen solchen Umfang, daß die Schmuckgegenstände und ein Teil der Einrichtung des Chalifenpalastes versteigert werden mußten, um die drohende Militärrevolte zu beschwichtigen. Findige Minister aber wußten selbst aus diesen unbezahlten Gehältern reiche Gewinne zu ziehen. Sie ließen nach der bei unseren Großbanken für exotische Anleihen beliebten Methode durch besondere Agenten die Quittungen für rückständige Gehaltsforderungen zur Hälfte des Nominalbetrages aufkaufen und rechneten dieselben dann zum Vollbetrage mit der Staatskasse ab. Der Chalife fühlte sich der wachsenden Sorge und Unsicherheit seines Berufes nicht mehr gewachsen. So kam es zum politischen Selbstmord des Chalifats. AI Radhi (934 bis 941 n. Chr.) schuf das Amt des Emir al Muara, welcher die ganze Herrschaft „im Namen des Chalifen“ zu führen hatte und betraut damit 935 n. Chr. den Generalissimus seiner Söldner. Sein Nachfolger Mustakfi (944 bis 945 n. Chr.) warf sich den Bujiden in die Arme, welche seit 925 in Persien zur Herrschaft gekommen waren. Dem Chalifen blieben die religiösen Ehrenämter mit der Münze, während die Buchseite 73 gesamte übrige Regierungsgewalt von den Bujiden unumschränkt, wenn auch im Namen des Chalifen ausgeübt wurden. Der einfachen Rechnung halber zahlten die Bujiden dem Chalifen eine Zivilliste, die oft so bescheiden ausfiel, daß es dem Fürsten der Gläubigen an dem Nötigsten fehlte. Seit dieser Zeit war die Redensart: sich mit der Predigt und der Münze begnügen! aufgekommen für ein Vertragsverhältnis, nach dessen Inhalt der Eine fast alles, der Andere fast nichts behielt. Damit hatte die weltliche Herrschaft der Nachfolger des Propheten nach 300 Jahren ihr Ende erreicht. Die Bujiden wurden schon 993 n. Chr. von den Sedschuken abgelöst.

§ 50. Der finanzielle Bankrott des Chalifats, dem der politische Bankrott auf dem Fuße folgte, mußte notwendiger Weise jene charakteristischen Erscheinungen hervorrufen, die wir schon in der Geschichte des niedergehenden römischen Kaiserreiches als die gewaltsame Rückbildung aus der Geldwirtschaft in die Naturalwirtschaft kennen gelernt haben. Die Verstaatlichung des Getreidehandels zu Anfang der Abbasidenherrschaft bedeutete bereits die Einleitung dieses Entwicklungsprozesses. Die Aufteilung des Reiches in größere mehr oder minder selbständige Einzelregierungen ist ebenfalls ein hierher gehörendes Symptom. Ein gleiches gilt von der fortgesetzten Münzverschlechterung und von der wieder rückläufigen Bewegung von der Goldwährung zur Silberwährung, deren Wiedereinführung mit dem Ende der weltlichen Herrschaft des Chalifats (944 n. Chr.) zusammenfällt. Hierher gehört aber insbesondere die Ausbildung des Soldatenlehens und damit eine ziemlich allgemeine Einführung einer Abart lehensstaatlicher Verfassung.

Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung waren die Rückstände in den Soldzahlungen. Infolge der fortgesetzten Buchseite 74 Vermögenskonfiskationen hielt die Staatskasse fortwährend öffentliche Grundstücksversteigerungen ab. Bei diesen traten die Soldaten als Käufer auf und zahlten mit Belegen für rückständigen Sold. Die Soldaten wurden so Eigentümer von Grundstücken, auf welchen sich Bauern als Erbpächter abmühten, um neben ihren Steuern noch den entsprechenden Pachtertrag für den jeweiligen Grundherrn heraus zu wirtschaften. Truppenführer kamen auf solche Weise in den Besitz ganzer Ortschaften, für deren wirtschaftliches Gedeihen sie in der Regel ein gewisses Verständnis zeigten. Den plötzlich zu Grundherren avancierten Soldaten aber scheint diese Rangerhöhung etwas in den Kopf gestiegen zu sein. Wir hören oft von persönlichen Erpressungen und bösen Chicanen, welche sich die Soldaten den Bauern gegenüber haben zu Schulden kommen lassen. Die Bewässerungskanäle wurden vernachlässigt, die Straßen nicht mehr ausgebessert, die Dämme der Kanäle eingerissen und nicht mehr hergestellt, das Land versumpft und versandet. Die Bauern verlassen die Höfe. Waren aber infolge all dieser Sünden die Soldatenländer verödet, dann stellten die Soldaten diese dem Staate wieder zurück und verlangten bessere, neue. Auch diese Soldatenländer hätten den Zehent an die Steuerkasse entrichten sollen, es geschah nur in der Regel nicht.

Was so für die Soldaten und Offiziere recht war, das schien bald für Jedermann, der Anspruch auf Staatsgehälter erheben konnte, billig zu sein. So erhielt denn jedes Mitglied der herrschenden Familie, jeder Emir, eine Stadt oder eine Landschaft als Lehen, über welches der Lehensträger unumschränkt gebot, die Patrimonialgerichtsbarkeit ausübte, die Bauern mit Frohndiensten belastet und herauszupressen versuchten, was möglich war. Die konsequente Ausbildung dieser eigenartigen Lehensverfassung fällt etwa in die Zeit von Buchseite 75 925—993 n. Chr. Namentlich die Landbevölkerung ist durch diese Verhältnisse förmlich zur Verzweiflung getrieben worden. Aber auch die Städte verfielen und verödeten jetzt rasch. Es kann deshalb kaum überraschen, wenn für das Jahr 987 n. Chr. berichtet wird, daß ein arabischer Volksstamm, welcher 12'000 Mann zählte, geschlossen nach byzantinischem Gebiet ausgewandert sei, um hier freiwillig vom Islam zum Christentum überzutreten und dann von ihrer neuen Heimat aus an ihren früheren Peinigern durch periodische Raubzüge sich zu rächen. Die Verderben bringenden wirtschaftlichen Begleiterscheinungen der Religion des Muhammed haben diese Menschen aus der Gemeinde der Gläubigen verjagt.

§ 51. Die so weitgehende Aufteilung des arabisch-islamischen Weltreiches in selbständige Einzelgebiete führte zu einem fortdauernden Kriege aller gegen alle. Es ist der nimmer rastende Kampf der Bestien in Menschengestalt um die gewonnene Beute, über welchen der Geschichtsschreiber für diese Epoche zu berichten hat. All jene traurigen Entwicklungserscheinungen, welche wir bei der Auflösung des Weltreiches kennen gelernt haben, wiederholen sich jetzt in den Einzelreichen in kleineren Verhältnissen und deshalb oft in noch abstossenderen Formen. Wo ein kräftigerer Haudegen mit etwas zuverlässigeren Truppen die Regierung führt, fällt er über seine Nachbarn her, um ihre Besitzungen als gute Beute zu erwerben. Die Eroberungen bringen ein grösseres Einkommen und damit einen größeren Luxus des Herrschers, der bald kein Mass mehr zu halten weiß. Um die Staatskasse zu füllen, greift man zu Vermögenskonfiskationen und Hinrichtungen. Ein anderes Recht, als das der Gewalt ist unbekannt. Die Sultane nehmen den Kaufleuten ohne Entschädigung ihre Ware weg, und zwingen dann die Bevölkerung, die Ware Buchseite 76 zu möglichst hohen Preisen dem Staate wieder abzukaufen. Das nannte man Einführung eines Staatsmonopols. Oder der Staat beteiligte sich an den Spekulationen einzelner Kaufleute, zu deren erfolgreicher Ausführung den Konsumenten gegenüber die Machtmittel des Staates zur Verfügung gestellt wurden. Auch die Minister haben wieder wie die Raben gestohlen, wurden dafür allerdings auch wie die Raben behandelt. Von dem 5. Nachfolger des Sultan Beibars in Aegypten berichtet hierzu der Chronist wörtlich: „Sultan Nassir (1293—1294 n. Chr.) mästete seine Emire, bis sie recht fett waren, dann schlachtete er sie und alles von ihnen Verschlungene kehrte zu ihm wieder zurück.“ Mit der wachsenden Unzufriedenheit der Untertanen greift auch in den Einzelstaaten der Herrscher zu fremden Soldtruppen, welche das Land noch mehr bedrücken und sich rasch zu echten Prätorianern entwickeln. Das alles dauert so lange, bis ein Stärkerer sich das betreffende Land aneignet.

Wesentlich erhöht wird diese fast endlose Zahl der Raub- und Bürgerkriege durch die Polygamie der Herrscher. Die Mütter der verschiedenen Thronkandidaten sind in der Regel Sklavinnen aus den verschiedensten und fernsten Ländern. Jede Mutter war nur darauf bedacht, daß ihr Sohn Sultan würde. Und so führten dann gelegentlich vier verschiedene Sultanswitwen jede zu Gunsten ihres Sohnes, welche alle unmündige Kinder im Alter von 5 bis 15 Jahren waren, gegen einander Krieg. Die Klagen über die Kebsweiber und die Mischlinge waren denn auch ziemlich verbreitet. Da es an einer festen Erbfolgeordnung fehlte, kamen die konsequenteren osmanischen Türken auf das Abhilfsmittel, sämtliche Brüder des nominierten Thronkandidaten sofort zu töten. In anderen Fällen entwickeln sich zwischen der Buchseite 77 Sultanin und ihrem Heerführer intimere Verhältnisse, denen dann der Sohn und Thronerbe geopfert wird u.s.w.

Bei dem fortdauernden Kriegszustand hatte die Zucht der Soldaten außerordentlich gelitten. Fast allgemein war das Militär der Bestechung durch den Feind zugänglich. Die Soldaten liefen oft mitten in der siegreichen Schlacht auf einmal davon. Oder der Sultan sah sich am Tage nach einer siegreichen Schlacht auf einmal von seinen Soldaten verlassen. Oder die Laune eines mächtigen Emir gab ihm nach einer Niederlage den Sieg. So wurde jetzt um Königreiche Hazard gespielt und alle Augenblicke ein neues Staatswesen aus beliebigen Länderfetzen zusammengeschweißt, wenn nicht der Dolch der Assassinen plötzlich wieder die besten Spielerchancen vernichtete.

§ 52 Mitten in diesen tollen Hexensabbath hinein fallen die Kreuzzüge der europäischen Christenheit. (1096—1270 n. Chr.) Hätten sich dieselben nicht gerade auf Jerusalem versteift, das auch den Muhammedanern eine heilige Stadt ist, so wären bei der gewaltigen Ausdehnung des islamischen Reiches die Kreuzzugskriege nicht über den Rahmen unbedeutender Grenzstreitigkeiten hinausgegangen. Zu einer allgemeineren Einigung der Muslime gegen die Kreuzzugsbewegung ist es selbst in Vorderasien nie gekommen. Der Chalife in Bagdad schien sogar diese Verschärfung des allgemeinen Durcheinander nicht ungern zu sehen. War es doch inzwischen ihm möglich geworden, ein kleineres weltliches Herrschaftsgebiet wieder an sich zu reißen. Dem ersten einigermaßen kriegerisch geordneten Angriffe von europäischer Seite mußte also Jerusalem erliegen. Die dann auf bisher islamischem Boden gegründeten christlichen Reiche haben freilich die schlechten politischen Zustände, welche sie in Vorderasien vorgefunden haben, nur zu getreulich nachgeahmt. Dem Buchseite 78 Vertreter der Einheit der christlichen Eroberung, dem Könige von Jerusalem, wurden nach Analogie des Chalifats in Bagdad nur ganz bescheidene Machtbefugnisse reserviert. Die eigentliche weltliche Macht lag hier in den Händen der Grafen, wie dort in den Händen der Sultane. Und die Herren Raimund, Boemund, Tankret, Balduin und wie sie alle heißen, haben sich um recht kümmerliche Fetzen Landes herumgeschlagen und nicht selten dabei auf Seiten der Ungläubigen gegen ihre Glaubensbrüder gekämpft. Nicht minder eifrig waren diese christlichen Herren im Kopieren der sittlichen und ökonomischen Verderbtheit der Muslime. Als deshalb ein Sultan Nurredin (1146 bis 1174 n. Chr.) ein streng rechtlicher kluger Herrscher sich für die islamische Welt zeigte, genügte die Begeisterung, mit welcher die gläubigen Muslime diesem Führer folgten, dem dann in Saladdin ein würdiger Nachfolger erstanden war, um die Kreuzzugsritter aus Jerusalem dauernd zu vertreiben. Die europäische Kreuzzugsbewegung spielt deshalb in der islamischen Geschichte nur eine kleine Rolle.

§ 53. Auch das arabisch-islamische Weltreich ist an seinem Reichtume und an seinen eigenen Fehlern zu Grunde gegangen.

Die ungeheuren Werte, welche die Raubzüge und die ihnen folgende systematische Ausplünderung der unterjochten Völker durch Jahrhunderte in den Händen der islamischen Herrscher vereinigt haben, hatten sich längst zu fabelhaften Märchen verdichtet, die ihren Weg selbst durch den ganzen weiten Kontinent von Asien gefunden hatten. Nicht minder war gewiß all denen, die sich hierfür interessierten, bekannt geworden, daß das einst so gewaltige Herrschaftsgebiet der Araber mit den fabelhaften Reichtümern sich in einige Dutzend Räuberdynastien aufgelöst hatte, und deshalb innerlich viel zu schwach geworden war, um einem energischen Ansturm widerstehen Buchseite 79 zu können. Das alles mußte in der ganzen Welt die Eroberungslust anreizen, die zu Beginn der Kreuzzüge deutlich genug aus der geschäftigen Bereitwilligkeit der Normannen und der führenden italienischen Handelsstaaten hervorgetreten ist. Für Eroberer mit islamischem Glauben lag es besonders nahe, die wichtige Lehre aus der Gründungsgeschichte des arabisch-islamischen Reiches nicht außer acht zu lassen und die religiöse Begeisterung ihrem Unternehmen zu sichern. So wurden auch diese Eroberungskriege zu Religionskriegen.

Zunächst überschwemmten von 933 n. Chr. ab die Türken jenseits des Oxus in zwei großen Wogen Westasien, Südeuropa und Indien. Ihr erster Ansturm war vorgeblich der Vernichtung der ketzerischen ismaelitischen Propaganda in Persien gewidmet. Aber nur vereinzelt ist aus diesen Türken etwas Besseres geworden als Reiter und Kopfabschneider. Zweihundert Jahre lang wurden ihre Züge durch Menschenleichen, verbrannte Dörfer und Städte bezeichnet. Ueber Nordafrika und Spanien verbreiteten sich im XI. und XII. Jahrhundert die sich ablösenden Plünderungshorden der fanatischen Almoraviden und Almohaden, welch letztere von einem der größten Schwindler organisiert worden waren. Mit dem XIII. Jahrhundert endlich heben jene furchtbaren Mongolenstürme an, deren Geschichte die Todeskunde des Islam und der Muslime bedeutet.

§ 54. Als der große Mongolenherrscher Dschingis-Chan auf seinem Eroberungszuge (1216—1223 n. Chr.) in die Nähe des ersten Grenzstaates des islamischen Reiches kam, schickte er dem regierenden Sultan einen Brief, welcher lautete: „Ich betrachte Dich als meinen liebsten Sohn und werde Dich in nächster Zeit besuchen.“ In einfaches Deutsch übertragen, bedeutete das: Ich betrachte Dich als meinen Vasall und wenn Du nicht Buchseite 80 damit einverstanden bist, dann hast Du Dich auf Leben und Tod zu verteidigen. Dschingis-Chan nannte sich selbst „Gottes Geißel“, wie einst sein Vorgänger Attila. Er war vorgeblich gekommen, um im Auftrage Gottes die Menschen für ihre schweren Sünden schwer zu bestrafen. Eine mehr nüchterne historische Auffassung wird aber zugeben müssen, daß auch einen Dschingis-Chan die Sünden der Menschen in fremden Staaten nicht zu einem militärischen Eingreifen gereizt hätten, wenn diese sündigen Menschen arm gewesen wären. Er ließ Herat zerstören und alle Menschen, deren man habhaft wurde, ermorden. Nachdem das Heer schon einige Tagesreisen von den brennenden Ruinen entfernt war, kam man auf den Einfall, umzukehren und nachzusehen, ob sich nicht doch wieder Menschen eingefunden hätten. Richtig faßte man 2 bis 3000 ab, die abermals hingeschlachtet wurden. Von den vorher 100'000 Einwohnern von Herat waren noch 16 übrig geblieben, die sich auf unzugängliche Felsen gerettet hatten. Als in der Stadt Merw alles zerstört und gemordet war, kam man auf den Gedanken, von der Moschee den Gebetruf erschallen zu lassen. Wirklich fanden sich darauf die Uebriggebliebenen zum Gebete zusammen, um den Tod zu finden. So wurden auch Buchara, Samarkand, Chiwa und Balch erobert. Zehntausende hat man als Gefangene zur Schanzarbeit vor den belagerten Städten gezwungen, wo sie den Pfeilen und Wurfspeeren der Belagerten zum Opfer fielen, wenn sie nicht schon vorher an Entbehrungen zu Grunde gegangen waren. Frauen, Kinder und Handwerker schleppte man mit den eroberten Schätzen tief nach Asien hinein. Was Dschingis-Chan zurückließ, war eine Wüste, wo vorher auf hoch kultiviertem Lande Millionen fleißiger Menschen sich betätigten. Eine furchtbare Panik vor den Mongolen hatte sich der Bevölkerung allgemein bemächtigt.

Buchseite 81 § 55. Von 1253 bis 1265 n. Chr. besuchte ein Enkel des Dschingis-Chan, der gewaltige Hulagu die weiter nach Westen gelegenen Teile der islamischen Reiche und gründete die mongolische Dynastie in Persien. Sein Zug galt vorgeblich der Vernichtung der Assassinen, welche er konsequent durchführte. Als er in Bagdad eingetroffen war, versammelten sich die islamischen Fürsten, um ihm Untertänigst zu huldigen. Einer dieser Sultane überreichte Hulagu dabei ein Paar kostbare Pantoffeln, auf deren Sohlen das Bildnis des Sultans kunstvoll eingestickt war, mit den Worten: „Es ist die Hoffnung des Sklaven, daß der Padischah mit seinem segenspendenden Fuße den Sklaven erhöhen möge.“ Der Chalife wurde in seinem Palaste besucht und aufgefordert seine Gäste in würdiger Weise zu bewirten. Nachdem er all seine Schätze ausgeliefert hatte, wurde er ergriffen und mit seiner ganzen Familie hingerichtet. Das Chalifat der Abbasiden in Bagdad erreichte so mit dem 38. Chalifen sein Ende.

§ 56. Was Dschingis-Chan und Hulagu noch übrig gelassen hatten, holte in den Jahren 1380 bis 1405 der eiserne Timur-Leng. Mit ihm war ein Mann ins Land gekommen, dessen Name wie der jenes Königs von Assur: Raubebald Eilebeute lautete. Timur bedeutet „Eisen“, leng „lahm“, der große Organisator der Siege hinkte. Sein Wahlspruch auf seinem Ringe eingegraben: rústi rasti muß sinngemäß mit „Gewaltrecht“ übersetzt werden. Man ersieht aus all dem: Dieser Mongole war seiner historischen Rolle als „Expropriateur der Expropriateure“ sich klar bewußt. Sein Auftreten bedeutet die Vollendung des Ruins der islamischen Länder. Eine seiner Liebhabereien bestand darin, nach der Eroberung großer Städte aus ganzen Menschenleibern und Menschenköpfen Pyramiden bauen zu lassen. Gelegentlich benutzte er einmal ca. 2000 lebende Menschen als Baumaterial Buchseite 82 zwischen Stein und Mörtel. Auch Timur-Leng war ein Vertreter der orthodoxen Richtung. Seine Eroberungen erstreckten sich von der chinesischen Mauer bis nach Moskau, südwestlich bis zur kleinasiatischen Meeresküste und nach Aegypten, südöstlich bis zum Indus und zur Mündung des Ganges. Nach Timur-Leng herrschte in den arabisch-islamischen Reichen, die er durchzogen, die Ruhe des Kirchhofs. Die muhammedanische Geschichte ist von nun ab eine Geschichte der Türken.

§ 57. Der große einheitliche Zug, welcher die Entwicklungsgeschichte des arabisch-islamischen Weltreiches beherrscht, bildet den eigentlichen Inhalt des ökonomischen Gesetzes von der Expropriation der Expropriateure.

Zu Anfang sehen wir das Volk der Araber als Räuberhorde organisiert, um möglichst viele Völker zu erobern und auszuplündern. Das Volk der Araber wird dann in dem dadurch gewonnenen Einkommen expropriiert durch den Chalifen. Die ersten Beamten und die geschickten Unternehmer, welche sich an dem Raub des Chalifen beteiligten, werden, wenn sie genügend Reichtum zusammengescharrt haben, wieder expropriiert durch den Chalifen. Der damit wachsenden Verfeindung mit dem Volke sucht der Fürst der Gläubigen durch Einstellung fremder Soldtruppen zu begegnen, die sich jedoch rasch in die Rolle der Prätorianer finden und als solche mit der Expropriation des Chalifen beginnen, die durch die selbständig gewordenen Statthalter vollendet wird. Das damit eingeleitete allgemeine Hazardieren um Königreiche weckt den Türken- und Mongolensturm und führt damit zur Expropriation aller bisher zusammengeraubten Schätze.



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