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[ E.][Entwicklungsgeschichte der Völker des
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§ 76. Dem altgermanischen Königtume war der Begriff des absoluten Fürsten fremd. Der germanische König konnte „Unrecht“ tun, sein von der Volksversammlung gemißbilligtes Urteil wurde „gescholten“. Der germanische König konnte abgesetzt werden und ward seines Amtes schon zu Lebzeiten ledig, wenn er nicht mehr imstande war, vor versammeltem Kriegsvolk in voller Rüstung aufs Pferd zu steigen. Aus den lehenstaatlichen Anschauungen heraus ist dann die Theorie vertreten worden: Jede Herrschaft und Amtsgewalt ist ein göttliches Lehen, das im Falle einer Verletzung des evangelischen Gesetzes an den himmlischen Lehnsherrn zurückfällt. Damit war aber positives Recht dem göttlichen Rechte und bald auch dem Naturrechte nachgeordnet. Die Politik der Fürsten war verpflichtet, sich nach den Grundsätzen des Christentums zu richten. Auch die Könige konnten zur Rechenschaft gezogen werden und fanden ihren Richter. Begriff und Einrichtung des fürstlichen Absolutismus sind den Völkern des christlichen Abendlandes erst durch die engeren Beziehungen zum Orient, zum byzantinischen und namentlich zu den arabischen Reichen zugänglich geworden. Hier war von Muhammed (622) angefangen bis zu den Nassrieden von Granada (1492) längst zu einer vollendeten praktischen Kunst ausgebildet, was Niccolo Macchiavelli erst zu Anfang des XVI. Jahrhunderts als Grundsätze eines Fürsten, welcher seinen Staat stark und mächtig machen will, zusammengestellt hat. Dieser absolute Fürst war der zur höchsten Potenz erhobene Individualist. Sein Wille war Gesetz, Recht und Sitte. Der absolute Herrscher stand über dem Gesetze. Er konnte schon deshalb kein Unrecht tun. Für ihn gab es keinen Richter. Ihn oder seine Handlungen zu „schelten“, war todeswürdiges Verbrechen. Sein Recht: das Staatsgebiet und dessen Einwohner nach seinen Launen auszubeuten, fand selbst in der Theorie nur dort eine Grenze, wo die Henne geschlachtet wurde, welche die goldenen Eier legte, oder wo die Gewalt der zu erwartenden revolutionären Reaktionen den Fürsten selbst ernstlich bedrohte. Jetzt war die Politik von den Fesseln der Moral und des Evangeliums vollkommen frei. Das positive Recht des Fürsten galt allein! Für ein göttliches Recht oder für ein Naturrecht war kein Raum mehr geblieben. Wohl aber war der Assassinendolch zu einem ständig bereiten politischen Werkzeug geworden, vor dessen Schärfe freilich auch der Fürst nicht ganz sicher war. Dieser Absolutismus zeigt uns den Typus der Kapitalisten auf fürstlichem Throne. Die Stützen dieses Thrones waren: Geld und Söldner. § 77. Ganz allmählich, wie die Geldwirtschaft, hat sich auch das Söldnerwesen in der abendländischen Geschichte entwickelt. Schon im Lehensstaate bestand neben dem Heerbann der Vasallen fast zu allen Zeiten das Söldnertum. Früh schon hatten die Könige begonnen, ihren Heeresgenossen besondere stipendia als Sold oder Unterstützung für den Feldzug zu zahlen. Was ursprünglich ein Akt königlicher Freigebigkeit war, wurde bald genug ein Recht des Kriegers. Unter Kaiser Heinrich IV. forderten die Truppen nach dem Zuge gegen die Sachsen (i. J. 1075) stürmisch ihr „praemium“. Im XII. Jahrhundert war die Zahlung des Stipendium oder praemium bereits obligatorisch. Wenn die Fürsten ihre Zustimmung zu einer Reichsheerfahrt verweigerten, war der König auf seine Vasallen und auf seine Soldritter angewiesen, die im Süden bei den Normannen, Sarazenen und Basken, im Norden bei den Niederländern und Lothringern geworben wurden. Die Kreuzzüge haben mit der Geldwirtschaft auch das Söldnertum am meisten gefördert. Mit den geldwirtschaftlichen Einrichtungen haben auch die Söldner ihren Weg über Italien nach dem übrigen Europa gefunden. Selbst das Wort „Soldat“ ist erst im XVI. Jahrhundert mit dem Siege des Absolutismus aus dem Italienischen in die deutsche Sprache übergegangen. Das wesentlich unter arabisch-islamischen und byzantinischen Einwirkungen entstandene Normannenreich in Sizilien und Neapel gab für Italien das Vorbild eines geordneten Söldnerwesens mit absoluter Fürstengewalt. Der Hohenstaufische Kaiser Friedrich II. hat dann die politische Organisation dieses Reiches weiter ausgebaut. In einer dem Abendlande bisher unbekannten Weise kam es zu einer Nivellierung der Volksmasse, zu einer Zentralisation der Staatsgewalt mit Hülfe bezahlter Beamten, zu einem geordneten, auf guten Katastern beruhenden Steuersystem, zu einer ausgebildeten Polizei- und Heeresgewalt, deren Kern besoldete Sarazenen waren, für welche der päpstliche Bann wirkungslos blieb. Die Hohenstaufen sind dann definitiv unterlegen (i. J. 1268), weil die reicheren Geldmittel der Päpste gestatteten, viel größere Söldnerheere aufzubringen. § 78. Zu einer allgemeinen Einführung kam das Söldnertum in Italien Ende des XIII., Anfang des XIV. Jahrhunderts. Die Kreuzzüge und der Levantehandel hatten die Städte reich und mächtig werden lassen. Fast jede Stadt bildete einen selbständigen Staat, innerhalb dessen Grenzen sich wieder die Parteien bis zur Vernichtung bekämpften. Der kapitalistische Konkurrenzneid ließ aber auch den Krieg zwischen den Stadtstaaten nicht zu Ende kommen. Zu diesem bunten Gemisch entgegenstehender Interessen kamen die vielen ketzerischen Sekten in Oberitalien, deren Angehörige im Waffendienste persönlich am meisten gesichert waren, die deutschen Römerzüge mit der Parteiung der Ghibellinen und Guelfen, der Kirchenstaat und die Franzosen und Katalonier in Süditalien. Unter solchen Verhältnissen konnten keine friedlichen Zustände herrschen. Gleichzeitig minderte sich bei den reich gewordenen Bürgern die Lust am Kriegsdienste. Trotzdem für die Säumigen das Abschneiden eines Fußes gesetzlich als Strafe angedroht war, erschienen in Florenz 1327 zu einer Reitermusterung von 400 Rittern und 600 Knappen nur 100 Mann. Aus diesem chaotisch durchwühlten Boden erwuchs das freie Kriegerbandentum, die „brigatas“, „compagnie di Ventura’’, erwuchs das Condottieretum. Es ist jedenfalls in hohem Maße bezeichnend, daß der Sinn dieser Worte schon erkennen läßt: die kriegerische Austragung der Interessenkonflikte sei einem kapitalistischen Unternehmer überlassen, welcher sich eine Schar von Abenteuerern angeworben, deren Sinn auf Verdienen unter Waffen, also auf möglichst ergiebigen Raub gerichtet war. Auch jetzt noch war der Staat als „seßhaft gewordene Räuberbande“ deutlich zu erkennen. § 79. Es ist klar, daß diese Kriegsunternehmer sich stets dem Meistbietenden verkauften. So war Leodrisio Herzog Werner von Urslingen 1334—1351 wechselweise im Sold der Pisaner, des Papstes, des Herzogs von Athen, des Königs Ludwig von Neapel, den er einsetzte, zum Ritter schlug und später verraten hat. Auf seinem Brustharnisch bezeichnete er sich selbst als „Herr der großen Kompagnie, Feind Gottes, Feind der Traurigkeit und des Erbarmens.“ Die Führer dieser Banden vererbten ihre organisierten Unternehmen ihren Söhnen und die dadurch mehr befestigten Beziehungen erleichterten wesentlich ihr Emporsteigen auf den Fürstenthron. So wurden die Visconti und Sforza Herzöge in Mailand, die Gonzaga Herren von Mantua, der Findling Castruccio Castracani Herr von Lucca, Pisa und Pistoja. Die Mehrzahl dieser Bandenführer aber wurde von ihren Brotherren auf gewaltsame Weise aus der Welt geschafft, um den Staat aus der Gefahr einer Unterjochung zu retten. Mit dem XVI. Jahrhundert verschwanden bald diese Kriegsbandenführer aus Italien, weil die kleinen Stadtrepubliken fast sämtlich in größere Monarchien aufgegangen waren. Aber die Söldnerei blieb. Sie wechselte nur den Herrn. An die Stelle der Städte trat der königliche Absolutismus als Brot- und Arbeitgeber. Damit kam der kapitalistische Charakter dieser Einrichtung wieder in anderer Weise zur Ausbildung. § 80. Die Könige haben sich anfangs der Mietstruppen immer nur mit halbem Herzen bedient. So lange sie bei vorherrschender Naturalwirtschaft auf den unsicheren Ertrag ihrer Domänen angewiesen waren, befanden sie sich den Söldnern gegenüber meist in der peinlichsten Verlegenheit. Die unbezahlten Massen streikten, durchzogen plündernd das Land und trotzten ihrer Majestät. Sobald aber die Geldwirtschaft sich allgemeiner eingeführt hatte und das System der merkantilen Wirtschaftsgrundsätze erfolgreich bemüht war, die früher leeren Truhen der Fürsten mit Edelmetall zu füllen, da war auch zwischen Fürst und Söldner ein geregeltes Verhältnis möglich. Kein Geld — keine Söldner! Wo aber Geld war, da standen Söldner zur Verfügung. So lange der Sold regelmäßig bezahlt wurde, gingen die Soldaten mit ihrem Herrn durch dick und dünn. Die Politik konnte jetzt ganz nach Wille und Laune des absoluten Herrn durchgeführt werden. Daß gleichzeitig auch das internationale Söldnerangebot nicht hinter dem Bedarf zurückgeblieben, dafür sorgten mannigfache Zustände und Ereignisse. Nicht heimische Hirten, sondern wohlerfahrene Söldner haben im XIV. und XV. Jahrhundert das schweizer Aufgebot über die habsburger und burgunder Ritterheere so glänzend siegen lassen. Die in diesen Schlachten gewonnene reiche Beute ließ den Schweizern das Kriegshandwerk rentabler erscheinen, als die friedliche wirtschaftliche Arbeit zuhause. Reichliche Bestechungen der heimischen Behörden durch die benachbarten Könige erleichterten das Werbegeschäft. So begann ein wildes „Reislaufen“ der Schweizer, die zeitweilig bis 60'000 Mann stark in fremden Diensten gestanden haben sollen. Auch die überraschenden Erfolge der Hussitenkriege waren vor allem der Führung kriegserfahrener Söldner zu verdanken. Auch diese Kriege brachten den siegenden Truppen reiche Beute, welche dann die Böhmen veranlaßte, sich in größerer Zahl dem Söldnerberuf zu widmen. Das Gleiche gilt für die Albanesen nach ihrem Freiheitskampfe gegen die Türken. In Deutschland lieferte die erschwerte Zuwanderung nach den Städten bei gleichzeitiger Verschärfung der ungünstigen landwirtschaftlichen Lage das Material der Landsknechte. Schweizer Reisläufer und deutsche Landsknechte bildeten die Hauptmasse der Söldner im XV. und XVI. Jahrhundert, denen erst im XVII. Jahrhundert sich die Wallonen und Iren zugesellen. Mit dem gesicherten Bezuge der „Lebware“ und dem genügenden Geldvorrat der Könige wurden die Söldnerheere zu ständigen Einrichtungen unter einer strafferen Zucht. Während das dritte Lateran-Konzil (i. J. 1179) zuchtlose Söldner mit dem Kirchenbann bedrohte, ein Strafmittel, dessen Wirksamkeit bald keine durchschlagende mehr war, beaufsichtigte König Ludwig XI. von Frankreich 1470 im Uebungslager von Pont de l’Aarche die Exercitien seiner Söldner mit dem Scharfrichter an seiner Seite. Die Söldner waren durch ihren Mietsvertrag zu Lohnsklaven ihrer Herren geworden und einer rücksichtslosen Ausbeutung preisgegeben. Indes hat die böse Aufführung der Söldner selbst zu solch eisernen Zuchtmaßregeln gezwungen. Ebensowenig ist zu verkennen, daß das Söldnerwesen die Fürsten wesentlich zu Eroberungs- und Beutekriegen anregte. Warum sollten die Könige jetzt nicht mit dem Blute ihrer Söldner wie mit dem ihrer Feinde „spielen“, wenn man beides für „Geld kaufen“ konnte? Die kapitalistische Organisation des europäischen Söldnerwesens erreichte im XVI. und XVII. Jahrhundert ihre volle Durchbildung. Ueber die Lebware „Söldner“ wurden detaillierte Lieferungsverträge nach Qualität und Quantität der Ware, wie Ort und Zeit der Erfüllung abgeschlossen. Während des 30jährigen Krieges wurden für Kürassiere und Stückknechte die Tageskurse auf den militärischen Börsen genau notiert. Wie heute für Waren verschiedener Art, so wurden damals Vorverkäufe für Söldner mit Menschenhändlern abgeschlossen. Der Oberst war mit Gewinnbeteiligung an dem Unternehmen interessiert. Gedenken wir noch der häufigen Münzverschlechterungen und Uebervorteilungen verschiedenster Art bei den Lieferungen für militärische Zwecke, so kann nicht bestritten werden, daß dem erfolgreichen Unternehmer auf diesem Gebiete zu jener Zeit eine höchst routinierte Geschäftserfahrung eigen sein mußte. Damit dem Sklavenhandel auch der Sklavenraub nicht fehle, haben sogenannte Werbeoffiziere, die zum Abschaum der Menschheit gehörten, in raffiniertester Weise den Bauern vom Pfluge, den Müller aus der Mühle, den Bäcker vom Ofen, den Schmied vom Ambos, ja bisweilen selbst aus den Betten und aus den Kirchen weggeführt, um sie dann mit Hunger und Durst, mit unbeschreiblicher Hitze und allerhand Qualen zur Unterzeichnung und Annahme des Werbevertrages zu bringen. Es war schon gegen das Ende dieser Entwicklungsepoche (XVII. und XVIII. Jahrhundert), als eine ganze Reihe deutscher Kleinfürsten aus Leihverträgen über ihre Soldtruppen mit fremden Staaten ein gutes Stück Geld zu verdienen wußten. Die Beseitigung dieses Söldnerunwesens ist zumeist erst mit der Aufhebung des fürstlichen Absolutismus möglich geworden. Weil aber dieser Prozeß in den verschiedenen Staaten entwicklungsgeschichtlich stark abweichende Eigentümlichkeiten zeigt, kann eine gesonderte Betrachtung der Geschichte des Kapitalismus auf fürstlichem Throne hier nicht umgangen werden. § 81. Wie Portugal seiner geographischen Lage nach ein Küstenland darstellt, dessen Gebirge und große Flüsse im Wesentlichen nur Fortsetzungen der Erdoberflächengestaltung Spaniens bilden, so ist auch die historische Entwickelung Portugals in ihren grundlegenden Teilen der spanischen gleich. Die islamischen Araber hatten Portugal wie Spanien 711 n. Chr. überschwemmt und die Herrschaft der Christen auf kleine nördlich gelegene Gebiete zurückgedrängt. Von hier aus hat Portugal in einem 550, Spanien in einem nahezu 800 jährigen Kampfe seine Festlandsgebiete von der islamischen Herrschaft wieder befreit. So langandauernde Kämpfe mußten den Charakter des Volkes in der Richtung kriegerischer Eigenschaften wesentlich beeinflussen. Eroberung und Raub waren dem Volke zur Gewohnheit geworden. Zur Erziehung für friedliche produktive Arbeit verblieb keine Zeit. Die christliche Bevölkerung der pyrenäischen Halbinsel hat die meisten arabischen Auffassungen angenommen, die sich mit dem Christentum zu einem eigenartigen Volkscharakter verschmelzen mußten. Wie die siegenden Araber die Arbeit verachteten und nur als ausbeutende Herren von der Arbeit der besiegten Völker zu leben pflegten, so auch die siegenden Portugiesen und Spanier. Wie die islamischen Raubzüge vom religiösen Fanatismus getragen waren, so begann etwa seit 850 das Erwachen des christlichen Fanatismus auf der iberischen Halbinsel. Es fehlte nicht an Christen unter muslimischer Herrschaft, welche öffentlich den Propheten Muhammed schmähten und dann dafür nach dem arabischen Ketzerkodex, unter Oberleitung des islamischen Generalinquisitor, den Feuertod zu erleiden hatten, mitten im Festesjubel des islamischen Volkes. Der Ruhm dieser christlichen Märtyrer vertiefte den Haß der Christen gegen alle Nichtchristen in ihrem Sinne. Immer kühner stürmten die christlichen Ritter gegen die arabische Herrschaft an. Immer grausamer wurde der Kampf nicht nur zur Besiegung, nein zur völligen Vernichtung des Gegners geführt. Auch in den christlichen Staaten war die Kirche zu immer größerer Macht emporgestiegen. Sie war neben dem Könige Mitregent und Volksvertretung zugleich und schuf in Nachahmung der islamischen Einrichtungen die Inquisition als halb kirchliches, halb staatliches Organ, das als Glaubenskontrolle und politische Geheimpolizei jede selbständige Regung im Volke vernichtete und die Kassen des Königs wie der Kirche zu bereichern wußte. Das alles war den Portugiesen wie den Spaniern gleich sehr eigen. Ihre verschiedenen Entwicklungswege beginnen mit der politischen Trennung beider Völker, welche vom Jahre 1101 datiert. Die Erhebung des Herrschers von Portugal zum Könige wurde 1142 vom Papste gegen eine jährliche Tributzahlung anerkannt. Die Cortes von Lamego gaben dem Staate seine innere Organisation. 1147 wurde Lissabon mit Hilfe niederrheinischer Kreuzfahrer den Arabern entrissen. 1263 erhielt Portugal im wesentlichen seine heutigen Grenzen. Zu Anfang des XIII. Jahrhunderts versuchte die königliche Gewalt, ihre Macht gegen Kirche und Adel zu steigern, unter gleichzeitiger Begünstigung der Städte und der Bauern; aber der neuerliche Aufsaugungsversuch von spanischer Seite ließ unter der Begeisterung dieses Freiheitskampfes solche Bestrebungen wieder zurücktreten. Im Jahre 1383 erschien die Stellung Johanns I. als König von Portugal gesichert. Von nun an beginnt eine neue, äußerlich glänzende Epoche. § 82. Man hatte die Araber aus Portugal siegreich verdrängt. Die Annexionsgelüste von Castilien waren abgewiesen worden. Warum sollte man nicht den Kampf mit den Arabern in Afrika aufnehmen können? 1415 wurde Ceuta erobert. Aber da zeigte es sich schon, daß Portugal mit seiner Bevölkerung von nicht ganz einer Million doch für eine solche Aufgabe zu klein sei. Um die Zahl der Krieger durch Söldner entsprechend zu vermehren, dazu fehlte es an Geld. Also mußte vor allem Geld — Reichtum — gewonnen werden. Die größten Gewinne der damaligen Zeit wurden aus dem Levantehandel gezogen, welcher die Schätze Indiens nach Europa vermittelte. Sollte es nicht möglich sein, den Weg nach Indien von Portugal aus zur See, um Afrika herum, zu erschließen, um auf diesem Wege dem großen Orienthandel über Aegypten das Wasser abzugraben und jene Schätze für die portugiesische Königskasse zu gewinnen, welche die Eroberung der arabischen Welt in Nordafrika ermöglichen würden? So könnte ein neues, viel größeres Portugal erstehen, das bis zu den Gestaden des fernen Indiens reichen und gestatten würde, die Segnungen des Christentums über den Erdkreis zu tragen. Die Seele dieses islamischen Weltherrschaftsplanes, in’s christlich – portugiesische übersetzt, war Heinrich der Seefahrer (1394—1460), einer der Söhne des Königs Johanns I. Die Portugiesen waren damals noch keine Seefahrer. Heinrich ließ sie deshalb durch Italiener und Deutsche im Seefahren und Schiffbauen unterrichten. Er gründete die erste nautische Schule der Welt und war unausgesetzt bemüht, die damals höchst primitiven nautischen Instrumente zu verbessern. Die Araber verfügten damals über die besten geographischen Kenntnisse. Die Frage: ob die Auffindung eines Seeweges um Afrika herum nach Indien überhaupt möglich sei? konnte von den Arabern am besten beantwortet werden. König Johann II. (1481 — 1495) schickte deshalb 1487 zwei des Arabischen vollkommen kundige Männer nach Alexandrien, von wo aus sie in der Verkleidung von Honigkaufleuten Kairo, Suakim und Aden erreichten. Hier trennten sich die beiden Kundschafter; der eine ging nach Abessinien, um für Portugal Beziehungen zu diesem sagenhaften christlichen Reiche anzuknüpfen, der andere ging nach Indien, kam nach Kananor, Kalekut, Goa, besuchte als südlichsten Punkt Solfala an der Ostküste von Afrika, der Insel Madagaskar gegenüber. Hier erhielt er die Gewißheit, daß die Schiffahrt um die Südspitze Afrikas herum nach der Guineaküste möglich und bekannt sei. Da aber die Portugiesen die Guineaküste inzwischen erkundet hatten, war damit der Ring der geographischen Kenntnisse geschlossen. Nach Rückkehr des allein am Leben gebliebenen zweiten Kundschafters begannen die großen Entdeckungsfahrten. — 1486 wurde das Kap der guten Hoffnung erreicht. 1498 landete Vasco da Gama in Kalekut in Ostindien. § 83. Inzwischen war eine Teilung der Weltherrschaft zwischen Portugal und Spanien nötig geworden. Christoph Columbus hatte 1492 für Rechnung Spaniens Amerika entdeckt unter der irrigen Annahme, an der Ostküste von Asien gelandet zu sein und den Seeweg nach Indien gegen Westen gefunden zu haben. Alle Eroberungen neuer heidnischer Länder sollten nach der damals herrschenden Auffassung in erster Linie für das Christentum im Sinne der römischen Kirche geschehen. Der Papst erschien deshalb berechtigt, die noch nicht entdeckte Welt zu vergeben. Papst Martin V. hatte mit Bulle von 1441 alle Länder zwischen Kap Bojador an der Westküste von Afrika und Indien, Portugal zugesprochen und vollkommenen päpstlichen Ablaß für alle bei der Eroberung dieser Gebiete fallenden Leute gewährt. Diese päpstliche Entscheidung stand damals international in solchem Ansehen, daß König Eduard IV. von England (1461 bis 1483) seinen Untertanen, welche mit Afrika Handel zu treiben begonnen hatten, diesen Handel unter Bezugnahme auf die Bulle von 1441 verbot. Papst Alexander VI. hat dann 1493 den Spaniern die Herrschaft über die von Columbus entdeckten Länder zuerkannt und zwar mit einer Aufteilung der Welt zwischen Portugal und Spanien, deren Demarkationslinie durch besonderen Vertrag 1494 auf jenen Längengrad vereinbart wurde, welcher 2770 km westlich von den Kapverdischen Inseln gelegen ist. 1500 wurde Brasilien entdeckt und bald darauf in Besitz genommen. Portugal war damit Eigentümerin von Brasilien, Afrika und Indien geworden. Das kleine Land an der Westküste von Spanien trug den stolzen Titel: „Königin dreier Erdteile“. Ungeheure Schätze sind aus diesen Kolonialreichen in die Kassen der portugiesischen Könige gewandert. Aber wie stand es mit der Eroberung des Araberreiches in Nordafrika? 1471 wurde Tanger bezwungen. 1578 endete die Schlacht bei Alcazar gegen die Mauren mit der Vernichtung des portugiesischen Heeres und dem Tode des portugiesischen Königs. Damit war dieses Weltherrschaftsprogramm erledigt. Der Verlust der Herrschaft über die koloniale Welt folgte bald nach. § 84. Die gewaltigen Reichtümer, welche Portugal aus seinen Kolonien bezogen hat, trafen dieses Volk in einer Zeit, in welcher seine wirtschaftlichen Verhältnisse noch nicht den Kinderschuhen der Kupferwährung entwachsen waren. Die Rechnungseinheit war die Kupfermünze „real“, etwa einem kleinen Pfennig entsprechend; „Reis“ ist die Mehrheitsbezeichnung für real. Als der Kolonialreichtum einströmte, begann man nach je 1000 Kupfermünzen = 1 Milreis zu rechnen, die heute etwa 4 1⁄2 Mk. entsprechen. Der neue Reichtum mußte doppelt verheerend auf den portugiesischen Volkscharakter einwirken. Da Portugal an der westafrikanischen Küste zuerst Fuß faßte, flossen aus diesen Ländern die ersten Bezüge. 1444 wurde der portugisischen Neu-Guinea-Compagnie das Handelsmonopol für Westafrika übertragen. Man tauschte von den Beduinen Sklaven und Gold gegen Pferde, Seide und Silber und veranstaltete gelegentlich selbst Sklavenjagden im Innern des Landes. König Johann II. zog bereits ansehnliche Geldeinkünfte aus der Einfuhr von Gold und Sklaven nach Lissabon. Damit wuchs die absolute Macht des Königs, welcher jetzt viele von seinen Vorfahren verschenkte Krondomänen einzog und eine vom Adel dagegen gerichtete Verschwörung mit der Enthauptung der beiden führenden Herzöge bestrafte. Als nach der ersten Landung Vasco da Gamas das indische Kolonialreich bald erobert war, mit Goa an der Westküste von Vorderindien, Colombo auf Ceylon, Malakka als Zentrum der Gewürzinselgruppe der Molukken und Ormus dem „Edelstein im Ring der Welt“ am persischen Golf als Stützpunkte, da überragten rasch die Einnahmen aus diesem Gebiete den Wert aller übrigen Besitzungen. Die Krone hatte sich hier den Import an Perlen und Edelsteinen allein vorbehalten. Bei Kaufmannseinfuhr von Gewürzen gehörte die Hälfte dem König. Andere Waren hatten entsprechende Zölle zu tragen. Was die portugiesischen Regierungsschiffe in Indien erwarben und heimbrachten, gehörte ebenfalls dem Könige. So wurde der König von Portugal der größte Gewürzhändler seiner Zeit. Die Gewürze hatten damals einen weit höheren Metallwert als heute: Die Preise, welche in Lissabon für die aus der ersten Rückkehr Vasco da Gama’s (1499) verkauften Gewürze erzielt wurden, vergleichen sich in nachfolgender Weise mit den in Hamburg für 1904 notierten Preisen: Lissabon 1499: Hamburg 1904: 1 Pfund Pfeffer . . . . . 1 M. 50 Pfg. 49 Pfg. 1 Pfund Zimmt . . . . . 3 M. 20 Pfg. 45 Pfg. 1 Pfund Gewürznelken . . 3 M. 50 Pfg. 50 Pfg. 1 Pfund Ingwer . . . . . 2 M. — Pfg. 26 Pfg. 1 Pfund Muskatnuß . . . . 5 M. 25 Pfg. 90 Pfg. In der besten Zeit soll Portugal jährlich über 800 Millionen Mark aus Indien gezogen haben. Mit den glänzenden Baudenkmälern, welche aus diesen indischen Schätzen in Portugal erstanden, bildete sich zu Anfang des XVI. Jahrhunderts der berühmte Manuelstil, welcher in charakterischer Weise eine Verschmelzung der späteren Gothik mit arabischen und indischen Motiven darstellt. Ein glänzender üppiger Luxus entwickelte sich am Königshofe. Lissabon wurde für mehr als 100 Jahre der erste Handelsplatz Europas und der erste Stapelplatz für Erzeugnisse des Orients im christlichen Abendlande. Indeß vollzogen sich gerade jetzt jene bedenklichen volkswirtschaftlichen Verschiebungen, an deren unseligen Folgen Portugal heute noch krankt. Den besten Leitfaden für diese Ereignisse bietet die Geschichte der Getreidepolitik Portugals. § 85. Nachdem das Land in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts seine heutigen Grenzen gewonnen hatte, folgten im XIV. Jahrhundert ernstliche Versuche einer besseren volkswirtschaftlichen Organisation. Die Interessen der Bürger und Bauern wurden begünstigt, die Macht der Kirche und des Adels eingeschränkt. Und als die Klagen des Volkes über Mangel an Brotgetreide nicht verstummen wollten, verfügte das Gesetz von 1375, daß alle Grundbesitzer gehalten seien, ihre unbebauten, aber ertragsfähigen Grundstücke zu bestellen, evt. sie mit Pächtern zu besetzen, für welche der Pachtschilling durch die Regierung festgesetzt würde. Wer als Grundeigentümer diesem Befehle nicht nachkomme, verliere sein Eigentumsrecht an den betr. Grundstücken, welche durch den Staat an bäuerliche Pächter vergeben würden, deren Pachtzahlungen der betr. Gemeinde zu gute kommen sollten. Portugal war also damals ernstlich bestrebt, die Brotversorgung des Volkes im eigenen Lande zu sichern, den Schwerpunkt der volkswirtschaftlichen Entwicklung in die Heimat zu verlegen und auf dem Ertrage der eigenen produktiven Arbeit aufzubauen. Da kam der Unabhängigkeitskrieg gegen Kastilien und von 1383 ab der Beginn jener äußerlich glänzenden Epoche, welche nicht mehr nach der Versorgung des Volkes in der Heimat, sondern nach dem Reichtum strebte, der im Auslande, in den Kolonien zu erpressen war. Die Zukunft Portugals lag von nun an auf dem Wasser. Das Gesetz von 1375 über die Pflichten des Grundeigentümers gegenüber der Bodenkultur war rasch vergessen. Gegen Ende des XV. Jahrhunderts wurden größere Getreidemengen aus Mauretanien zu so billigen Preisen eingeführt, daß die Durchschnittspreise in kurzer Zeit um ein weiteres Drittel zurückgingen. Dazu kamen: staatliche Lebensmitteltaxen in Lissabon, welche bestrebt waren, die Verproviantierung der Kriegs- und Handelsflotte mit Brot und Fleisch tunlichst zu verbilligen, der völlige Mangel an Verkehrsstraßen im Innern des Landes, lästige Bestimmungen über den Getreideverkehr von Provinz zu Provinz, fast unerschwingliche Staatssteuern auf den Schultern der Bauern und das Privileg einer Reihe von Großgrundbesitzern gewaltige Schafherden auf weiten Strecken des Landes wandern und grasen zu lassen (das Privileg der Beiraschafe). Die Bauern, welche auch hier die eigentlichen Getreideproduzenten waren, konnten sich der fortgesetzten rücksichtslosen Uebergriffe der Beiraschafe nicht erwehren. Und da die kolonialen Unternehmungen auch ihnen eine erfolgreichere Betätigungsgelegenheit zu bieten schienen, verkauften sie ihre Höfe zum Spottpreise an solche, welche an den Golderträgen der Kolonien schon teilgenommen hatten und wanderten auch hinaus in die lockenden Kolonien. Bald mußten mehr als 2⁄3 des heimischen Brotbedarfs durch Kauf vom Auslande gedeckt werden. Latifundien traten auch hier an die Stelle der Bauernhöfe. Auch hier hat das Schaf bei steigenden Wollpreisen die Bauern und den Getreidebau aufgezehrt. Damit diese unheilvolle Grundbesitzverteilung nur ja erhalten blieb, wurden die Latifundien als Majorate dem Grundstückverkehr dauernd entzogen. Und was diese volkswirtschaftliche Situation für Portugal noch besonders verschärfte, das war der Anteil der Kirche an dieser Latifundienbildung. § 86. Schon zur Zeit der noch überwiegenden Naturalwirtschaft waren Kirchen und Klöster in Portugal reich, namentlich an Grundbesitz. Als dann der Goldstrom aus den Kolonien ins Land sich ergossen, wurden Kirchen und Klöster noch reicher. Die überschwellende Begeisterung der Portugiesen gehörte einmal in erster Linie der Kirche. Das portugiesische Freiheitsdenkmal nach glücklicher Abwehr der kastilischen Annexionsgelüste war das Kloster Santa Maria da Victoria. Westlich am Hafen von Lissabon gründete Heinrich der Seefahrer als Andachtshaus für die Seeleute das Kloster Belem (Bethlehem), das König Emanuel dann aus den Schätzen Indiens wunderbar ausbaute. Und selbst als zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts der goldene Glanz der portugiesischen Geschichte schon sichtlich zu erblassen begann, empfand König Johann V. noch das Bedürfnis, mit einem Aufwand von über 200 Millionen Mark das Kloster Mafra zu erbauen. Dieser Pracht der kirchlichen Gebäude entsprach die Größe der Ländereien und Einkünfte, mit denen sie ausgestattet wurden, in der Heimat sowohl wie draußen in den Kolonien. So wurden Kirchen und Klöster gewaltige Latifundienbesitzer. Durch ihr Ansehen trugen sie wesentlich zur Erhaltung der damit verbundenen volkswirtschaftlichen Mißstände bei. Die Kirche war reich und bot ihren Angehörigen ein angenehmes, sorgenfreies Leben. Das Volk war arm geblieben. Da konnte der Andrang in die Klöster und in den Kirchendienst nicht überraschen. Ein ganz unverhältnismäßig großer Prozentsatz der Bevölkerung fand Unterschlupf in der Kirche. In Goa sollen gegen Ende des XVI. Jahrhunderts 30'000 Kleriker gewesen sein, während die übrige portugiesische Bevölkerung daselbst kaum mehr als die Hälfte dieser Ziffer erreichte. Bei der schlechten und unregelmäßigen Bezahlung der Söldner sollen wiederholt Hunderte von den nach Indien geschickten Mannschaften bei ihrer Ankunft in Indien direkt ins Kloster gegangen sein. Selbst ein so katholischer Fürst wie Philipp IV. von Spanien hat deshalb 1625, als gleichzeitiger Herrscher über Portugal, die Errichtung neuer Klöster in Indien ausdrücklich verboten und 1635 untersagt, daß die Klöster in Indien ferner Erbschaften annehmen, Ländereien kaufen oder sich an der Perlfischerei beteiligen dürften. Ein weiterer Mißstand des Reichtums der Kirche folgte aus der damals herrschenden Auffassung vom Almosen. Die übermäßig reichen Kirchen gaben auch übermäßig reiche Almosen. Das war wieder einer übermäßigen Ausbreitung der Bettler günstig. Der Armut wurde es behaglich gemacht. Der Anreiz zur wirtschaftlichen Betätigung wurde im Volke erstickt. Die Menschen verloren das Streben, sich ökonomisch unabhängig zu stellen. All das unterstützte die Auflösung des Volkes in wenig sehr reiche Granden, Kirchen und Klöster und in eine große Masse von Bettlern. Wie aber, wenn die ausländische Quelle des kolonialen Reichtums eines Tages für Portugal versiegen sollte? § 87. Die kapitalistische Kurzsichtigkeit der Portugiesen hat alles getan, diese Quellen für Portugal abzugraben, während die Vereinigung der Venetianer und Genuesen mit Aegypten und den Arabern, welchen Portugal seit Anfang des XVI. Jahrhunderts den vorher so blühenden Levantehandel bis auf einen unbedeutenden Rest entrissen hat, wenig dagegen vermochte. Der koloniale Gewinn der Portugiesen setzte sich zusammen aus: Wegnahme und Plünderung fremder Schiffe, gewaltsamer Festsetzung der Preise für die Warenverkäufer in Indien, Sklavenhandel und Sklavenraub, rücksichtslosester Ausbeute der heimischen Bevölkerung als rechtlose Arbeiter im Bergbau und Plantagenbau und Besteuerung der einheimischen Bevölkerung in einer Form, die nur zu häufig in eine direkte Beraubung ausartete. Das alles sind Erwerbsarten privilegierter Räuber und Spitzbuben. Nach offizieller Anschauung war den Portugiesen alles erlaubt, während die einheimische Bevölkerung als rechtlos betrachtet wurde. Von einer sittlich zu billigenden Erwerbsart ist in dieser ganzen kolonialen Bereicherungstätigkeit der Portugiesen fast nichts zu erkennen. Das konnte auf diese Träger europäischer Kultur unmöglich sittlich fördernd zurückwirken. Die bedenklichste Korruption nahm unter den Portugiesen so rasch Überhand, daß Vasco da Gama auf seiner zweiten Reise nach Indien (1520), kaum 22 Jahre nach seiner ersten Landung, in Kalikut folgende Kolonialzustände konstatieren konnte: Die schon längere Zeit nicht mehr besoldeten Soldaten waren zu ihrer Erholung ins Spital gegangen. Die Geschütze aus dem königlichen Arsenal hatte man Kaufleuten zur Ausrüstung ihrer Privatschiffe überlassen. Die Regierungskassen waren leer. Die Beamten verfügten über keinerlei Sprachkenntnis und hatten sich gewissenloseste Vernachlässigung ihres Dienstes zu Schulden kommen lassen. Die Finanzbeamten wußten, trotz ihres bescheidenen Gehaltes, binnen wenigen Jahren große Reichtümer zu erwerben. Die Edelleute waren mit ehrlichen und unehrlichen Handelsgeschäften bemüht, sich ihre Taschen zu füllen. Die Waren von schlechtester Qualität wurden für die Krone erworben, die besseren Waren aber anderwärts verkauft. Dies alles konnte die Einnahmen Portugals aus Indien nur mindern. Der ungeheure Druck dieses furchtbaren Regiments der Habgier auf der einheimischen Bevölkerung mußte Reaktionen in der Form blutiger Aufstände wachrufen, welche Portugal etwa von 1505 ab gezwungen haben, eine stehende Flotte in den indischen Gewässern zu unterhalten, auf indischem Boden ausgedehnte Festungsbauten in Angriff zu nehmen und die Kolonialtruppen entsprechend zu vermehren. Damit wurden die ordentlichen wie außerordentlichen Ausgaben nicht unwesentlich erhöht, was abermals den Reinertrag minderte. Bei der absoluten Unzuverlässigkeit dieser Leute aber, die gar kein anderes Ziel der Kolonialpolitik kannten, als sich in kürzester Zeit tunlichst zu bereichern, mußten all diese Sicherungsmaßregeln in Indien um so eher versagen, je mehr selbst von Portugal aus die schlimmste Günstlingswirtschaft in der Besetzung der Kolonialämter getrieben wurde. Schon 1525 hat man die Festungen Kalikut, Sumatra und Colombo auf Ceylon wieder aufgegeben. Als aber die Spanier durch höheres Gebot die Gewürznelkenpreise auf den Molukken steigerten, wohin sie durch Vermittlung eines Portugiesen gekommen waren, kam es in den Jahren 1526—29 zwischen diesen beiden christlichen Parteien zu Mord und Todschlag. Die Aufstände der Eingeborenen wurden mit einer immer raffinierteren Grausamkeit niedergeschlagen. 1583 meuterten 14 portugiesische Kriegsschiffe. Es bedurfte nur eines neuen europäischen Konkurrenten in Indien, um diesem sofort die ganze Hilfe der indischen Bevölkerung zuzuführen und damit das Schicksal der Portugiesen in dieser reichsten ihrer Kolonien zu besiegeln. § 88. Auch dieses Ereignis wurde durch den spanisch – portugiesischen Absolutismus herbeigeführt. König Philipp II. wollte die habsburgischen Weltherrschaftspläne verwirklichen helfen und führte deshalb gegen Holland und England Krieg. Die Niederlande hatten anfangs ihre Handelsgeschäfte in orientalischer Ware mit Lissabon und Kadix abgeschlossen. Als aber Philipp 1585 und 1595 alle holländischen Schiffe in den spanischen und portugiesischen Gewässern wegnehmen ließ, waren diese Völker gezwungen, zum direkten Einkauf in Indien überzugehen. Der Engländer Franz Drake nahm 1587 den ersten großen Indienfahrer mit einer Ladung im Werte von zwei Millionen Mark weg. 1595 ging die erste holländische, 1600 die erste englische Flotte nach Indien. Engländer und Holländer traten von nun an als neue Konkurrenten in Indien auf. Das 1441 vom Papste verliehene Handelsmonopol der Portugiesen für Indien wurde jetzt unter dem Einfluß der Reformationsbewegung nicht mehr beachtet. In den neu beginnenden erbitterten Kolonialkämpfen (1599 bis 1603) standen die Eingeborenen ausnahmslos auf Seiten der neuen europäischen Eindringlinge. Der König von Kandy auf Ceylon gewährte den Holländern Handelsfreiheit mit der Zusage einer bestimmten Zimmetlieferung gegen das Versprechen, die Portugiesen zu bekämpfen. Ueberall wurden die Konkurrenten der Portugiesen von der indischen Bevölkerung als die heiß ersehnten Befreier aus einer furchtbaren Knechtschaft begrüßt. Engländer und Holländer kämpften gemeinsam gegen die Portugiesen. Und wie war Portugal für diesen Kampf gerüstet? Die Staatskassen waren leer, die Festungen halb zerfallen und ohne Kanonen. Die portugiesische Seeflotte, vom XV. bis Mitte des XVI. Jahrhunderts die weitaus mächtigste des Abendlandes, zeigte sich jetzt der englischen und holländischen Seemannstüchtigkeit nicht mehr gewachsen. In den Jahren 1579 bis 91 sind den Portugiesen 22 große Schiffe auf der indischen Reise untergegangen. Es fehlte an Geld und deshalb auch an Schiffen und Menschen. 1635 ist das portugiesische Handelsmonopol in Indien gebrochen. Immer mehr traten die Holländer und Engländer an ihre Stelle. 1640 kann der portugiesische Vizekönig in Indien aus Mangel an Geld und Mannschaften keine Flotte mehr nach Hause schicken. Damit war der Zufluß der indischen Goldquelle zum ersten Male für Portugal ausgeblieben. Es kam zur Revolution und unter Mithilfe der Holländer zur Wiederlosreißung Portugals von Spanien (1640) und Johann IV. bestieg den Königsthron in Lissabon. Den Verlust des indischen Kolonialreiches konnten diese Veränderungen nicht aufhalten. Von einer uneigennützigen Freundschaft der Holländer für Portugal konnte natürlich keine Rede sein. Weil aber Portugal allein sich zu schwach fühlte, um gleichzeitig den Kampf gegen Holland und England führen zu können, versuchte man es jetzt mit einer Annäherung an England. Diese neue Freundschaft sollte durch eine Heirat der Schwester des Königs von Portugal mit dem König Karl II. von England (1660 bis 85) weiter befestigt werden. Als Morgengabe hat Portugal dazu an England Tanger und den Hafen mit der Insel Bombay abgetreten. Von Bombay breitete sich allmählich die englische Herrschaft über Indien aus. Zu spät haben die Portugiesen eingesehen, welchen Fehler sie mit dieser Gebietsabtretung gemacht hatten. Trotzdem mußte Portugal 1703 noch den berühmten Methuenvertrag mit England abschließen, wodurch Portugal die Einfuhr englischer Wollwaren, England die Einfuhr portugiesischer Weine zu einem niedrigeren Zollsatze zuließ. Statt bei dem drohenden Verlust der Kolonialreiche die heimischen Produktivkräfte zu entwickeln, begab sich Portugal auch noch in die merkantile Abhängigkeit von England. Etwa im Jahre 1740 war Portugals Macht in Indien gebrochen. Heute ist das Areal der portugiesischen Besitzungen in Indien auf 1605 Quadratmeilen zusammengeschmolzen, deren ökonomischer Wert ein minimaler ist. § 89. Brasilien wurde von 1534 ab in einer den Arabern entlehnten Weise an einzelne Personen oder Körperschaften zu Lehen gegeben. Die Krone behielt das Bestätigungsrecht für jeden Besitzwechsel dieser Lehen, das Handelsmonopol für die wichtigsten Kolonialprodukte und bezog außerdem 1⁄5 des Ertrages an Edelmetallen und Edelsteinen, 1⁄10 von allen übrigen Erzeugnissen. Da die Fortschritte der Kolonie gering waren, verschickte man 1550 Verbrecher dorthin, welche im Lande schlimmer als die Pest gehaust haben. Um etwa die gleiche Zeit kamen die ersten Jesuiten in die Kolonie, welche bald der Behandlung der Eingeborenen als rechtlose Sklaven entgegenwirkten. Weil aber infolge dementsprechender Maßnahmen viele Pflanzungen rasch zurück gingen und so die Einnahmen des Königs sich minderten, wurde der Menschenhandel wieder gestattet. Auch der Sklaven- und Menschenraub bürgerte sich wieder ein. Am Amazonenstrom hatten die portugiesischen Kolonisten alles geknechtet und die Eingeborenen in unmenschlicher Weise behandelt. Das Hochland im Inneren war durch Sklavenjäger förmlich entvölkert worden. Und als die Jesuiten hiergegen von neuem ihren Einfluß geltend machten, wuchs die Erregung der Sklavenbesitzer in solchem Maße, daß die Jesuiten 1639 Brasilien verlassen mußten. Inzwischen haben wiederholt (1586, 1591, 1595) englische Geschwader das Küstenland geplündert. Von 1604 an erschienen auch hier die Holländer. Immer wieder werden von ihnen und den Engländern portugiesische Schiffe und ganze Flotten weggenommen. Nach der Losreißung Portugals von Spanien beliebten die Holländer unter dem Deckmantel der Bundesfreundschaft auch hier möglichst gute Geschäfte für sich zu machen, die erst mit Cromwell’s Hilfe 1654 zu Gunsten Portugals wieder rückgängig wurden. Der Friede von 1661 schenkte den Holländern die Handelsfreiheit in den portugiesischen Kolonien. Nur in Nordbrasilien war man etwas humaner gegen die Eingeborenen, im Süden haben die Menschenjagden vielen Hunderttausenden von Indianern das Leben gekostet. Die Goldquellen aus Indien hatten für Portugal bald zu fließen aufgehört. Die Regierung bot deshalb für Auffindung von Gold- und Edelsteinlagern in Brasilien, was sie an Ehren zur Verfügung hatte: den Adel und die Mitgliedschaft eines Ritterordens. Wer aber solche Schätze der Erde kenne und darüber der Regierung keine Auskunft gebe, solle durch die Folter zum Geständnis seiner Geheimnisse gezwungen werden. In der Tat wurden dann neue Gold- und Diamantlager entdeckt. Um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts sollen in Brasilien 80'000 Menschen mit der Goldgewinnung beschäftigt gewesen sein, welche bis 1820 eine Gesamtausbeute von 1950 Millionen Mark geliefert haben. Aber jetzt war auch Brasilien für Portugal schon verloren gegangen. Unter den Wirren der napoleonischen Kriege hatte sich die Lostrennung Brasiliens vollzogen. § 90. Den portugiesischen Interessen in Afrika war es inzwischen nur um Weniges besser ergangen. Man hatte von Anfang an die afrikanische Ost- und Westküste im wesentlichen nur als Stützpunkte für die Indienreise betrachtet und darum wenig für die Befestigung der portugiesischen Herrschaft im Lande getan. Englische Seefahrer haben schon 1552—58 gute Geschäfte in Westafrika von der Goldküste bis zum Kap der guten Hoffnung gemacht. Die portugiesischen Stationen fanden sie nur schwach besetzt und nur in loser Verbindung mit der Heimat. Um die gleiche Zeit etwa ist hier auch Frankreich als Konkurrent aufgetreten. Nach der Vereinigung von Portugal mit Spanien (1580) war das Interesse der Staatsregierung für Afrika fast erloschen. Die Königin Elisabeth von England gab Privilegien für den Handel mit Marokko (1558), mit Senegal (1588), die Holländer besetzten 1595 Guinea, 1641 die Goldküste, 1652 das Kapland. Bis Anfang des XVIII. Jahrhunderts war nur noch wenig von Westafrika für Portugal übrig. Schon seit Mitte des XVII. Jahrhunderts hatten sich die portugiesischen Unternehmungen mehr der ostafrikanischen Küste zugewendet. Aber auch hier rief die Erbitterung der Bevölkerung über die furchtbaren Menschenjagden Kaffernkriege hervor, welche für die Portugiesen um so bedenklichere Folgen haben konnten, je mehr sich bald auch hier die Konkurrenz Frankreichs geltend machte. Trotzdem verblieb der einstigen „Königin dreier Erdteile“ nach dem Verlust von Indien und der Lostrennung von Brasilien in Ostafrika noch der bedeutendste Kolonialbesitz. Seine ökonomische Ergiebigkeit ist freilich seit Unterdrückung des Sklavenhandels wesentlich zurückgegangen. Die Einnahmen der Regierung sind ganz verschwunden. Als 1836 England das Verbot des Sklavenhandels gewaltsam erzwang, kam Mozambique an den Rand des Verderbens. Seit dieser Zeit erst wird versucht, durch ehrliche produktive Arbeit, durch Pflege von Ackerbau, Gewerbe und Fischerei, durch Erschließung der Minen und Anlage von Plantagen, Straßenbau u.s.w. diesen Rest der einstigen Kolonialreiche lukrativ zu gestalten. § 91. Wie steht es heute mit der einstigen Weltmacht Portugals? Der fürstliche Absolutismus mit seinen Weltherrschaftsplänen hatte das kleine Volk hinausgeführt in die neu entdeckten Weltteile mit dem Auftrage, möglichst große Reichtümer zu erobern. Ungeheure Summen sind dann nach Portugal geflossen, aber die Eroberung von Nordafrika scheiterte. Das Gold der Kolonien wurde für eine luxuriöse Hofhaltung, für Geschenke an die Günstlinge des Königs, zur Ausstattung überreicher Kirchen und Klöster verwendet. Die Masse des Volkes in Portugal ist arm geblieben, wie sie es war. Rasch hatte die schamlose Habgier, mit der die Kolonien ausgeplündert wurden, sich selbst das Grab gegraben. Die goldbringenden Kolonialreiche gingen bis auf einen bescheidenen, fast wertlosen Rest Portugal verloren. Seitdem ist dieses sonnige Land gezwungen, etwa dort wieder anzufangen, wo König Dionysius zu Anfang des XIV. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Aber Portugal ist inzwischen unter dem Einflusse der französischen Revolution ein Verfassungsstaat geworden. Die Periode des fürstlichen Absolutismus ist damit formell zum Abschluß gebracht. Weil jedoch 79% der Männer und 85% der Frauen in Portugal weder lesen noch schreiben können, und in einzelnen Gegenden der Prozentsatz der Analphabeten auf 90% und höher steigt, kann nicht erwartet werden, daß das portugiesische Volk schon reif dazu wäre, über sein Entwickelungsgeschick im Wesentlichen selbst zu entscheiden. Diese Auffassung wird durch die bisherigen wirtschaftlichen Erfolge des portugiesischen Parlamentes bestätigt. Die Bevölkerung zählt heute etwas über fünf Millionen, von denen 1⁄8 in den Städten wohnen. Trotzdem ist nur die Hälfte der Landoberfläche unter Kultur. In der mittleren und südlichen Region des Landes herrscht immer noch der Latifundienbesitz. Industrie und Handel sind zumeist in englische Abhängigkeit geraten. Landstraßen waren bis 1845 unbekannt. Trotz der wunderbaren Fruchtbarkeit des Landes reicht die Getreideproduktion immer noch nicht zur Ernährung der eigenen Bevölkerung aus. Man hat deshalb seit 1889 durch besondere staatliche Kontrolle übermäßige Getreideeinfuhr vom Auslande zu verhüten und im Interesse einer tunlichsten Anregung des heimischen Getreidebaues die Getreidepreise auf einer den Produktionskosten entsprechenden Höhe zu erhalten versucht. Die Finanzlage des Staates ist sehr ungünstig. Staatsbankrotte waren in den Jahren 1841, 1853, 1855, 1892. Die Gehälter der Staatsbeamten mußten in neuester Zeit um 5 bis 20 Prozent reduziert werden. Selbst der König hat auf 1⁄5 seiner Zivilliste freiwillig verzichtet. So lastet heute noch der Fluch des Kolonialreichtums vom XVI. Jahrhundert auf diesem schönen Lande. Der fürstliche Absolutismus ist von dem Schauplatze seiner Taten abgetreten, ohne seine erzieherische Aufgabe im Volke gelöst zu haben. § 92. Im Vergleich zu den beiden anderen großen Halbinseln Süd-Europas, der apenninischen und der griechischen, hat die Natur die pyrenäische weniger reich ausgestattet. Sie besitzt nicht entfernt eine so reiche Küstengliederung wie Griechenland und Italien. Ihr Klima hat, wenn man von den südlichen Küstengegenden absieht, nicht die Vorzüge des griechischen und italienischen. Ihre Bodenformation ist auf weiten Gebieten der Landwirtschaft nicht günstig, und dem Verkehre treten vielfach ernste Schwierigkeiten entgegen. Die gedrungene, in sich abgeschlossene Form der Pyrenäischen Halbinsel verhindert, daß die Vorzüge des Seeklimas einem großen Teile des Landes zu Gute kommen. Es herrscht kontinentales Höhenklima vor, mit all seinen Nachteilen, wie raschem Wechsel der Jahreszeiten, extremer Kälte und Hitze, Nachtkälte auch in den heißen Monaten, austrocknenden Winden und Dürren — Eigenschaften, welche durch die starke Entwaldung des Landes seit Zusammenbruch der Araberherrschaft noch verschärft worden sind. Höhenklima! Denn Spanien ist zum großen Teile hohes Tafelland. Die Halbinsel umfaßt 590'068 Quadratkilometer, und nicht weniger als 230'000 davon kommen auf die beiden Hochebenen, welche die zentrale Masse des Landes bilden. Dazu kommt der Raum, den die beiden Hochgebirge des Landes, die Pyrenäen und die Sierra Nevada, einnehmen, sowie jene zahlreichen kleinen Gebirge, die Spanien durchschneiden und auch einen beträchtlichen Teil seiner Küste bilden. Dem mitteleuropäischen Klima ähnelt das spanische viel weniger als jenem von Innerafrika. Der Mangel einer guten Bewaldung bringt es mit sich, daß die Flüsse und Ströme große Mengen von Sand und Geröll mit sich führen und infolge ihres äußerst unbeständigen Wasserstandes die Schiffbarkeit außerordentlich beengen. Die fruchtbarsten Gegenden finden sich im südlichen, südwestlichen und nordwestlichen Teile des Landes. Die Hochebenen und Gebirge dienen hauptsächlich der Weidenutzung. Der große Reichtum des Landes an Mineralschätzen ist seit der Punier Zeiten bekannt. § 93. Es wurde schon im § 81 ausgeführt, welchen Einfluß notwendigerweise die fast 800jährigen Kämpfe des spanischen Volkes (711—1492) gegen die Herrschaft der Araber auf den Volkscharakter ausüben mußten. In politischer Hinsicht läßt das langsam erobernde Vordringen der Christen eine größere Zahl von Kleinstaaten entstehen, in denen sich die Mitglieder der Fürstenhäuser, Königtum und Adel und die kleinen Reiche gegenseitig aufs Bitterste bekämpfen. Häufig genug spielen dabei Bündnisse christlicher Fürsten mit muhamedanischen Herrschern gegen christliche Staaten eine Rolle. Das aufstrebende Bürgertum in den Städten steht in diesen Kämpfen auch hier in der Regel auf Seiten des Königs. Diese egoistischen Fehden unter den Christen erleichterten den Mauren wiederholt ein Zurückdrängen der Christenherrschaft, bis schließlich um die Mitte des XV. Jahrhunderts aus dem Chaos der Kleinstaaten, mit zureichender Anwendung von Gift und Dolch, zwei größere Reiche auf dem heutigen Gebiete von Spanien sich gegenüberstehen: Kastilien und Aragonien. Kastilien ist das weitaus größere und angesehenere von beiden. Es reicht von der nördlichen Meeresküste der Halbinsel bis zur südwestlichen, südlichen und südöstlichen hinab, das letzte Maurenreich Granada bis zum Meere umspannend. Neben seinen ungeheuren Hochebenen und seinen zahlreichen Gebirgen beherrschte es auch viele der fruchtbarsten Gegenden der Halbinsel, zahlreiche Städte, wie auch die vortrefflichen Hafenplätze Kadix, Cartagena und Sevilla. Aragonien hat, von seiner wilden unfruchtbaren Bergheimat am Südabhange der Pyrenäen ausgehend, ebenso sehr durch Klugheit und List, als durch Tapferkeit das gewerbsfleißige handelstüchtige Catalonien mit der reichen Handelsstadt Barcelona sich angegliedert und von den Mauren das fruchtbare industriereiche Königreich Valencia erobert, sodaß nun beinahe 4⁄5 der Südostküste von Spanien seinem Szepter unterstellt waren. Außerdem ist Aragonien seit dem XIII. und Anfang des XIV. Jahrhunderts Herr über die fruchtbaren Inseln der Balearen (1232) wie über Sardinien (1326) und Sizilien (1282) und somit wesentlich an der Blüte des internationalen Handels im Mittelmeerbecken interessiert. § 94. Im Jahre 1469 wurden Castilien und Aragonien durch die Heirat zwischen Ferdinand dem Katholischen von Aragonien und der Königin Isabella von Castilien und Leon vereinigt. Die „Herrschaft der Könige“, wie die Regierung Ferdinands und Isabellas heute noch bezeichnet wird, war eine überaus folgenreiche für Spanien. Staat und Volkswirtschaft hatten damals unter den schwersten Mißständen zu leiden. Der Adel war durch unaufhörliche Kriege so verwildert, daß er im eigenen Lande raubte und plünderte, wo er konnte, nachdem die Gelegenheit zur Beraubung des Feindes infolge Vertreibung der Mauren zu Ende gegangen war. Niemand besaß Eigentum ohne Lebensgefahr und Furcht. Jede Art gewerblicher oder Handelstätigkeit, und namentlich die Geldausleihe gegen Zinsen, war den Grundherren untersagt. Aber der Verkauf der christlichen Hintersassen als Sklaven an die Mauren hatte sich vielfach eingebürgert. Wie fast überall in Europa, versuchte jetzt auch hier der Adel durch „schlechte Gebräuche“ (malos usos) die Abgaben und Dienste der Bauern ins Ungemessene zu steigern und ihre grundherrlichen Rechte in rücksichtsloser Weise auszudehnen. Es kam deshalb auch in Spanien im XV. Jahrhundert immer wieder zu Bauernaufständen, deren Hauptherd die Grafschaft Gerona im aragonischen Reiche war. Die vorausgegangenen Träger der Krone hatten unverantwortlicherweise die königlichen Domänen verschleudert, die Landesmünzen verschlechtert und dann das Münzregal an große Herren verpfändet, die ihrerseits abermals neue Münzverschlechterungen durchführten. So zählte man jetzt 150 Münzstätten im Lande, und die Münzen waren so wertlos geworden, daß die Bevölkerung allgemein zum Naturaltausch zurückkehrte. Der Klerus erfreute sich einer Macht und einer Selbständigkeit, die auch für den König bedenklich werden konnte. Waren doch die Geistlichen noch aus der Zeit der Westgothen zur Heeresfolge verpflichtet und zur Teilnahme an den politischen Beratungen berufen. § 95. Diesen Mißständen sind Ferdinand und Isabella in tatkräftiger Weise entgegengetreten. Um den Klerus besser in seine Gewalt zu bekommen, erwarb Ferdinand für sich und seine Nachfolger vom Papste das Recht der Anstellung der Geistlichen. Was die Kurie in den so heftig geführten Investiturkämpfen des XI. und XII. Jahrhunderts den deutschen Kaisern entrissen hat, wurde so gegen entsprechende Bezahlung im XV. Jahrhundert an Spanien verliehen, nachdem es schon im XIV. Jahrhundert den französischen Königen zugestanden worden war. Ferdinand stellte sich an die Spitze der drei mächtigen geistlichen Ritterorden von Santiago, Alcantara und Calatrava. Dazu kam die Einführung der Inquisition als staatliches Organ, das die Aufgabe hatte, alle der Glaubenseinheit wie der Staatsherrschaft gefährlichen Personen zu vernichten und die hierbei sich ergebenden Vermögenskonfiskationen an die landesfürstliche Kasse abzuführen. Die zerrütteten Münzverhältnisse wurden neu geordnet, und das königliche Münzregal für das ganze Land wieder hergestellt, die Rechtstitel der derzeitigen Inhaber früher königlicher Domänen wurden sorgsam geprüft, und bei ungenügendem Rechtstitel diese Besitzung zu Gunsten der Krone eingezogen. In den Bauernaufständen traten die Könige auf die Seite der Bauern gegen den Adel. Die „schlechten Gebräuche“ wurden kurzerhand aufgehoben, die alte Patrimonialgerichtsbarkeit durch königliche Gerichte ersetzt, die Hintersassen in eine Art freier Erbpächter verwandelt, die nur zu festen Zins- und Pachtleistungen verpflichtet waren, das Recht der Freizügigkeit sogar auf bisher lehensrechtlichen Boden ausgedehnt und den Bauern gestattet, jederzeit frei ihr Recht am Grund und Boden zu veräußern. Persönlich reisten die Könige im Lande umher, um öffentlich Gericht zu halten. Tausende von Raubritterburgen wurden namentlich in Kastilien gebrochen. Die schlimmsten Verbrecher flüchteten aus Furcht vor dem königlichen Rechtsspruch aus dem Lande. Auch die Rechtsstellung der Bürger in den Städten wurde gebessert, Vertreter der Städte neben Adel und Prälaten in die Cortes berufen. Die heilige Hermandad, Bündnisgemeinschaften der Städte von Castilien und Aragonien gegen die Räubereien des Adels, wurden als ordentliche Polizeitruppe zur Erhaltung des Landesfriedens reorganisiert. Unter dem Schutze genügender Einfuhrzölle blühten Handel und Gewerbe auf, was namentlich dadurch bestätigt wird, daß jetzt ersichtlich die Wollausfuhr zurückging, trotzdem die Schafhaltung auf gleicher Höhe geblieben war. 1498 wurden staatliche Prämien auf die Erbauung größerer Seeschiffe gewährt. Spanische Schiffe durften nicht an Fremde verkauft werden und erhielten eine Bevorzugung für den Warentransport. Die Bevölkerung des Landes wird gegen Ende des XV. Jahrhunderts auf etwa 8 Millionen Einwohner geschätzt. Um die berechtigten Interessen der Bürger und Bauern auszugleichen, haben die Könige staatliche Getreidetaxen eingeführt und den Städten die Anlage von Kornspeichern befohlen, welche namentlich in Zeiten niedrigerer Getreidepreise mit Vorräten für magere Jahre angefüllt werden sollten. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß Spanien um diese Zeit die Brotversorgung seiner Bevölkerung im eigenen Lande gesichert sah. 1492 erfolgte die Austreibung von etwa 800'000 Juden. Der Kampf gegen den jüdischen Geldwucher war seit Anfang des XIV. Jahrhunderts nicht mehr zur Ruhe gekommen. Wiederholt folgten für den Darlehensverkehr Erlasse eines gesetzlichen Zinsmaximums und wiederholt wurden den Bewohnern die Judenschulden um 1⁄3—1⁄4 durch königlichen Befehl gekürzt. Als aber die Klagen der Bevölkerung gegen die Juden sich trotzdem mehrten und darauf hingewiesen wurde, daß namentlich getaufte Juden sich in die Position der Steuerbeamten, Zollbeamten, Renten- und Zehentpächter und derartige Vertrauensposten mehr einzuschleichen wußten, um so dem Volke doppelt schädlich zu werden, traf die getauften, wie die nicht getauften Juden der Befehl der Landesverweisung. Ihr Vermögen wurde ihnen bei dieser Gelegenheit konfisziert zu Gunsten der Krone, welche sich jetzt erst ein stehendes Heer halten konnte, um die Macht des Adels wie des Klerus noch mehr zu beugen. Das Unterrichtswesen wurde durch zweckmäßige Reformen verbessert und namentlich für eine umfassendere wissenschaftliche Ausbildung der Geistlichen Sorge getragen. So konnte Spanien der Kirche zum Kampfe gegen die Reformation eine große Zahl tüchtiger Kardinäle stellen und zur Geburtsstätte des Jesuitenordens werden, welcher der Gegenreformation die geistigen Waffen lieferte. All diese Maßnahmen lassen erkennen, daß die Könige Ferdinand und Isabella ernstlich bestrebt waren, das spanische Volk einer besseren Zukunft entgegen zu führen. § 96. Es sollte anders kommen. Gelegentlich jenes glänzenden Schauspiels, das die Uebergabe Granadas an Ferdinand und Isabella durch den letzten Maurenkönig auf spanischer Erde bot, war es endlich dem Genueser Christoph Columbus gelungen, die materielle Unterstützung Isabellas zu der von ihm geplanten Auffindung eines westlichen Seeweges nach Indien zu erhalten. Die seit Anfang des XV. Jahrhunderts datierenden Bestrebungen Portugals, um die Küste von Afrika herum den Seeweg nach Indien zu finden, hatten naturgemäß die Seefahrer der Handelsstaaten des Mittelmeeres in großer Erregung erhalten. Die Wunderländer jener Reisebeschreibungen, welche die mit den Kreuzzügen erwachte Reiselust (Marco Polo 1271—1295) Europa geschenkt hatte, sollten dem europäischen Seeverkehr erschlossen werden. Man war bemüht, sich über die kommenden Ereignisse tunlichst zu unterrichten. Speziell Columbus hatte die nordischen Meere und von Portugal aus die Westküste von Afrika besucht. Sein Bruder war an der Entdeckung des Kap der guten Hoffnung beteiligt. Auf Grund dieser Vorbereitungen faßte der Genuese den Entschluß, das vielbegehrte Indien durch eine direkte Fahrt nach dem Westen aufzufinden. 1492 erfolgte die Landung auf Guanahani vor Zentralamerika. Auf Haiti wurde Gold bei den Eingeborenen gefunden. Die edle Königin Isabella gab zwar Befehl, daß ihre neuen Untertanen gut behandelt und zum Christentum bekehrt werden sollten. Aber zwischen Kastilien und Amerika lag der weite Ocean, und die Spanier hatte die Gier nach dem Golde erfaßt. Mit unersättlicher Habsucht stürzten sie sich auf die gutmütigen Eingeborenen, rissen ihnen die Schmucksachen vom Leibe, durchsuchten die Häuser und Tempel nach Gold und Silber, durchwühlten die Gräber der Toten nach Edelmetall und zwangen die gesamte Bevölkerung bis zu den Kindern im zarten Alter zur Goldsuche, oder sie verkauften die Eingeborenen als Sklaven in Sevilla. Ihre Bekehrung zum Christentum wird zur Farce. Man schlägt Proklamationen an, welche die Eingeborenen aufforderten, sich zum Christentume zu bekennen, widrigenfalls sie als Sklaven behandelt würden. Die Indianer, welche natürlich nicht lesen konnten, nahmen von diesen Proklamation keine Notiz und waren deshalb „von Rechts wegen“ der Sklaverei verfallen! Die Indianer hatten rasch genug erkannt: „Der Gott der Spanier heißt »Gold !«“ Die armen Eingeborenen stellten ihren Feldbau ein und flohen in die Wälder. Sie wurden eingefangen, unmenschlich bestraft und gefesselt zur Zwangsarbeit für ihre Peiniger zurückgeführt. Unter Strömen von Blut haben so die Spanier von 1492 bis etwa 1537 Zentralamerika mit Mexiko, Californien, ganz Südamerika, ausschließlich des zu Portugal gehörenden Brasiliens, mit den Karolinen und Philippinen an der ostasiatischen Küste erobert. Wo reiche Beute winkte, kämpften die spanischen Eroberer wie die Löwen. Wo wenig Gold und Silber zu erwarten war, meuterten sie gegen ihre Befehlshaber. Wo mehrere spanische Expeditionen zusammentrafen, begann der Kampf der Raubtiere um die Beute. Matrosen desertierten, um Gold zu suchen. Friedliche Indianer wurden mit Bluthunden gehetzt, kleine Kinder im Flusse ertränkt, nur um ihren weißen Besitzern Zerstreuung zu bieten. Ausgiebige Menschenjagden lieferten immer mehr Menschenware für die spanischen Sklavenmärkte. So haben im Jagen nach Gold und Gewinn die christlichen Spanier in den neu entdeckten Ländern weit schlimmer als die Pest gehaust. § 97. Kaum waren aus den neuen Ländern die ersten Millionen an die spanische Krone abgeliefert worden, als auch diese selbst von der für die Völker so gefährlichen Goldseuche ergriffen wurde. Die gute Isabella zwar war noch auf ihrem Sterbebette besorgt, daß auch ihre neuen Untertanen gerecht behandelt würden. König Ferdinand aber gab schon seinen Leuten die kalte geschäftsmäßige Instruktion moderner Milliardäre: „Sucht Gold, wenn möglich ohne Grausamkeiten, aber jedenfalls sucht Gold zu bekommen, hier habt ihr Vollmachten!“ König Ferdinand war damit aus einem Führer des Volkes auf der aufsteigenden Bahn menschheitlicher Entwicklung zu einem Großkapitalisten auf fürstlichem Throne geworden, dessen leitender Gedanke die Profitwut ist. Sein Auftrag wurde gewissenhaft befolgt. In den Jahren 1493—1600 sollen etwa 4027 Millionen Mark Gold allein, ohne das Silber, aus den Kolonien nach Spanien geflossen sein. Dieser Goldstrom traf die Spanier noch als armes Volk. Die Münzeinheit auch der Münzordnung von Ferdinand und Isabella war die Kupfermünze Maravedi, etwa unserem Pfennig entsprechend. Die Silbermünze, das „real“, wurde in der Regel zu 34 Maravedis geschlagen. Erst die Münzordnung Karls V. hat doppelte Kronen (dublones) als Silberstücke zu 8 realen, wofür der Spitzname „Piastro“ (vom Italienischen piastro, d. i. Metallplatte) üblich wurde, und woraus sich auch die Bezeichnung Peso gebildet hat. Der Piaster mit einem Metallwert von etwa 4,25 Mk. hat sich über die ganze Erde verbreitet. Aus ihm ist der nordamerikanische Dollar entstanden. Daneben gab es für den Wechselverkehr mit dem Auslande einen Wechseldukaten (Ducado de cambio) gleich 375 Maravedis = M. 5,85. Im Jahre 1586 kostete der Unterhalt eines Studenten mit Diener in Salamanca 60 Dukaten (also etwa 351 M.) pro Jahr. Das ergibt pro Tag für zwei Personen noch nicht 1 Mk. Wenn wir davon dem Studenten 2⁄3 zubilligen, so hat sein Diener pro Tag mit etwa 30 Pf. auskommen müssen, trotzdem seit 1492 bis 1586 bereits eine so bedeutende Steigerung in den Kosten der Lebenshaltung in Spanien eingetreten war, daß für diese Periode eine Erhöhung der mittleren Weizen- und Roggenpreise um mehr als das Vierfache angenommen wird. Aus all diesen Ziffern folgt, daß als Umschlagsmittel jener Wertgröße, welche im XVI. Jahrhundert auf der Hand der großen Masse der spanischen Bevölkerung sich täglich bewegte, nur das Kupfer Verwendung finden konnte. Große Silber- oder gar Goldmünzen waren in der Hand dieses Volkes kein allgemeines Tauschmittel, sondern ein angesammeltes Vermögen. Spanien war zur Zeit von Ferdinand und Isabella in seiner allgemeinen volkswirtschaftlichen Entwicklung noch auf der Stufe der Kupferwährung. Der durch die Kolonialpolitik erschlossene Goldstrom mußte deshalb hier doppelt schädlich wirken. § 98. Die Herrenstellung der Spanier in den Kolonien mit den glänzenden Aussichten auf große Gewinne hat zur Auswanderung ungemein angeregt und dadurch die dünne Bevölkerung der Heimat noch mehr gelichtet. Weil aber in solchen Fällen stets die energievollen und tatkräftigeren Individuen sich zur Auswanderung entschließen, mußten in Spanien Landwirtschaft und Gewerbe am meisten unter diesem Bevölkerungsabfluß leiden. Damit wurde das Angebot von Arbeitskräften wesentlich kleiner, die Löhne erhöhten sich entsprechend. Aber auch der Preis aller Waren, welche für den Export nach den Kolonien benötigt wurden, steigerte sich wesentlich auf Grund einer ähnlichen Verschiebung von Angebot und Nachfrage. Das einströmende Gold und Silber konnte von dem erst für die Kupferwährung reifen allgemeinen Verkehr nicht aufgenommen und festgehalten werden. Soweit die Edelmetalle nicht im Inlande zur Schatzbildung Verwendung fanden, strömten sie — wie immer unter gleichen Umständen — bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nach dem Auslande ab. Nur in wenigen Händen sammelten sich ungeheure Reichtümer an, welche unter den gegebenen Umständen zur Latifundienbildung führten. Bei der traditionellen hervorragenden Stellung der Kirche in Spanien mußte auch diese zu übermäßigem Reichtume kommen, welcher das arme Volk zum Eintritt in die Reihe der Kleriker reizte oder als privilegierte Bettler an den Früchten dieses Reichtums mitzehren ließ. Der Schwerpunkt des gesamten volkswirtschaftlichen Erwerbs verlegte sich aus der Heimat nach den weiten Kolonialreichen, wo in rücksichtslosester Weise Boden und Bevölkerung ausgeplündert wurden, bis eines Tages diese kolonialen Herrlichkeiten dem Mutterlande in der einen oder anderen Form verloren gingen und damit endlich das Volk vor die ernste Frage gestellt wurde: wie ernährt man sich selbst durch redlich produktive Arbeit? Das alles waren unabweisbare Entwicklungskonsequenzen der durch Christoph Columbus eingeleiteten Kolonialpolik. Daß dieselben in der spanischen Geschichte so überaus scharf zum Ausdruck kamen und mit weiteren bedenklichen Komplikationen durchsetzt wurden, muß zurückgeführt werden auf die Verschmelzung der spanischen Krone mit dem Herrschaftsgebiet der Habsburger im XVI. und XVII. Jahrhundert. § 99. Aus mittleren Verhältnissen heraus war Rudolf Graf von Habsburg 1273 deutscher Kaiser geworden. Die von ihm neu geschaffene Hausmacht Oesterreich, Steiermark und Krain erlangte für die Habsburger eine um so größere Bedeutung, als zu Anfang des XIV. Jahrhunderts ihr Stammland, die Schweiz, verloren ging. Unter Maximilian I. (1493 bis 1519) kam durch Aussterben der Habsburger Nebenlinien der Besitz der gesamten österreichischen Lande in eine Hand. In dem Kopfe dieses Fürsten scheint zuerst die Idee und der Plan einer Weltherrschaft der Habsburger gereift zu sein. Sein Wahlspruch, mit dem er eine Art symbolische Abgötterei trieb, an den er fatalistisch glaubte, und den er in höchst ungewöhnlicher Weise sogar in sein Majestätssiegel aufnahm, war: „A. E. J. O. U.“ das ist „Austriae Est Imperare Orbi Universo“ oder „Alles Erdreich Ist Oesterreich Untertan“. Und siehe da, vor allem durch die von Maximilian wesentlich ausgebildete Heirats- und Vertragspolitik der Habsburger war schon bei seinem Enkel und Nachfolger auf dem deutschen Kaiserthrone Karls V. (1519 bis 1556) die Weltherrschaft der Habsburger so weit zur Wirklichkeit geworden, daß von jetzt an halb Europa sich mit den Waffen gegen diese drohende Gefahr zur Wehr setzte. In Italien gebot Karl V. über Sardinien, Sizilien, das Königreich Neapel, Mailand und die Lombardei. Die Länder der deutschen Fürsten waren umschlossen im Osten durch Böhmen und die österreichischen Hausländer, im Süden durch Tirol, Mailand, Freigrafschaft Burgund und Vorderösterreich (im heutigen Elsaß, Baden und Württemberg gelegen), im Westen durch Luxemburg und die Niederlande. Weil aber Karl V. auch das Königreich Spanien von seiner Mutter geerbt hatte, war Frankreich auf zwei Seiten von der Habsburger Herrschaft umklammert. Dazu die gewaltigen Kolonialreiche in Amerika und im Stillen Ozean. Man muß es begreiflich finden, daß einer solchen Machtkonzentration gegenüber die weiterblickenden Politiker Europas handeln mußten, ehe es zu spät war. Papst Clemens VII. schloß ein Bündnis mit dem König von Frankreich, für welches auch der Beherrscher der Türken gewonnen wurde, um den Weltherrschaftsplänen der Habsburger entgegenzutreten. Bestimmte Ereignisse hatten in Deutschland den Blick der maßgebenden Politiker zu sehr verwirrt, um die deutschen Fürsten an dieser Verteidigungsstellung teilnehmen zu lassen. § 100. Durch kirchliche Mißstände veranlaßt, waren Luther (1517) in Deutschland, Zwingli (1518) in der Schweiz und Calvin (1532) in Frankreich und der Schweiz als kirchliche Reformatoren aufgetreten. Die dadurch entfachte Reformationsbewegung führte vielfach zur Säkularisation der Kirchengüter zu Gunsten der Staatsgewalt. Die Habsburger waren durch wesentliche Interessen zu Gegnern solcher Neuerungen gestempelt. Die immer noch wachsende Macht der Türkenherrschaft im Osten bedrohte die österreichischen Lande, und der Kampf mit dem „Erbfeind der Christenheit“ wurde immer noch als eine so gewaltige Aufgabe betrachtet, daß nur die Beteiligung des christlichen Abendlandes durch Vermittlung des Papstes und durch Inanspruchnahme der immer noch sehr ergiebigen Kreuzzugssteuern auf den Sieg hoffen ließen. Spanien war vor kurzem aus einem 800jährigen Kampfe für die katholische Religion gegen den Islam siegreich hervorgegangen. Die spanische Inquisition war als staatliche Einrichtung unter Benutzung des kirchlichen Apparates, „das Auge des spanischen Königs“, das festeste Verbindungsglied zwischen der spanischen Krone, dem spanischen Volke und den so gewinnbringenden spanischen Kolonialreichen, sie war die gewaltigste Stütze des spanischen Absolutismus. Der spanische König konnte deshalb nur katholisch sein und nur bemüht sein, die Einheit der katholischen Kirche zu erhalten. Die Habsburger waren jetzt Herrscher von Oesterreich und Spanien. Sie mußten treue Anhänger der Päpste sein, wie umgekehrt auch die Päpste stets durch entsprechende Zugeständnisse auf kirchlichem Gebiete die Unterstützung der Habsburger zu schätzen wußten. Als dennoch im Jahre 1527 ein Heer Karls V., als Antwort auf die feindliche Stellungnahme des Papstes, den Kirchenstaat besetzte, als die nicht bezahlten und deshalb aufrührerischen Söldner Karls V. Rom stürmten und mehrere Tage plünderten und den Papst in der Engelsburg belagerten, erfolgte bald darauf die Aussöhnung des Papstes mit dem Hofe zu Madrid. Der Beherrscher des Habsburger Weltreiches konnte nicht lange darüber im Unklaren sein, daß seine vitalsten Interessen die Unterdrückung der begonnenen Kirchenspaltung in Europa forderten. Weil aber namentlich Bayern mit der großen Mehrzahl der katholischen Kirchenfürsten der römischen Kirche treu geblieben war, wurde die Reformation in Deutschland keine nationale, sondern nur eine Parteisache. Die Verhüllung der absolutistischen Pläne des „erwählten Kaisers“, der deutschen Adelsrepublik gegenüber, wurde dadurch wesentlich erleichtert. Noch ein zweites Ereignis trat hinzu. Auch auf deutschem Boden war mit der Ausbreitung der Geldwirtschaft überall dort, wo noch grundherrliche Beziehungen zwischen Adel und Bauer bestanden haben, eine ungerechte Bedrückung und Ausbeutung der bäuerlichen Arbeit eingeleitet. Bald da, bald dort kam es im deutschen Reiche zu lokalen Bauernaufständen (1492 Schwaben, 1493 Schlettstadt, 1500 Ochsenhausen, 1502 Bruchsal, 1513 Freiburg, 1514 Württemberg, 1515 Krain, Kärnten und Steiermark), welche immer unterdrückt wurden und deshalb wenig an der ökonomischen Lage der Bauern besserten. Die Unzufriedenheit im Volke wuchs immer mehr und wurde immer allgemeiner. Da kam die Kunde von der Wahl des neuen mächtigen deutschen Kaisers Karls V. (1519). Das Volk erhoffte von ihm Schutz für sein gutes Recht. So hatte schon Ende des XIII. Jahrhunderts Graf Florens V. von Holland, so haben Ende des XV. Jahrhunderts Ferdinand und Isabella in Spanien durch Anschluß an die bäuerliche Aufstandsbewegung ihre Herrschermacht über den Adel wesentlich gestärkt. So hat der siegreiche schwedische Bauernaufstand in den dreißiger Jahren des XV. Jahrhunderts dem Lande wieder ein heimisches Königtum geschenkt. Auch die deutsche Bauernbewegung war jetzt durchaus loyal dem Kaiser gegenüber. Aber Karl V. hatte gerade (1521) eine gegen seine königliche Machtvollkommenheit gerichtete Volkserhebung in Spanien erlebt, welche für ihn vom spanischen Adel unterdrückt wurde. Er schlug die ihm von den deutschen Bauern dargebotene Hand aus. Die erwartete kaiserliche Rechtshilfe kam nicht. Und so durchbrauste der große deutsche Bauernkrieg (1524—25) das Land, der mit den Waffen der deutschen Fürsten niedergeschlagen wurde. In diesem Falle waren sogar die dem Protestantismus geneigten Fürsten mit den Habsburgern vereint. Neue Türkenkriege, neue Kriege mit dem Könige von Frankreich, die erstrebte Wahl eines neuen Habsburgers zum deutschen König durch die deutschen Fürsten traten hinzu. Die Entscheidung in der kirchlichen Frage wurde immer öfter hinausgeschoben. Endlich schien Karl V. selbst nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Billigkeit einzulenken. Auf einer großen allgemeinen Kirchenversammlung zu Trient (1545—63), zu welcher auch die Protestanten geladen wurden, sollten alle kirchlichen Mißstände besprochen und abgestellt werden. Aber — die in Trient versammelten Väter konnten unmöglich beschließen, daß das gewaltige, in ihren Händen angesammelte Kirchengut ihnen genommen werde. Und die deutschen Fürsten und Regierungen, welche ihre kirchlichen Verhältnisse reformiert hatten, konnten unmöglich die eingezogenen und längst verbrauchten Kirchengüter wieder zurückgeben. Dieser Interessenkonflikt konnte nur durch die Waffen entschieden werden. Und schon in diesem „Religionskriege“ ist das katholische Frankreich und das katholische Venedig mit den protestantischen Fürsten Deutschlands gegen die katholischen Habsburger verbündet. (Schmalkaldischer Krieg 1546—47 und Krieg gegen Frankreich 1552.) § 101. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 gab dann den Fürsten und reichsunmittelbaren Städten das Reformationsrecht für ihre Herrschaftsgebiete. Die von der römischen Kirche abgezweigte lutherische Religionsgemeinschaft wurde von Kaiser und Reich anerkannt, aber nicht im Sinne einer Religions- und Gewissenfreiheit der Einzelnen, sondern — der damals herrschenden Richtung entsprechend — im Sinne eines Machtzuwachses des fürstlichen Absolutismus. Jeder Landesherr war befugt, nicht nur für sich, sondern auch für seine Untertanen bindend zu entscheiden, ob das lutherische oder das römische Religionsbekenntnis anzunehmen sei. Das reformierte Calvinsche Religionsbekenntnis war damals in Deutschland erst wenig verbreitet und daher in dieses Zugeständnis nicht ausdrücklich eingeschlossen. Ferner wurde den katholischen Kirchenfürsten das Reformationsrecht vorenthalten, damit diese Herren nicht durch Uebertritt zur neuen Lehre ihr Kirchenfürstentum, das sie persönlich besaßen, in ein innerhalb ihrer Familie erbliches Fürstentum verwandeln könnten. § 102. Dieser Friede konnte indes unmöglich von langer Dauer sein, denn er enthielt zu viele noch ungeschlichtete Streitfragen. Wie sollte es mit jenen Gebieten gehalten werden, welche bei der ständigen Eroberungslust der deutschen Fürsten den geistlichen Stiftungen verschiedenster Art weggenommen wurden? Brachte die Entscheidung der Waffen in solchem Falle auch die Entscheidung über das Religionsbekenntnis dieser Bewohner? Wie war zu entscheiden, falls zwei Fürsten verschiedener Religionsbekenntnisse Ansprüche auf das gleiche Land geltend machten? oder falls die einander folgenden Fürsten der gleichen Regentenfamilie einen verschiedenen Grad von Abneigung gegen die neue Religion zeigten und demensprechend einem Teile ihrer Untertanen Religionsfreiheiten schenkten, die dann nach ihrem Tode wieder entzogen wurden? (Maximilian II. (1564—76), Kaiser Rudolf II. (1576 bis 1612), Kaiser Matthias (1612—19) in Böhmen.) Die Kriegsflammen mußten sich unter solchen Umständen von Neuem entzünden. Zunächst wurde auf beiden Seiten immer mehr Zündstoff angehäuft durch die erbarmungslose Energie, mit welcher der aus Spanien hervorgegangene Jesuitenorden die Wiederherstellung des römischen Glaubensbekenntnisses betrieb und durch die außerordentlich rasche Ausbreitung des auch politisch radikaleren reformierten Calvin’schen Bekenntnisses selbst in Ländern mit vorher lutherischem Glauben, trotzdem das reformierte Bekenntnis in dem Augsburger Religionsfrieden nicht ausdrücklich eingeschlossen war. So kam denn unaufhaltsam der 30jährige Krieg in Deutschland (1618—48) zum Ausbruch. Zu Beginn des Krieges trat wieder die alte Unklarheit in der Politik der deutschen Fürsten hervor. Der lutherische Kurfürst Johann Georg von Sachsen kämpfte auf Seiten der katholischen Liga und der Habsburger gegen die Böhmen und Calvinisten, um die Lausitz und Schlesien für sich zu gewinnen. Ebensowenig kümmerten sich die raubenden und plündernden Söldnerheere um eine Unterscheidung zwischen Freundes- und Feindesland. Als jedoch das Kriegsglück zu Gunsten der Habsburger sich zu wenden schien, der kaiserliche Heerführer Wallenstein zum „Herzog von Mecklemburg und General des baltischen und ozeanischen Meeres“ ernannt wurde und sogar kaiserlichen Truppen die Polen gegen das ebenfalls von Rom bereits abgefallene Schweden unterstützen, welches unter Führung seines Königs Gustav Adolf die Herrschaft über die Ostsee zu gewinnen im Zuge war, da haben Schweden und das katholische Frankreich unter Kardinal Richelieu als leitendem Minister mit aller Energie in den deutschen Krieg gegen das Haus Habsburg eingegriffen. Die katholische Republik Venedig unterstützte den Schwedenkönig mit reichen Geldsendungen. Papst Urban VIII. schlug dem Habsburger Herrscherhause die Subvention durch Kreuzzugssteuern ab mit der Motivierung: dieser Krieg sei kein Religionskrieg, denn katholische Mächte ständen auf Seiten der Schweden gegen die Habsburger. Der dreißigjährige Krieg hat dann genau so lange gedauert, bis die erobernde Kraft des spanisch - habsburgischen Weltreiches gebrochen war. Der Westfälische Friede (1648) brachte den Begriff der Landeshoheit der deutschen Kleinstaaten zum Abschluß und zerriß so fast vollständig das Band der Einheit des deutschen Reiches. Die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens wurden auch auf die Reformierten (Calvinisten) ausgedehnt und für den Besitz der Kirchengüter wie für die Anerkennung der Religionsübung wurde der Zustand vom 1. Januar 1624 als maßgebend festgesetzt. Garantiert wurde die Einhaltung dieser Friedensbedingungen nicht durch den deutschen Kaiser aus dem Habsburger Hause, sondern durch Frankreich und Schweden, welches mit den ihm zufallenden Besitzungen in die Reihe der deutschen Reichsstände eintrat und auch dadurch den politischen Einfluß des Hauses Habsburg in Deutschland minderte. § 103. In welcher Weise hatte sich nun inzwischen die Eroberungskraft des spanisch – habsburgischen Weltreiches erschöpft? Das Reich Karls V., in dem die Sonne nicht unterging, war aus ungemein ungleich entwickelten Ländern zusammengesetzt. Wenn auch die Kolonien, welche immer als Objekte der rücksichtslosesten Ausbeutung betrachtet wurden, hier ganz außer Acht bleiben, so ist schon der Gegensatz zwischen den Niederlanden einerseits und Castilien, dem Kronlande Spaniens, andererseits sofort in die Augen springend. Die Niederlande, ungemein reich an Handel und Industrie, mit nur wenigen adligen Geschlechtern, mit Antwerpen, dem ersten Börsenplatze der damaligen christlichen Welt, hatten schon vor Karl V. fast volle Autonomie erlangt. Hier war Karl V. aufgewachsen. Die Verhältnisse von Land und Leuten waren ihm vertraut. Kastilien, ein überwiegend landwirtschaftliches Gebiet mit vielen adligen Geschlechtern, wenig entwickelten geldwirtschaftlichen Verhältnissen und einer fast schon abgeschlossenen absolutistischen Verfassung mit Land und Leuten, die Karl V. persönlich mehr fremd geblieben sind. Die unter Karl vereinigten 17 Provinzen der Niederlande, welche als Burgundischer Kreis seit 1548 wieder zu Deutschland gehörten, konnten als Glied eines so mächtigen Reiches zunächst nur gewinnen. Der niederländische Handel besorgte bald für Spanien und Portugal den Absatz ihrer Produkte durch die ganze nördliche Hälfte von Europa. Und die Vertretung der niederländischen Interessen an dem Getreidehandel mit den Ostsseeländern konnte gegen Dänemark wie gegen die niedergehende deutsche Hansa von der Regierung eines Beherrschers der halben Welt natürlich wirksamer vertreten werden, als von einer der 17 niederländischen Provinzen. Ganz anders lagen die Verhältnisse für das kastilische Spanien. Die weiten Kolonialreiche Amerikas lagen für die Eroberung wie für die Ausplünderung durch die Spanier offen. Sie konnten hier ihrer gewohnten Eroberungs- und Beutelust treu bleiben und daraus für absehbare Zeit ihre Bedürfnisse decken, ohne sich der verachteten Produktionstätigkeit selbst zuwenden zu müssen. Spanien konnte durch seine Eingliederung in das Habsburgische Oesterreich kaum etwas gewinnen. Die mit jeder Weltherrschaft sich notwendigerweise vermehrenden kriegerischen Konflikte mußten vielmehr die Gefahr in sich bergen, daß die nach Spanien aus den Kolonien fließenden Goldschätze starken Abfluß nach allen Himmelsrichtungen fanden. Solche Erwägungen blieben den kastilischen Städten nicht fern. So kam es denn in Spanien zu Anfang der Regierung Karls V. zu dem Aufstand der Kommunidades (1521), an deren Spitze die Städte Toledo, Segovia und Valladolid standen. Es war eine politische Revolution gegen den königlichen Absolutismus. Die Städte verlangten eine verfassungsmäßige Beteiligung an der Regierungsgewalt, und daß auch der Wille des Königs gebunden sei, sich den allgemeinen Interessen der Volksgemeinschaft unterzuordnen. Der König sollte deshalb in Kastilien und nicht im Auslande dauernd Wohnsitz nehmen, die Verwaltung der spanischen Staatsämter nur Spaniern (und nicht wie Karl V. Niederländern) anvertrauen. Dazu kamen in ihrem Programm: Minderung der Steuern und Militärlasten, Verhütung der Ausfuhr von Edelmetall, Einziehung der dem Adel geschenkten königlichen Domänen und endlich Aufhebung der von der Kirche zu Gunsten des Staates erzwungenen Ablaßgelder. Die beiden letzten Forderungen bedrohten die Interessen des Adels und der spanischen Kirche. Im Einverständnis mit seinem Könige warf deshalb der Adel diese revolutionäre Bewegung nieder. 300 der reichsten Teilnehmer an derselben wurde ein Vermögen im Gesamtwerte von etwa 14 Millionen Mark konfisziert. Die politischen Rechte und der Einfluß der Städte wurden gebrochen, die kastilischen Cortes von 1538 an überhaupt nicht mehr einberufen. § 104. Die nächsten Folgen dieses Aufstandes waren: eine weitere Stärkung des königlichen Absolutismus und neue Begünstigungen der Interessen des Großgrundbesitzes durch die Krone. Während im XIII. und XIV. Jahrhundert die Errichtung von Majoraten der königlichen Genehmigung bedurfte und Ferdinand und Isabella die Bestimmung hinzugefügt hatten, daß für alle ehemals königlichen Domänen im Falle eines Aussterbens der betr. Familie die Krone das Heimfallsrecht besitze, wurde im Jahre 1505 die Errichtung von Majoraten allgemein freigegeben. Eine der wichtigsten Nutzungen der Latifundien war bei den damals steigenden Wollpreisen die Schafhaltung. Die eigenartigen Verhältnisse Spaniens hatten auch hier die Haltung großer Wanderherden begünstigt, welche im Sommer in den Bergen von Leon, Burgos und Toledo weideten, im Herbst und Winter in Estremadura und Andalusien sich aufhielten. Schon im Jahre 1477 zählten diese Wanderherden bei Ueberschreitung der kastilischen Grenze 2'694'032 Stück. Strafrechtlich wurden die einzelnen Tiere wie die Menschen geschützt. Wer ein solches Stück Vieh raubte oder tötete, wurde hingerichtet. In Neukastilien soll es im XVI. Jahrhundert über 6 Millionen Merinos gegeben haben. Die Eigentümer dieser Wanderherden waren der König, die Bischöfe, der Adel und die Klöster. Einzelne Klöster hatten Schafherden von 30'000 Stück und mehr. Die ganze Einrichtung trug den Namen: „Mesta“, wozu der spanische Volkswitz folgende Erklärung gegeben hat: „Was ist Mesta?“ — „Aus dem einen Geldbeutel nehmen und in den anderen hineinstecken.“ 1586 erhielt die Mesta eigene Statuten, in welchen ihre Weide-Privilegien vom Staate anerkannt und das ungeheuere Recht verliehen wurde, alle auf die Mesta bezüglichen Privatstreitigkeiten durch ihre eigenen Richter zu entscheiden. Im ganzen XVI. Jahrhundert wurde immer wieder durch besondere Gesetze die Ausdehnung des Ackerlandes verboten zu Gunsten der Weidegelegenheiten. Das alles hat natürlich viel zur Verödung des Landes beigetragen, Estremadura, bei den Römern und Mauren der fruchtbarste Teil der Halbinsel, welcher halb Spanien mit Getreide versorgen konnte, mußte jetzt zum großen Teil seinen Brotbedarf vom Auslande decken, trotzdem die Bevölkerung so sehr zusammengeschmolzen war, daß auf einer Quadratmeile Land nur 184 Menschen wohnten. All diese Maßnahmen gehörten zu den Requisiten des Absolutismus, dem allein die Sorge für die Wohlfahrt und Zukunft des Volkes anvertraut war. Wie ist die spanische Krone dieser Aufgabe gerecht geworden? § 105. Als die Kriege Karls V. gegen Frankreich, die Osmanen und die Ketzer begannen, kamen für ihn neben der Kriegsbeute und den eventuellen Kriegsentschädigungen als Einnahmen in Betracht: die Erträge der Kolonien, die Steuern seiner Länder, die Anleihen auf der damaligen Weltbörse Antwerpen wie bei deutschen und italienischen Kaufleuten. Karl V. konnte deshalb allerdings über gewaltige Summen verfügen. Dennoch hat er es sehr wenig verstanden, Ordnung zwischen seinen Einnahmen und Ausgaben zu halten. Als dieser Fürst zur Zeit seiner Kaiserwahl in Deutschland weilte, mußte ihm der Augsburger Fugger 1000 Goldgulden borgen, weil er sonst nichts zu essen gehabt hätte. Weil gleich die Rückzahlung seiner ersten Anleihe ins Stocken geriet, war sein Kredit bei den Kaufleuten fast geschwunden, als der für ihn glückliche Ausgang der Schlacht von Pavia (1525), in welcher der König Franz I. von Frankreich gefangen genommen wurde, wieder von allen Seiten Geldangebote brachte. Gelegentlich blieb Karl V. in Innsbruck liegen, weil ihm das Geld zum Weiterreisen fehlte. Das alles sind keine Beweise dafür, daß Karl V. die Fähigkeit besessen hätte, die wirtschaftliche Entwickelung eines gewaltigen Weltreiches als absoluter Herr in förderlicher Weise zu leiten. Sein Nachfolger auf dem spanischen Königsthrone Philipp II. (1556 bis 98) hat zwar selbst genaue Voranschläge für seinen Staatshaushalt ausgearbeitet, aber ihm fehlte vor allem jedes verständige Maßhalten in den Plänen, welche zur Ausführung in Angriff genommen wurden und jede praktische Erkenntnis für eine Politik, welche die Ergiebigkeit der Einnahmequellen gesichert hätte. Unter seinen Nachfolgern: Philipp III., Philipp IV. und Karl II. (1665 bis 1700) wurde das spanische Hofzeremoniell immer großartiger, steifer und komplizierter, so daß Repräsentation und Vergnügungen alle Zeit des Königs in Anspruch nahmen und die Reichsregierung Günstlingen überlassen blieb. Kann es überraschen, daß ein solcher Absolutismus die Henne geschlachtet hat, welche die goldenen Eier legte? § 106. Da war zunächst der Reichtum der Kolonien. Von dem Augenblicke ihrer Entdeckung und ihrer Besitzergreifung an ist alles erreichbare Gold und Silber geraubt und nach Spanien gebracht worden. 1520 wurden die mexikanischen Silbergruben erschlossen, 1544 begann Potosi seine Schätze zu liefern. 1571 hat man das Quecksilberverfahren bei der Goldgewinnung in Amerika eingeführt. In den Jahren 1493—1600 ist der Anteil Spaniens an der Edelmetallproduktion der Welt bei Gold bis auf 59%, bei Silber bis auf 89% gestiegen! Spanien verfügte über die reichsten Einnahmen an Edelmetallen. Aber die greifbaren Vorräte an Edelmetallen in den Kolonien wurden rasch erschöpft, und in den Silberbergwerken und Goldlagern herrschte ein rücksichtsloser Raubbau. Noch schädlicher wurde mit dem eingeborenen Menschenmaterial verfahren. Auf der Insel San-Domingo waren zur Zeit ihrer Entdeckung (1492) ca. 3 Millionen Einwohner, 1508 noch 70'000, 1510 etwa 40'000, 1514 noch 13'000. In Mittelamerika sollen in den ersten 15 Jahren nach der spanischen Eroberung 5 Millionen Eingeborene umgekommen sein. Auf Kuba war binnen 30 Jahren nach der Besitzergreifung die einheimische Bevölkerung von 200'000 auf 2000 gesunken. Man hat die Menschen schlimmer als das Vieh geschunden und so zu Massenselbstmorden gezwungen. Wo man die Edelmetallgewinnung oder den Plantagenbetrieb auf der Zwangsarbeit der Indianer aufgebaut hatte, drohte mit dem Aussterben der Indianer dieses Einkommen zu versiegen. Wo man die Eingeborenen zu Hunderttausenden auf den Menschenjagden für den Sklavenmarkt einfing, war mit der Ausbeutung der Jagdgründe die Einnahme beendet. Wollte man also nicht selbst arbeiten und dennoch aus den Kolonien weitere Erträge erzielen, so mußten Arbeitersklaven von auswärts eingeführt werden. Aus diesem Bedürfnis ist der gewaltige Negersklavenimport aus Afrika nach Amerika hervorgewachsen. Aber diese Neger kosteten Geld, während die Indianer anfänglich umsonst zugeteilt wurden. So erhielt z. B. nach der Eroberung von Chile ein Offizier 30'000, andere Beteiligte 8—12'000 Indianer als Eigentum zugewiesen. Die Neger dagegen mußten vom Sklavenhändler gekauft werden. Ihre Transportkosten wurden noch dadurch erhöht, daß auf der Reise durchschnittlich von 7 Negern 4 den Reiseanstrengungen erlegen sind. Außerdem waren diese Neger für ihre Peiniger eine weniger gefügige Arbeitsmaschine als die Indianer. Schon um Mitte des XVI. Jahrhunderts mußten die einzelnen Kolonien aus Furcht vor Sklavenaufständen die Negereinfuhr beschränken. Aus all diesen Gründen gingen die Erträgnisse und Ueberschüsse der Kolonien zurück. Durch Einführung der Inquisition, welche auch die Einwanderung überwachte und durch das strenge Verbot eines Verkehrs der Kolonien unter sich, bei sorgsamer staatlicher Kontrolle des kolonialen Verkehrs mit dem Mutterlande wurde allerdings ein Abfall der Kolonien verhindert. Aber die in Europa sich verbreitende Fama von dem ungeheueren Reichtum dieses Landes an Edelmetallen und die aggressive Politik der spanisch-habsburgischen Weltmacht sorgten schon dafür, daß sich bald europäische Konkurrenten in den Kolonialreichen einfanden. Seit dem letzten Viertel des XVI. Jahrhunderts erfolgten unausgesetzte Angriffe englischer, holländischer und französischer Kaperschiffe und Kreuzerflotten namentlich auf Westindien. Die Hafenplätze und Küstengebiete wurden von ihnen ausgeplündert, die spanischen Silberflotten und Goldsendungen unterwegs auf dem Meere abgefangen. Trotz der angedrohten Todesstrafe bürgerte sich ein gewaltiger Schleichhandel mit den spanischen Kolonien ein, welcher aus all den hohen Staatsabgaben, mit welchen die Ausfuhrartikel in Spanien belastet wurden, reiche Gewinne zog. So kamen denn eines Tages die ausgeführten spanischen Tücher aus den Kolonien unverkauft und unverkäuflich wieder zurück. Die Gold- und Silberquellen der spanischen Kolonialreiche ging auf die Neige. § 107. Aber auch in Europa selbst waren einzelne Teile des Reiches bestrebt, sich aus dem furchtbaren Joch des spanischen Absolutismus zu befreien. Seit 1568 wütete der Unabhängigkeitskrieg der Niederlande. Warum? Es wurde bereits im § 103 erwähnt, welche wesentlichen Vorteile die 17 Provinzen der vereinigten Niederlande durch ihren Anschluß an das Reich Karls V. gewonnen haben. Dabei mußte freilich auf der Debetseite die Steuerschraube in Kauf genommen werden, welche die wachsenden Ausgaben der Kriegsführung zu decken bemüht war. Als neue Steuer sollte ein Ausfuhrzoll auf Getreide gelegt werden. Die Niederländer wurden dagegen vorstellig und führten aus, daß das ausgeführte Getreide fast durchweg ausländisches Getreide sei und daß dieser internationale Getreidehandel die Grundlage ihrer ganzen Handelstätigkeit wäre, welche zerstört würde, wenn es zu einer Belastung der Wiederausfuhr mit staatlichen Zöllen käme. Karl V. war solchen Vorstellungen zugänglich und hob den Getreideausfuhrzoll gegen außerordentliche Leistungen der niederländischen Stände wieder auf. Die Ausfuhrsperre für niederländisches Getreide wurde aber wiederholt im Interesse der Industrie des Südens in Anwendung gebracht. Den religiösen Neuerungen gegenüber ging Karl V. zwar energisch vor. Das Edikt des Reichstags zu Worms (1521) wurde in den Niederlanden scharf durchgeführt. 1522 begann hier die Inquisition gegen die Ketzer. Männer wurden enthauptet, Frauen lebendig begraben und zwar mit ihren Herbergsleuten und Freunden. Das konfiszierte Vermögen fiel der Staatskasse zu. Aber auch bei dieser furchtbaren Justiz wußte Karl V. unter Berücksichtigung der niederländischen Verhältnisse Ausnahmen und Milderungen zu finden. Die niederländischen Finanzen blieben unter seiner Regierung in guter Ordnung und hatten 1551 noch einen Barüberschuß von 2'570'000 Mark. Im Jahre 1556 begann auch hier die Regierung Philipps II., der die Niederlande nie gesehen hatte. Das Vorgehen der Inquisition wurde sofort ganz rücksichtslos. Das Land hatte von nun an weit höhere Steuerlasten zu tragen. Schon 1558 schloß die niederländische Finanzverwaltung mit einem Defizit von 8 Millionen Mark, bei einer schwebenden Schuld von 56 Millionen Mark. 1564 erging von den Niederlanden die offizielle Anfrage an Philipp II. nach Spanien: was mit den Galeerensträflingen angefangen werden solle? sollte man sie freilassen oder hinrichten? zu ihrer Ernährung sei kein Geld mehr in den Kassen. Dazu standen fremde Truppen im Lande. Viele Dörfer in den südlichen Provinzen waren durch den letzten Krieg mit Frankreich verwüstet. Der spanische Absolutismus kam immer schonungsloser zur Anwendung. Die Beschlüsse des Konzils zu Trient wurden als Staatsgesetz publiziert und die Zahl der Bischöfe im Lande wesentlich erhöht. Mit dieser Machtäußerung standen jedoch die finanziellen Mittel des Staates so wenig im Einklang, daß die in den Niederlanden stehenden spanischen Söldner wieder längere Zeit keinen Sold erhielten und deshalb unzuverlässig wurden. In diesem Augenblicke (1566) forderte das Volk mit dem Adel Religionsfreiheit und seine früheren politischen Rechte. Die Bittenden wurden verächtlich als „Geusen“ (Bettler) bezeichnet, welches Wort sogleich als Parteiname akzeptiert wurde. Die durch Prediger aufgeregten Volksmassen wurden Bilderstürmer. 1567 hielt Herzog Alba mit 20'000 spanischen Soldaten seinen Einzug in den Niederlanden. Die reichen Wollfabrikanten und viele der angesehensten Leute flohen nach England, Frankreich und den nordischen Seestädten. Alba setzte den „Blutrat“ ein, welcher binnen kurzer Zeit allein in Holland und Friesland 18'600 Köpfe abschlug. Nach spanischem Muster erhob er in diesem hochentwickelten Handels- und Industriestaate eine Vermögenssteuer von 1%, eine Umsatzsteuer von 10% für unbewegliche Güter, von 5% für Waren. Und nun erst begann die Abfallbewegung in den nördlichen Provinzen unter Führung des rechtzeitig geflüchteten Prinzen Wilhelm von Oranien (1568). § 108. Die politischen Flüchtlinge sammelten sich auf Schiffen und wurden deshalb Wassergeusen genannt. Wilhelm von Oranien begann sofort durch Kaperschiffe und durch die Kriegsflotte der Holländer den spanischen Seehandel zu schädigen. Als Alba 1573 auf eigenes Bitten nach Spanien zurückberufen wurde, nahm er große Reichtümer mit nach Hause, seine Truppen aber hatten seit 28 Monaten keinen Pfennig Sold erhalten. 1575 machte Philipp II. zum zweiten Male bankerott, nachdem der erste Staatsbankerott im Jahre 1557 vorausgegangen war. Auch die niederländische Finanzwelt und vor allem der Geldmarkt von Antwerpen wurde dadurch schwer in Mitleidenschaft gezogen. Wieder blieben die Soldzahlungen für das Heer längere Zeit aus. Um sich dafür schadlos zu halten, plünderten die spanischen Truppen die Städte Antwerpen, Mastrich, Gent und andere. Der Schaden wurde für Antwerpen allein auf 168 Millionen Mark und 8000 Menschenleben geschätzt. Jetzt wird der Aufstand der Niederlande gegen die spanische Herrschaft allgemein (1581). Der katholisch gebliebene Süden schloß sich dem bereits abgefallenen protestantischen Norden an. Aber diese Vereinigung war doch nicht von Dauer. In den flandrischen Städten hatte zu Anfang des 14. Jahrhunderts ein blutiger Bürgerkrieg gewütet zwischen den Geschlechtern und Zünften. Die Geschlechter hatten sich damals an Frankreich angelehnt und waren katholisch geblieben. Die ketzerischen Zünfte aber fanden ihre Unterstützung bei den Engländern. Die Geschlechter siegten schließlich mit französischer Hilfe. Aus dieser Zeit ist eine tiefgehende Antipathie gegen Ketzer und gegen England in der südlichen Hälfte der Niederlande zurückgeblieben. Dieser Bund mit der englandfreundlichen ketzerischen Nordhälfte gegen die spanische Macht war umsoweniger von Dauer, je leichter die überlegenen spanischen Heere in die südlichen Provinzen eindringen konnten und je mehr nur der Norden durch Oeffnung seiner Schleusen in der Lage war, dem Vordringen der spanischen Waffen Halt zu gebieten. Durch all diese Ereignisse verbitterte sich die Stimmung Philipps II. gegen die Niederlande noch mehr. Was in spanischen und portugiesischen Häfen an holländischen Schiffen und Kaufleuten ergriffen werden konnte, wurde weggenommen, die Menschen auf die Folter geworfen und als Ketzer hingerichtet. Auf seinen Befehl sperrten sich alle spanischen, portugiesischen und flandrischen Häfen gegen den holländischen Handel. Nicht minder groß war Philipps Haß gegen England, das ebenfalls von der römischen Kirche abgefallen war, das durch seine Raubzüge die spanische Handelsflotte wiederholt schwer geschädigt hatte und im Jahre 1587 die katholische Königin Marie Stuart auf dem Schaffot enden ließ. Dieses England sollte mit Holland vernichtet werden. Das englische Reich war bereits vom Papst dem König von Spanien als Lehn, die englische Bevölkerung ihm als Sklaven übertragen worden. So rüstete denn Philipp II. seine unüberwindliche Flotte, die große Armada, die den Stürmen des Meeres und der vereinten Tapferkeit der Holländer und Engländer erlag. Bau und Ausrüstung der Armada hatten 350 Millionen Mark, ihr täglicher Unterhalt 175'000 Mark gekostet. Der Krieg mit den aufständigen Niederlanden hatte 1170 Millionen Mark und 300'000 Soldaten verschlungen. Die Hilfsquellen der spanischen Regierung waren wieder einmal erschöpft. So kam es 1609 zum Abschluß eines 12jährigen Waffenstillstandes mit den vereinigten nördlichen Niederlanden, deren Hauptteil die Provinz Holland ist und die deshalb von jetzt ab auch kurzweg als Holland bezeichnet wurden. § 109. In eben dieser Zeit hatte der holländische Handel einen tüchtigen Aufschwung genommen. Was die spanische Kriegsführung und die spanischen Staatsbankerotte an der Stellung der spanisch gebliebenen Stadt Antwerpen als Weltbörse vernichtet haben, ist der holländischen Hauptstadt Amsterdam zugewachsen. Hier sammelten sich die reichen unternehmenden Leute aus den südlichen Provinzen. Die inzwischen erfolgte Ausbreitung der Reformation in den Ostseeländern erleichterte dem reformierten Holland den Handelsverkehr dahin; er ist dauernd die eigentliche Basis des holländischen Geschäftsverkehrs geblieben. Das Vorrücken der türkischen Herrschaft im Südosten Europas hatte die christlichen Staaten im Mittelmeer gezwungen, ihren Getreideeinfuhrbedarf im nördlichen Europa zu decken. 1591 waren 400 holländische Schiffe mit Getreide nach Italien unterwegs, welche von hier aus wieder die Produkte des Levantehandels nach dem Norden zurückbrachten. Spanien und Portugal wurden in ihren Kolonien von den holländischen Seeleuten erfolgreich niedergerungen. 1602 kam es zur Gründung der holländischen ostindischen Kompagnie. 1619 war Batavia auf Java von den Holländern besetzt worden. Die Eroberung geeigneter Stützpunkte für die ostindische Reise an der afrikanischen Küste datierte seit 1595. 1621 wurde die niederländische westindische Kompagnie ins Leben gerufen, welche in Amerika gegen Spanien und Portugal ebenso vorgehen sollte, wie die ostindische in Indien. Schwierige allgemeine Geschäftsverhältnisse hatten bei diesem Entschluß mitgewirkt. Durch das Vordringen der Schweden unter Gustav Adolf gegen Rußland und Polen war der Lebensnerv der holländischen Handelstätigkeit, der Getreide – Verkehr mit den Ostseeländern, berührt worden, was umsomehr empfunden wurde, als wiederholte Bankerotte der großen kriegführenden Staaten allgemeine Münzverschlechterungen herbeigeführt hatten. Der Roggenpreis war im Ostseehandel von 1606—23 um das Zehnfache gestiegen. Im Jahre 1627 verbot Wallenstein jede Getreideausfuhr aus der Ostsee nach Holland. Und wenn dann auch das Vordringen der Schweden in Deutschland die Herrschaft der Habsburger an der Ostsee beseitigte und das gegen Holland gerichtete Getreideausfuhrverbot wieder aufhob, so war doch Gustav Adolf gezwungen, zur Bestreitung seiner Kriegskosten einen Getreideausfuhr–Zoll in den Ostseehäfen zu erheben, welcher bald 50 Proz. des Verkaufswerts erreichte. 1630 stieg in Amsterdam der Roggenpreis auf 395 M., der Weizenpreis auf 460 M. per 1000 Kilo! Solch teure Ware konnte in dem damaligen europäischen internationalen Getreidehandel nur ganz ausnahmsweise Absatz finden. Die Holländer mußten deshalb für diesen Getreidebezug aus dem Osten einen anderen Weg suchen, als ihn die Ostsee mit ihren ganz ungemein hohen Zöllen und ihrer großen Bezugsunsicherheit bieten konnte. Und sie fanden diesen anderen Weg in eben diesem Jahre 1630 um Norwegen und das Nordkap herum nach Archangel, das bald ein so bedeutender russischer Getreideausfuhrplatz wurde, daß im Jahre 1700 etwa 200 holländische Kaufleute daselbst ansässig waren. Inzwischen hatte im westfälischen Frieden (1648) die niederländische Republik ihre Unabhängigkeit von Seiten Spaniens, wie von Seiten des deutschen Reiches erlangt. Holland war der Fesseln des spanischen Absolutismus ledig und frei geworden. § 110. Wie gestalteten sich inzwischen die Verhältnisse in Spanien und in den noch dazu gehörigen Ländern? Die amerikanischen Edelmetallschätze und die Reichtümer Indiens sind vor allem durch die Kriege verzehrt worden, welche die spanisch-habsburgische Weltmacht fast dauernd mit halb Europa geführt hat. Neben diesen Ausgaben traten die Aufwendungen für die Hofhaltung zurück, wenn auch berichtet wird, daß z. B. Philipps II. Hochzeitsfeierlichkeiten nahezu 6 Millionen Mark verschlungen und die den Günstlingen gewährten Gnadengeschenke große Beträge erreicht hätten. Sehr bedeutend waren auch die Edelmetallanhäufungen in den Kirchen, in den Klöstern und in den Silberkammern des reichen Adels. 1679 soll der Herzog von Albuquerque 144 Dutzend Teller von Gold und Silber, 500 große, 700 kleine Platten in einem silbernen Schranke besessen haben, zu dem 40 silberne Tritte führten. Auch in Spanien gab es unter der Herrschaft des Absolutismus keine Bankorganisation, in welcher man sein überschüssiges Geld deponierte. Das bare Geld wurde in Kisten oder auch in primitiveren Gelassen wohl verwahrt, bis es gebraucht wurde. Eine wirkliche Silber- und namentlich Gold-Geldzirkulation gab es außer in den königlichen Kassen und in der Hand der reichen Grundbesitzer nur noch im Verkehr mit den privilegierten Großhändlern und Fabrikanten, welche gewohnt waren, in ihren unter staatlicher Kontrolle stehenden Geschäften mit den Kolonien bis 500 Proz. Gewinn pro Jahr zu machen. Die Masse des Volkes waren arm geblieben; für seine täglichen Bedürfnisse genügte das Kupfergeld. Dem guten alten Kupfergeld war etwas Silber beigemischt. Deshalb haben die „bösen Holländer“ diese Bronzemünze Vellon genannt, (welches Wort auch Schaffließ, Schaffell bedeutet) aus dem Lande gezogen und dafür minderwertige Münzen (Molinillos genannt) in Umlauf gesetzt, welche ungern genommen wurden. Trotzdem schon Philipp II. die königlichen Münzstätten mit Wassermotoren hatte ausrüsten lassen, war der Geldumlauf ein ungenügender und das Volk namentlich verlangte immer nach mehr und neuen Bronzemünzen. § 111. Ungeachtet dieses chronischen Geldmangels in Spanien bei stärkstem Zufluß der Edelmetalle sind die Preise fast aller Waren und auch die Löhne und Gehälter gestiegen. Von 1503 bis 1600 erhöhten sich die Roggen- und Weizenpreise um das 5 1⁄2fache, die Löhne von 1586 bis 98 um das Doppelte, ebenso die Gehälter des königlichen Rats von 1560—1583. Für all diese Preisveränderungen sind in erster Linie die bedenklichen volkswirtschaftlichen Maßregeln der Regierung verantwortlich. Die Verkehrsstraßen im Lande waren derartig vernachlässigt, daß auf 20 Meilen Entfernung die Getreidepreise sich wie 1 : 3 verhielten. Der Ausgleich zwischen fetten und mageren Jahren war so schlecht organisiert, daß von Jahr zu Jahr Preisschwankungen um das 10fache vorgekommen sind. Bei der ungeheueren Begünstigung der Weidewirtschaft und der Majorate mußte der Getreidebau umsomehr zurückgehen, je mehr die in den Kolonien zu gewinnende reiche Beute das kräftige Landvolk zur Auswanderung lockte. In Andalusien und Granada waren die Moriscos Träger einer blühenden landwirtschaftlichen Kultur, die auch Ueberschüsse an Getreide lieferte. Aber diese 800'000 Moriscos wurden 1609 aus dem Lande vertrieben und ihr Besitz zu Gunsten der Staatskasse konfisziert, weil das spanische Volk mit Neid auf diese wohlhabenden Fremden blickte, weil die Staatskasse, wie fast immer, einen solch außerordentlichen Zuschuß brauchen konnte und weil man bei den fortwährenden Kriegen mit Frankreich und England befürchtete, daß im Falle einer feindlichen Invasion diese Moriscos eine Stütze gegen die Spanier abgeben könnten. Nach dieser Vertreibung der letzten Mauren hat sich auch in Andalusien und Granada rasch der Getreideüberschuß in einen Getreidemangel verwandelt. Auf dem Lande herrschten die Latifundienbesitzer, welche ihre Besitzung „Staaten“ zu nennen pflegten. 105 weltlichen und geistlichen Großgrundbesitzern gehörte der größte Teil des ganzen Landes. Manche Latifundienbesitzer zählten auf ihren Besitzungen 30'000 Familien als Untertanen. Zu Anfang des XVII. Jahrhunderts gehörte ganz Andalusien 5 Herzögen. Infolge dieser Umwandlung war in der Umgegend von Sevilla 1680 nur noch der 20. Teil jenes Landes bebaut, welches 1630 unter Kultur gewesen ist. Das Bistum Salamanca zählte 1600 noch 8384 Bauern mit 11'745 Gespannen, 1617 nur noch 4135 Bauern mit 4822 Gespannen. So weit die Bauern überhaupt noch im Lande blieben, waren sie in die Position ausgepowerter Zeitpächter herabgesunken, die ihren Pachtzins in Naturalien leisteten. Wie hätte es unter solchen Umständen keinen Mangel an Getreide und keine Preissteigerung geben sollen? Um diesen chronisch gewordenen Getreidemangel etwas zu mildern, wurde die Getreideeinfuhr 1640 von jeder Zollzahlung befreit, trotzdem gerade jetzt die finanzielle Not des Staates die bedenklichsten Maßregeln veranlaßte. Eine Steigerung der Getreidepreise um das 5 1⁄2fache in 100 Jahren mußte eine entsprechende Erhöhung der Unterhaltskosten für die Arbeiter und damit eine Erhöhung der Arbeitslöhne hervorrufen. Aber auch in diese Wirkungsreihen haben bedenkliche volkswirtschaftliche Maßregeln wieder störend und verschärfend eingegriffen. Der ungeheuere Reichtum der Kirchen und Klöster, welche über das ganze Land verbreitet waren, hat bei der herrschenden Meinung über den Wert des Almosens die Ausbreitung des Bettler- und Vagabundenwesens ausserordentlich begünstigt. Die spanische volkswirtschaftliche Literatur zu Anfang des 16. Jahrhunderts beschäftigt sich namentlich mit diesem Problem. In den Kirchen wimmelte es von Bettlern. Um das Mitleid rege zu machen, verstümmelten sie die eigenen Söhne, mieteten und stahlen sie kleine Kinder, um sich mit ihnen auf Straßen, Plätzen und namentlich vor der Kirche aufzustellen. Die Gesetzgebung mußte hiergegen einschreiten. Um Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der Kinderbettel verboten. Betteln ohne Licenz wurde bestraft, und nur die Heimatgemeinde war berechtigt, diese Bettellicenz auszustellen. Bettler ohne Konzession wurden zur Arbeit angehalten und die Arbeitszeit gesetzlich auf die Dauer des Tageslichtes ausgedehnt. Trotzdem fehlte es, namentlich auf dem Lande, an den nötigen Arbeitskräften. Zur Erntezeit kamen aus dem benachbarten Frankreich landwirtschaftliche Arbeiter, welche dann mit dem erübrigten Gelde wieder in ihre Heimat zurückwanderten. Auch in Spanien gab es im XVI. Jahrhundert eine Flucht der Bevölkerung nach der Stadt. Hier war man vor allem bemüht, entweder im Dienste der Kirche oder im Dienste des Staates unterzukommen. Und Kirche und Staat zeigten sich so aufnahmefähig, daß von je 3—4 erwachsenen Männern immer einer hier sein Brot gefunden hat. Speziell die Zahl der Kleriker, Nonnen und Mönche mitgerechnet, verhielt sich im XVI. Jahrhundert zur Gesamtzahl der spanischen Bevölkerung wie 1 : 10. Für das Königreich Preußen stellt sich heute dies Verhältnis wie 1 : 1000. Was nach Abzug der wenigen, sehr reichen Familien, der konzessionierten Bettler, der Diener in Kirche und Staat und der fortwährend sich mindernden landwirtschaftlichen Bevölkerung von der Kopfzahl der spanischen Bevölkerung noch übrig blieb, hätte sich nach einer wesentlichen Beschränkung der Auswanderung unter Kontrolle der Inquisition in den Städten bei dem ungeheueren Kolonialbesitz wohl leicht mit Handel und Gewerbe ernähren können, wenn die ganz ungeheuere Staatssteuer nicht jede private Unternehmertätigkeit allmählich vernichtet hätte. § 112. Die Grundlage der spanischen Steuerverfassung war eine aus römischen Zeiten stammende Handänderungsgebühr für Mobilien wie Immobilien, welche den maurischen Namen „Alkabala“ trug. Sie wurde ursprünglich mit 5 und 10 Proz. vom Wert erhoben. Um die Erhebung zu vereinfachen, haben einzelne Städte die Zahlung einer Pauschalsumme mit dem Staate vereinbart. Adel und Kirche waren von der Zahlung der Alkabala befreit. Damit aber der Adel auf Grund dieses Privilegs nicht etwa der Handels- und Gewerbetätigkeit sich bemächtigte, wurde ihm die Ausübung dieser Berufe bei Verlust des Adels und damit bei Verlust des Privilegs der Steuerfreiheit, verboten. Neben der Alkabala gab es noch staatliche Monopole, wie das Salzmonopol, sowie Einfuhr- und Ausfuhrzölle, deren Erhebung durch die staatliche Beschränkung des auswärtigen Handels auf gewissen Hafenplätzen erleichtert wurde. Dazu gehören noch jene Einkünfte, welche sich die Krone aus den Kolonien vorbehalten hatte. Indeß wußte der spanische Absolutismus auch das Privilegium der Steuerfreiheit illusorisch zu machen. Abgesehen von der teilweisen Ueberwälzung der Alkabala als indirekte Steuer auch auf diese Kreise, verfügte die spanische Krone auf Grund ihrer intimeren Beziehungen zu den Päpsten des XVI. und XVII. Jahrhunderts über die Kreuzzugssteuer, welche in Spanien als Vermögenssteuer vom Kirchengut, als Einkommensteuer von den Prälaten und als zwangsweise und allgemein von den Laien erhobene Ablaßgelder beigetrieben wurde. Auch auf Grund der Steuerverfassung mußte deshalb die spanische Krone katholisch sein. Dazu kamen all jene außerordentlichen Einnahmen, an denen die spanische Steuerpolitik so reich war, wie die irgend eines islamischen Fürsten. Wir erinnern an die Expropriation der Juden (1492) und der Mauren (1609), an die Vermögenskonfiskationen durch die Inquisition, falls irgend eine politische oder konfessionelle Verdächtigung gegen Jemanden vorlag. Wo es bei sehr reichen Leuten daran noch fehlte, half gelegentlich das Mittel der staatlichen Zwangsanleihe das gewünschte Ziel zu erreichen. Durch Karl V. sind in Europa die Staatsschulden-Aufnahmen bei Kapitalisten Brauch geworden. Dieser Herrscher hinterließ seinem Nachfolger in Spanien 117 Millionen Mark Schulden. Bei dem Tode Philipp II. war dieser Schuldbetrag schon auf 585 Millionen Mark gestiegen, trotz seines dreimaligen schonungslosen Staatsbankerotts. Karl V. und Philipp II. verkauften auch eigenmächtig die Gemeindeländereien mit den freien Bauerngemeinden als Leibeigene an den Meistbietenden. Schon 1506 war mit dem Verkauf der Staatsstellen und der Adelsprivilegien begonnen worden. 1613 wurden auch die Richterstellen käuflich. 1560 blieb Philipp II. seinen Beamten die Gehälter auf zwei Jahre schuldig. Das Gleiche geschah nicht minder häufig den Söldnerheeren. Gelegentlich wurden die Geldbeträge, welche aus den Kolonien an die spanischen Kaufleute und Fabrikanten gezahlt wurden, bei ihrer Ankunft im spanischen Hafen vom König weggenommen. Philipp II. hat sogar das Vermögen milder Stiftungen kurzer Hand in die Staatskasse gleiten lassen. Dabei wurden in den 14 Jahren vor dem zweiten Staatsbankerott Philipps II. die Steuersätze der Alkabala um das vierfache erhöht. Wer im Jahre 1594 1000 Dukaten in einem geschäftlichen Unternehmen in Spanien angelegt hatte, mußte davon 300 Dukaten pro Jahr Steuer zahlen. § 113. Wie die Könige hausten, so hausten natürlich auch die Beamten. Alles war in Spanien bestechlich und käuflich. Die Fugger beschenkten die Beichtväter des Königs Philipp II. mit 4000 Dukaten, um deren Fürsprache für Bezahlung ihrer Ausstände beim Könige zu erhalten. Die berühmtesten Heerführer haben sich in der ungerechtesten Weise schwer bereichert. Die Richter pflegten bei ihrer Urteilsfindung durch Geldstrafen sich bezahlt zu machen. Die Verwaltungsbeamten verkauften die Gemeindewaldungen wie ein Stück ihres Privateigentums. Die Zollbeamten, Steuerbeamten und Steuerpächter erhoben mehrmals die nur einmal fällige Steuersumme und berechneten dabei so ungeheuere Erhebungskosten, daß der Krone häufig nur der zehnte Teil des Gesamtsteuerertrages übrig blieb. In einem Falle soll sogar die Erhebung von 3 1⁄2 Millionen Dukaten 6 1⁄2 Millionen Dukaten Unkosten bereitet haben. Und wie schonungslos wurden die Steuerrückstände eingetrieben! Als bei Zwangsversteigerungen bäuerlicher Anwesen sich keine Kauflustigen fanden, haben die Steuerbeamten die Bauernhäuser für ein paar Pfennige auf Abbruch verkauft. Nur so wird es begreiflich, daß es ratsamer war, sein Schiff auf einem Felsen auflaufen zu lassen, als in einem spanischen Hafen Zuflucht zu suchen. Die Cortes haben schon 1579 geklagt: „Die Steuerlasten haben unsere Industrie ruiniert, den Arbeitern ihre Beschäftigung geraubt, Frauen und Mädchen haben sie in Dirnen gewandelt, Männern ihren Besitz genommen, die dann Weib und Kind verlassen haben, und die Zahl der Bettler hat zugenommen, wie nie zuvor.“ Aber die spanischen Könige hörten nicht auf solche Klagen. § 114. Die systematische Vernichtung des heimischen Getreidebaues und des bäuerlichen Wohlstandes hatte einen Mangel an Brotgetreide bewirkt. Dadurch waren die Getreidepreise gestiegen. Auch die Arbeitslöhne mußten dann erhöht werden, weil die Kosten der Lebenshaltung entsprechend teurer geworden waren. Dazu kam noch die ungeheuere Belastung der Produktion und des Verkehrs durch die Steuern und durch die Staatsbeamten. Die Kosten der gewerblichen Produktion haben sich so nach und nach in Spanien 3- und 4fach höher gestellt, als beispielsweise in Frankreich, Holland und in Norditalien. Im Jahre 1549 hatte die spanische Tuchfabrikation schon eine solche Blüte erreicht, daß einzelne Unternehmer 200 bis 300 Heimarbeiter beschäftigten. In dem Maße, als sich unter der Einwirkung der vorgenannten Einflüsse die Erzeugungskosten in Spanien steigerten, erhöhten sich natürlich auch die Verkaufspreise für die gewerblichen Produkte. Und damit wurden die französischen, englischen und holländischen Schmuggler nach den spanischen Kolonien geradezu herangezüchtet, bis eines Tages die spanischen Tuche in den Kolonien unverkäuflich waren. Aber auch in Spanien selbst klagte man über den viel zu hohen Preis der gewerblichen Produkte. Anstatt nun dem Uebel auf den Grund zu gehen und die tiefer liegenden Ursachen desselben zu beseitigen, trieb jetzt auch Spanien wieder einmal eine kurzsichtige Augenblickspolitik. Um die Preise der zu teueren gewerblichen Produkte zu ermässigen, wurde die Ausfuhr derselben verboten und ihre Einfuhr vom Auslande gestattet. Damit aber das Geld nicht noch mehr nach dem Auslande abflösse, sollte die ausländische gewerbliche Einfuhr mit spanischen Rohprodukten bezahlt werden. Die Ausfuhr von Rohmaterial wurde also entsprechend erleichtert. Die spanische Wollausfuhr im XVII. Jahrhundert stieg wieder. Man glaubte sogar noch recht klug gehandelt zu haben, daß man die anscheinend unhaltbar gewordene heimische Industrie ganz fallen ließ, um sich wenigstens den Absatz fremder gewerblicher Erzeugnisse nach den eigenen Kolonien zu sichern. Der Import nach Sevilla stieg von 1520—1595 um das 14fache. Dem Zusammenbruch des Getreidebaues und des bäuerlichen Wohlstandes war nun auch die Vernichtung der heimischen Industrie gefolgt und nur der Exporthandel erreichte noch eine kurzlebige Scheinblüte. § 115. Indeß deuteten alle Anzeigen darauf hin, daß die spanisch – habsburgische Macht rasch ihrer Auflösung entgegengehe. 1596 überfiel eine englische Flotte den Haupthafen Kadix, plünderte ihn und kehrte mit reicher Beute nach England zurück. 1609 mußte Philipp III. wohl oder übel die Unabhängigkeit der abgefallenen nördlichen Provinz der Niederlande in einem zwölfjährigen Waffenstillstand vorläufig anerkennen. Die französischen, englischen und holländischen Kaperschiffe und Kreuzerflotten brandschatzten den spanischen Handel und die spanischen Kolonien seit Ende des XVI. Jahrhunderts dauernd, mit wachsendem Erfolge und ohne Rücksicht auf in Europa abgeschlossene Friedensverträge. Aber auch in den übrigen Teilen der spanischen Monarchie gährte es in recht bedenklicher Weise. Im Königreich Neapel und Sizilien war die geforderte Staatssteuer von 10 Millionen Mark im Jahre 1558 auf fast 30 Millionen Mark im Jahre 1620 gestiegen. Dazu kamen die furchtbaren Erpressungen der spanischen Beamten. Der ausgebrochene Volksaufstand konnte nur mit Mühe und kluger Nachgiebigkeit unterdrückt werden. In dem gewerbereichen Katalonien war noch bis ins XVII. Jahrhundert aus früherer Zeit eine freiere Verfassung als in Kastilien erhalten geblieben. Philipp IV. (1621—65) machte den Versuch, auch hier den strengen Absolutismus, namentlich auf dem Gebiete der Steuerverfassung, durchzuführen, worauf Katalonien mit einem Aufstand antwortete, der 12 Jahre lang dauerte und an welchem die französische Regierung mit beteiligt war. Schließlich wirkte die Drohung der Aufständigen, sich dem benachbarten Frankreich anzuschließen. Die spanische Krone gab nach und die Katalonier behielten ihre alte Freiheit. Zur gleichen Zeit mußte ein Aufstand in Andalusien unterdrückt werden. Portugal, das von Philipp II. 1580 dem spanischen Reiche einverleibt war, sah sich in seinen kolonialen Interessen durch die Verwickelung in die spanischen Kriege so geschädigt, daß es im Jahre 1640 zu einer portugiesischen Volkserhebung gegen Spanien kam. Unter Beihilfe von England und Holland gelang es Portugal, wieder selbständig zu werden. Unter solchen Umständen und Schwierigkeiten war in den Jahren 1627 bis 1632 die staatliche Münzprägung bei der Kupferwährung angekommen. Für Silber mußte 1651 ein Agio von 50 Prozent bezahlt werden. Der westfälische Friede in Deutschland war 1648 zu Stande gekommen, weil die Machtmittel des spanisch-habsburgischen Weltreichs verbraucht waren. Das mächtige Frankreich führte seinen 1643 begonnenen Krieg gegen Spanien weiter und ist 1659 im pyrenäischen Frieden, trotz wichtiger Gebietserwerbungen nur deshalb zum Ausgleich bereit, weil die Entscheidung über die spanische Erbfolgefrage bereits in sichtbare Nähe gerückt war. 1673 konnte die spanische Krone eine neue Anleihe nur gegen das Versprechen von 40 Proz. Zinsen aufnehmen. Die Bevölkerung Spaniens war von 1550—1700 fast um die Hälfte gesunken. Als im Jahre 1700 der letzte Habsburger auf dem spanischen Throne, Karl II. gestorben war, konnte der spanischen Staatskasse nicht einmal das zur Deckung der Beerdigungskosten nötige Geld entnommen werden. § 116. All jene persönlichen Momente, welche im spanischen Erbfolgekriege eine mehr oder minder große Rolle gespielt haben, sind für die Entwickelung der spanischen Volkswirtschaft ohne Bedeutung. Es genügt aus den Friedensschlüssen von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) festzustellen, daß einem Prinzen aus dem französischen Königshause der Bourbonen als Philipp V. die spanische Königskrone mit den spanischen Kolonien blieb, daß England von Spanien Gibraltar und die Insel Minorca nahm, Savoyen von Spanien die Insel Sizilien erhielt und die noch spanischen Niederlande mit Neapel, Sardinien und Mailand an das habsburgische Herrscherhaus in Oesterreich gefallen sind. Spanien, das mit 1648 aufgehört hatte, für die Selbstständigkeit der übrigen europäischen Staaten eine bedrohliche Macht zu sein, war von jetzt ab dem Einfluß der französischen Könige unterstellt. In Nachahmung französischer Einrichtungen wurde namentlich die Steuererhebung vereinfacht und das Tabaksmonopol eingeführt. Den von den Habsburger Vorgängern aufgenommenen Staatsschulden wurde die Anerkennung versagt. Auf solche Weise verbesserte sich für die nächsten Jahre die finanzielle Lage. Weil aber in Madrid auch die luxuriöse Hofhaltung der französischen Könige nachgeahmt wurde, sollen jetzt diese Kosten gegenüber dem Verbrauchsbedarf des letzten Habsburgers um mehr als das dreifache gestiegen sein. Neue wachsende Schuldenaufnahmen ließen deshalb nicht lange auf sich warten. 1553 versuchte man durch ein Konkordat die Geldbezüge der Kurie aus Spanien zu beschränken, und 1767 begann die Säkularisation der Kirchengüter, welche bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Immerhin wurde dadurch die Zahl der selbständigen bäuerlichen Stellen vermehrt, wie die Bourbonen überhaupt durch Erleichterung des Getreideverkehrs im Lande und durch Errichtung von Getreidemagazinen in vorgeblich 5000 Städten und Plätzen die bis dahin so ungünstige Getreidepreisbewegung zu sanieren bemüht waren. Das von den konkurrierenden Ländern längst mit Gewalt durchbrochene Handelsmonopol Spaniens mit seinen Kolonien erhielt jetzt auch formell von seiten des Staates wesentliche Aenderungen. 1702 wurde der französischen Guinea-Kompagnie das Recht der Einfuhr von Negersklaven nach Amerika (sogenannter Asiento-Vertrag) übertragen, das durch Vertrag von 1713 dann die Engländer erhalten haben. Weil jedoch binnen wenigen Jahren jetzt England den Handel mit den spanischen Kolonien zum größten Teil an sich zu reißen wußte, wurde 1750 dieser Asiento-Vertrag mit England wieder aufgehoben und so wenigstens die Bevorzugung Englands Frankreich und Holland gegenüber beseitigt. Die finanzielle Ohnmacht des Mutterlandes, der wachsende Handel anderer Länder mit den Kolonien und die dauernden kriegerischen Angriffe, namentlich von englischer Seite, mußten übrigens bald zu einer prinzipiellen Aenderung in dem Verhältnis der Kolonien zum Mutterlande führen. Schon der Minister Aranta legte 1783 Karl III. den Plan vor, die Kolonien durch Umwandelung in drei Königreiche zu verselbständigen, und diese Königskronen spanischen Prinzen zu übertragen. Der bereits drohende Sturmwind der großen französischen Revolution ließ indeß solche Neugestaltung nicht zu. Während der napoleonischen Kriege war die Abfallbewegung in den Kolonien bereits im vollen Gange. Bald gehörte Spanien nur noch ein kleiner Rest seiner früheren Kolonialreiche, der inzwischen von den Vereinigten Staaten von Nordamerika annektiert worden ist. Heute ist Spanien wieder dort angelangt, wo es im Jahre 1492 stand. Es ist hinsichtlich seines Unterhaltes auf seine eigene produktive Arbeit im eigenen Lande angewiesen. Die inzwischen verflossene Entwicklung hat die Lösung dieses Problems außerordentlich erschwert. Die Verfassung vom Jahre 1812 berief zur Mitregierung ein Volk, das heute noch zu 65 bis 90% weder lesen noch schreiben kann. Die unter solchen Umständen natürliche absolutistische Reaktion hat Spanien in Parteien zerrissen, zu lange dauernden Bürgerkriegen geführt und die finanzielle Misère bis zu dem Grade anwachsen lassen, daß die Staatsbankerotte in den Jahren 1820, 1834, 1851, 1867, 1873, 1877, 1882, 1898 einander ablösten. Das spanische Volk hat durch 3 Jahrhunderte die furchtbare Last des kapitalistischen Absolutismus getragen, ohne jenen Grad des Fortschritts seiner kulturellen und zivilisatorischen Verhältnisse zu erreichen, der zur gedeihlichen Fortentwickelung unter einer konstitutionellen Verfassung unentbehrlich ist. § 117. Die Entwickelung der wirtschaftlichen wie der politischen Verhältnisse in dem insularen England haben durch das Domesday-Book Wilhelms des Eroberers von 1086 eine ganz eigenartige Richtung erhalten. Das erste Grundbuch des christlichen Abendlandes hielt die Rechte des Königs, seiner Vasallen, deren Afterbelehnten, wie der wenigen Vollfreien an Grund und Boden in schriftlicher Aufzeichnung fest. Das war zweifelsohne in erster Linie im Interesse der königlichen Gewalt geschehen. Eine schrittweise Enteignung der Kronrechte durch gewohnheitsrechtliche Verschiebungen, wie sie die deutsche Kaiserkrone namentlich vom IX. bis zum Ausgang des XIII. Jahrhunderts erfahren hat, eine allmähliche Aufteilung der Reichseinheit in viele kleinere und größere Herrschaftsgebiete, wie das sonst überall in der Entwickelungsepoche des Lehensstaates zu beobachten ist, wurde durch dieses Domesday-Book verhütet. Die Nachfolger Wilhelms des Eroberers auf dem englischen Königsthrone blieben reiche und mächtige Herren. Aber diesen Lichtseiten stehen ganz bestimmte Schattenseiten gegenüber. Die Raubgier der Großen, welche in jenem lehensstaatlichen Zeitalter sich sattsam geltend machte, war durch dieses Grundbuch auf dem beliebtesten Gebiete der nachbarlichen Fehde an den Willen des Königs gebunden. Denn hier in England war nicht die Gewalt schlechthin und die dadurch bedingten tatsächlichen Besitzverhältnisse, sondern das Domesday-Book und die königlichen Urkunden das Entscheidende über die Rechtsverhältnisse an Grund und Boden. Die einmal vorhandene gewalttätige Erwerbssucht der Großbarone mußte deshalb an anderer Stelle ihren Ausgang suchen und sie fand ihn im Kampf um den Königsthron selbst, wie in den Eroberungskriegen in Frankreich. Wer von den Großbaronen auf Seiten eines siegreichen neuen Thronbewerbers stand, durfte sicher sein, aus den Güterkonfiskationen der unterlegenen Partei durch seinen König neu belehnt und so entsprechend reich und mächtig zu werden. Kein Königsthron im christlichen Europa ist deshalb so oft vom offenen Aufruhr innerhalb der Königsfamilien umtobt und so häufig mit Blut der Königsfamilie befleckt worden, wie der englische Thron. Schon Wilhelm der Eroberer mußte gegen seinen eigenen Erstgeborenen das Schwert ziehen. Heinrich I., der jüngste Sohn des Eroberers, kämpfte gegen seinen Bruder. Von 1135—1144 dauern dann fast ununterbrochene Kämpfe neuer Bewerber um die Königskrone. Gegen Heinrich II. (1154—89) wurden seine Frau und seine Söhne rebellisch. Richard I., Löwenherz genannt, wurde während seiner Abwesenheit im gelobten Lande von seinem Bruder Johann ohne Land (1199—1216) verdrängt, der wieder seinen Neffen, den eigentlichen Thronerben, durch Mord beseitigen ließ. Und so geht es als Regel in der englischen Geschichte fort, bis mit Wilhelm III., dem Oranier, (1689—1702) endlich Recht und Friede auf dem englischen Königsthrone und in der englischen Königsfamilie einkehren. So war durch das Domesday Book für 600 Jahre die Krone Englands der Preis für den gewalttätigsten, kühnsten und rücksichtslosesten Thronbewerber geworden. Die englische Königsgeschichte zeigt bis zu Wilhelm dem Oranier unter allen Königreichen des christlichen Abendlandes die weitaus größte Zahl schonungsloser Despoten. Das veranlaßte wieder die Großen des Reiches, ihrerseits eine Verteidigungsstellung den königlichen Tyrannen gegenüber zu gewinnen. Solche Erfolge konnten namentlich dann errungen werden, wenn die Macht des neuen Throninhabers noch wenig im Lande befestigt war, oder wenn finanzielle oder politische Schwierigkeiten den König zu einem Ausgleich mit den Volksrepräsentanten nötigten. So kamen bald immer neue schriftliche Vereinbarungen über die Rechte des Königs und die Rechte der Volksrepräsentanten, zwischen den Magnaten und dem Kronträger zustande, aus denen nach und nach die berühmte englische Verfassung herausgewachsen ist. Das Domesday-Book war der eigentliche Ausgangspunkt derselben. Als Vorlage diente zunächst das vorgeblich zur Zeit der Angelsachsen geltende Recht. § 118. Die Hauptetappen dieses stufenweisen Aufbaues der englischen Verfassung sind folgende: 1. Heinrich I. (1100—1135) vereinigte wieder die Normandie mit England und gab als Dank für die Unterstützung, welche er von der angelsächsischen Bevölkerung erfahren hatte, eine Charta libertatum, in welcher er versprach, sich tyrannischer Ausschreitungen zu enthalten. 2. Heinrich II. (1154—1189), welcher durch Erbschaft und Heirat England und mehr als die Hälfte von Frankreich beherrschte, kam mit seinem Kanzler, dem Erzbischof Thomas Becket von Kanterbury in Streit über die Abgrenzung der Rechte zwischen Staats- und Kirchengewalt, woraus ein Streit zwischen dem König und dem Papst Alexander III. geworden ist. Die Rechte der Geistlichkeit in England wurden beschränkt, die weltlichen Großen, auf welche der König in diesem Streite sich stützte, erhielten einen gewissen Anteil an seinem autokratischen Regiment, die Charta libertatum Heinrichs I. wurde bestätigt. 3. Johann ohne Land (1199—1216) kam in Streit mit dem König Philipp II. von Frankreich und dem Papste Innocenz III. Er verlor an die französische Krone fast alle seine Besitzungen in Frankreich bis auf Guyenne. Vom Papste in den Bann getan und als abgesetzt erklärt, rettete er für sich die englische Krone nur dadurch, daß er dieselbe als päpstliches Lehen annahm (1213). Das Ansehen des Königs wurde durch all’ diese Ereignisse natürlich geschwächt. So benutzten denn die Großen des Reiches diesen Zeitpunkt, um bewaffnet nach der Wiese von Runnemede bei Windsor zu ziehen, um hier in dreitägigen Verhandlungen mit dem Könige den großen Freiheitsbrief, die magna charta libertatum (1215) zu erwirken. Ihr Inhalt ist im wesentlichen folgender: In Geldsachen wurde die Macht des Königs eingeschränkt durch Fixierung des bei Handänderungen fälligen Lehnsgeldes auf einen mäßigen Satz, durch Beschränkung des königlichen Steuererhebungsrechtes auf die Fälle der Auslösung des Königs aus der Gefangenschaft, des Ritterschlages seines Sohnes und der Verheiratung seiner Tochter. Alle anderen außerordentlichen Steuern sollten nur nach Zustimmung der Reichsversammlung der Prälaten und Barone erhoben werden. Durch ausdrückliche Befreiung der Stände und selbst der Ausländer von ungesetzlichen Abgaben, durch Verzicht des Königs auf jene Gelder, welche bis dahin dem obersten königlichen Gerichtshof für günstige Urteile bezahlt wurden, und durch Befreiung des Geschäftsverkehrs von unnötigen Spesen, infolge Einführung einheitlicher Maße und Gewichte wurde der Verkehr erleichtert. Die persönlichen Rechte der Untertanen des Königs wurden gebessert durch Befreiung von der königlichen Zustimmung bei Verheiratungen der Kinder der Lehnsmänner, durch das Recht einer Ablösung der Verpflichtung der Kriegsfolge für Lehnsleute mittels Zahlung einer bestimmten Summe (scutagia) und durch die Zusage, daß kein Freier ohne richterliches Urteil bestraft oder verhaftet werden soll. Endlich wurde zur Garantie der Einhaltung dieser Vertragsbestimmungen ein besonderes Widerstandskomité eingesetzt: 25 Barone, darunter der Lordmajor von London, sollten die Handlungen des Königs überwachen. Falls der König einen Artikel des Freiheitsbriefes verletzte, hatten je vier Mitglieder des Komités das Recht, beim Könige Abhilfe zu beantragen. Und falls diese verweigert wurde, war die Gesamtheit der Grundbesitzer ermächtigt, den Besitz und das Vermögen des Königs zu pfänden, ausgenommen die Person des Königs, der Königin und ihrer Kinder. 4. König Heinrich III. (1216—1272) erregte durch Begünstigung von Ausländern, durch Zulassung einer umfassenden päpstlichen Besteuerung, wie durch seine eigene sinnlose Verschwendung eine steigende Unzufriedenheit der Magnaten, welche den König besiegten, gefangen nahmen und durch ein von den Magnaten berufenes Parlament für abgesetzt erklärten. Die Tatkraft und Energie seines Sohnes Eduard brachte dem Vater zwar die Krone wieder zurück, er bestätigte aber jetzt die magna charta und fügte eine charta de foresta hinzu, welche die königlichen Forstrechte beschränkte. Besonders bemerkenswert war bei all diesen Vorgängen noch, daß in jenes Parlament, welches über den König zu Gericht saß, von den Magnaten aus jeder Grafschaft 2 Ritter und je 2 Bürger aus einer Reihe von Städten berufen worden waren. Diese beiden Interessengruppen haben später das Unterhaus gebildet im Gegensatz zu dem Oberhaus der Magnaten. 5. Die fortwährenden Kriege Eduards I. (1272 bis 1307) gegen Schottland und Wales ließen die Krone in ernste finanzielle Bedrängnis kommen. Dies benutzten die Barone, um 1297 durch Eduard I. eine Neubestätigung der Magna charta zu erlangen und die Berufung von Grafschaftsrittern und Städtevertretern in das Parlament mit Steuerbewilligungsrecht gesetzlich festzulegen. 6. Unter Eduard III. (1327—1377), welcher 1328 die Magna charta bestätigte und das gesetzliche Zugeständnis machte, daß keiner seiner Untertanen zum Kriegsdienst außer Landes verpflichtet sei, vollzog sich die formelle Trennung von Ober- und Unterhaus. In das Jahr 1339 fällt der erste große englische Staatsbankrott. Heinrich IV. (1399—1413) war bereits bei seinen steten Kämpfen gegen den Adel vom Unterhause zu einer fast modernen parlamentarischen Regierung genötigt. 7. Karl I. (1625—1649) mußte sich Geldverlegenheiten halber 1628 dazu verstehen, dem Parlament die „Petition of right“ (Bitte um Recht), zu genehmigen, wodurch jede willkürliche Besteuerung auch in der Form einer Zwangsanleihe und jede Verhaftung ohne Grundangabe gesetzlich verboten war. 8. Karl II. (1660—1685) und das ihm ergebene Ministerium begannen unter dem Einfluß reichlicher Jahresgelder, welche der französische König Ludwig XIV. gewährte, den katholischen Glauben wieder einzuführen, trotz der seit 1533 bereits bestehenden Trennung Englands von Rom. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung wie unter dem Einfluß des großen englischen Staatsbankrottes von 1672 setzte das Parlament 1673 die „Test-Akte“ (Gesetz über den Probeeid) durch, welche jeden Engländer, der ein staatliches Amt bekleiden wollte, zur eidlichen Anerkennung des kirchlichen Supremates des Königs und zu einer eidlichen Erklärung gegen die katholische Abendmahlslehre zwang. 9. Der heftige Streit zwischen Krone und Parlament forderte und erreichte 1679 unter Karl II. (1660—1685) die „Habeas corpus - Akte, “ welche die Haftausdehnung ohne Urteil verhinderte und die Freilassung aus der Haft gegen Bürgschaftszahlung einführte. 10. Als alle Versuche einer Verständigung mit der katholischen Linie der Stuarts fruchtlos schienen, trat das Parlament mit dem holländischen Statthalter Wilhelm von Oranien — nachmals Wilhelm III. — welcher mit des Königs protestantischer Tochter Maria aus erster Ehe vermählt war, in Unterhandlung wegen Uebernahme der englischen Königskrone. Wilhelm wurde von seinem Oheim, dem großen Kurfürsten von Brandenburg, durch brandenburgische Truppen unterstützt. Die Rechte der Krone, wie die des Parlamentes, bildeten den Inhalt eines besonderen Vertrages, Bill of rights (Gesetz der Rechte) von 1689. Dieses Gesetz der Rechte umfaßt alle Verfassungsbestimmungen, welche bis dahin Gegenstand von Verhandlungen zwischen Krone und Volksvertretung gewesen waren. 11. Da dieser Wilhelm III. (1689—1702) kinderlos blieb, wurde durch die „Akte of Settlement“ (Heimfallgesetz) von 1701 das Thronfolgerecht auf das protestantische Haus Hannover übertragen. 12. Bei dem Regierungsantritt Georgs III. (1760) wurden von Seiten der Krone die erblichen Einkünfte aus den Erträgnissen der Kron-Domänen, wie auch die Accise auf Salz, Branntwein etc., welche an Stelle der lehensrechtlichen Abgaben getreten waren, der Staatskasse übertragen und dagegen vom Parlament eine bestimmte Geld-Summe, die sogenannte Civilliste, für den König ausgesetzt. Der parlamentarische Charakter der englischen Staatsverfassung war damit im wesentlichen zum Abschluß gekommen. § 119. Welche wirtschaftlichen Veränderungen haben nun diese Verfassungsentwickelung herbeigeführt? Der König von England war durch Wilhelm den Eroberer ein reicher und mächtiger Herr geworden. Der prinzipiellen Rechtsauffassung nach gehörte der gesamte Grundbesitz des Landes dem König. Eine Reihe großer Domänen blieben in der Hand des Herrschers. Der übrige Grund und Boden aber wurde zu Lehnsrecht vergeben, aber bis zu dem Grade an die Krone gebunden, daß selbst die Afterbelehnten dem König persönlich den Eid der Treue schwören mußten. Der König von England verfügte über das Einkommen aus seinen Domänen, über die lehensrechtlichen Gefälle und Gerichtsgelder, über die Zölle der Ein- und Ausfuhr, worunter Wein und Wolle von Alters her hervorragten, über außerordentliche Gelder, wie zum Feste des Ritterschlages eines seiner Söhne, der Verheiratung einer seiner Töchter, wie im Falle einer Auslösung des Königs aus feindlicher Gefangenschaft. Hierzu kamen eine Steuer auf das bewegliche Vermögen, Hilfsgelder der Städte, und endlich das Schildgeld der Lehnsmannen (Scutagia), das seit Heinrich II. (1154 bis 1189) den englischen Lehnsleuten gestattete, sich von der Dienstpflicht im Lehnsheere loszukaufen. Heinrich II. nannte neben England noch mehr als die Hälfte von Frankreich sein eigen und war bereits Lehnsherr der Krone von Schottland und Irland geworden. Söldnerheere hatten sich schon damals im Kriege besser bewährt als das Aufgebot der Lehnsleute. Die Interessen des Königs und der englischen Ritter, welche nicht außerhalb ihres Heimatlandes kämpfen wollten, trafen so in diesem Loskauf vom Lehnsdienst durch Zahlung einer bestimmten Geldsumme zusammen. Die Getreidepolitik dieser Epoche kannte nur den Grundsatz der Brodversorgung im eigenen Lande. Die Getreideausfuhr war prinzipiell verboten und wurde nur in außerordentlichen Fällen bei Hungersnot nach den Ländern eines befreundeten Fürsten gestattet. Selbst von Grafschaft zu Grafschaft war der Getreideverkehr gehemmt, was übrigens bei den außerordentlich schlechten Wegeverhältnissen nur wenig empfunden wurde. Die Bewegung der Brotpreise war seit 1266 durch eine Brottaxe in der Weise an den Getreidepreis gebunden, daß den Bäckern nur ein Zuschlag von 13% zum Getreidepreis gestattet wurde, welche Bestimmung bis 1758 in Kraft geblieben ist. Die Geldverhältnisse wurden 1190 durch Richard I. (Löwenherz) geordnet, als England begann, in die europäische Kreuzzugsbewegung einzutreten, und zwar durch Einführung der karolingischen Münzordnung. Das Pfund Silber gab 20 s. gleich 240 Pf. Aus Deutschland bezogene Münzmeister haben diese Silbermünzen in deutscher Reinheit geprägt, für welche sich das Wort Easterling, das ist Ostländer, — Münzen, welche durch die Hanse vom Osten gekommen sind — gebildet hat. Sterling-Silber und Pfund Sterling, eine Goldmünze, welche den Wert von 20 Schillingen hat, sind bekanntlich heute noch in England gebräuchliche Ausdrücke. Der steigende Luxus am Hofe und die fortwährenden Kriege mit ihren wachsenden Ausgaben für die Söldnerheere haben bald bei den englischen Königen den Mangel an Geld empfindlicher hervortreten lassen. Die Sätze der Geldsteuern wurden daher erhöht, die Umwandlung der Naturalleistungen in Geldleistungen allgemein begünstigt. Die Einnahmen aus dem Schildgelde erlangten eine besondere finanzielle Bedeutung. In gleichem Maße wuchs aber auch die Anteilnahme des Parlaments an den Staatsfinanzen. Es kam zur Trennung des Ober- und Unterhauses, zum Ausbau der Selbstverwaltung im Lande. 1237 wurde die Verwendungskontrolle für die vom König ausgegebenen Staatsgelder eingeführt. Man wollte nicht nur mit entscheiden über die Höhe der Geldsummen, welche dem Könige zur Verfügung standen, man wollte sich auch vergewissern, für welche Zwecke sie Verwendung fanden. Das Jahr 1297 brachte das allgemeine Steuerbewilligungsrecht des Unterhauses, das zunächst selbst die Zölle nur immer auf 2 Jahre bewilligte. § 120. Diese gewaltige Einschränkung der königlichen Machtvollkommenheit mußte die Krone in der Erschließung neuer selbständiger Geldeinnahmen erfinderisch machen. Da waren die päpstlichen Kreuzugssteuern, welche aus dem Volke wie aus dem Klerus große Summen herauszuziehen verstanden. Je eifriger die Könige diese Steuererhebung begünstigten, desto sicherer durften sie darauf rechnen, vom Papste mit einem höheren Prozentsatz dieser Einnahmen belohnt zu werden. Die engeren persönlichen Beziehungen der englischen Könige zum Papste, als ihrem Lehensherrn, erleichterten noch diese Art von Geldgeschäften. Da waren ferner die päpstlichen Bankiers aus Oberitalien, welche die Erträge der Kreuzugssteuern für die Kurie vereinnahmten und auf den Domänen der Krone, des Adels und der Kirche die feine englische Wolle kauften. Von diesen reichen Herren konnten die englischen Könige große Geldsummen borgen gegen Verpfändung künftiger Einnahmen, zu Wucherzinsen natürlich. Aber für den Augenblick war dadurch die Lage der königlichen Finanzen doch gebessert. Eine Zeit lang konnte man sogar die alten Schulden durch neue Schuldaufnahmen zahlen, bis 1339 der erste große Staatsbankrott unvermeidlich war. Als 1345 Eduard III. seine neuerlichen Schuldversprechungen nicht einhielt, wurde das florentiner Bankhaus Bardi & Peruzzi bankrott. Was kümmerte das den König von England? Da waren endlich fremde Warenhändler, deren Aufenthaltsrecht in England beschränkt war, deren nach den englischen Märkten einmal zugeführte Waren nicht mehr exportiert werden durften und die des öfteren gern englisches Getreide ausgeführt hätten, wenn das königliche Getreide-Ausfuhrverbot nicht hindernd im Wege gestanden wäre. Auch diese Verhältnisse boten dem König neue Einnahmequellen außerhalb des parlamentarischen Bewilligungsrechtes. Eduard I. (1272—1307) zögerte nicht, sich dieselben zu erschließen. Von 1297 ab wurden gegen entsprechend hohe Zahlungen königliche Lizenzen zur Ausfuhr von Getreide gewährt. Durch die Charta mercatoria wurde die bis dahin beschränkte Bestimmung der Aufenthaltsfrist, wie auch das Ausfuhrverbot eingeführter Waren für die fremden Kaufleute aufgehoben und eben diesen fremden Kaufleuten allgemein die königliche Lizenz zur Getreideausfuhr gewährt. Die Gegenleistung der fremden Kaufleute bestand in der freiwilligen Zahlung eines höheren Ein- und Ausfuhrzolles an den König, als gesetzlich gefordert war. Dieser Zollzuschlag erreichte bei den damals wichtigsten Ausfuhrartikeln: Wolle und Leder 50 Proz. des gesetzlichen Zollsatzes. Außerdem fanden sich die fremden Kaufleute bereit, dem König gelegentlich mit größeren Darlehen auszuhelfen, welche als Vorschüsse auf ihre Zollzahlungen betrachtet und dadurch abgetragen wurden. Die drei ersten Eduards (1272—1377) haben an dieser Begünstigung der fremden Kaufleute festgehalten. Das war der eigentliche Boden, auf dem die Geschäfte der deutschen „Hanse“ im Stahlhof zu London gegründet wurden. § 121. Namentlich zwei Ereignisse haben in dieser Zeit einen tiefgreifenden Einfluß auf die weitere Entwickelungsgeschichte Englands gewonnen: der mehr als 100jährige Krieg mit Frankreich (1340—1453) und der schwarze Tod in England (1348/49, 1361/62, 1368/69 und folgende Jahre). Seit Wilhelm dem Eroberer herrschte der König von England auch über ein gutes Stück von Frankreich (Normandie). Heinrich II. hatte mehr als das halbe Frankreich unter seinem Szepter vereinigt. Unter dem schwachen Johann ohne Land ging dann fast alles wieder verloren. Es lag nahe, daß tatkräftige englische Könige bei sich bietendem Anlaß auf die alten Traditionen zurückgreifen würden. Eine solche Gelegenheit bot sich dem energischen Eduard III., Sohn einer Tochter des französichen Königs Philipps IV. Das alte französische Königsgeschlecht der Capetinger hatte 1328 keine männlichen Erben mehr. Es folgte deshalb das Haus Valois als Nebenlinie der Capetinger: Philipp VI. wurde König von Frankreich. Ihm gegenüber erhob Eduard III. Ansprüche auf den französischen Thron. So kam es 1340 zur Eröffnung des Krieges. Die englischen Söldnerheere, mit Geschützen ausgerüstet, siegten glänzend über die veralteten Lehensheere der Valois (bei Crecy 1346, bei Maupertuis 1356). Die Engländer machten ungewöhnlich reiche Beute. Die großen Geldbeträge, welche zur Auslösung der Mitglieder der ersten Adelsfamilien aus englischer Gefangenschaft aufgebracht werden mußten, ließen in Frankreich das Geld so rar werden, daß dort der Zinsfuß auf 80 Proz. stieg, die kurz vorher vertriebenen Juden ins Land zurückgerufen und mit neuen Privilegien ausgestattet wurden. Weil aber jetzt der französische Adel von der ihm abhängigen Bauernschaft so viel Geld als möglich auszupressen bemüht war, kam zu den Niederlagen der französischen Waffen und zu einem politischen Aufstand in Paris auch noch der große französische Bauernaufstand von 1358, welcher erst unter Mithilfe der englischen Ritter niedergeworfen wurde. Unter solchen Umständen wurde der Friede von Bretigny (1360) geschlossen, durch welchen Eduard III., gegen Verzicht auf die französische Krone, Poitou, Guyenne und Gascogne als unabhängigen Besitz erhielt. Aber Karl V. (1364—1380), der Weise, von Frankreich begann von neuem den Krieg mit England und zwar nicht mit einem Lehnsheere, sondern mit Söldnern. England war inzwischen (1348/49, 1361/62 und 1368/69) von der Pestseuche heimgesucht worden. Dazu kamen Kriege mit den aufständischen Schotten, welche mit Frankreich verbündet waren, neue Kämpfe innerhalb der englischen Königsfamilie und zwischen den Großen des Reiches, Streit mit den Päpsten in Avignon, die Wiclif’sche Reformationsbewegung und endlich auch der große englische Bauernaufstand unter Wat Tyler (Walter, dem Ziegelbrenner) 1381. Das war etwas viel in kurzer Zeit. Die hinhaltende Kriegführung des französischen Söldnerführers ließ es zu keiner entscheidenden Schlacht kommen. Trotzdem das Parlament 1377 die allgemeine Wehrsteuer genehmigte, konnten bei der ungünstigen finanziellen Lage der Krone und nach den vorausgegangenen Staatsbankerotten Stockungen in den Soldzahlungen des englischen Heeres nicht ausbleiben. So wurden bis 1388 nach und nach die meisten englischen Eroberungen wieder mit der französischen Krone vereinigt. § 122. Dann folgte abermals eine Wendung zu Gunsten Englands. Der neue französische König Karl VI. (1380—1422) verfiel in Wahnsinn. Es bildeten sich zwei Parteien unter dem französischen Adel, von denen die Feudalpartei des Herzogs von Burgund sich hinreißen ließ, mit dem König von England Beziehungen anzuknüpfen, um mit seiner Hilfe die verhaßten Gegner niederzuschlagen. In England opferte Heinrich V. dem Frieden mit dem Volke und mit der Geistlichkeit die Anhänger Wiclifs. Bei Azincourt stand 1415 abermals den englischen Söldnern ein französisches Feudalheer gegenüber. Unter den 10'000 gefangenen Franzosen fielen 8000 Edelleute in die Hände der Engländer. Heinrich V. von England wurde als Regent und Nachfolger auf dem Thron von Frankreich anerkannt. Dennoch behielt schließlich die französische Krone den Sieg. Dem mutigen Heinrich V. war 1422 Heinrich VI. als ein Knabe von wenig Monaten gefolgt, an dem sich bald die Spuren geistiger Umnachtung zeigten. Sofort begann wieder der Kampf um Krone und Herrschaft innerhalb der englischen Königsfamilie, an dem sich die großen Barone nur zu eifrig beteiligten. Das alles mußte lähmend auf die englische Kriegsführung in Frankreich zurückwirken. Dem neuen König von Frankreich aber, Karl VII. (1242—61), welcher anfangs nur südlich der Loire Anerkennung gefunden hatte, erstand in der „Jungfrau von Orleans“ eine Persönlichkeit, welche begeisternd auf das Volk und einigend auf die Adelsparteien wirkte. Dazu kam der kluge Kaufmann und geschickte Finanzier Jacques Coeur (1493), welcher eine fundamentale Neugestaltung des französischen Finanzsystems durchführen half und damit erst die unerläßliche Voraussetzung für ein geordnetes Heerwesen schuf. 1453 hatten die Engländer wieder alle französischen Besitzungen bis auf Calais verloren. § 123. Je reicher die Beute war, welche die englischen Heere bei ihren Siegen auf französischer Erde gewonnen haben, desto eifriger mußte von den Beteiligten nach dem Verluste der französischen Besitzungen die Frage nach der Ursache dieses Rückschlages erörtert werden. Sie war in einer Zeit, in welcher die königliche Initiative bei Eroberungen im Auslande so viel bedeutete, nur zu leicht in dem wahnsinnigen Könige und damit in jener Adelsfamilie gefunden, welche einen solchen König dem englischen Thron gegeben hatte. Das war die Familie der Lancaster, die Partei der roten Rose, einer Nebenlinie des Hauses Plantagenet. Als ihr Konkurrent für den englischen Königsthron trat eine andere Nebenlinie aus dem Hause Plantagenet, das Haus York auf, das in seinem Wappen eine weiße Rose führte. Der Adel im Lande hatte sich dem einen oder dem anderen dieser beiden Häuser angeschlossen. So entbrannte der Rosenkrieg in England, als eine Nachwirkung des 100jährigen englisch – französischen Krieges. Bedingungslos herrschte der Grundsatz, daß der siegenden Partei alles gehört. 1471 war die Familie der Lancaster bis auf Heinrich Tudor, welcher entkommen ist, ausgerottet. Dann hat man 1483 den jungen Thronerben aus dem Hause York mit seinem Bruder im Tower erstickt auf Befehl ihres Oheims, Richards III., der wieder im Kampf mit Heinrich Tudor fiel, welcher als Heinrich VII. 1585 den Thron bestieg und als letzter Sprosse aus dem Hause Lancaster durch Verheiratung mit der Erbtochter aus dem Hause York alle Ansprüche beider Häuser vereinigte. Unter den Mitgliedern des hohen Adels war durch diesen Krieg der roten und weißen Rose gründlich aufgeräumt worden. Von dieser Seite drohte dem König von England nun kein Angriff mehr. Um aber selbst den Keim eines Rückfalles in die früheren Gewohnheiten zu ersticken, wurde jetzt dem Adel bei Todesstrafe verboten, sich ein bewaffnetes Gefolge zu halten. Der ganze Staatsverband schien durch diesen 30jährigen Adelskrieg aufgelöst zu sein. Das Parlament war zwar formell erhalten geblieben, hatte aber jede Widerstandskraft verloren. Die jetzt beginnende Königsreihe aus dem Hause Tudor herrschte wieder absolut. Neue Zeiten und neue Konflikte bereiteten sich vor. Ehe wir jedoch dieselben kennen und verstehen lernen, müssen wir hier zurückgreifen auf jene wirtschaftlichen Verschiebungen, welche dem schwarzen Tode gefolgt sind. § 124. Nach der Rechtsordnung Wilhelms des Eroberers gab es nur wenige bäuerliche Freisaßen. Die große Masse der Bauern und Werkleute stand in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Grundherren. Das Domesday-Book enthielt über die Rechte und Pflichten dieser Volksklasse keinerlei Aufzeichnung. Die herrschende Rechtsauffassung ging dahin, daß die Bauern und Werkleute „nichs als ihre Knochen ihr Eigen“ nennen. Als unfreien Leuten fehlte ihnen das Recht, Eigentum zu erwerben. Die Gewohnheit hatte aber bald schon ihre Besitzverhältnisse erblich werden lassen, und der Bedarf des Königs an Geldeinnahmen hatte allgemein die Umwandlung von Naturalleistungen und Diensten in Geldleistungen begünstigt. Da zahlreiche freie Lohnarbeiter vorhanden waren, konnten die Grundherren für diese Geldzahlungen ihrer Bauern Lohnarbeit zur Bewirtschaftung ihres Landes anstellen. Tatsächlich waren so die Unfreien, die Bauern und Werkleute, in die Position von Erbpächtern eingerückt. Da kam das große Sterben von 1348/49 und später. Die starke Abnahme der Bevölkerung bedeutete natürlich auch einen entsprechenden Rückgang des Angebots auf dem Arbeitsmarkte. Weil die Nachfrage hier zunächst mindestens die gleiche blieb, stiegen in kurzer Zeit die Löhne um 50 Proz. Die Arbeiter hatten natürlich rasch erkannt, daß die Arbeitseinstellung ein vorzügliches Mittel sei, um ihre Löhne noch mehr zu erhöhen. Sie machten von diesem Mittel einen um so ausgiebigeren Gebrauch, je reichlicher ihnen ein arbeitsloser Lebensunterhalt an den Almosenpforten der reichen Klöster, Kirchen, Stiftungen und Spitäler gewährt wurde. Rechnen wir noch die durch die Pest gesteigerte Zuchtlosigkeit des Volkes hinzu, so wird es begreiflich, daß unter den besitzenden Klassen sich in dieser Zeit ein starker Unmut regte über die unerhörte Arbeitslohnsteigerung, über die herrschende Arbeiternot, über das bedenklich sich ausbreitende Bettlerunwesen und über die mangelhafte Organisation der Armenunterstützung, welche in der Hand der zu reich gewordenen kirchlichen Institute offensichtlichen volkswirtschaftlichen Schaden verursachte. So begann denn seit Mitte des XVI. Jahrhunderts in England jene Arbeiter- und Armengesetzgebung, welche bestrebt war, die Lohnarbeiter in ihrer Heimat zurückzuhalten, sie durch strengste Strafen — im Wiederholungsfalle durch die Todesstrafe — von der Landstreicherei und der Ernährung auf dem Bettel auszuschließen, die Arbeitsfähigen eventuell durch Arbeitshäuser zur Arbeit zu zwingen und durch eine gesetzliche Lohntaxe die Lohnhöhe wieder den vor der Pest geltenden Lohnsätzen anzupassen. Die Einführung einer allgemeinen Armensteuer in Verbindung mit einem besseren Ausbau der Lokalverwaltung konnten als Folge dieser Bestrebungen nicht ausbleiben. § 125. All diese Veränderungen mußten auf die Lage und Denkweise der englischen Bauern zurückwirken. So weit die überlieferten Nachrichten reichen, läßt sich eine willkürliche Erhöhung der ordentlichen Leistungen der Bauern durch ihre Grundherren nicht nachweisen. Es wird nur darüber geklagt, daß die Herren bei der geringsten Ungehörigkeit der Bauern harte Geldstrafen verhängten. Eine Zeit, in welcher eine solche Steigerung der Arbeitslöhne eingetreten war, mußte auch den Wohlstand der bäuerlichen Familien erhöhen. Gab es doch überall Gelegenheit für reichlichen Nebenverdienst, und hatte es doch der Mangel an disponiblen Arbeitskräften schon so weit gebracht, daß nach den Pestjahren selbst den Frohnarbeitern ein reichlicher Imbiß gewährt wurde. Die jetzt eingeführte ungemein strenge und harte Arbeiter- und Armen-Gesetzgebung mußte die Bauern zum Nachdenken über ihre eigene rechtliche Lage veranlassen. Im Domesday-Book war nichts über ihre Rechte und Pflichten verzeichnet. Nach der Auffassung der Juristen waren sie überhaupt fast rechtlos, trotzdem ihre tatsächliche Lage sie als gutgestellte Erbpächter erscheinen ließ. Wie leicht konnte die seit der einschneidenden Steigerung der Arbeitslöhne ungünstigere Lage der Grundherren die Gesetzgebung veranlassen, der herrschenden juristischen Auffassung gesetzgeberischen Ausdruck zu verleihen, um sie in eine schlechtere Lage zurückzuzwingen. Zum mindesten drohte die Gefahr, daß ihr tatsächliches Erbpachtverhältnis in ein kurzfristiges Zeitpachtverhältnis mit wesentlich erhöhtem Pachtschilling verwandelt würde. Zu eben dieser Zeit drangen die Wiclif’schen Ideen von der Freiheit des Christenmenschen ins Volk. Die Bauern wollten auch frei sein; noch mehr, sie wollten ihre Freiheiten ebenso durch königliche Urkunde verbrieft haben, wie die Grundherren und die im Parlament vertretenen Stände. Ihr Erbpachtschilling sollte für alle Zeiten auf 4 d per acre also 92 1⁄2 Pf. pro Hektar, festgesetzt werden. An Führern, welche aus ihrer Söldnerzeit sich auf das Kriegshandwerk verstanden, fehlte es nicht. So rotteten sich denn 1381 die englischen Bauern in großen Scharen bewaffnet zusammen und zogen in musterhafter Ordnung, ohne Plünderung — Diebe wurden sofort enthauptet — unter Führung von Wat Tyler nach London. Der König, welcher diesem Ansturm gegenüber zunächst machtlos war, ging scheinbar auf ihre Forderungen ein. Schreiber in großer Zahl waren vorgeblich mit der Anfertigung so vieler tausend bäuerlicher Freibriefe beschäftigt, bis es dem Könige gelang, eine imponierende Heeresmacht zusammenzuziehen. Wat Tyler wurde meuchlings ermordet und das Bauernheer mit der ungnädigen königlichen Erklärung heimgeschickt: „Knechte seid Ihr und Ihr sollt es bleiben unter weit härterem Joche, als Ihr bisher getragen habt.“ Der ehrliche Versuch der englischen Bauern, auch ihre Rechte endlich verbrieft zu erhalten, damit einen bestimmten Raum in der englischen Verfassung und einen bestimmten Platz im englischen Parlament einzunehmen, wie das 1440 dem schwedischen Bauernaufstand gelang, war zu nichte geworden. Trotzdem hat sich die Lage der Bauern unter dem Einfluß der bestehenden Verhältnisse zunächst nicht verschlechtert. Das Unheil sollte in anderer Weise über sie hereinbrechen. § 126. Zu Anfang des XIV. Jahrhunderts war in den industriereichen Städten Flanderns ein erbitterter Kampf zwischen den kapitalistischen Geschlechtern und den Zünften ausgebrochen, welcher eine größere Zahl von flämischen Webern und Tuchhandwerkern zur Auswanderung gezwungen hat. König Eduard III. gewährte ihnen gern Aufnahme in England, um künftig die englische Wolle in seinem Lande verarbeitet zu sehen und statt des Rohmaterials künftig das fertige Produkt, Wollstoffe, ausführen zu lassen. Die Zolleinnahmen des Königs konnten dadurch nur gewinnen. So wurde jetzt die Wollausfuhr in England verboten, die Ausfuhr an wollenen Tüchern begünstigt, so daß sie bald zunahm. Tuchhändler fanden sich ein, welche die Verbreitung der Tuchweberei als Hausindustrie begünstigten. Mit dieser besseren Verwertung der Wolle im eigenen Lande stiegen die Wollpreise. Die Schafzucht wurde im Lande weit rentabler als der Getreidebau. Damit begannen im letzten Viertel des XV. Jahrhunderts jene Einhegungen, welche bis Mitte des XVI. andauernd vermöge der gesteigerten Schafhaltung die Bauern verdrängte. Mit Betrug, Gewalt und Bedrückungen aller Art wurden die Bauern aus ihrem Besitz verjagt. Den Höhepunkt erreichte diese Bewegung unter Eduard VI. (1547—1553). In 60 Jahren sollen etwa 500 Bauerndörfer vernichtet worden sein. Wenn diese Armen, denen man fast nichts gelassen, auf ihrer erzwungenen Wanderung durch die Not zum Stehlen verleitet wurden, verfielen sie der Todesstrafe durch den Strang. Mehrere amtliche Erhebungen über diese Mißstände und kleine gesetzliche Maßnahmen änderten fast nichts an diesem Vernichtungsprozeß der englischen Bauern. Die gewaltsame Unterdrückung der katholischen Religion trug ein weiteres zur Erregung der bäuerlichen Gemüter bei. So durchtobte im Jahre 1549 ein furchtbarer Bauernaufstand das Land, der blutig niedergeschlagen wurde. Trotzdem kam in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts diese Bewegung zum Stillstande, weil jetzt der Getreidebau wieder rentabler geworden war. Erst die zweite Periode der Verdrängung der bäuerlichen Besitzer von 1760—1830 unter dem Einfluß ungewöhnlich hoher Getreidepreise hat die heute in England bestehende Herrschaft der kapitalistischen Großbetriebe in der Landwirtschaft und der Latifundien in der Grundbesitzverteilung zum Abschluß gebracht. § 127. Wie hatte sich inzwischen die englische Getreidepolitik geändert? Die Politik der generellen Getreideausfuhr-Licenz für die fremden Kaufleute, welche gegen Ende des XIII. und im XIV. Jahrhundert von den englischen Königen befolgt wurde, hat schon während der Rosenkriege und noch mehr unter Elisabeth (1558—1603) einer Politik der Beseitigung der Privilegien für fremde Kaufleute und bald einer Begünstigung der englischen Unternehmer weichen müssen. Soviel war aber immerhin bald erreicht worden, daß sich die See-Grafschaften an den Getreideexport gewöhnt hatten. Nach einigen politischen Schwankungen kam 1444 ein Gesetz zu Stande, wonach die Getreideausfuhr allgemein freigegeben wurde, so lange der Weizenpreis pro Qr. nicht auf 6 s. 8. d. stieg. Bis zu dieser Preisgrenze war die Getreideeinfuhr verboten. Stiegen die Preise über diese Normalhöhe, so wurde die Ausfuhr verboten und die Einfuhr frei. Es war die Politik mittlerer Getreidepreise, welche mit diesem Gesetz eingeschlagen wurde. Das XVI. Jahrhundert brachte dann mit seinen steigenden Wollpreisen und seiner fortschreitenden Vernichtung des Bauernstandes eine Reihe von Notjahren, in welchen unter dem autokratischen Regiment Heinrich VII. und VIII. wieder zum generellen Ausfuhrverbot und zur königlichen Ausfuhrlicenz zurückgegriffen wurde. Erst Königin Elisabeth knüpfte wieder an die Politik des XV. Jahrhunderts an; ein Gesetz von 1562 bestimmte, daß die Getreideausfuhr frei sei, wenn der Preis für Weizen nicht höher als 10 s. pro Qr. (47 Mk. pro 1000 Ko.) und wenn das Schiff ein englisches und der Schiffseigentümer englischer Untertan sei. Dieser gesetzliche Normalpreis, zu dem die Ausfuhr noch frei, die Einfuhr noch verboten war, konnte jedoch den damaligen allgemeinen Marktverhältnissen nicht genügen. Schon im Jahre 1593 war dieser Preis für die Ausfuhr auf 20 s. (94 Mk. pro 1000 Ko.) 1604 auf 26 s. (122 Mk. pro 1000 Ko.), 1624 auf 32 s. (150 Mk. pro 1000 Ko.), um Mitte des XVII. Jahrhunderts rasch auf 40, (187 1⁄2 Mk.), 44 (206 Mk.) und 48 s. pro Qr. (225 Mk. pro 1000 Ko.) erhöht. Daneben traten wachsende Einfuhrzölle in Kraft, deren Höhe 1670 einem Einfuhrverbot gleichkam. Indeß diese Preise und Maßnahmen gehören bereits dem Zeitalter der englischen Reformation an und wollen deshalb in diesem Zusammenhang erfaßt und verstanden sein. § 128. Wir haben im § 123 die Gründe kennen gelernt, warum trotz der bereits gut ausgebildeten englischen Verfassung mit den Tudors wieder der Absolutismus den englischen Thron bestiegen hat. Das englische Parlament war zu einem fast willenlosen Werkzeug in der Hand der Könige herabgesunken. Es war Sitte geworden, die Zölle für Lebzeiten des Souveräns zu genehmigen. So lange also der König die Kunst verstand, mit den ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln ohne die Bewilligung neuer Steuern durch das Parlament auszukommen, konnten die Herren Parlamentarier ruhig zu Hause bleiben. Das ist unter Heinrich VII. (1485—1509) am besten geglückt. Durch den Abschluß der Rosenkriege waren ihm umfangreiche Vermögens – Konfiskationen zugefallen. Die Ausfuhr an Wollwaren, welche der Zollkasse gute Erträge lieferte, wuchs immer mehr. Dazu kam die Einführung königlicher Monopole auf eine Reihe von Gebrauchsartikeln, welche eine finanziell ergiebige Handhabung gestatteten. Der bald erkennbare wirtschaftliche Aufschwung ließ die übrigen Steuern regelmäßig zur Ablieferung kommen. Unter dem launenhaften und wüsten Despoten Heinrich VIII. (1509—1547) wurde das finanzielle Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben bald gestört durch zwecklose Kriege gegen das Ausland, wie durch eine verschwenderische Hofhaltung. Seine Regierung griff deshalb zu einer Reihe bedenklicher Finanzkünste, wie Zwangsanleihen und so weitgehende Münzverschlechterungen, daß das Pfund Sterling Silbermünzen bald statt 20 Mark, nur noch 5 Mark Metallwert hatte. Erst Königin Elisabeth hat 1560 dem Handel und Verkehr geordnete Münzverhältnisse wieder zurückgegeben. Auch die Konfiskation der Kirchengüter nach der von Heinrich VIII. 1533 vollzogenen Trennung der englischen Kirche von Rom ist seiner ungünstigen finanziellen Lage sehr zu statten gekommen. Trotzdem wäre es unrichtig, die englische Reformation auf solche Ursachen allein zurückzuführen. § 129. Seltsamer Weise wird ziemlich allgemein als Grund der englischen Reformation die vom Papst verweigerte Scheidung des Königs Heinrich VIII. von seiner ersten Gemahlin angegeben. Aber der eigentliche Inhalt der englischen Reformationsbewegung muß doch ein anderer sein, als nur die Laune eines Despoten. Wäre es nur das gewesen, so hätte es der Despotin Maria der Katholischen (1553—1558), der Gemahlin eines Königs Philipp II. von Spanien, leichter werden müssen, die Gegenreformation durchzuführen. Die antikatholische Politik der Elisabeth (1558—1603) hätte dann nicht so begeisterte Zustimmung im Volke finden können, der wieder die katholische Anschauung unterstützende Karl I. (1625—1649) hätte nicht auf dem Blutgerüst geendet, die Regierung des wieder katholischen Karl II. (1660—1685) und des ebenfalls katholischen Jakob II. (1685—1688) hätte nicht zu Lebzeiten des Letzteren damit geendet, daß die weit überwiegende Mehrzahl des Volkes den protestantischen Wilhelm, den Oranier, zum König von England erhob mit der gesetzlichen Nachfolge des protestantischen Hauses Hannover. Eine Bewegung, welche die englische Politik durch mehr als 150 Jahre auf das tiefste erregte, welche neben anderen ungezählten Blutzeugen einem Könige und einer Königin den Kopf, einem anderen englischen Könige den Thron gekostet hat, mußte nicht über die Laune eines Despoten, sondern über Lebensinteressen des Volkes zu entscheiden haben. Und so war es auch. § 130. Zu Anfang des XVI. Jahrhunderts war die kapitalistische Entwickelung in England so weit gediehen, daß die mehr lokalen stadtwirtschaftlichen Kreise sich in das nationale Wirtschaftsgebiet aufzulösen begannen. An Stelle der städtischen Wirtschaftspolitik traten landesgesetzliche Bestimmungen über Gewerbe und Handel. Die Zünfte wurden durch das Anwachsen der Hausindustrie verdrängt. Eine schon ziemlich weitgehende Spezialisierung der Massenproduktion begann. An Stelle der abgeschafften Privilegien für fremde Kaufleute traten weitgehende Privilegien der englischen Kaufleute und der englischen Flotte für den ausländischen Handel. 1571 wurde die Londoner Börse gegründet und durch ein Fest von sagenhaftem Glanze, woran sich auch die Königin Elisabeth beteiligte, eingeweiht. Die Städte hatten sich aus einem Sitz des geldwirtschaftlichen Verkehrs in Centren der kapitalistischen Ausbeutung des Volkes und der Völker verwandelt. Hier überall trat die Zunahme der Selbstsucht und des Egoismus hervor. Der englische Satirikar Crowley sagte deshalb für diese Zeit sehr richtig:
Für diese damit beginnende Ausbreitung der Herrschaft des englischen Kapitalismus war schon die katholische Kirchenlehre ein Hindernis, denn nach ihr war das Ausleihen einer Geldsumme gegen Zinsen Wucher. Wer an der Börse durch seine Spekulation die Preise bald künstlich drückte, bald gewaltsam steigerte, um aus diesen Preisdifferenzen arbeitslosen Gewinn zu ziehen, verfehlte sich gegen die Lehre vom gerechten Preis, wie gegen die kanonische Theorie vom Tausch und war deshalb ein Wucherer. Wucher und Wucherer wurden in der katholischen Kirche durch strenge Strafen bedroht. Die Calvin’sche Reformationslehre, welche in England Eingang gefunden hatte, billigte solche Geschäfte. Ist es da schwer zu begreifen, daß die englische, kapitalistisch gewordene Gesellschaft gegen die katholische Lehre und für das Calvin’sche presbyterianische Bekenntnis sich entschieden hat? § 131. Noch mehr! Das große Programm für die kapitalistisch gewordene englische Gesellschaft konnte kein anderes sein als: schärfste Ausbildung des Industriestaates und Eroberung der ergiebigsten Kolonien der Erde. Die Industrien des katholischen Flandern und des katholischen Frankreich namentlich waren damals der englischen Industrie noch weit überlegen. Die sogenannten Religionskriege, welche um jene Zeit in den spanischen Niederlanden und in Frankreich für den katholischen Glauben geführt wurden, trieben eine fortwährend wachsende Zahl von Kapitalisten und industriekundigen Leuten aus diesen Ländern nach England. Die industrielle Entwicklung Englands konnte mithin aus der Fortdauer dieser Religionskriege nur die reichsten Gewinne ziehen. Der englischen Politik war in diesem Falle nur die eine Aufgabe vorgezeichnet: die Gegner der katholischen Partei in Frankreich wie in den spanischen Niederlanden zu unterstützen. Die reichsten Kolonien der Welt waren damals im Besitze der katholischen Länder Spanien, Portugal und Frankreich. Spanien und Portugal besaßen sogar ihre Kolonien auf Grund besonderer päpstlicher Privilegien. Wollten also die Engländer auf kolonialem Gebiet den damals noch ins Fabelhafte übertriebenen Reichtum gewinnen, so mußten sie antipäpstlich sein und die führenden katholischen Länder schonungslos bekämpfen. Daß es dabei den englischen Geschäftsleuten nicht nur um das religiöse Bekenntnis zu tun war, geht schon aus der Tatsache hervor, daß sie die, ihrem Glauben angehörigen Holländer der Kolonien und des Handels halber nicht minder rücksichtslos bekämpften. Der Kapitalismus in England mußte eben ein Feind der Holländer und gleichzeitig ein Todfeind der römischen Kirche wie der führenden katholischen Länder sein. § 132. Nur die nicht katholischen Regenten Englands konnten jetzt die innersten Wirtschaftsbedürfnisse des Volkes verstehen. Die Königin Elisabeth hat in diesem Sinne ganz ausgezeichnet regiert. Ihr Berater war der Kaufmann Thomas Gresham, welcher lange Zeit als englischer Finanzagent in Antwerpen fungierte, als dieser Platz noch der erste Geldmarkt Europas war. Elisabeth rief die Auswanderer aus Frankreich und den spanischen Niederlanden herbei und England erfreute sich eines besonders starken Zuzuges dieser geschickten und kapitalskräftigen Leute, als der Herzog Alba sein Schreckensregiment in den Niederlanden begann. Die Erzeugung von Flanell, Arrasgeweben, Manteltuch, Teppichstoffen, Sammet, halbwollenen Stoffen und Köperstoffen wurde auf diese Weise nach England übertragen. Gegen Ende des XVI. Jahrhunderts bestand die englische Ausfuhr zu 2⁄3 bereits aus Wollstoffen. Seit 1564 wurde der Handelskrieg und der privilegierte Seeraub gegen Spanien eröffnet. Die Königin selbst war an Drake’s Seeräubereien finanziell beteiligt. Nachdem schon 1562 der englische Handel mit Negersklaven von Afrika nach Südamerika organisiert, 1584 Virginia in Nordamerika entdeckt und und 1585 die ganze nordische Seefischerei an der amerikanischen Küste für den englischen Stockfischhandel monopolisiert worden war, stieg mit der Vernichtung der spanischen Armada (1588) der Mut der englischen Seefahrer ungeheuer. 1595 und 1596 wurde der spanische Haupthafenplatz Cadix von den Engländern geplündert, die dort verankerte spanische Flotte vernichtet, die spanische Silberflotte geraubt und eine Reihe von spanischen Kolonien heimgesucht. In den Jahren 1554—1600 wurde an der Londoner Börse die russische, ostseeländische, levantische, türkische, marokkanische, guinesische, goanische und zuletzt die ostindische Handelskompagnie gegründet, denen königliche Monopolprivilegien verliehen wurden, um die ausländischen Märkte leichter erobern zu können. Damit die Tätigkeit der Börsengründungen auch im Inlande mehr Raum finde, hat Königin Elisabeth 1601 auf alle königlichen Monopole für einheimische Verbrauchsartikel verzichtet. Was diese Handelskompagnien jetzt bedeuten, zeigt am besten die Geschichte der ostindischen Kompagnie. Aus ihren ersten beiden Expeditionen verteilte sie einen Gewinn von 95 Proz. Die nachfolgende Expedition brachte sogar 171 Proz. Ueberschuß. Es erwies sich weit rentabler, die indischen Fürsten zu bestechen, als königliche Vertreter in Indien zu unterhalten und Festungen zu bauen, wie das Portugal getan hatte. Als im Jahre 1612 die ostindische Kompagnie nur 87 Proz. Gewinn zur Verteilung brachte, waren die Aktionäre sehr unzufrieden. Der Lord-Protektor Cromwell führte 1651 die Navigationsakte ein, welche den Fremden auf ihren eigenen Schiffen nur die Einfuhr eigener Erzeugnisse erlaubte und den ganzen übrigen Handel für englische Schiffe reservierte. Namentlich der holländische Zwischenhandel wurde durch diese Maßnahme schwer getroffen und damit der Grund für ein ungewöhnlich rasches Aufblühen der englischen Schiffahrt gelegt. Kriege gegen Holland und Spanien wurden von ihm glücklich geführt. Der Oranier Wilhelm III. richtete seine ganze politische Kunst darauf, der Eroberungspolitik Ludwig XIV. in Europa ein Ziel zu setzen und die englischen Eroberungskriege gegen die so wertvollen französischen Kolonialbesitzungen in Nordamerika wie in Ostindien besser zu organisieren. Unter seiner Regierung ist die Bank von England 1694 begründet worden und schon im Jahre 1689 kam das berühmte Ausfuhrprämiengesetz zustande, wonach bei einem Weizenpreise nicht über 48 s. p. Q. (225 Mk. pro 1000 Ko.) unter der Voraussetzung, daß der Schiffseigentümer und mindestens 2⁄3 der Mannschaft englische Untertanen seien, für die Getreideausfuhr eine staatliche Prämie von 5 s. p. Q. (23 1⁄2 Mk. pro 1000 Ko.) gezahlt wurde. Die englische Getreideproduktion ist damit in die Reihe der englischen Exportindustrien eingetreten. Um der Krone die Zahlung dieser Prämien zu ermöglichen, wurde vom Parlament die Einführung der Grundsteuer genehmigt. § 133. Wie haben in dieser Periode die katholischen Regenten Englands gewirtschaftet? Königin Maria (1553—58) befahl den aus Frankreich und Flandern nach England eingewanderten Kapitalisten und Gewerbetreibenden, weil sie nicht katholisch waren, England wieder zu verlassen. Karl I. (1625—49) wollte in Frankreich die katholische Partei gegen die Hugenotten unterstützen, trotzdem er sich fast immer in Geldverlegenheiten befand und ihm das Parlament nicht für die Dauer seiner Regierung, sondern nur für je ein Jahr die Zölle bewilligte. In der Getreidepolitik griff er, nur aus Gründen seiner größeren finanziellen Unabhängigkeit, zurück zum generellen Ausfuhrverbot mit königlichen Lizenzen für die Getreideausfuhr. Der englische Handel wurde dadurch entschieden geschädigt. Die den Franzosen in Nordamerika von den Engländern entrissenen Gebiete gab er für eine entsprechende persönliche Geldentschädigung an Ludwig XIII. wieder zurück. Um eine neue Einnahme für sich zu erschließen, half er eine neue ostindische Handelskompagnie gründen, welche natürlich das Monopol der alten Kompagnie durchbrochen hat. Die ihres Glaubens halber von ihm bedrückten Puritaner wanderten nach Nordamerika aus und verstärkten so das oppositionelle Element in den dortigen englischen Kolonien. Endlich versuchte er, ohne Parlamentsgenehmigung, durch eine Tyrannisierung der Gerichte Schiffsgelder zu erheben, welche abermals die englischen Schiffahrts- und Handels-Interessen empfindlich schädigen mußten. Karl II. (1660—85) ließ sich durch reiche Jahresgelder, welche ihm Ludwig XIV. von Frankreich gewährte, bestimmen, für die katholische Partei Stellung zu nehmen und bei den europäischen Raubzügen Ludwig XIV. neutral zu bleiben. Außerdem verschenkte dieser König 1673 an seinen tief verschuldeten Schwiegervater die englische Kolonie Virginia, was große Aufregung unter den Kolonisten hervorrief, welche befürchteten, auf solche Weise zu Sklaven gemacht zu werden. Auch Jacob II. (1685—88) nahm von Ludwig XIV. reichlich Bestechungsgelder an, schloß mit diesem Herrscher ein Bündnis und versuchte, die katholische Religion und den Absolutismus in England wieder einzuführen. Dazu machte er 1687 den skandalösen Versuch, eine Reihe von englischen Kolonien an Günstlinge zu verschenken, welche das Land in diesen Kolonien als ihr Eigentum beanspruchten und von den Kolonisten plötzlich eine regelmäßige Pachtzahlung verlangten, an deren Ertrag der König zu einem Fünftel beteiligt war. Abenteuerer der schlimmsten Sorte wurden als Gouverneure nach den Kolonien geschickt zur Durchführung dieses königlichen Schenkungsaktes. Willkürliche Rechtsprechungen und Erpressungen der schlimmsten Art haben diese Regierungsmaßnahmen ergänzt. § 134. Man wird im Zusammenhange mit dem Vorausgeschickten die Energie begreiflich finden, mit welcher die in England maßgebenden Gesellschaftskreise gegen die Fortdauer einer solchen Politik katholischer Regenten sich gewendet haben. Durch ein ganzes System von Verfassungsbestimmungen wurde erreicht, daß der englische König nicht katholisch sein darf und „kein Unrecht“ mehr „tun kann“. Denn jede Rechtshandlung, welche der König für seine Person allein vollzieht, ist seitdem rechtsunwirksam. Der König bedarf eben der Mitwirkung eines dem Parlamente verantwortlichen Beamten, welcher durch das Vertrauen des Parlaments in die Nähe des Königs rückt und jederzeit durch einen Majoritätsbeschluß des Parlaments wieder aus dieser Vertrauenstellung entfernt werden kann. Nicht mehr der König, sondern das Parlament regiert durch den König. Das ist die verfassungsmäßige Beurteilung dieser Sachlage. Mehr nationalökonomisch gesprochen wird man sagen können: der landesfürstliche Absolutismus charakterisiert sich als Kapitalismus auf dem Fürstenthrone. Der absolute Fürst hat wie der spekulative Privateigentümer das volle Recht des Nutzbrauches und des Mißbrauches über sein Land, wie über seine Landeskinder und deren Vermögen. In dem Maße, als die Gesellschaft wohlhabender, selbständiger und einsichtiger wird, gewinnt sie neben der fürstlichen Gewalt das Mitbestimmungsrecht über die den Staat fördernde Politik. Zur vollständigen Beseitigung der volkswirtschaftlichen Gefahren des fürstlichen Kapitalismus aber kommt es erst durch die parlamentarische Verfassung, welche den König aus einem spekulativen Privatunternehmer in den ersten Diener des Staates, aus einem Kapitalisten in den ersten Arbeiter der Volksgemeinschaft verwandelt. Der englische Verfassungsstaat läßt deshalb namentlich 2 Hauptmerkmale erkennen: die klare Ausscheidung zwischen mein und dein in den Ausgaben der Staatskasse, welche in der Zivilliste den vereinbarten Arbeitslohn an den König entrichtet und das Selbstbestimmungsrecht des Volkes und der VoIksvertretung über die Richtung der politischen Entwickelung. Was den englischen Absolutismus betrifft, so muß trotz aller Mißgriffe im Einzelnen gesagt werden, daß er die große Aufgabe zu lösen wußte, das englische Volk zur Selbstregierung zu erziehen, bis der Augenblick kam, in welchem die Verfassung vereinbart wurde, und daß er schon vor diesem Zeitpunkte die Fundamente für jene Größe gelegt hatte, welche England heute als erster Industriestaat und als größtes Kolonialreich genießt. Jedoch sind gerade damit höchst bedenkliche Erscheinungen verknüpft. Die im XVII. Jahrhundert zu Stande gekommene englische Verfassung leidet an den gleichen großen Mängeln, wie das Domesday-Book: die englischen Bauern und die englischen Arbeiter sind vergessen worden. Dem englischen Bauernaufstand von 1381 war es nicht vergönnt, diese große Lücke in der englischen Verfassungsentwickelung auszufüllen. Die englischen Bauern sind fast rechtlos geblieben und zumeist vernichtet worden. Der englische Getreidebau ging mehr und mehr zurück. England ist hinsichtlich seiner Brotversorgung im wesentlichen auf das Ausland angewiesen. Zum Glück für England ist in seinen Kolonien ein neuer Bauernstand erstanden. Das Mutterland geht heute bei seinen Kolonien in die Kost. Ob es aber gelingen kann, diesen Zustand dauernd zu erhalten, nachdem auch in Australien, Kanada und Ostindien die industrielle Entwickelung begonnen hat? — Die Lohnarbeiter haben in den letzten hundert Jahren nur sehr allmählich und erst nach Aufdeckung schreiender Misstände einen öffentlichen Rechtsschutz gewonnen, dessen Abschluß noch keineswegs erreicht ist. Ob aber die damit begonnene Rechtsentwickelung in Folge der numerischen Ueberlegenheit der Arbeiter im Industriestaate zum Heile des Ganzen schließen wird? Heute herrscht in England der gesellschaftliche Kapitalismus. Das kommt am deutlichsten in der Heeresverfassung, wie in der Kriegspolitik zum Ausdruck. Der Vertrag Wilhelms des Oranier mit der englischen Nation von 1689 erklärt Errichtung und Beibehaltung eines stehenden Heeres im Königreiche für unzulässig ohne Bewilligung des Parlamentes. Seitdem muß dieses Gesetz, auf welchem die gesamte Disziplinargewalt im Heere einzig ruht, jährlich dem Parlament von neuem vorgelegt werden. Der gleiche Verfassungsvertrag verweist Großbritanniens aktive Kriegsmacht ausschließlich auf die Söldnerei, wie das seit 1328 Rechtens war. Die Käuflichkeit der Offizierstellen wurde erst 1871, gegen den Willen des Oberhauses, im englischen Heere abgeschafft. Das kapitalistisch denkende englische Volk konnte sich für den schlecht bezahlten Soldatendienst nie begeistern. Um so selbstverständlicher wurde die englische Kriegsmacht immer dazu verwendet, für die persönlichen Interessen der englischen Unternehmer überall dort zu kämpfen, wo auf andere Weise die erstrebten Geschäftsgewinne sich nicht erreichen ließen. Seitdem entscheidet in England über Krieg oder Frieden? der Profit der herrschenden Gesellschaftsklasse. Die Machtmittel des englischen Staates sind dem Geschäftsinteresse der englischen Privatunternehmer dienstbar geworden und haben eine Entwicklung hervorgerufen, von welcher der große englische Dichter Lord Byron bekanntlich gesagt hat: daß England die eine Hälfte der Welt schlachte, die andere prellt. Ob aber diese durchaus egoistische Geschäftspolitik den Staat nicht um so rascher in ernste Gefahren bringen muß, je allgemeiner inzwischen diese englische Geschäftspolitik von anderen Staaten nachgeahmt wird? § 135. Das am weitesten nach Westen zwischen dem mittelländischen Meere und dem Atlantischen Ozean vorgeschobene Glied des kontinentalen Kerns von Europa trägt den Namen Frankreich. Sein gut abgerundetes Gebiet hat die Form eines Sechsecks, von dem drei Seiten durch das Meer, drei durch andere Länder begrenzt werden. Das Klima ist gemäßigt und gut ausgeglichen. Große Stromgebiete durchziehen das ungemein fruchtbare Land zumeist in nordwestlicher Richtung. Die höchsten Gebirge bilden im Süden und gegen Westen in der südlichen Hälfte die Landesgrenzen. Schon diese geographische Lage läßt ein Land erkennen, dessen materielle Grundlage in der Landwirtschaft ruht und dessen geschichtliche Entwicklung hauptsächlich durch Einflüsse aus dem Norden (England) und Süden (Mittelmeer), und an dritter Stelle erst durch Beziehungen zu den westlich gelegenen Ländern, bedingt sein mußte. Als ein selbständiger politischer Körper begann Frankreich erst nach Auflösung des Karolingerstaates, mit den Kapetinger Königen (987—1328), in die Geschichte einzutreten. Auch in Frankreich bewirkte die unter den Karolingern begonnene lehensstaatliche Entwicklung, daß die Einheit des Reiches in eine Vielheit großer Vasallenherrschaften, Grafschaften und Herzogtümer sich auflöste. Die Herzöge und Grafen von der Normandie, von Burgund, von Aquitanien, von Flandern u.s.w. besassen bald größere Macht als der König, dem nur formelle Vorrechte zur Verfügung standen. Aber gerade diese geringere Macht schützte den König, weil sie die Beute- und Eroberungssucht der Mächtigen nicht reizte. Die französische Krone konnte durch fast 3 1⁄2 Jahrhunderte in der Kapetingerfamilie vererbt werden, weil das Wahlrecht der Großen für diese, von ihnen nicht erstrebte, formelle Machtstellung bald außer Uebung kam. Das schwache französische Königtum hat die lehensstaatliche Entwicklungsepoche Frankreichs überdauert und daraus die Kraft gewonnen, ein völlig neues absolutes Königtum und Königreich zu schaffen. Das weit machtvollere deutsche Kaisertum ist in den Kämpfen des Lehensstaates zu Grunde gegangen. Die Päpste in Rom haben die schwachen französischen Könige nie angegriffen. Sie sahen in ihnen vielmehr das geeignete Werkzeug, die deutschen Kaiser, auf italienischem Boden namentlich, zu bekämpfen, wobei der Ertrag der Kreuzzugssteuern mit den Schuldaufnahmen der Kirche die erforderlichen Kriegsmittel lieferte. Erst als die französische Krone unter Philipp IV. (1285 bis 1314) durch die Kirche reich und mächtig geworden war, hat die Politik der Päpste, welche schon der Oberherrschaft über die christlichen Reiche nahekam, die erste große Niederlage durch die absolute Staatsgewalt erlitten. Aber, schon dieser Sieg der Krone Frankreichs stand in engem Zusammenhang mit jenen eigenartigen Einwirkungen, welche sich von der südlichen Seeküste her geltend gemacht haben. § 136. In Südgallien hatte die altrömische Kultur festen Fuß gefaßt. Als dann das Römerreich sich auflöste, und bald der Islam den internationalen Handel mit dem Orient beherrschte, blieb doch der südfranzösischen Küste ein ansehnlicher Anteil am Handelsverkehr im Mittelmeere erhalten. Nicht nur die römische Kultur und Wirtschaft, auch die römische Städteverfassung wußte in Südfrankreich sich durch die Stürme der Völkerwanderung hindurch zu retten. Die lehnsstaatliche Auffassung hat hier wenig Eingang gefunden. Städte und Menschen blieben frei. Das Grundeigentum war zumeist ungebunden und wurde beliebig zerstückelt und veräußert. Der römische geldwirtschaftliche Verkehr mit ausgedehnter Handels- und Gewerbetätigkeit ist hier nie verloren gegangen. Hier hat 1095 die Kreuzzugsbewegung eingesetzt, sofort begleitet von klar ausgeprägten Geschäftsinteressen. Und als nach den Mißerfolgen der Kreuzzüge die religiöse Begeisterung in eine Kritik der Kreuzzüge umschlug, war das geldwirtschaftlich sehr entwickelte Südfrankreich namentlich die Wiege der ersten großen Ketzerbewegung, der Albigenser und Waldenser, denen die Albigenserkreuzzüge den Garaus machen sollten. An diese südfranzösischen Verhältnisse hat sich die Politik der Kapetingerkönige bald angelehnt. Dem beobachtenden Auge konnte es nicht entgehen, daß Gewerbe, Handel und Geldverkehr ebenso sich als Stütze für eine einheitliche starke Staatsgewalt eigneten, wie die lehnsstaatlichen Verhältnisse einer ausschließlich Landwirtschaft treibenden Bevölkerung dem entgegenstanden. Die französische Krone war deshalb früh schon bemüht, die Gründung neuer Städte zu begünstigen, bestehende Stadtprivilegien zu erweitern, den geldwirtschaftlichen Verkehr zu fördern und nach dem Vorbilde südfranzösischer Städte durch besondere Beamte Recht sprechen, die Finanzen verwalten und den Staat in Ordnung halten zu lassen. Die französischen Städte gehörten deshalb bald zu den treuesten Anhängern der französischen Könige. Mit den Kontingenten seiner Städte führte Philipp II. August (1180—1223) seine glücklichen Kriege in Nordfrankreich und Flandern (Schlacht bei Bouvines gegen den deutschen Kaiser Otto IV.). Im südlichen Teile von Frankreich machten die Kapetinger-Könige zu ihrem bescheidenen Krongut um Paris, Orleans und Sens die ersten wichtigeren Gebietserwerbungen mit den Grafschaften Toulouse, Provence und Poitou. Und, als im Jahre 1297 der Streit zwischen Philipp IV. und Papst Bonifazius VIII. begann, da stand dem französischen Staate schon eine straffere Organisation mit juristisch gebildeten besoldeten Beamten und einer Volksvertretung zur Verfügung. Bevor jedoch die damit angebahnte Umbildung des lehnsstaatlichen Frankreichs in ein einheitliches Reich unter der Herrschaft des Absolutismus erfolgen konnte, mußte die Entwickelungsgeschichte noch tief störende Einflüsse vom Norden her verarbeiten. § 137. Kaum 30 Jahre vor dem Beginn der Kreuzzugsbewegung in Südfrankreich eroberte einer der großen Vasallen der französischen Krone, Herzog Wilhelm von der Normandie, das Königreich England. Einer seiner Nachfolger auf dem englischen Throne, Heinrich II. (1154—1189), erwarb durch Erbschaft und Heirat zu dem englischen Königreiche noch mehr als die Hälfte von Frankreich. Einem so übermächtigen Vasallen gegenüber mußte die bescheidene Königsmacht in Frankreich doppelt klug und energisch zu Werke gehen, um der drohenden Vernichtung zu begegnen. Die Kreuzzugswirren kamen auch hierin den Kapetingern zu Hilfe. Dem mit bedenklichen Rechtsverletzungen belasteten König Johann von England (1199—1216) hat Philipp II., August bis 1206 alles Land nördlich der Loire entrissen. Der noch verbleibende Besitz der englischen Krone in Frankreich war jedoch groß genug, um neue Gefahren hervor zu rufen. Nach dem Vertrag zu Verdun (im Jahre 843), durch welchen die drei Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen das Reich Karls des Großen unter sich teilten, gehörte zum westfränkischen Reiche auch die Grafschaft Flandern. Und da in den flandrischen Städten früh schon der altberühmte Gewerbefleiß zur Wohlhabenheit kam, sind hier im Norden Frankreichs ähnliche mehr fortgeschrittene wirtschaftliche und politische Verhältnisse entstanden, wie sie in Südfrankreich herrschten. Es lag nahe, daß schon Philipp II., August bemüht war, auch hier seinen Einfluß zu steigern. Und als Philipp IV. von Frankreich nach dem Aufstand der Zünfte in den flandrischen Städten gegen die Patrizier von diesen zu Hilfe gerufen wurde, eilte er, dieser Einladung zu folgen. Das Resultat seiner Bemühungen entsprach jedoch nicht den von ihm gehegten Erwartungen. Das französische Adelsheer wurde bei Courtrai im Jahre 1302 von den flandrischen Zünften entscheidend geschlagen. Und hier schon begegnete der König von Frankreich den feindlichen Interessen der englischen Krone, welche infolge des Absatzes der englischen Wolle an die flandrischen Weber und Tuchmacher nicht teilnahmslos den Veränderungen in Flandern zusehen konnte, als der Sieg des französischen Heeres über die flandrischen Zünfte bei Cassel im Jahre 1328 die Erfolge der Schlacht bei Courtrai wieder aufgehoben hat. Den äußeren Anlaß eines kriegerischen Konfliktes boten noch Erbansprüche des englischen Königs Eduard III. auf die französische Krone nach dem Aussterben der Kapetinger in gerader Linie (im Jahre 1328). So kam es zu dem mehr als hundertjährigen Kriege zwischen Frankreich und England (1340—1353), welcher darüber entscheiden sollte, ob auch Frankreich dem englischen Könige gehöre oder nicht. § 138. Wie war Frankreich für diesen Entscheidungskampf gerüstet? Die wesentliche Schwächung, welche die Ritterkontingente durch die Kreuzzüge erfahren haben, veranlaßten schon zu Anfang des XII. Jahrhunderts die französischen Könige, in den Städten Bürgermilizen zu organisieren, welche ebenso wie die Vasallen zum Heeresdienste durch die Krone aufgerufen wurden. Der ungünstige Verlauf des zweiten Kreuzzuges (1147—1149) unter Ludwig VII. (1137—1180) hatte das Ansehen der französischen Krone gemindert. Die Führer der städtischen Milizen wetteiferten jetzt mit dem entarteten Landadel im Raubritter- und Banditentum. Die aus den Kreuzzügen zurückströmenden Scharen gesellten sich zu diesen, um vereint das flache Land furchtbar zu verheeren. Trotzdem sollten nach der Auffassung der damaligen Regierung diese abenteuernden „mille-diables“ nicht ausgerottet werden, weil man ihrer bedurfte, um im Kriegsfalle genügende Streitkräfte aufzubringen. Erst Philipp II., August (1180—1223), begann mit Hilfe des Vereins der Chaperons (nach ihrem Abzeichen, einer weißen Kapuze, so genannt) etwa 30'000 dieser organisierten Räuber auf dem Schlachtfelde unschädlich zu machen. Trotzdem hatte auch noch der heilige Ludwig (1226—1270) gegen diese plündernden Kriegsknechte fortwährend zu kämpfen. Als nun im September 1339 der große Kampf gegen die englische Kriegsmacht zum Ausbruch kam, stützte sich der französische König wieder hauptsächlich auf sein Lehnsheer, das von dem schon mit Artillerie ausgerüsteten englischen Söldnerheer bei Crécy (im Jahre 1346), wie bei Maupertuis (im Jahre 1356) vernichtend geschlagen wurde. Unter den vielen von den Engländern gemachten Kriegsgefangenen war Johann II. der König von Frankreich selbst. Mit dem jetzt rasch zum Abschluß kommenden Waffenstillstande sind namentlich drei Ereignisse eingetreten. In Paris erhob sich das Volk und verlangte, unterstützt von einem Teil des Klerus, Abschaffung der Mißwirtschaft von dem Thronerben, vor dessen Augen die Räte des Königs ermordet wurden. Auf englischer, wie auf französischer Seite wurden die Söldlinge zumeist entlassen, welche nun in ungeheueren Scharen das Land überschwemmten und, in Banden von 10 bis 20'000 Mann zusammengetan, alle Schandtaten verübten. Durch planmäßig angelegte großartige Plünderungszüge wurde das Landvolk namentlich zur Verzweiflung gebracht. Eine ungewöhnlich große Zahl französischer Adliger war von den Engländern in ihren siegreichen Schlachten gefangen worden. Nach der Sitte der damaligen Zeit mußten diese Gefangenen durch Zahlung eines entsprechend hohen Lösegeldes von Seiten der Verwandten und Freunde befreit werden. Für den gefangenen König Johann II. waren 3 Millionen Goldtaler als Lösegeld zu zahlen, das erst nach 4 Jahren aufgebracht ward. Das Geld war in Frankreich ungewöhnlich knapp geworden. Alle Hilfsmittel wurden für die Befreiung des gefangenen Adels angewendet. Die kurz vorher aus dem Lande vertriebenen Juden wurden zurückgerufen und mit neuen weitgehenden Privilegien ausgestattet. Namentlich den Bauern, welche die Edelleute spottweise „Jacques bon homme“ (den guten Jakob) nannten, weil sie so vieles geduldig ertrugen, wurde jetzt der letzte Blutstropfen ausgepreßt, um das Lösegeld für die gefangenen Vettern zu erschwingen. Das war auch für den Geduldigsten zu viel. Hunderttausende von Bauern erhoben sich. Hunderte von Schlössern wurden in Schutt gelegt, Tausende von Edelleuten grausam hingemordet. Die entlassenen Söldnerhaufen halfen mit. Endlich wurde dieser große französische Bauernaufstand, Jacquerie genannt, unter entscheidender Mithilfe der englischen Ritter, im Blute erstickt und Paris wieder beruhigt. Der jetzt geschlossene Friede von Bretigny (im Jahre 1360) verkleinerte Frankreich um ein Drittel und ließ das Volk im tiefsten Elend, aus dem es anscheinend keine Rettung mehr geben sollte. Denn nun kannte der Uebermut der umherziehenden Söldnerhaufen keine Grenzen mehr. Ein gegen sie aufgebotenes Heer des Königs wurde geschlagen. Der Staat mußte schließlich den verrufensten dieser Bandenfürer in Sold nehmen, um überhaupt noch Truppen zu haben. § 139. So beklagenswert diese furchtbare Last der Söldnerbanden für das Land war, sie bot doch Gelegenheit, endlich mit französischen Söldnern gegen die englischen Söldnerheere zu kämpfen. Eine hinhaltende Kriegsführung und die Unterstützung der Bevölkerung gegen die englischen Plünderungen führten sogar einen völligen Wechsel in der Kriegssituation herbei, nachdem in England die Pest wiederholt furchtbar gewütet, von Frankreich aus unterstützt, Aufstände in Schottland die englische Kriegsmacht zersplitterten und neue blutige Kämpfe innerhalb der englischen Königsfamilie, Streitigkeiten mit den Päpsten, die Wiclifsche Reformationsbewegung, der englische Bauernaufstand unter Wat Tyler und häufig Stockungen in den Soldzahlungen an das englische Heer das Uebrige dazu beigetragen hatten. Im Jahre 1388 erlosch der Krieg ohne Friedensschluß, nachdem die Engländer nördlich der Loire all ihre Besitzungen bis auf Calais verloren hatten. Mit dem Tode Karls V. (1364—1380) hatte jedoch unter seinem kaum 12jährigen Nachfolger Karl VI. (1380—1422), der dem Wahnsinn verfiel, das Blatt sich rasch wieder zu Ungunsten Frankreichs gewendet. Die Parteien des hohen Adels bekämpften sich in der erbittertsten Weise. Mit dem Ausbleiben der Soldzahlungen an das Heer durchzogen wieder die plündernden Söldnerhaufen das Land. Die große Feudalpartei der Burgunder knüpfte sogar direkte Beziehungen zum König von England an. Und als der kühne Lancaster Heinrich V. im Jahre 1415 vor Azincourt erschien, kämpfte abermals ein französisches Ritterheer gegen die englischen Söldner, um wie bei Crécy und Maupertuis eine furchtbare Niederlage zu erleiden. Trotzdem zehrten die Adelsfehden, die Plünderungen der entmenschten Söldnerbanden, die Pöbelherrschaft in Paris unaufhörlich weiter am Mark des Landes. Im Juni 1420 zog König Heinrich V. von England in Paris ein als „Erbe und Regent des Königreichs Frankreich“. § 140. Als König und Adel das Kämpfen gegen die Herrschaft der Engländer schon aufgegeben hatten, kam die Rettung aus dem Volke, vertreten durch das 17jährige Hirtenmädchen Jeanne d’Arc und den durch Handel nach dem Orient reich gewordenen Großkaufmann Jacques Coeur aus Bourges. Das Gottvertrauen der „Jungfrau von Orléans“ konnte die Begeisterung des Volkes zur Vertreibung der Landesfeinde wohl wecken und dadurch im Jahre 1429 gewisse Erfolge erzielen, um so mehr, als dem kühnen Heinrich V. in England seit dem Jahre 1422 ein Knabe von wenigen Monaten auf dem englischen Throne gefolgt war, an dem sich bald die Spuren geistiger Umnachtung zeigten. Deshalb loderten die Kämpfe innerhalb der englischen Königsfamilie um den Thron in alter Heftigkeit auf und die geordnete Bezahlung der englischen Truppen blieb aus. Aber den Sold für die französischen Truppen aufzubringen, das vermochte eine Jeanne d’Arc nicht. Und, als diese Zahlungen ausblieben, durchzogen abermals wilde Kameradien der Söldlinge fortgesetzt das unglückliche Land. Jetzt schien, den Bauern namentlich, das Letzte geraubt zu werden. In stummer Verzweifelung flüchteten sie in Wälder und Sümpfe, um der bestialischen Behandlung der „Schinder“, „Scheerer“ und „Würger“, wie diese Banditen sich selbst nannten, zu entgehen. Hier konnte nur eine fundamentale Neugestaltung des französischen Finanzsystems die sichere Wendung zum Besseren herbeiführen. Und diese Arbeit leistete der kluge Finanzmann Jacques Coeur. Auf der Reichsversammlung zu Orléans im Jahre 1439 wurde folgendes Reformprogramm angenommen: Die verzettelten königlichen Domänen sollten zurückerworben werden, um aus deren Ertrag den Unterhalt des Königs und seine Hofhaltung zu bestreiten. Die Salz- und Verkehrssteuern mit den Ausfuhrzöllen sollten zur Deckung der Verwaltungskosten dienen. Zur Aufbringung der Kosten für die Kriegsmacht wurde die „Taille“ bewilligt, eine Grund- und Personalsteuer in der festen Höhe von 1'200'000 Frcs., welche durch den königlichen Schatzmeister zu erheben war. Adel und Klerus, nicht aber deren Untertanen, blieben von der Taille befreit. Die großen Grundherren mußten für die Zukunft auf die Haltung eines bewaffneten Gefolges verzichten. Dieses Programm bedeutete einen wesentlichen Schritt vorwärts auf der Entwickelungsbahn zum kapitalistischen Absolutismus. Es bleibt deshalb begreiflich, daß neue Verschwörungen des Adels einsetzten, die jedoch im Sande verliefen und, mit dem hussitischen Aufruhr verglichen, den Namen „Praguerie“ erhielten. Die im Lande umherziehenden Söldner wurden bald nach der Ebene von Chalons dirigiert und hier aus 90'000 Mann die Tüchtigsten für ein stehendes Heer ausgelesen, die weitaus größere Masse in klug geordneter Weise nach ihrer Heimat zurückgeschickt. Bald folgte die Organisation einer Artillerie. Und nun brachte Sieg auf Sieg die englischen Besitzungen in Frankreich an die französische Krone, so daß England im Jahre 1453 in ganz Frankreich nur noch den Landungsplatz Calais besaß. Frankreich war dauernd von der englischen Herrschaft befreit und die französischen Könige hatten einen sehr bedeutenden Machtzuwachs an Ländergebiet, wie an geordneten Finanz- und Kriegsmachtverhältnissen gewonnen. § 141. Der nun folgende König Ludwig XI. (1461—1483) war die best geeignete Persönlichkeit, um dem kapitalistischen Absolutismus mit allen politischen Künsten eines orientalischen Herrschers zum Siege zu verhelfen. Die französische Krone war immer noch von mächtigen Vasallen umgeben, deren Raubbegierde dem Könige gefährlich werden konnte. Ludwig XI. hat unter ihnen mit Gift und Dolch und politischen Intriguen aller Art wie ein furchtbarer Würgeengel aufgeräumt. Die Herzöge und Grafen haben die ihnen drohende Gefahr bald erkannt und sich deshalb im Jahre 1465 zur Liga des öffentlichen Wohles (ligue du bien public) gegen den König zusammengeschlossen, der sich nach einer Niederlage zunächst zu einem demütigenden Frieden mit dem hohen Adel verstehen mußte. Aber das alles hinderte ihn nicht, seines Amtes als Würgeengel unter den Landesfürsten zu walten. Da war der fast übermächtige Karl der Kühne von Burgund, welcher zunächst die Picardie bedrohte. Ludwig XI. errichtete im Jahre 1470 ein militärisches Uebungslager in der Normandie, um hier sein stehendes Heer unter seiner persönlichen Beaufsichtigung, den Scharfrichter stets an seiner Seite, mit äußerster Genauigkeit für die Aufgaben einer Besatzung in der Picardie einzuüben. Im Januar 1474 zogen 16 geldbeladene Maulesel in Bern ein. Es war die Morgengabe Ludwig XI. an die Schweizer Tapferkeit, an welcher die Burgundische Macht und der Burgunder Herzog in den Schlachten bei Grandson, Murten (1476) und Nancy (im Jahre 1477) zerschellen sollte. Von da ab bezog die Krone Frankreichs bald solche Massen schweizer Söldner, daß nach der Aeußerung eines Chronisten „eidgenössisches Fleisch billiger wurde als Kälbernes“. Gestützt auf diese Macht, zogen Ludwig XI. und sein Nachfolger Karl VIII. (1483—1498) alle noch selbständigen Grafschaften und Herzogtümer ein, so daß der absoluten Herrschaft der Krone jetzt schon Frankreich in seiner natürlichen Ausdehnung bis zu den Meeren, den Pyrenäen und Alpen unterstellt war. Nur im Nordosten blieb die Grenze noch schwankend. Hier ist die Politik der französischen Könige zum ersten Male in das Gehege der Habsburger Weltmachtspolitik gekommen. Die von da ab datierenden Rivalitätskriege beider Mächte wurden vielfach durch jene französischen 30jährigen Bürgerkriege begleitet (vom Jahre 1562— 1598), welche den Namen „Hugenottenkriege“ tragen und mit der Reformationsbewegung des XVI. Jahrhunderts in Verbindung stehen. Der Gang der französischen Geschichte ist dadurch ein komplizierterer geworden. Unsere Darstellung wird zweckmäßigerweise die Hugenottenkriege besonders behandeln. § 142. Das lutherische Glaubensbekenntnis mit seiner grundsätzlichen Anerkennung der jeweiligen Staatsgewalt hat in Frankreich nur wenig und überwiegend nur in den unteren Volksklassen Anhänger gefunden. Erst die Calvinsche Lehre, wie sie von der reformierten Republik Genf aus verbreitet wurde, hat in Südfrankreich, der alten Geburtsstätte der Waldenser und Albingenser, gezündet. Dieses reformierte Glaubensbekenntnis enthielt zugleich ein politisches Programm. Wie die Monarchomachen (Monarchenbekämpfer), so verkündete auch Calvin den Grundsatz der Volkssouveränität. Jedem Mißbrauch der Herrschergewalt gegenüber sei zum mindesten das Recht des bewaffneten Widerstandes durch das Volk zulässig. Dem Grundsatz der Volkssouveränität entsprach das Prinzip der Freiheit und Gleichheit der Menschen und die Notwendigkeit einer Beseitigung aller bestehenden feudalen Unfreiheiten. Für Südfrankreich, wo die lehensstaatliche Auffassung nur wenig Eingang gefunden hatte, waren das keine utopischen Sätze. Die Südfranzosen waren zumeist freie Leute mit kommunaler Verfassung in den Städten von Alters her. Was sie bedrückte, das war die rücksichtslose Gewalt des Absolutismus der französischen Krone, welche die früher landesherrlichen Fürsten in den verschiedenen Gegenden Frankreichs schonungslos entthront hatte und die letzten Rechte einer Selbstverwaltung des Volkes zu vernichten bemüht war. Das Evangelium in der Calvinschen Interpretation bedeutete also hier Beseitigung der bestehenden politischen Mißstände. Nicht nur der Handwerker mit den wohlhabenden Bürgern in den Städten, insbesondere auch der hohe Adel, der so viel mit den französischen Königen wegen Vergewaltigung seiner historischen Rechte zu kämpfen hatte, wurden begeisterte Anhänger der Calvinschen Lehre. Zu den Führern der neuen Religionsbewegung zählten: die drei Brüder Coligny, Anton von Bourbon, Prinz Ludwig von Condé, Heinrich von Navarra, Herzog von Rohan, Prinz Soubise u.a. Ihr Name „Hugenotten“ leitet sich von „Ignots“, „Iguenots“ (etwa Eidgenossen) ab, wie sich zeitweilig die Opposition in Genf benannt hat. Anders lagen auch diesmal die Verhältnisse in Nordfrankreich. Hier war fast alles Land noch mit feudalen Diensten und Reichnissen belastet. Wie hätte man sich einem Religionsbekenntnis anschließen können, das diese Volkslasten als ungerecht verwarf? Hier war seit dem hundertjährigen Kriege der nationale Gegensatz zwischen Frankreich und England noch besonders lebhaft in Erinnerung geblieben. England war seit der Königin Elisabeth (1558—1603) Zufluchtsort auch für das reformierte Bekenntnis. Also konnte Nordfrankreich nicht der gleichen Religionsgemeinschaft angehören. In der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts wurden, in Flandern namentlich, heftige Kämpfe zwischen den Geschlechtern und den Zünften ausgefochten. Die Geschlechter waren katholisch, die Zünfte und Wollweber Ketzer. Jahrzehnte lang haben die flandrischen Geschlechter in der benachbarten Picardie Zuflucht suchen müssen und hier die Saat der prinzipiellen Abneigung gegen ketzerische Volksbeglückungen ausgestreut. So wurde die Picardie jetzt der Hauptsitz leidenschaftlicher Bekämpfung der Hugenottenbewegung. Da aber schon vorher im französischen Adel zwei Parteien sich gebildet hatten, deren Führer auf der einen Seite ein Bourbon, auf der Gegenseite ein Guise war, und nun der Bourbon als ein Führer der Hugenottenpartei angehörte, wurde natürlich der Guise, welcher bald selbst nach der französischen Königskrone strebte, Führer der katholischen Kriegspartei gegen die Hugenotten. § 143. Die lange Dauer der Hugenottenkriege (1562—1598) hat beide Parteien Hilfe im Auslande suchen und finden lassen. Die Hugenotten wurden aus Deutschland und von England, die Partei Guise, welche sich erst später (im Jahre 1576) als heilige Liga konstituierte, von Spanien namentlich unterstützt. Zur Feier der Pariser Bluthochzeit (1572) sind gegen 30'000 Hugenotten in Frankreich ermordet worden. Zwei Könige von Frankreich: Heinrich III. († 1589) und Heinrich IV. († 1610) mußten ihre Zuneigung zur Hugenottenpartei mit dem Tode durch Mörderhand büssen. Im Jahre 1573 kämpfte eine katholische Adelspartei unter Führung des Herzogs von Alençon mit den Hugenotten gegen die Partei Guise. Im Jahre 1588 erklärten sich die französischen Reichsstände gegen die katholische Liga für den Hugenottenkönig. Der so leidenschaftlich geführte Bürgerkrieg schlug dem Volkswohlstande tiefe Wunden. Die französischen Staatsschulden sind von 40 Millionen im Jahre 1559 auf 300 Millionen Frcs. im Jahre 1598 angewachsen, trotzdem inzwischen der Staat viermal Bankrott gemacht hatte. Die erste Geld-Börse Frankreichs, Lyon, ist durch diese Wirren vernichtet worden und die Hauptstadt Paris ging im Jahre 1588, nach der vierten Einstellung der Zahlungen an die Staatsrentenempfänger, aus Opposition gegen den König, welcher sich den Hugenotten zuneigte, zur Partei der Liga über. So kam denn nach Erschöpfung der Hilfsmittel auf beiden Seiten im Jahre 1598 das „Edikt von Nantes“ zustande, welches den Reformierten die bürgerlichen Rechte zuerkennt, aber nur dem hohen Adel vollständig, den Bürgern nur für eine bestimmte Anzahl von Städten und Flecken, freie Religionsübung gewährte. Als Garantie für diese Zusage wurde den Hugenotten gestattet, eine bewaffnete organisierte Partei im Staat zu bleiben und gewisse Sicherheitsplätze, wie vor allem die Festung La Rochelle an der atlantischen Seeküste, besetzt zu halten. Einen dauernden Frieden konnte dieses Edikt von Nantes nicht herbeiführen. Die Waffen der Hugenotten wurden schon im Jahre 1625 zu einem neuen Adelsaufstande gegen den König benützt, weshalb der leitende Minister Frankreichs, Kardinal Richelieu befahl, alle Befestigungen der Hugenotten im Inlande niederzulegen. La Rochelle wurde im Jahre 1628 von ihm erobert und seine Verteidigungswerke zerstört. Alle übrigen Punkte des Edikts von Nantes aber im Jahre 1629 auch durch Kardinal Richelieu bestätigt, sodaß von da ab die Hugenotten nicht mehr eine bewaffnete politische Partei, wohl aber eine staatlich geduldete Sekte sind. Auch der Nachfolger des Kardinals Richelieu, der Kardinal Mazarin, hat an dieser Politik der Toleranz den Hugenotten gegenüber festgehalten. Die französischen Adelsaufstände gegen die wachsende unheilvolle Macht des königlichen Absolutismus dauerten an und wiederholten sich in den Jahren 1630, 1641, 1643 und endlich 1648 in der „Fronde“. Unter dem Selbstherrscher Ludwig XIV., welcher im Alter von fünf Jahren 1643 den französischen Thron bestieg, und von 1661—1715 ohne leitenden Minister selbständig regierte, wagte der französische Adel keine oppositionelle Bewegung mehr. Wohl aber begann unter dem Einfluß frömmelnder Maitressen seit dem Jahre 1675 von Neuem die Verfolgung der Hugenotten. Im Jahre 1685 wurde das Edikt von Nantes wieder aufgehoben. Die wenig über 20 Millionen Einwohner zählende Bevölkerung Frankreichs verlor dadurch weit über 1 Million ihrer intelligentesten und wohlhabendsten Leute. Aber die politischen Ideen Calvins waren damit nicht ausgerottet. Sie kamen vielmehr auf dem Umwege der Beteiligung Frankreichs an dem nordamerikanischen Freiheitskriege (von 1775—1783) und der Philosophie des XVIII. Jahrhunderts, welche in Montesquieu, Voltaire und Jean Jacques Rousseau abermals aus Calvin’schen Quellen schöpft, wieder und haben im Jahre 1789 in der großen Revolution mit dem französischen Absolutismus und seinen „unverletzlichen“ Feudalrechten blutige, radikale Abrechnung gehalten. § 144. Der französische Absolutismus, wie er, von Philipp IV., und Ludwig XI. namentlich begründet, von Ludwig XIV. zur systematischen Durchbildung gebracht wurde, folgte in solchem Maße den Spuren des orientalischen Absolutismus, daß schließlich selbst der Harem nicht fehlen durfte. Die sittliche Vertiefung der Auffassung des Königstums, wie sie durch eine verständnisvollere Aufnahme der Hugenottenbewegung möglich gewesen wäre, sollte verhindert werden durch die persönlichen Gegensätze zwischen den Bourbons und den Guisen und durch einen formalreligiösen Fanatismus, der in einem vielhundertjährigen haßerfüllten Kampfe gegen den Islam auf spanischem Boden geboren wurde, den aber besonnene katholische Kirchenfürsten, wie die Kardinäle Richelieu und Mazarin, niemals geteilt haben. Was unter solchen Umständen schließlich als eigentlicher Inhalt des französischen Absolutismus übrig blieb, das war der nackte, kalte Egoismus der Herrschsucht und der Genußsucht. Ludwig XI. wollte allein über ganz Frankreich regieren, deshalb hat er die einzelnen Landesherren mit Gift, Richtschwert und politischen Intriguen beseitigt. Als die königliche Herrschsucht diesen Teil des Programms erfüllt sah, begannen die Eroberungen im Auslande: in Italien, an der niederländischen Grenze, gegen Deutschland. Soweit es sich hier um die drohende Habsburger Welt-Herrschaft gehandelt hat, kann diesen Kriegen eine gewisse welthistorische Berechtigung nicht abgesprochen werden, wenn es auch immer eine seltsame Erscheinung bleiben wird, daß die „allerchristlichsten Könige“ in diesen Zeiten mit dem „Erbfeind der Christenheit“, den türkischen Herrschern, ein langdauerndes Bündnis gegen christliche Reiche abgeschlossen haben. Als aber mit dem Ende des 30jährigen Krieges in Deutschland (1648) die Habsburger Eroberungsgewalt erschöpft war, wurden die darüber hinausgehenden französischen Eroberungskriege zu einer europäischen Gefahr, gegen welche sich im Jahre 1689 die übrigen europäischen Staaten in der Wiener Allianz zusammengeschlossen haben. Das Ende auch dieser französischen Weltherrschaftspläne konnte nur eine völlige Erschöpfung des französischen Volkswohlstandes und damit eine Vernichtung des französischen Absolutismus in der einen oder anderen Form sein. § 145. Dieser maßlosen Herrsch- und Ruhmsucht der Könige mußte natürlich der Glanz der Hofhaltung entsprechen. Um aber neben dieser frevelhaften Verschwendung der Hofhaltung die Eroberungspolitik beibehalten zu können, war ein absolut ergebenes großes stehendes Heer, das durch den Henker und durch reichliche Soldzahlungen dem Könige in Treue erhalten blieb, eine Notwendigkeit. Die Riesensummen für Hofhaltung, stehende Heere und Eroberungskriege zahlte nicht der König. Die glückseligen Untertanen mußten dafür aufkommen. Doch auch hier ist wieder eine besondere Unterscheidung notwendig. Der König brauchte zur Hofhaltung eine Hofgesellschaft, welche die mit fabelhaftem Glanze ausgestatteten Hoffeste feiern half. Das kostete den Beteiligten natürlich abermals viel Geld. Um diesen die Aufbringung der erforderlichen Geldmittel zu ermöglichen, wurden von Rechts wegen zwei Einrichtungen vorgesehen: einmal wurde diesen Kreisen die Steuerfreiheit bewilligt und dann hat man all ihre früheren landesherrlichen Rechte ihren Untertanen gegenüber bestehen lassen. Nur nach oben, der Königskrone gegenüber, wurde mit den einzelnen landesfürstlichen Gewalten aufgeräumt. Nach unten, dem Volke gegenüber, blieben die landesfürstlichen Rechte in Steuersachen usw. bestehen. Das französische Volk teilte sich also nicht nur in zwei Klassen: in eine steuerpflichtige und in eine steuerfreie Bevölkerung, das französische Volk erhielt auch mit dem Siege des Absolutismus zwei Steuerherren statt einen, nämlich den König und die früher landesherrlichen Herzöge und Grafen. All jene feudalen Abgaben der Bauern, wie namentlich die Grundzinsen, Besitzwechselgebühren, Rückkaufsrechte, Jagd- und Taubenrechte, Wein-, Mühlen- und Backofenbannrechte, Brücken- und Wegezölle, Geldbußen an die gutsherrlichen Gerichte, Zehnten, Frohnden u.s.w. wurden, trotz der Aufsaugung der verschiedenen Herzogtümer und Grafschaften durch die Königskrone, zu Gunsten der als Landesherren depossedierten Grafen und Herzöge beibehalten und die Staatssteuern des Königs dem noch hinzugefügt. Der Glanz der Hofhaltung war an der „Heiligkeit“ und „Unverletzlichkeit“ dieser Feudalrechte indirekt interessiert. Trotzdem verarmte der Adel rasch an dem so verschwenderischen Hofe und mußte vielfach seine Privatbesitzungen an Bauern zerstückeln oder an Bürger verkaufen. Soweit es dem Könige beliebte, wirkte er diesem Verarmungsprozeß des Hofadels durch reiche Pensionen und Gnadengeschenke entgegen. Selbst der Klerus wurde nach den Bedürfnissen der Hofhaltung organisiert. Einer kleinen Zahl überreicher, am Hofe verkehrender Prälaten standen 65—75'000 jämmerlich besoldete Pfarrer gegenüber, welche mit dem Volke hungern mußten und von ihren Bischöfen verjagt, verbannt, versetzt werden konnten, wie es denselben beliebte. § 146. Die Besteuerungsgrundsätze des königlichen Absolutismus beschränkten sich nicht etwa auf die Aneignung des volkswirtschaftlichen Produktivitätszuwachses, sie griffen auch nicht nur bis zu jener Grenze moderner kapitalistischer Aneignung zu, welche durch die Tragfähigkeit des Volkes bezeichnet wird. Der französische Absolutismus folgte den Spuren des schlechten orientalischen Despotismus, welcher die Henne schlachtete, die die goldenen Eier legte. Der steuermäßige Anspruch des absoluten Königs in Frankreich ist unbeschränkt. Er geht auf das gesamte Vermögen und den gesamten Arbeitsertrag seiner Untertanen. Ludwig XIV. schrieb in seiner Instruktion für den Dauphin: „Alles, was sich im Umfange unserer Staaten befindet, gehört uns. Sie sollen davon überzeugt sein, daß die Könige von Natur das volle und freie Verfügungsrecht über alle Güter haben, die im Besitz des Klerus und der Laien sind, um von denselben zu jeder Zeit nach dem allgemeinen Bedürfnis ihres Staates Gebrauch zu machen.“ Nicht nur die Güter, auch die Menschen blieben nicht verschont. Mit furchtbarer Willkür wurden unter Ludwig XIV. die Werbungen für die Armee durchgeführt, als der Menschenbedarf für die vielen Kriege immer größer wurde und das Heer von 180'000 Mann im Jahre 1672 rasch auf 400'000 Mann erhöht wurde. Einer Laune des Herrschers halber mußten über 1 Million Hugenotten aus dem Lande flüchten. Die Bevölkerung Frankreichs ging von 23 Mill. im Jahre 1685 auf 19 1⁄2 Mill. zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts zurück. Der Ausspruch Ludwig XIV.: „Der Staat bin ich“ ist zwar ebensowenig verbürgt, wie der Ausspruch Ludwig XVI.: „Nach uns die Sündflut“. Aber ein Erlaß Ludwig’s XVI. trägt allerdings die Begründung: „car tel est notre plaisir!“ — weil das uns Vergnügen macht! Etwas anderes als das persönliche Vergnügen der Herrscher scheint der französische Absolutismus unter dem maßgebenden „allgemeinen Bedürfnis des Staates“ bei seiner unbeschränkten Verfügung über Güter und Menschen innerhalb der Grenzen seines Reiches nicht verstanden zu haben. Einem solchen Absolutismus mußte von Anfang an das Todesurteil gesprochen sein. § 147. Entwicklungsgeschichtlich bieten folgende Daten aus der Politik des französischen Absolutismus ein besonderes Interesse: Schon Ludwig XI. hatte erkannt, welche Vorteile der König aus einem größeren Geldvorrat im Lande ziehen könne. Da die alten Börsenplätze der Champagne ihre Bedeutung verloren hatten und nach Antwerpen die Genfer Börse mehr und mehr geschäftlichen Einfluß gewann, wurde — zur tunlichsten Verhütung der Geldausfuhr aus Frankreich — 1463 der Besuch der Genfer Messen den französischen Kaufleuten verboten und dafür Lyon mit dem Privileg der Steuerfreiheit für fremde Kaufleute, mit dem strengen Wechselrecht u.s.w. ausgestattet. Von 1463—1562 war Lyon der Hauptwerbe- und Sammelplatz für Söldner zu den großen Kriegen Franz I. gegen Kaiser Karl V. Im Jahre 1522 hat Franz I. hier seine erste verzinsliche Börsenanleihe aufgenommen. Aber die neue Börsenherrlichkeit dauerte nicht lange. Der französische Staatsbankrott vom Jahre 1557 und die Hugenottenkriege (1562—1598) haben die Lyoneser Messen vernichtet. 1575 ist Gras auf dem Börsenplatze von Lyon gewachsen. Die notwendigen Anleihen wurden jetzt nach wie vor als Zwangsanleihen auf die Untertanen repartiert und erhoben. Auch die kolonialen Erwerbungen, welche unter Franz I. schon in Canada begonnen hatten, traten unter dem Einfluß der Habsburger- und Hugenottenkriege wieder zurück. Endlich datiert seit Franz I. die absolutistische Getreidepolitik. Alle mittelalterlichen Beschränkungen zu Gunsten der Städteversorgung blieben mit den lokalen Zöllen und Sperren bestehen, aber die Getreide-Ein- und Ausfuhr über die Landesgrenze wurde zum königlichen Dominialrecht erklärt und nur mit königlicher Erlaubnis und gegen entsprechende Zahlung gestattet. Im Jahre 1560 soll Frankreich etwa 100'000 To. Getreide nach Spanien und Italien ausgeführt haben. Das hörte zur Zeit der Hungersnöten, welche die Hugenottenkriege begleitet haben, wieder auf. Die wohlwollendere Regierung Heinrichs IV. gab die Getreideausfuhr wieder frei, welche den Weg nach Spanien und Portugal bevorzugte. Indeß war dieses verhältnismäßige Gedeihen der französischen Landwirtschaft nicht von langer Dauer. Die Grund- und Personalsteuer (Taille), welche hauptsächlich auf den Schultern der Bauern ruhte und im Jahre 1439 zum Unterhalt des Heeres als feste Summe von 1'200'000 Frcs. eingeführt worden war, hatte unter dem Einfluß des Kriegsbedarfs bis 1589 schon die Höhe von 16 Mill. Frcs. erreicht. Unter Heinrich IV. hielt sich diese Steuerleistung auf gleicher Höhe, was den Bauern ein Fortkommen ermöglichte. Aber von 1610 ab stieg die Taille rasch auf 26 Millionen im Jahre 1634, " 44 " " " 1642, " 53 " " " 1659, " 66 " " " 1715, dem Todesjahre Ludwigs XIV.! In etwa gleicher Proportion stieg der Ertrag der Salzsteuer (Gabelle). Taille und Gabelle haben noch im Jahre 1642 vier Fünftel der Einnahmen des französischen Staates geliefert. Hier wurde den Bauern als Steuern abgenommen, was zu ergreifen war. Ganze Provinzen verödeten. Die Bauern flüchteten nach der Stadt und verkauften ihren Besitz zu Schleuderpreisen. Für 1548, 1586, 1593—95, 1630—75 werden Bauernunruhen, Volksaufstände in Folge des Steuerdruckes und Hungersnotrevolten berichtet, die von 1675—1705 vielfach unter dem Titel „Hugenottenverfolgungen“ niedergedrückt werden. Wollte also der Absolutismus noch länger wirtschaften, so mußten neue wirtschaftspolitische Bahnen betreten werden. Der Mann, welcher hierzu auch neue Ideen mitbrachte, war Jean Baptist Colbert, der Leiter des französischen Finanzwesens in den Jahren 1662—1683. § 148. Von einer eigentlichen Begünstigung der Landwirtschaft kann bei Colbert keine Rede sein. Er hat nur einige Ungeheuerlichkeiten in der Landwirtschaftspolitik seiner Zeit beseitigt. In jenen Provinzen, in welchen die Taille die Bauern von ihren Höfen vertreiben mußte, hat Colbert eine Ermäßigung dieser Steuer eintreten lassen soweit, daß die Bauern bleiben konnten. Der Ertrag dieser Steuer ist deshalb in den Jahren 1662—1680 von 53 auf 35 Mill. Frcs. zurückgegangen, um nach dem Tode Colberts bis zum Jahre 1715 rasch auf 66 Millionen wieder anzusteigen. Colbert hat den Steuerbeamten verboten, den Bauern das Vieh wegzupfänden, weil dadurch die Fleischversorgung des Landes in Gefahr käme. Weil Frankreich damals häufig im Herbst Getreide nach dem Auslande verkaufte, das im Frühjahre zu höheren Preisen für die Volksernährung wieder zurückgekauft werden mußte, nahm Colbert eine volkswirtschaftliche Regulierung der Getreide-Ein- und Ausfuhr vor und zwar nach Maßgabe der Preisbewegung. Bei billigen Inlandspreisen wurde die Ausfuhr freigegeben. Zogen die Getreidepreise etwas an, so kam ein proportionaler Ausfuhrzoll in Anwendung, der bei noch höheren Preisen sich in eine Ausfuhrsperre verwandelte. In analoger Weise behandelte Colbert die Getreideeinfuhr. Die Weinausfuhr wurde von ihm begünstigt. Um den Hungersnöten besser zu begegnen, machte er durch Entwässerung größere Flächen kulturfähig. Auch hat er einem besseren Ausgleich der Ertragsüberschüsse und damit der Preise zwischen den verschiedenen Provinzen Frankreichs seine Aufmerksamkeit zugewendet. Sein Hauptaugenmerk aber war darauf gerichtet, ergiebigere Steuerquellen für den König zu erschließen. Was er an den direkten Steuern nachlassen zu müssen glaubte, das hat er durch Erhöhung der indirekten Steuern wieder eingebracht. Seine Politik war bemüht, möglichst viel Geld im Lande zu haben. Nachdem eine schnelle Bereicherung auf der Basis der so sehr ausgeraubten Landwirtschaft unmöglich geworden war, wurde auf eine Herabsetzung des Zinsfußes hingewirkt, das Land mit einem Netz von Straßen und Kanälen durchzogen und so der Verkehr wesentlich erleichtert. Es wurden Eisenarbeiter aus Nürnberg, Glasarbeiter aus Venedig, Strumpfwirker aus England, Tuchfabrikanten aus Holland bezogen und im Lande angesiedelt. Colbert kaufte gewerbliche Geheimnisse, bessere Maschinen und Werkzeuge, gewährte den tüchtigsten jüngeren Arbeitern Prämien. Um den ungünstigen Einfluß einer irrationellen Armenpflege auf dem Arbeitsmarkte zu beseitigen, sollten die Klöster statt Speise und Trank Wolle und überhaupt Arbeitsmaterial als Almosen spenden. Die Zahl der Feiertage wurde um 17 vermindert, die Auswanderung untersagt, der Verrat von Fabrikationsgeheimnissen und die Geldausfuhr bei Todesstrafe verboten. Colbert hat durch Prämien verschiedener Art die französische Handelsflotte zu einer höchst ansehnlichen Entwickelung gebracht und durch eine dominierende Kriegsmarine geschützt. Die französischen Kolonialerwerbungen in Nordamerika, Ostafrika und Indien nahmen jetzt rasch zu. Kurz: die ganze französische Volkswirtschaft hat durch den Colbertismus ein anderes Aussehen erhalten. Gegen Ende seiner Verwaltung zählte Frankreich 50'000 Webstühle, 64'000 Arbeiter in der Wollweberei, 17'000 in der Spitzenfabrikation, die Jahresproduktion an Seidenfabrikaten wird auf 50 Millionen Frcs. angegeben. Frankreich war der bedeutendste industrielle Exportstaat und eine der ersten Kolonialmächte Europas geworden. Beim Tode Ludwigs XIV. (1715) war der Kolonialbesitz 2 1⁄2mal größer als Frankreich selbst und auf dem besten Wege, von Mexiko ab den ganzen nordamerikanischen Kontinent und in Asien das gewaltige ostindische Reich mit der französischen Krone zu verbinden. Es war auch Colbert gelungen, die vorher wieder einmal verzettelten königlichen Domänen zurückzuerwerben und die Staatseinnahmen von 84 Mill. Frcs. im Jahre 1662 auf 116 Mill. Frcs. im Jahre 1683 zu heben. Aber was wollte dieser Einnahmezuwachs um 32 Mill. Frcs. bedeuten bei der maßlosen Verschwendungssucht der königlichen Hofhaltung und dem ungeheueren Mehrbedarf für Kriegszweke unter dem Absolutismus eines Herrschers, der dem Wahne einer Weltherrschaft nachjagte? Wie Colbert mit einem teilweisen Staatsbankrott (im Jahre 1664) begonnen hatte, so stand bei seinem Ableben (im Jahre 1683) schon wieder ein neuer größerer Staatsbankrott vor der Türe. Das Danaidenfaß des französischen Absolutismus konnte auch ein Finanzgenie wie Colbert nicht füllen. § 149. Als im Jahre 1715 der Eroberer Ludwig XIV. unter den lauten Verwünschungen seines Volkes gestorben war, hatten die Staatsschulden, trotz der häufigen Staatsbankrotte, die Höhe von 2412 Mill. Frcs. erreicht, welche die Gesamtsteuereinnahme der Staatskasse von 160 Mill. Frcs. mit einer Zinsforderung von 80 Mill. Frcs. belastete. Als dann die einzelnen Schuldposten auf ihre Berechtigung geprüft wurden, konnten 200 Mill. von den Forderungen der Lieferanten und der Finanzbeamten als unberechtigt gestrichen werden. Bei dem herrschenden System bereicherte sich eben ein Jeder, wann und wo er konnte. Die Maitressen der Könige haben der Staatskasse ungezählte Millionen gekostet. Der leitende Minister, Kardinal Mazarin, hat jährlich der Staatskasse 20 bis 30 Mill. — also etwa den sechsten Teil der gesamten Staatseinnahmen — für „geheime Ausgaben“ entnommen und sich und seine Verwandten ungeheuer bereichert. Eine Staatssteuerverpachtung vom Jahre 1718 für 48 1⁄2 Mill. Frcs. ließ den Privatunternehmern einen jährlichen Gewinn von 15 bis 16 Mill. Frcs. Um diese Zeit schrieb ein Bischof an den Minister: „Unser Landvolk lebt in furchtbarem Elend. Es fehlt an Betten, Möbeln, Gersten- und Haferbrot. Sie müssen sich das Brot vom Munde absparen, um ihre Steuern zahlen zu können. Unsere überfleißigen Bauern können nicht Steuern zahlen und zugleich ihr trockenes Brot verdienen.“ Die elegante Hofgesellschaft nannte dieses furchtbare Elend des Landvolkes namentlich „Bon Homme misère“ — das Elend der guten Leute. Staatsbankrott, Münzverschlechterungen, Zwangsanleihen, Aemter- und Privilegien-Verkauf gehörten zu den selbstverständlichen Requisiten der absolutistischen Staatswirtschaft. Wer kümmerte sich darum, daß die Steuerpächter und die Richter, die ihre Aemter gekauft hatten, dem armen Volk doppelt zur Last fielen? Seit dem Jahre 1692 nahm die Krone den Städten sieben mal ihre Privilegien, um sich dieselben für hohe Summen immer wieder abkaufen zu lassen. Auch für einzelne Steuern, wie z.B. für die Salzsteuer, ließ man für einzelne Provinzen gegen entsprechende Zahlungen an die Krone fast vollständige Ablösungen zu. Die Folge war, daß die Salzsteuer die einzelnen Provinzen ganz verschieden, schwankend von 2 bis 62 Frcs. pro Pfund, traf! Schmuggel und Unterschleif wurden dadurch geradezu groß gezogen. Ließ sich aber ein armer Steuerzahler auf diesem Wege fassen, dann büßte er mit dem Galgen. So wollten es die Einnahmeinteressen der Staatskasse. Seit Colbert hat man in der Getreidepolitik bei den fast andauernden Hungersnöten sich auf das Ausfuhrverbot beschränkt. Aber reichen Spekulanten und den Günstlingen des Königs war es immer möglich, Getreide im Inlande aufzukaufen und zu exportieren. Erst im Jahre 1774 verzichtete Ludwig XVI. ausdrücklich auf das Recht der Kornausfuhr für eigene Rechnung. § 150. Unter solchen Umständen mußte jedes Mittel, Geld zu verschaffen, recht sein. Als deshalb der Börsenspekulant Law im Jahre 1716 nach Paris kam und den Plan entwickelte: durch Ausgabe von Papiergeld auf der Basis des Staatskredits das Volk und die Staatskasse reich zu machen, ging die Regierung gerne darauf ein. Schließlich wurde diesem Spekulanten zu einer Notenbank der gesamte geschäftliche Ausbau der Kolonien und die ganze Finanzverwaltung des französischen Staates übertragen. Der König selbst war mit 100'000 Aktien an dem Unternehmen beteiligt. Der Aktienkurs stieg bis auf 18'000 Frcs. bei einem Nominalwert der Aktie von nur 500 Frcs. Die Notenemission dieses Unternehmens stieg bis auf zwei Milliarden Frcs. Aber schon im Jahre 1720 war das ganze luftige Kartengebäude zum bitteren Schaden für weite Kreise der Bevölkerung zusammengebrochen. Nur die Gründung der Pariser Börse durch königliches Reglement vom Jahre 1724 kann dieser Law’schen Spekulation als dauernde Wirkung angerechnet werden. § 151. In dieser Zeit des schlimmsten chronischen Geldmangels lernte der Absolutismus zunächst auf Kriegsruhm verzichten. Es wurde Mode, eine auswärtige Politik des Friedens zu pflegen. Die Kriegsflotte ließ man verfallen. Die Kolonien wurden sich selbst und ihrem Schicksal überlassen und die höheren Offiziersstellen im Landheere als Sinekuren für die Günstlinge des Hofes behandelt. Im Jahre 1752 zählte die französische Landarmee nicht weniger als 1171 Generäle. Der, Ende des XVIII. Jahrhunderts, gleich starken preußischen Armee gehörten nur 85 Generäle an. Als jedoch Maitresseneinfluß den König dennoch verleitete, sich am 7jährigen Kriege (1756—1763) gegen Preußen zu beteiligen, schloß sich England an Preußen an und eroberte den reichen französischen Kolonialbesitz in Nordamerika und Ostindien. In England trat dann allerdings ein Rückschlag für Kolonialinteressen ein, als es den vereinigten 13 Kolonien von Nordamerika gelang, sich mit Unterstützung von Frankreich und Spanien (1775—83) von England unabhängig zu machen. Das englische Kolonialamt wurde damals aufgelöst und dem Ministerium des Innern eingefügt. Die französischen Revolutionskriege und die daran sich anschließenden napoleonischen Kriege aber haben in kurzer Zeit den wertvollsten Kolonialbesitz den Engländern ausgeliefert. Der Handel Frankreichs, wie der der französisch gewordenen Niederlande wurde durch die englischen Seesiege von den Meeren weggefegt. Und an diesen englischen Handels- und Kolonialinteressen sind schließlich die napoleonischen Weltherrschaftspläne zerschellt. § 152. Der französische Absolutismus hatte von all diesen kommenden Ereignissen, welche er so eifrig vorbereiten half, keine Ahnung. Beim Tode Ludwigs XV. (im Jahre 1774) erreichten die Kosten der Hofhaltung 42 Mill. Frcs. bei einer Gesamtstaatseinnahme von 290 Mill. und einer Staatsschuldenlast von 4 Milliarden. Sieben Jahre später (im Jahre 1781) kostete die gesamte Hofhaltung 62 Mill, Frcs., wovon 28 Mill. Frcs. als Pensionen und Gnadengelder an die Hofgesellschaft verschenkt wurden. Bis zum Jahre 1787/88 waren abermals 1 1⁄2 Milliarden neue Staatsschulden aufgenommen worden; das jährliche Defizit der Staatskasse erreichte mit 140 Mill. Frcs. nahezu 50 Proz., der Zinsendienst der Staatsschulden mit 206 Mill. Frcs. fast 70 Proz. der gesamten Staatseinnahmen, die wieder nur zu regelmäßig schon auf einige Jahre im Voraus verpfändet waren. Inzwischen stieg für das arme Bauernvolk die Taille von 66 Mill. Frcs. im Todesjahre Ludwigs XIV. (1715) auf 110 Mill. Frcs. im Jahre 1789! Seit Jahrzehnten kehrten fast alljährlich Hungersnotrevolten, Erstürmung der Bäckerläden, Erhebungen des Volkes gegen die Steuerlast wieder. Beim Schalle des „Te Deum“, sagt Voltaire, starb das Volk den Hungertod. Der allgemeine Bankrott des königlichen Absolutismus war nicht mehr aufzuhalten. Die Philosophen verkündeten das Dogma von der Volkssouveränität, die Physiokraten lehrten, daß der Reichtum des Königs nur auf der Basis eines reichen Bauernstandes gesichert sei. Aber der Hunger des Volkes gestattete keine langen parlamentarischen Verhandlungen und keine zeitraubenden wirtschaftspolitischen Versuche mehr. So begann denn mit dem Jahre 1789 der blutige Expropriationsprozeß gegen den kapitalistischen Expropriateur „Absolutismus in Frankreich“. Trotzdem ist dadurch das französische Volk nicht glücklich geworden. Die furchtbaren Mißstände unter dem Absolutismus wie unter den nachfolgenden Revolutionszeiten haben in Frankreich mehr als in irgend einem anderen Lande den Boden vorbereitet für sozialistische und kommunistische Ideen, welche naturgemäß die Verteidigungskräfte des ökonomischen Liberalismus zu besonderer Leidenschaft anregten. Die tatsächliche Herrschaft des gesellschaftlichen Kapitalismus läßt die ausgleichende Macht eines sozialen Königtums besonders nötig erscheinen. Aber die Erinnerung an die bösen Zeiten des königlichen Absolutismus läßt die Königsidee bis heute nicht zur allgemeinen Anerkennung kommen. So beschränkt sich die Politik Frankreichs auf die Abwehr wirklicher oder vermeintlicher Gefahren, ohne große, produktive, den sozialen Fortschritt fördernde Leistungen. Nur die seit der großen französischen Revolution verhältnismäßig günstige bäuerliche Grundbesitzverteilung gestattet dem französischen Volke den Luxus, die allmähliche Klärung der politischen Ideen der Zeit zu überlassen. § 153. Das Eindringen der Geldwirtschaft in die naturalwirtschaftliche Ordnung der lehensstaatlichen Organisation hat die Einheit des christlichen Abendlandes in eine Vielheit von Staaten aufgelöst, welche rasch das nationale Sonderbewußtsein mit wachsender Schärfe hervortreten ließen. Die ergiebigste Quelle dieser Nationalitätsideen waren die Kriege. Und die kriegerischen Konflikte folgten aus der Tatsache, daß an der Spitze der sich ausbildenden Staaten kapitalistische Unternehmer standen, welche vor allem nach einer weiteren Vergrößerung ihres Reichtums und ihrer Macht strebten. Mit dieser Auflösung des Einheitsbewußtseins im christlichen Abendlande ist auch die Karolingeridee des fränkischen Kaisertums zu Grabe getragen worden. Die Kaiserpolitik Maximilians I. und Karls V. unterschied sich wesentlich von der Kaiserpolitik Karls des Großen. Wie die nationalen Könige von Frankreich und England, so war auch der Kaiser jetzt Kapitalist geworden, dessen Machtmittel in erster Linie an der Größe der zur Verfügung stehenden Geldsummen gemessen wurden. Die reicheren Geldmittel brachten in den Kriegen die Entscheidung. Der spanisch-habsburgische Weltherrschaftsplan folgte dem kapitalistischen Entwicklungsprozeß der Expropriation der Expropriateure. Die Unternehmungen der kleineren Kapitalisten sollten von dem größten verschlungen werden. Die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen. Im Kampfe gegen die erwachten Widerstände ist der „Kaiser“ der Kapitalisten verarmt. Mit der ökonomischen Ohnmacht des Repräsentanten der Einheit trat in Deutschland die Vielheit an seine Stelle. Der westfälische Friede von 1648 ließ neben 296 größeren und kleineren Herrschaften 1500 reichsunmittelbare Ritterschaften, Stifte und Reichsdörfer zählen, welche volle staatliche Selbständigkeit beanspruchten, von denen ein Jeder innerhalb seines Territoriums „Kaiser“ sein wollte, im Gefühle der eigenen Schwäche aber fremdem Einfluß und fremdem Gelde leicht zugänglich blieb. Der französische König Ludwig XIV. schien damals der mächtigste und reichste Fürst zu sein. Deshalb wurde französische Sitte, Mode und Sprache jetzt überall nachgeahmt. Alles war bemüht, „alamodisch“ zu sein. Bevor diese wenig glückliche Zeit der Herrschaft kleiner und mittlerer Kapitalisten auf den Fürstenthronen kam, war im XIII. und XIV. Jahrhundert unter dem Einfluß christlicher Lehren eine Blüte-Periode echter Mittelstandspolitik, welche nicht ganz zutreffend als die Periode stadtwirtschaftlicher Entwicklung bezeichnet wird. § 154. Die volkswirtschaftliche Organisation des XIII. und XIV. Jahrhunderts ruhte auf dem Prinzip der Selbsterhaltung und Selbsternährung durch eigene produktive Arbeit im redlichen Erwerbe. Das Land erzeugte die Rohprodukte für die Volksernährung, Getreide und Fleisch mit wichtigen gewerblichen Rohprodukten, wie Wolle und Häute. Der Stadt war die weitere Verarbeitung und Veredlung der Rohstoffe vorbehalten. So bedeutete der Gegensatz zwischen Stadt und Land eine sich ergänzende natürliche Arbeitsteilung, die übrigens keineswegs mit übertriebener Konsequenz durchgeführt war. Die Stadtbürger hatten auch innerhalb der Ringmauern ein gut Teil landwirtschaftlicher Tätigkeit beibehalten und die Vertreter der ländlichen Gewerbe wie Schmiede und Wagner waren in den meisten Dörfern ansässig. Die Stadt mit ihrer Bannmeile bildete eine Interessengemeinschaft. Der gegenseitige Austausch der Produkte erfolgte zur Marktzeit auf dem Marktplatze nach Marktrecht. Weil aber jeder stadtwirtschaftliche Kreis der Beziehungen nach auswärts kaum entbehren konnte, beschäftigte sich das Marktrecht und die Marktpolizei in ihren wesentlichen Teilen nicht minder eingehend mit dem über die Bannmeile hinausreichenden auswärtigen Güterverkehr. Für den Verkehr selbst galten vor allem die Grundsätze der Treue und der Ehrlichkeit. Einseitige Uebervorteilungen und Wucher aller Art sollten nach den Lehren der christlichen Kirche ausgeschlossen bleiben. Für ein Gelddarlehen Zinsen zu verlangen, galt im Prinzip als Wucher. Gewerbsmäßige Wechsler und Geldverleiher wurden von keiner städtischen Korporation als Mitglieder angenommen und in der Kirche zum Abendmahle nicht zugelassen. Der Wucher blieb den Juden vorbehalten, denen Obrigkeit und Volk von Zeit zu Zeit die gewonnenen Schätze wieder abnahmen. Erst um Mitte des XV. Jahrhunderts begann die Errichtung städtischer und wohltätiger Pfandleihanstalten, welche zur Deckung ihrer Unkosten einen billigen Zins berechneten und die Höhe des Einzeldarlehens nach der Größe des meist gestifteten Kapitals und der Zahl der Darlehenssucher zu bemessen pflegten. Das Geld war in dieser städtischen Wirtschaftspolitik noch keine „geronnene Macht“ geworden. Die Gewinne sollten im Güterverkehr auf keiner Seite ein billiges Maß überschreiten und den Bürgern ihr Nahrungsspielraum gesichert bleiben. Deshalb war eine umfassende Kontrolle des Verkehrs vorgesehen, mit Marktplatzzwang, Kaufhauszwang, Wagezwang. Die Makler, welche die Geschäfte zwischen Käufern und Verkäufern vermittelten, trugen zumeist den Charakter städtischer Beamten. Durch sie oder durch die Vertrauensleute der gewerblichen Zünfte wurden die Waren auf ihre Qualität geprüft und schon bei ihrer Herstellung überwacht. Das Eingreifen des spekulativen Kapitals, welches mit „Fürkauf“ und Lieferungsgeschäften aller Art, durch Preisverabredungen auf Kosten des Konsumenten oder des Produzenten mühelose Gewinne einzuheimsen versuchte, war unter den strengsten Strafen verboten. § 155. Die Landwirte waren gehalten, ihre überschüssigen Produkte nach dem Markte in der Stadt zu bringen und hier innerhalb bestimmter Stunden für die Bürger feilzuhalten. Dann erst durften die Händler zum Wiederverkauf das Uebriggebliebene erwerben. Durch sogenannte „gute Männer“ wurden nach Maßgabe von Vorrat und Bedarf Lebensmitteltaxen aufgestellt, um jedermann über den gangbaren Preis zu unterrichten. War das Getreide billig, so wurden die städtischen Kornmagazine gefüllt. Waren die Kornpreise hoch, so wurde für Bedürftige aus diesen Vorräten zu billigem Preise abgegeben. In Zeiten mit hohen Preisen war die Ausfuhr gesperrt. In billigen Zeiten konnte der über den heimischen Bedarf hinausreichende Ueberschuß ausgeführt werden. Die gewerblichen Zünfte überwachten die Ausbildung der Einzelnen vom Lehrling bis zum Meister. Damit der Eine dem Anderen den Nahrungsspielraum nicht beenge, war die Zahl der Gehilfen zumeist auf zwei Gesellen und einen Lehrling fixiert, die Maximalproduktion, wo es anging, festgesetzt, und durch Preistaxen für einen ehrlichen Arbeitsgewinn wie für einen billigen Kauf Sorge getragen. Bei Arbeitsaufträgen sollten Arme wie Reiche gleich behandelt werden. Unschickliche Reklame war verboten. Einem Zunftbruder durften keine Kunden abwendig gemacht werden. Und hatte jemand einen größeren billigen Kauf mit auswärtigen Lieferanten abgeschlossen, so waren seine Genossen berechtigt, in diesen Kauf zum gleichen Preise einzutreten. Daneben waren die Zünfte Organisationen zur Verteidigung der Stadt, religiöse, sittliche und gesellige Vereinigungen. Sie hatten ihren eigenen Altar in der Kirche und übten werktätige brüderliche Liebe. Verarmten und kranken Mitgliedern wurden Unterstützungen gereicht, Leichenbestattungen gemeinsam gefeiert und das gesellige Zusammenleben gepflegt. Von der Wiege bis zur Bahre fühlte sich der Einzelne durch die gesellschaftlichen Organisationen gestützt. Und wo in dem Kreise der Gewerbe zur tunlichsten ökonomischen Selbständigkeit ein Gewerbeglied fehlte, war die städtische Obrigkeit bemüht, solche gewerbliche Kräfte von auswärts zu beziehen. Damit von auswärts, durch Fremde, diese wirtschaftliche Ordnung nicht gestört werde, war es fremden Kaufleuten untersagt, ihre Waren im Detail zu verkaufen und den heimischen Bürgern verboten, mit den Fremden Kompagniegeschäfte zu machen. Der Verkauf durch Fremde war an bestimmte Markttage gebunden. Damit aber durch diese Bestimmungen der Stadt nicht etwa die förderlichen Anregungen aus der Fremde und die Vorteile des Durchgangsverkehrs verloren gingen, zwang das Stapelrecht die fremden Kaufleute, auf dem Land- wie auf dem Wasser-Wege ihre Ware anzuhalten, für eine Zeitlang feilzubieten und eventuell mit neuen Transportkräften weiter zu verfrachten. Unter dem Einflusse dieser glücklichen Zustände hat sich das deutsche Gewerbe zur Kunst veredelt. Die großen Dome und stattlichen Rathäuser des Mittelalters sind von Handwerksmeistern erbaut worden. Architekten kommen erst im XVI. Jahrhundert in Deutschland vor. § 156. Auch im XIII. und XIV. Jahrhundert war der Grad der Ausbildung des Handels mit den überschüssigen Produkten und der Grad der gewerblichen Entwickelung in Deutschland in verschiedenen Gegenden ein sehr verschiedener. Aus naheliegenden Gründen. Das mittelgebirgige Deutschland von Köln bis zum Bodensee im Westen, im Osten bis zu den Ausläufern des Erzgebirges gerechnet, begünstigte durch ein reiches Netz von Flüssen und Bächen in den nutzbaren Wasserkräften die gewerbliche Entwickelung ungemein. Die Schätze des Bergbaues trugen weiter zur Bereicherung dieser Gegenden bei. Die vielen Wasserscheiden begünstigten die Ausbildung von Kleinstaaten, welche sich mit weit größerem Verständnis solch bodenständigen Ausbildungen anschließen, als das bei großen Staaten möglich ist. Diese staatlichen, städtischen und gewerblichen Verhältnisse mußten wieder auf die landwirtschaftlichen Verhältnisse zurückwirken. Hier hat die bäuerliche Arbeit am frühesten ihre persönliche Freiheit und Selbständigkeit gewonnen und es dann am häufigsten zu einer blühenden Wohlhabenheit gebracht. Im Gegensatze hierzu begünstigten die Verhältnisse der norddeutschen Tiefebene mit dem Küstenlande der Nord- und Ost-See weit mehr Schiffahrt und Handel als die gewerbliche Entwickelung. Hier ist deshalb in den Städten früh schon ein Kaufmannsstand aufgewachsen, welcher mit den Produktionsüberschüssen des Landes einen internationalen Verkehr nach Osten, Westen und Norden einzurichten bemüht war. Daraus ist um die Mitte des XIII. Jahrhunderts die deutsche Hansa erblüht, welcher zu Beginn des XIV. Jahrhunderts 70 Städte angehörten. Diese kaufmännische Vereinigung hatte in Rußland, im skandinavischen Norden wie in England das Handelsmonopol erworben, weil in diesen Ländern damals ein kräftiger Eigenhandel fehlte. Trotz dieser gewaltigen Ausdehnung ihres Geschäftsbetriebes blieb die Hansa den Grundsätzen der Mittelstandspolitik treu. Im Jahre 1417 wurde auf der Tagfahrt zu Lübeck der Abschluß von Lieferungsgeschäften verboten. Es sollte niemand Heringe verkaufen, ehe sie gefangen seien und niemand Getreide verkaufen, bevor es gewachsen sei. § 157. Auch diese Verhältnisse waren indeß nicht von Dauer. Langsam aber sicher erstarkte der Eigenhandel in England, in den skandinavischen Reichen und in Rußland und damit wandelte sich die Handelspolitik dieser Länder aus einer Begünstigung der fremden Kaufleute um in eine Begünstigung der heimischen Kaufleute. Die wachsende Macht der Landesfürsten und die Ausbildung größerer Staaten in Deutschland waren ebenfalls der internationalen Kaufmannsvereinigung der Städte wenig günstig. 1442 befahl Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg den märkischen Städten den Austritt aus der Hansa. So zerfiel die Hansa allmählich. Ihre Hinterlassenschaft in der Nord- und Ostsee wurde von den Niederländern angetreten, welche nicht mehr den Grundsätzen der Mittelstandspolitik huldigten, sondern bald durch und durch Kapitalisten geworden waren. Diese Herrschaft des Kapitalismus breitete sich auch im Innern Deutschlands mehr und mehr aus. Jakob Fugger in Augsburg wurde von seinem Handelsgenossen Jörg Thurzo in Augsburg, der sich von seinen Geschäften zurückzog, weil er genug verdient hatte, aufgefordert, auch vom weiteren Gelderwerb abzustehen, er habe lange genug gewonnen und solle nun Andere auch gewinnen lassen. Aber darauf antwortete Jakob Fugger: er hätte viel einen anderen Sinn, wollte gewinnen, dieweil er könnte! Diese Wendung in den Fuggerschen Geschäften nach der Richtung des unersättlichen Großkapitals fiel etwa in das Jahr 1487 und fand die Unterstützung und Förderung der damals mächtigsten Fürsten. Die mittelalterliche Mittelstandspolitik, welche ehrlich bestrebt war, nach den Grundsätzen der christlichen Lehre im Wirtschaftsleben das bessere Recht walten zu lassen und jedem Bürger einen Nahrungsspielraum zu sichern und zu erhalten, wurde unterdrückt. Der Kapitalismus siegte. Bald hörte man überall heftige Klagen laut werden gegen die Monopole, Ringe und Handelsgesellschaften der Fugger, Welser und Höchstätter in Augsburg, der Imhof, Ebner und Volkmar in Nürnberg, der Ruland in Ulm. Sie sollen die Preise nach ihrer Geldgier und Geizigkeit geschraubt haben. Martin Luther führte aus: Diese Preissteigerer, Fürkäufer und Monopolisten sind öffentliche Diebe, Räuber und Wucherer. Recht wäre es, ihnen alles zu nehmen und sie aus dem Lande zu jagen. Sie haben alle Waren unter ihren Händen, lassen die Preise nach ihrem Gefallen steigen und fallen. Wie könnte es mit rechten Dingen zugehen, daß ein Mann in kurzer Zeit so reich werde, daß er König und Kaiser auskaufen möchte? Nach Erasmus von Rotterdam waren die Kaufleute die schmutzigste Klasse aller Menschen, „die überall lügen, verderben, stehlen und betrügen und sich doch durch ihr Geld immer wieder vornhin drängen“. Durch den Prozeß eines Angestellten der Firma Ambrosius Höchstätter in Augsburg war bekannt geworden, daß eine Geldeinlage von 900 Gulden binnen 6 Jahren 30'000 Gulden Gewinn, also 3333 Prozent pro Jahr gebracht hatte! Man kam zu dem Schlusse, daß diese Monopolisten der deutschen Nation in 1 Jahre mehr schadeten, als alle Straßenräuber in 10 Jahren. Gegen dieses Uebel mußte etwas geschehen. § 158. Kaiser und Reichstag beschäftigten sich mit dieser Frage. Kaiser Maximilian I. machte 1507 den Versuch, diese Handelsgesellschaften zu besteuern. Aber weil Maximilian stets in Geldverlegenheiten war, kam er mit den Gesellschaften überein, daß sie ihm einen entsprechenden Vorschuß auf seine landesherrlichen Kupfer- und Silbereinnahmen gewährten. Für dieses Kreditgeschäft verzichtete der Kaiser für sich und seine Nachkommen auf eine Besteuerung dieser Gesellschaften. Der Reichstag zu Köln beschloß 1512: jede Beherrschung der Preisbildung mit Güterkonfiskation und Versagung des obrigkeitlichen Geleits zu bestrafen. Aber dieser Beschluß blieb unausgeführt. Die Klagen gegen die Monopolisten erneuerten sich auf dem Reichstage zu Worms (1521) und Nürnberg (1522). Der Reichstags-Ausschuß war der Meinung: das Hauptkapital dieser Handelsgesellschaften solle 50'000 Gulden nicht überschreiten, für alle Waren sollen amtliche Maximalpreise festgesetzt werden und der Warenverkehr dieser Gesellschaften mit einem Reichszoll von 5 Proz. des Wertes belastet werden. Die Denkschrift mit diesen Vorschlägen ging an den Kaiser. Aber die Handelsgellschaften wußten die kaiserlichen Minister mit 200 bezw. 500 Gulden zu bestechen. In dem Reichstagsabschied vom April 1524 wurden die geplanten Maßnahmen verworfen. Die Volksbewegung gegen die Monopolisten war im Sande verlaufen und unter dem Einfluß der jetzt ausbrechenden Kriegsstürme bald vergessen. Die Lehre der Kirche, daß gewerbsmäßige Geldleihgeschäfte gegen Zinsen wucherische Geschäfte seien, wurde unter dem Einfluß des Humanismus, des römischen Rechts und der calvinischen Reformation verworfen. Von einer Beschränkung der Hilfsarbeiter für gewerbliche Unternehmungen auf 2 Gesellen und 1 Lehrling war bald keine Rede mehr. Die Einführung der Hausindustrie gestattete dem Unternehmerkapital eine umfassende Vermehrung seiner Hilfskräfte. Die Bergwerksanteile gingen im XVI. Jahrhundert rasch aus den kleinen Händen in die des Adels und der großen Handelshäuser über. Das kapitalistische Zeitalter hatte begonnen. § 159. Indessen führte dieser Sieg des gesellschaftlichen Kapitalismus zu einer eigenartigen Verkettung der Ereignisse. Der städtische Mittelstand, welcher vergeblich gegen die Herrschaft des spekulativen Kapitals nach oben angekämpft hatte, suchte seine Position dadurch noch einigermaßen zu schützen, daß er durch den Zunftzwang sich gegen den Andrang neuer Bewerber von unten abschloß. Das Aufrücken vom Gesellen zum Meister wurde wesentlich erschwert. Die Bildung eines städtischen Proletariats war die natürliche Folge. Weil aber dadurch die städtische Verwaltung sich rasch genug mit Sorgen beladen sah, erschwerten die Städte wieder die Zuwanderung vom Lande. Dem Proletariat in den Städten folgte deshalb das Proletariat auf dem Lande. Aus beiden Reservearmeen rekrutierte sich hauptsächlich das Angebot auf dem deutschen Söldnermarkt. Der in den Städten sichtbar gewordene Reichtum reizte die Eroberungslust der kapitalistisch gewordenen Fürsten. Die Uebernahme und Vermittelung von Staatsanleihen gehörte bald bei den Großkapitalisten zu den beliebtesten Geschäften. Und so trieb der rasch sich angesammelte Reichtum in wenigen Händen, die zunehmende Unzufriedenheit in den Volksmassen, die Anstauung eines Proletariats in Stadt und Land, die wachsende Leichtigkeit in der Beschaffung großer Söldnerheere wie in der Aufnahme neuer Staatsschulden die Fürsten in fast endlose Kriege hinein, die von 1557 — 1620 fast allgemein zu Staatsbankrotten führen, welche auch die Millionen der oberdeutschen Handelshäuser auf Nimmerwiedersehen verschlungen haben. Der gegen Ende des XV. Jahrhunderts rasch emporgekommene Kapitalismus wurde in seinen hervorragendsten Repräsentanten von seinen eigenen Kindern vernichtet. Der so gründlich entfachte Raub- und Herrschafts-Krieg der Fürsten aber dauerte, bis auch die mit der Reformation konfiszierten Kirchengüter verbraucht und alle Reserven in Stadt und Land erschöpft waren. Der dreißigjährige Krieg (1618—1648), welcher nicht der Religion halber, sondern des Reichtums und der Habgier der Menschen halber geführt wurde, stürzte Deutschland in tiefe Armut. Seine Bevölkerung ging von 18 auf 6 Millionen zurück. Württemberg verlor von 1634—41 350'000 Einwohner. Die Pfalz hatte vor dem Kriege 500'000, nach dem Kriege 50'000 Bewohner. Bayern mit Kurpfalz verlor fast 90 Proz., Augsburg und Nürnberg 50 Proz. seiner Bevölkerung. So hatten Schwert und Krankheit, Hunger und Kummer unter den Menschen gewütet. Handel und Bergbau waren verschwunden. Die Gewerbe lagen danieder. Augsburg beschäftigte vor dem Kriege 6000 Weber, nach dem Kriege keine 500. Viele Industrie- und Handelsstädte waren wieder Bauernstädte geworden. Ueber 18'000 Dörfer lagen eingeäschert, Felder und Wiesen verödet. Von dem gesamten Viehstand waren etwa 20 Proz. übrig geblieben. Das vorher so blühende Schulwesen hatte man fast vergessen und die Jugend ohne Erziehung in kriegerischer Roheit aufwachsen sehen. Kraftlos und ohne Selbstvertrauen überließ das deutsche Volk dem Absolutismus die Herrschaft. Fast zwei Jahrhunderte hat es gedauert, bis die Schäden dieser furchtbaren Heimsuchung ganz überwunden waren. § 160. Am schwersten lastete der Sieg des Kapitalismus mit seiner nachfolgenden Selbstvernichtung auf dem Bauernstande. Der Geldbedarf der Fürsten, welcher nur zu allgemein schon Anlaß geboten, die Königskronen mit der Kaiserkrone gelegentlich dem Juden als Faustpfand zu übergeben, hat es im XV. Jahrhundert nach der damaligen juristischen Auffassung zugelassen, daß die landesherrlichen Rechte über die Bauern an Adel und Städte gegen entsprechende Geldbewilligungen im Norden, östlich der Elbe, wie im Süden Deutschlands verkauft wurden. Die Bauern verwandelten sich durch dieses Rechtsgeschäft in Privatuntertanen jener Personen, welche mit dem Landesherrn diese Geschäfte abgeschlossen haben. Adel und Städte erhielten so das Vogteirecht mit der Gerichtsbarkeit über die Bauern und benutzten dieselben natürlich, um sich zu bereichern. Die nach römischem Recht gebildeten Juristen waren dabei vorzügliche Helfer. Die Abgaben und Dienste der Bauern wurden fortgesetzt erhöht, mit neuen Titeln wurden neue Dienste und Abgaben eingeführt. Durch den Rutscherzins wurde für die säumigen Zahler mit jedem Tage Verspätung der Zins verdoppelt, sodaß es für den Bauern aus dieser Schuldenlast überhaupt keine Rettung mehr gab. Der Gemeindebesitz an Wald und Weide wurde den Bauerngemeinden weggenommen und den Bauern nur noch Nutzungsrechte gegen entsprechende Leistungen zugestanden. Gegen all’ diese schweren Ungerechtigkeiten richteten sich die deutschen Bauernaufstände zu Anfang des XVI. Jahrhunderts. Als die aufständigen Bauern niedergeschlagen waren, wucherte man mit den erkauften landesherrlichen Rechten unter Beihilfe der Juristen weiter, da und dort bis zur Leibeigenschaft der Bauern. Immerhin blieben im Süden und Westen die Bauern dem Lande wenigstens erhalten, wenn auch mit wesentlich geminderten persönlichen Rechten unter ärmlichen Verhältnissen. Anders gestalteten sich die Verhältnisse im Norden Deutschlands östlich der Elbe. Hier waren im XVI. und in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts Adel und Städte in der Lage, ihren Produktenüberschuß an Getreide und Vieh zu steigenden Preisen nach auswärts zu verkaufen. Je größer ihr eigener Wirtschaftsbetrieb war, desto größer ihre Einnahmen. Wer wollte sie hindern, wenn sie ihre erbuntertänigen Bauern verjagten und deren Bauernhöfe mit ihrem Eigenbesitz zusammenlegten? Dieses allgemeine Bestreben zur Latifundienbildung führte dazu, daß die käuflichen Erwerber der landesherrlichen Rechte über die Bauerndörfer sich gegenseitig durch Tausch arrondierten, während im Süden und Westen Deutschlands die landesherrlichen Kapitalisten ihre vielfach zerstreute Obrigkeitsrechte beibehielten. Alle Bauern durften indeß auch im Nordosten nicht von ihrer Scholle verjagt werden, sonst hätten die Arbeitskräfte zur Bebauung der großen Gutsherrschaften gefehlt. Diese noch zurück behaltenen bäuerlichen Familien aber wurden doppelt mit Diensten belastet, ihre Kinder dem Gesindezwang unterstellt und hier und dort die Entwickelung bis zur Leibeigenschaft weiter geführt. Gegenüber dieser tieftraurigen Verschlechterung der bäuerlichen Verhältnisse im Süden wie namentlich im Nordosten Deutschlands, bietet der Nordwesten eine erfreuliche Ausnahme. Die landesherrliche Steuer haftete hier an dem Meiergut. Als nun die Grundherren, dem Zuge der Zeit folgend, damit begannen, die Höfe meistbietend zu verpachten, kam dieses Streben der Grundherren nach möglichst hoher Pachtrente mit dem landesherrlichen Interesse nach gesicherten Steuereinnahmen in Konflikt. Hier zeigte sich die Staatsgewalt stark genug, das kapitalistische Interesse der Grundherren abzuweisen. Im Laufe des XVII. Jahrhunderts wurde der Rechtsbegriff des „unteilbaren Bauerngutes“ eingeführt, der Rentenanspruch des Grundherrn an dem Bauernhofe fixiert und dem Meier ein Erbrecht an dem Meierhofe verliehen. So wurde die Abweisung der auch hier sich zudrängenden kapitalistischen Auffassung das wirksamste Mittel, den Bauernstand zu erhalten und wohlhabend werden zu lassen. § 161. Die vielen und tiefen Wunden, welche die Herrschaft des Kapitalismus im XVI. und XVII. Jahrhundert dem deutschen Volkswohlstande geschlagen, pfleglich ausheilen zu lassen, war Sache der absolutistischen Fürstenpolitik geworden. Die seit Colbert (1619—83) hierbei befolgten politischen Grundsätze werden als Merkantilismus bezeichnet. Ihre wichtigsten Regeln lauten bekanntlich: Wiederherstellung eines geordneten Münzwesens, Begünstigung der Ausfuhr veredelter Produkte, Verbot oder doch Erschwerung der Ausfuhr von Rohprodukten, Verbilligung des Zinsfußes, Begünstigung der Bevölkerungszunahme und Hebung der werterzeugenden Kräfte des Volkes durch Einfuhr gewerblicher und industrieller Kräfte, Schulbildung, Verbesserung der Verkehrswege u.s.w. Die weitaus größten Fortschritte hat seit dieser Zeit unter den deutschen Staaten Preußen erreicht. Nach dem 30jährigen Kriege war dieses Land an Menschen und Vieh fast ausgestorben, die Domänen verpfändet oder in Erbpacht gegeben, der Staatsbankrott nahe, die Armee schlecht und klein. Friedrich Wilhelm I. (1713—40) hinterließ eine schuldenfreie Finanzverwaltung, ein Jahreseinkommen von über 21 Millionen Mark, einen Staatsschatz von 24 Millionen Mark und eine gut exerzierte Armee von 83'000 Mann. Bis zum Jahre 1700 waren in die Gebiete von Brandenburg und Magdeburg 20'000 Menschen zugewandert: von Ludwig XIV. verfolgte Hugenotten, vor den französischen Armeen flüchtende Pfälzer, Schweizer und Böhmen. Dazu kamen 15—20'000 Salzburger Protestanten, welche 1732 von dem dortigen Erzbischof vertrieben worden waren. Die bedeutenden industriellen Kenntnisse und Erfahrungen dieser Einwanderer legten den Grundstein für die brandenburgische und magdeburgische Industrie. Das Tragen ausländischer Tuche wurde bei Todesstrafe verboten, die Ausfuhr heimischer Wolle mit dem Galgen bedroht, das Schulwesen gefördert, das Eindringen des billigen ausländischen Getreides vom Osten erschwert. Friedrich II. der Große (1740—86), welcher die reiche Provinz Schlesien mit dem Königreich Preußen vereinte, wußte den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Landes in besonderem Maße Rechnung zu tragen. Nicht nur Gewerbe, Industrie und Handel, auch die Landwirtschaft wurde geschützt, die Rechte der Bauern gebessert. In den mittleren Provinzen mit Seide- und Tuchindustrie sorgte ein ganzes System staatlicher Getreidemagazine mit staatlichem Getreideeinfuhr-Monopol und einer Getreideausfuhr nur mit besonderer Erlaubnis des Königs für stetige, mittlere Getreidepreise, bei denen Bauer und Bürger bestehen konnten. In den östlichen Provinzen Preußens mit nur wenig Industrie wurde hingegen die Getreideausfuhr tunlichst erleichtert. Der landwirtschaftliche Kredit wie der Kredit für Industrie und Handel erhielten neue, bessere Organisationen. Große Flächen sumpfiger Ländereien wurden der Kultur gewonnen und mit Bauern besetzt, zur Erleichterung des Verkehrs Straßen und Kanäle gebaut. All’ diese Maßnahmen ruhten auf einer idealeren Auffassung des fürstlichen Absolutismus. Während die französischen Könige noch den Staatszweck in den persönlichen Vergnügungen des Herrschers suchten, war nach der Auffassung Friedrich Wilhelms I. „der Regent zur Arbeit geboren.“ Friedrich II. sah in dem Landesfürsten den „ersten Diener des Staates“, der bemüht sein sollte, das Volk glücklich zu machen und zur ökonomischen Selbständigkeit zu erziehen. Ein zweifelsohne günstiges Geschick hat Preußen um diese Zeit von den Versuchungen des Kolonial- und Handels-Reichtums fern gehalten und den Schwerpunkt der Entwickelung in der eigenen produktiven Arbeit verankern lassen. Trotzdem ist es auch einem Friedrich II. nicht gelungen, die preußischen Bauern aus jenen Fesseln zu befreien, in welche sie der Kapitalismus des XVI. und XVII. Jahrhunderts geschlagen. Um dieses Ziel für Preußen wie für den übrigen deutschen Bauernstand zu erreichen, bedurfte es der französischen Revolution, der napoleonischen Kriege, der Revolutionsstürme der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts. Heute noch haben bayerische Bauern Bodenzinse abzulösen, welche aus den Wirren des XVI. und XVII. Jahrhunderts stammen und der inneren Kolonisation in den östlichen Provinzen Preußens wird es trotz der zur Verfügung stehenden Millionen in absehbarer Zeit kaum gelingen, dem Lande jene Bauernzahl wieder zu geben, welche der seit dem XVI. Jahrhundert hier zur Herrschaft gekommene Kapitalismus vertrieben hat. § 162. Der Kapitalismus in der Gesellschaft hat das Vorwiegen des mobilen Besitzes und der Geldinteressen zur Voraussetzung. Weil das Geld bestrebt ist, möglichst oft aus einer Hand in die andere zu rollen, drückt die Herrschaft des Kapitalismus in der Gesellschaft den betreffenden Gemeinwesen den Charakter eines Handelsstaates auf. Maßgebend für die Handlungen des Einzelnen wie des Staates ist der Profit. Weil der Handel entwickelungsgeschichtlich in nächster Verwandschaft zum Raube steht, entspricht der Handelsstaat am meisten jener bekannten Definition des heiligen Augustin: „Der Staat ist eine seßhaft gewordene Räuberbande.“ Wo sich Handelsgesellschaften bilden, ziehen sie gemeinsam auf Beute aus, deren Gewinnung als Raub oder als Handelsprofit bezeichnet werden muß, je nachdem mehr Gewalt oder mehr List und geschäftliche Klugheit dabei beteiligt waren. Wo ein Handelsstaat sich gebildet hat, besteht die Aufgabe der Staatsgewalt darin: die Bürger in ihrem Besitz zu schützen und ihnen das Profitmachen zu erleichtern durch Beschaffung von Handelsprivilegien, durch Unterwerfung von Völkern und Volksstämmen zur gefügigen Ausbeutung und durch Vernichtung der konkurrierenden Handelsstaaten. Um die besten Gelegenheiten zur Uebervorteilung, Ausbeutung und Vergewaltigung der fremden Gemeinwesen auszuspüren, hat sich früh schon in den italienischen Handelsstaaten das Institut der konsularen und diplomatischen Vertretung im Auslande ausgebildet. Zu Anfang dieser Entwickelung waren die Diplomaten mit so viel Lüge-, Verstellungs- und Bestechungskünsten ausgerüstet, daß auch der Absendestaat zur Kontrolle seiner eigenen Vertreter einen besonderen Spionagedienst wieder einrichten zu müssen glaubte. Und weil die fremden Gemeinwesen sich nicht immer gutwillig ausplündern ließen, kam es zu ungewöhnlich häufigen Kriegen, welche die Handelsstaaten mit Söldnern führten, weil im allgemeinen persönliche Teilnahme an Kriegen die Geschäftsgewinne kürzen muß. Die weiter blickenden Handelsstaaten widmeten den technischen Waffen besondere Sorgfalt (Belagerungsmaschinen der Venezianer, Kriegsschiffbau und Artillerie der Engländer). Die absolutistische Verfassungsform verträgt sich mit einer Herrschaft des Kapitalismus nicht auf die Dauer. Sobald unter dem Kapitalismus auf dem Fürstenthrone große Reichtümer in den Händen von Privaten sichtbar werden, setzt immer das kapitalistische Entwickelungsgesetz der Expropriation der Expropriateure ein. Der Absolutismus pflegt durch Besteuerung, Zwangsanleihen und Vermögenskonfiskationen, freiwillige Anleihen und Staatsbankerotte den größeren Reichtum seiner Untertanen zu verbrauchen. Der Geldreichtum hat in absolut regierten Staaten aus diesen Gründen das Bestreben, sich verborgen zu halten. Der Kapitalismus in der Gesellschaft neigt zur republikanischen Verfassung. Er verträgt sich indes ebenso gut mit dem monarchischen Verfassungsstaat, wie das Beispiel Englands seit 1689 lehrt. Da jedoch die Entwickelung der englischen Volkswirtschaft noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden kann, gehört dieser Teil der englischen Geschichte mehr zur praktisch-politischen und weniger zur rein historischen Betrachtungsweise. Für das Gebiet des christlichen Abendlandes beschränkt sich deshalb die Zahl der Staaten unter der Herrschaft des Kapitalismus in der Gesellschaft auf Amalfi, Pisa, Genua, Venedig und Holland. § 163. Amalfi ist eine der ältesten Städte Italiens. Wenig südlich von Neapel, am Golfe von Salerno, gelegen, steigen seine Häuser hinter dem engen Hafen-Quai an Felsen empor. In den Felsen eingehauene Treppen stellen die Verbindungen zwischen den Häusern her, deren Dächer als Gärten dienen. Zur Longobardenzeit war Amalfi ein durch Seehandel reiches und mächtiges Gemeinwesen mit republikanischer Verfassung unter einem auf Lebzeiten gewählten Grafen, der bald den Titel Fürst und Herzog führte. Wie Venedig, stand auch Amalfi in losem Untertanenverhältnis zum oströmischen Reiche, was den Handel mit dem Orient wesentlich erleichterte. Amalfi beherrschte im X. und namentlich im XI. Jahrhundert einen weiten Kreis von Küstenländern am Mittelmeere. In Konstantinopel, Antiochia, Jerusalem, Cairo und Durazzo besaß dieser Handelsstaat Kolonien. Dazu Niederlassungen auf Sizilien, namentlich in Messina. Innerhalb seiner Mauern weilte eine kleine Kolonie arabischer Kaufleute. Das Kloster Santa Maria Latina in Jerusalem wurde mit einem Spital von Amalfiten erbaut, ausgestattet und unterhalten. Der Johanniterorden entstand aus der Brüderschaft des Hospitals des Heiligen Johannes in Jerusalem, welches Kaufleute aus Amalfi 1048 gestiftet hatten. Vor den Kreuzzügen war für Rom wie für Italien Amalfi der Hauptlieferant orientalischer Produkte und die wichtigste Brücke für Kulturvermittlungen zwischen dem Orient und dem Occident. Aber auch die alte römische Kultur hatte in den Mauern dieser Handelsstadt noch die beste Pflege auf italischem Boden gefunden. Auf der alten Rechtsschule in Amalfi hat jenes Seerecht seine Ausbildung erfahren, welches als Tabula amalfitana seit Anfang des XI. Jahrhunderts für den Verkehr auf dem Mittelmeere maßgebend war. Hier blieb die älteste Handschrift des Pandekten erhalten. Zur Zeit ihrer höchsten Blüte soll die Stadt 50'000 Einwohner gezählt haben. Aber mit dem Reichtum und der Handelsherrschaft war auch der Bürgerkrieg in das kleine Gemeinwesen eingezogen. Dazu kamen Kämpfe mit dem benachbarten Salerno. Diese Gelegenheit benutzte der Normannenfürst Robert Guiscard 1077, um Amalfi und Salerno seinen Besitzungen in Apulien und Kalabrien einzuverleiben. Durch diese Umwandlung der Amalfiten aus losen Untertanen von Byzanz zu Untertanen der dem Orient feindlichen Normannen wurden die geschäftlichen Interessen im Levantehandel schwer geschädigt. Die kolonialen Errungenschaften der Amalfiten sind deshalb jetzt vielfach den Venezianern zugefallen. Während des ersten Kreuzzuges (1096—99) beteiligte sich Amalfi noch an der Belagerung von Akkon und gewann dadurch neue koloniale Besitzungen in den Kreuzzugsstaaten. Indes hatte sein Reichtum und Ansehen bereits zu sehr die Eifersucht des stärkeren Handelsstaates Pisa wachgerufen. 1135 überfallen und plündern die Pisaner die Stadt, 1137 wird Amalfi durch Pisa gänzlich vernichtet. Seitdem ist die zu Anfang des XI. Jahrhunderts so mächtige Handelsstadt ein unbedeutender Platz geblieben, der heute kaum mehr als 7500 Einwohner zählt. § 164. Pisa, eine südöstlich von Genua an der Westküste Italiens gelegene Stadt, war noch im XI. Jahrhundert der Gerichtsbarkeit des Markgrafen von Tuscien unterstellt und erhielt erst kurz vor den Kreuzzügen ihre kommunale Selbständigkeit. Früher als Genua und Venedig hatte Pisa wichtige Handelsprivilegien in Afrika erworben. Schon vor den Kreuzzügen fanden sich hier türkische, lybische und afrikanische Kaufleute zusammen, um ihre Geschäfte abzuschließen. Damals schon haben sich die Pisaner stark genug gefühlt, um gemeinsam mit den Genuesern Sardinien der Herrschaft der Araber zu entreißen und diese Insel dann für sich zu behalten. Als 1070 Pisa auch Korsika und Elba in Besitz genommen hatte, erreichte dieses Gemeinwesen eine gewaltige Uebermacht zur See, welche zunächst — trotz Beginn der Kreuzzugsbewegung — zu einem erbitterten Kampfe zwischen Genua und Pisa führte. Papst Innocenz II. hat diesen Streit 1133 zu Gunsten Genuas geschlichtet, indem er die Hälfte von Korsika Genua übertrug. Pisa war seit dieser Zeit Anhänger der deutschen Kaiser und Gegner der päpstlichen Partei. 1135 bezw. 1137 wurde die ältere rivalisierende Handelsstadt Amalfi schonungslos vernichtet. Die Bevölkerung von Pisa soll jetzt 150'000 Köpfe gezählt haben. Die Beteiligung Pisas an den christlichen Eroberungen der Kreuzzugsheere in Syrien, Palästina und Egypten brachten dieser Handelsstadt wichtige Kolonialbesitzungen in Antiochia, Tyrus, Akkon, Joppe, Jerusalem, Thessalonich, Almyra, Konstantinopel, Alexandrien usw. ein. Und, als die Eroberungen Saladins die christlichen Herrschaftsgebiete einengten, schloß dieser Fürst doch mit Pisa Handelsverträge ab, welche diese Stadt begünstigten, weil die Pisaner für Egypten zu den wichtigsten Lieferanten von Eisen, Holz und Pech gehörten. Auch Kaiser Friedrich II. hat der ihm befreundeten Stadt während seines Aufenthalts im Orient Handelserleichterungen erwirkt. Daß diese Lieferungen nach Egypten den „Erbfeind der Christenheit“ in seinem Kampfe gegen die Kreuzfahrer wesentlich stärkten, störte die Pisaner Geschäftsleute ebensowenig, wie der nur zu oft berechtigterweise gegen sie erhobene Vorwurf, den Seeraub auf direkte wie indirekte Weise zu begünstigen. Während der Gewinnsucht halber dem Feinde die wichtigsten Kriegsmaterialien zugeführt wurden, dauerte seit den ersten Eroberungserfolgen der Kampf um die Beute zwischen den christlichen Handelsstaaten mit wechselvollen Bündnissen fast ununterbrochen weiter. 1205 wurden die Pisaner durch die Genueser aus Syracus und Sardinien vertrieben, das sie vorher gemeinsam den Arabern entrissen hatten. 1206 schloß dann Pisa ein Schutzbündnis mit Venedig gegen Genua. 1256 sehen wir dann wieder Pisa mit Genua gegen Venedig in Akkon einen räuberischen Ueberfall ausführen, dem im folgenden Jahre wieder ein Schutzbündnis zwischen Pisa und Venedig gegen Genua sich anschließt. Den Kampf zwischen den Hohenstaufen und dem Papste benützte dann Genua, um nach Untergang des italienischen Stauferreichs (1268) die Flotte der Pisaner (1284) vollständig zu vernichten. Damit gehen alle auswärtigen Besitzungen Pisas an Genua verloren und blutige Bürgerkriege geben dieser Vernichtung der See- und Kolonial-Macht das Grabgeleite. Die erbitterten Rivalitätskriege zwischen Venedig und Genua gestattete dann dem Pisaner Handel, sich wieder etwas zu erholen. 1247—48 kaperten und zerstörten Genua und Pisa sich gegenseitig ihre Schiffe im Hafen von Tunis. 1399 kommt das stark geschwächte Pisa unter die Herrschaft von Mailand, das es 1405 an Florenz verkauft. Pisa-Florenz erfreute sich dann noch einer eigenartigen Nachblüte. Pisa war durch den Warenhandel, durch das Transportgeschäft während der Kreuzzüge und durch den Seeraub reich und mächtig geworden, Florenz verdankte seinen Reichtum den Geldgeschäften mit der päpstlichen Kurie Hand in Hand mit einer blühenden Tuch- und Seidenweberei. Die Florentinischen Bankfilialen reichten von der Küste des atlantischen Ozeans bis zum Nil, zum Schwarzen Meere und nach Asien. Die seit 1552 geprägte Goldmünze von Florenz, der Florenus, vermittelte in den damaligen Münzwirren einen sehr großen Teil des internationalen Zahlungsverkehrs. Die leicht gewonnene Rechtsnachfolge in den Handelsbeziehungen der Pisaner kam deshalb für Florenz nicht ungelegen. Aber die geschmeidigen Geldwechsler dachten nicht daran, die alte Kriegsmacht von Pisa wieder aufzurichten. Den beiden Rivalen Genua und Venedig, und dem mächtigen Türkenreiche gegenüber mochte das auch mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft sein. Die Florentiner machten deshalb aus der Not eine Tugend. Sie erneuerten überall die alten Handelsbeziehungen der Pisaner und suchten durch den völligen Mangel einer eigenen Kriegsflotte im Mittelmeere und durch den ausdrücklichen Verzicht auf jeden Kolonialbesitz bei ihren Geschäftsbeziehungen besonderes Vertrauen zu erwecken. In der Tat ist es so Pisa-Florenz namentlich bei den Türken gelungen, ganz besondere Gunst zu erwerben, was den giftigen Neid Venedigs wachrief und im Jahre 1467 z.B. zu einem Ueberfall und zur Beraubung der Florentiner Kaufleute durch die Venezianer auf türkischem Boden führte. Auch in Egypten und Nord-Afrika wußten so die Florentiner die geschäftlichen Traditionen der Pisaner wieder aufzunehmen. Und als die Portugiesen ihre Indienfahrten begannen, beteiligte sich Pisa-Florenz an diesen Unternehmungen mit 150 bis 175 Proz. Gewinn. Trotz dieser geschäftlichen Geschmeidigkeit ging der direkte Seeverkehr unter dem Einfluß der wachsenden Unsicherheit zurück. Die letzte Nachricht über einen Verkehr von Florenz mit Egypten datiert vom Jahre 1474. 1494 wurde Florenz von dem französischen König Karl VIII. besetzt. 1521 folgte wieder die Herrschaft der Medici. Von 1569 ab gehört Pisa-Florenz zum Großherzogtum Toscana. Die Einwohnerzahl von Pisa ist inzwischen von 150'000 zu Ende des XI. Jahrhunderts auf 15'600 zu Ausgang des XVI. Jahrhunderts zurückgegangen. § 165. Genua, die alte Hauptstadt Liguriens, erfreute sich im VIII. Jahrhundert eines aufblühenden Handels und erlangte 958 ihre munizipale Unabhängigkeit mit dem Privileg, durch selbstgewählte Konsuln sich regieren zu lassen. Das benachbarte Pisa war schon reich und mächtig geworden. Es lag deshalb für Genua nahe, sich mit Pisa zur Bekämpfung eines gemeinsamen Feindes zu vereinigen. So begannen die gemeinsamen erfolgreichen Kriege gegen die Araberherrschaft auf den italienischen Inseln Sardinien, Korsika, Elba und Sizilien. Aber die Pisaner wollten sehr bald von einem mit Genua gemeinsamen Besitz dieser Inseln nichts wissen. Es kam zu einem erbitterten Kampfe um die Beute, welcher 1119 durch den Papst zu Gunsten von Genuas Teilhaberschaft entschieden wurde. Das hinderte jedoch die Pisaner nicht, die junge genuesische Kolonie in Byzanz 1162 durch Feindschaft und Unduldsamkeit in ihrer Existenz zu bedrohen. Inzwischen hatte Genua sein Gebiet nach dem Osten und Westen der Rivièra erweitert und durch seine energische Beteiligung an den Kreuzzügen je ein Quartier in den Städten Jerusalem und Jaffa, sowie ein Drittel der Städte Cäsarea, Akkon, Beyrut und Arsuf gewonnen. Der Handel Genuas erstreckte sich auf Griechenland, Klein-Asien, Egypten, Nord-Afrika, Süd-Spanien, Süd-Frankreich, Flandern und Deutschland. Aber die anderen Handelsstädte des christlichen Abendlandes waren nicht weniger bemüht, alle Handelsgewinne in der damals bekannten Welt an sich zu reißen, und so entsteht denn bald überall Neid und Streit zwischen Pisa, Genua, Venedig und Marseille, nachdem Amalfi durch die Pisaner 1135/37 als Konkurrent vernichtet worden war. Venedig hat es verstanden, den vierten Kreuzzug (1202—04) ganz in die Bahnen seiner Geschäftsinteressen abzuleiten. Konstantinopel wurde erobert und das lateinische Kaiserreich gegründet, das von 1204—1261 bestehen konnte. Alle für den Handelsverkehr bedeutsamen Plätze fielen den Venezianern zu. Die leitenden Kreise in Genua fanden nicht den Mut, diesem im Interesse ihrer Konkurrentin unternommenen Geschäftskreuzzuge entgegenzutreten. Aber sie lehnten doch die Teilnahme an demselben ab und warteten auf eine passende Gelegenheit, die materiellen Früchte des vierten Kreuzzuges den Venezianern wieder zu entreißen. Inzwischen hatten die Pisaner das Quartier der Genueser in Akkon im Winter 1222 auf 23 in Brand gesteckt, ohne Bestrafung dafür zu ernten. 1247 finden wir Genueser und Venezianer Kaufleute in Kiew, um direkte Handelsbeziehungen mit den Russen anzuknüpfen und die Vermittelung der griechischen Kaufleute zu umgehen. Die Beziehungen zwischen Genua und Venedig erhielten dadurch keine Förderung. 1258 wurden die Genueser von den Venezianern in Akkon geschlagen und die dort anwesende genueser Flotte zur Hälfte zerstört. Die Geschäftsinteressen Genuas hatten unter diesem für ihre Partei ungünstigen Kampfe schwer zu leiden. Die Unzufriedenheit im Volke wuchs. Die Zünfte bemächtigten sich der Herrschaft im Staate und verjagten die gesättigten Bürger, die zu wenig Energie in der Verteidigung der Handelsinteressen gezeigt hatten. In der Tat beginnt mit diesem Regierungswechsel (1260) eine neue glänzende Epoche für Genua. 1261 wurde unter wesentlicher Mithilfe der Genueser Streitkräfte dem lateinischen Kaiserreiche durch den griechischen Kaiser in Nicäa ein Ende gemacht. Zum Dank dafür erhielt Genua vom neuen Herrscher in Byzanz die Vorstadt Galata, die Insel Chios und wichtige Handelsprivilegien im Schwarzen Meere. Speziell das Schwarze Meer betrachteten die Genueser von jetzt ab als ihre Domäne, aus welcher der griechische Handel so vollständig verdrängt wurde, daß selbst die Versorgung von Konstantinopel mit Getreide und Fischen in die Hände der Genueser gekommen ist. Der neuen Geschäftsausdehnung entsprechend wurde die Kriegsflotte wieder verstärkt und nun schien endlich die Zeit gekommen, mit dem gefährlichen Konkurrenten in der nächsten Nachbarschaft, mit Pisa, blutige Abrechnung zu halten. 1284 wurde die Pisaner Flotte völlig vernichtet und alle auswärtigen Besitzungen Pisas Genua einverleibt. § 166. Genua stand auf dem Gipfel seiner Macht und entwickelte einen ungewöhnlichen Unternehmergeist. Am Persischen Golfe kam es zur Errichtung von Stapelplätzen, um die indische Ware über Persien nach dem Schwarzen Meere zu leiten. Als 1293—94 die drei ersten christlichen Reisenden durch die asiatische Welt, die drei Polo, von China nach Tauris kamen, fanden sie am Kaspischen Meere viele Genueser Kaufleute. 1290 schloß Genua einen Handelsvertrag mit Egypten. Seit 1291 datieren die Versuche Genuas, um Afrika herum einen direkten Weg nach Indien zu finden, denen viele Reisen genueser Kaufleute über das tartarische Gebiet nach Persien, Ormuz und Indien zur Seite standen. Genua war auf dem besten Wege, die erste Handelsmacht der christlichen Welt zu werden, wenn jetzt nicht zwei Hindernisse ihm entgegengetreten wären. 1291 fiel mit Akkon die letzte christliche Station in Syrien wieder in die Hände der Mohamedaner zurück. Die Aufregung in der christlichen Welt über das Fraternisieren des Handels mit den Saracenen war groß. Man wollte endlich dieser geschäftlichen Durchkreuzung der christlichen Eroberungspolitik gegen den Erbfeind der Christenheit einen Riegel vorschieben. Die Ausfuhr von Kriegsmaterial, wozu auch Holz, Teer und Eisen gehörten, nach Egypten wurde verboten und zwar unter Androhung der strengsten kirchlichen und bürgerlichen Strafen. Damit die Durchführung diesem Verbote nicht fehle, wurden Wachtschiffe im Mittelmeere stationiert und Kreuzer vom Johanniterorden und vom Könige von Cypern ausgeschickt. So wurde manches reich beladene Kaufmannsschiff abgefangen und konfisziert. Aber die Handelsinteressen zwischen dem Abendlande und Egypten waren doch zu stark, als daß sie jetzt hätten völlig unterbunden werden können. Der Schleichhandel breitete sich immer mehr aus. Und weil die Kriegsflotte der Handelsstaaten die Handelsschiffe begleiteten, kam es zum offenen Streit zwischen Genua und den Johannitern und dem Könige von Cypern, wobei die mohamedanischen Herrscher natürlich die europäischen Handelsstaaten unterstützten. Die Vertreter der christlichen Eroberungspolitik mußten in einer solchen Lage sich bald verbluten. Immerhin war durch diese Reibungen der Handel nach Egypten wesentlich erschwert worden. Die Handelsstaaten waren deshalb mit doppelter Energie bemüht, Ersatz durch Ausdehnung ihrer Handelsbeziehungen im griechischen Reiche wie namentlich im Schwarzen Meere zu finden. Und damit begann jener mehr als hundertjährige Rivalitätskrieg zwischen Genua und Venedig (1240—1381), welcher die Lebenskraft Genuas verzehrte. § 167. Mit Mord und Plünderung auf byzantinischem Gebiete ist dieser Streit zwischen Genua und Venedig ausgebrochen. Die weit verzweigten Kolonialinteressen zwangen Genua, die Heimat von Streitkräften zu entblößen. Die Stockung der Geschäfte ließ wieder die Unzufriedenheit im Volke zunehmen. Und diese Gelegenheit benutzten die vorher vertriebenen „gesättigten“ Bürger, welche zur Partei der Welfen gehörten, das Zunftregiment in Genua zu stürzen und das Konsulamt dem italienischen Welfenführer, König Robert von Neapel, zu übertragen. Die reichen genuesischen Kolonien in der Levante, von denen die Stadt Kaffa damals 100'000 Einwohner gezählt haben soll, waren mit diesem Regierungswechsel in der Heimat nicht einverstanden. Sie wurden in diesem Verhalten unterstützt durch den Kaiser von Byzanz, welcher 1261 von dem Regiment der Zünfte in Genua so wertvolle Mithilfe bei der Wiedereroberung Konstantinopels erhalten hatte. Die neue Regierung in Genua wollte mit Waffengewalt die Kolonien zur Unterwerfung zwingen. Aber der Kriegszug endete mit der Vernichtung der genueser Flotte. Die Kolonien im Orient haben gesiegt und sich verselbständigt. Diese bedenklichen Mißerfolge riefen neue blutige Bürgerkriege in der Heimat mit wiederholtem Regierungswechsel hervor. Die wieder an’s Ruder gekommene Partei des Geldadels verbündete sich sogar mit Venedig, um gemeinsam von den reichen Kolonien wieder zu gewinnen, was möglich war. Aber gleich darauf (1347) ist der alte Rivalitätskrieg zwischen Genua und Venedig von neuem entbrannt, weil nach den ersten Erfolgen naturgemäß immer die eine Partei die andere wieder verdrängen wollte. Selbst das Pestjahr 1348 vermochte den Konkurrenzhaß der kämpfenden Parteien nicht zu mindern. Ein Bündnis des Geldadels mit den Türken zur Eroberung von Konstantinopel führte 1353 nur zur abermaligen Vernichtung der Flotte Genuas. Auf’s Neue kam der Bürgerkrieg zum Ausbruch mit Hungersnot und einem allgemeinen Bankerott der Geschäftsleute. In dieser Lage übertrug Genua sein Konsulat auf Mailand. Mit den größten Anstrengungen wurde eine neue Flotte erbaut, die naturgemäß ihre ersten Lorbeeren auf einem Beutezug gewinnen sollte. 1355 überfiel und plünderte der Admiral von Genua Tripolis und führte neben reichen Schätzen 7000 Männer, Frauen und Kinder mit sich fort auf den Sklavenmarkt. 1377 begann von neuem der Krieg mit Venedig und zwar diesmal um die Insel Tenedos. Nach sehr wechselvollem Streite, der zu Ungunsten Genua’s 1381 endete, kamen charakteristischer Weise die Parteien überein, die Insel Tenedos gänzlich zu vernichten und beiderseits auf ihren Besitz zu verzichten. Je mehr sich die beiden noch übrig gebliebenen italienischen Handelsstaaten in unerbittlichen Konkurrenzkriegen schwächten, desto leichter konnten die Saracenischen Seeräuber das Mittelmeer unsicher machen und den christlichen Handel schwer schädigen. Da sich große kontinentale Herrschaftsgebiete in Europa bildeten, waren überdies die Tage der politischen Selbständigkeit von Handelsstaaten mit einem sehr zerstreuten Kolonialbesitz gezählt. Unter dem Einflusse neuer Bürgerkriege übertrug die Republik Genua die Herrscherwürde 1396 dem benachbarten Frankreich und beschloß damit im wesentlichen seine Geschichte als unabhängiges Staatswesen. § 168. Als Attila 452 n. Chr. die reichen Städte Aquileja und Padua zerstörte, sahen sich die Ueberlebenden gezwungen, auf den von Fischern und Schiffern schon unter der Römerherrschaft bewohnten Laguneninseln Zuflucht zu suchen. So entstand ein selbständiges städtisches Gemeinwesen. Nur ein schmaler Wasserstreifen trennt diese Inseln vom Kontinent, aber er erwies sich breit genug, um die hier lebende Bevölkerung vor den Verwickelungen in jene Geschichte zu bewahren, denen Italien vom V.—X. Jahrhundert ausgesetzt war. Venedig, an dessen Spitze vom Volke gewählte Tribunen standen, stand unter der Hoheit von Byzanz. Seit 697 war es Sitte geworden, daß nach Art der umliegenden Herzogtümer ein Doge (Dux) erwählt wurde. Die Kommune hatte eine gemäßigt aristokratische Verfassung, welche ein Aufsteigen der Tüchtigen von unten offen ließ und in allen wichtigen Fragen an die Zustimmung des ganzen Volkes gebunden war. Wie in Amalfi so fanden sich auch in Venedig früh schon arabische Händler ein, durch welche die Handelsbeziehungen zwischen dem Orient und dem Occident gepflegt wurden. Zur Zeit der Karolinger bestand bereits ein ausgedehnter Handel Venedigs mit Syrien und Aegypten. So groß war indeß jetzt die Abhängigkeit der Staatenbildung von religiösen Ideen, daß der aufstrebende Handelsstaat Venedig vor Allem sich bemühte, die Gebeine eines möglichst angesehenen Heiligen zu erwerben und durch deren Verehrung in einem tunlichst reich ausgestatteten Gotteshause diesen Heiligen in einen Nationalheiligen umzuwandeln. Man kaufte in Aegypten die Reliquien des Apostel Markus und überführte sie 836 nach Venedig. Von da ab wurden die Interessen des venetianischen Staatswesens in solchem Maße mit der Verehrung des Heiligen Markus durchflochten, daß Venedig als „Republik von San Marco“ bezeichnet wurde. Die Gebietserwerbungen des Handelsstaates richteten sich zunächst auf Bezugsquellen von Schiffbauholz und geeignete Stützpunkte für die Seefahrt. Um das Jahr 1000 war Dalmatien bis nach Ragusa erobert und damit Venedig Beherrscherin des Adriatischen Meeres geworden. In dem Kriege zwischen dem süditalienischen Normannenreiche und Byzanz (1082—85) unterstützte Venedig mit allen Kräften das oströmische Reich. Denn der gefährliche Konkurrenzhandelsstaat Amalfi gehörte zu dem Normannenreiche. Vom byzantinischen Kaiser wurde dafür die Republik San Marco mit wertvollen Handelsprivilegien beschenkt, die Amalfiten im byzantinischen Reiche aber zur Zahlung eines Zinses an die Markuskirche in Venedig verpflichtet. § 169. Als die Kreuzzüge begannen, hörte die religiöse Begeisterung der Handelsstaaten immer dort auf, wo der Profit in andere Bahnen einlenkte. Am ersten Kreuzzuge beteiligte sich Venedig (1098) mit einer stolzen Kreuzfahrerflotte von 200 Seglern. Aber diese, dem Kreuze geweihte Flotte lieferte zunächst den christlichen Pisanern als Handelskonkurrenten bei Rhodus eine Schlacht und nahm ihnen 20 Fahrzeuge weg, welche ebenfalls zur Bekämpfung der Araber bestimmt waren. Dann wurde Smyrna geplündert. Und erst nach diesen Taten beteiligte sich die venezianische Flotte an der Eroberung von Jaffa durch das Kreuzzugsheer. In dem Maße als Amalfi durch Pisa namentlich verdrängt wurde und die Normannen in Syrien und Palästina sich als kühne Eroberer zeigten, schloß sich Venedig den Normannen an und wußte aus dieser neuen Freundschaft in den Kreuzzugsstaaten reichen Handelsgewinn zu ziehen. Das erregte den unversöhnlichen Neid des ebenfalls mächtig emporstrebenden Genua, führte zu blutigen Kämpfen in den Hafenstädten des heiligen Landes, zu wiederholtem Verrat der christlichen Interessen an die arabischen Herrscher und zu einem Freundschaftsbündnis zwischen Byzanz und Genua. 1171 wurden die in Konstantinopel anwesenden Venetianer niedergemetzelt. Kaiser Manuel von Byzanz wollte die abendländische Kaiserkrone wieder erobern und das mit ihm verbündete Genua sollte in diesem Weltreiche die Handelsprivilegien erhalten. Aus diesen Bestrebungen erwuchs für Venedig die Möglichkeit, den vierten Kreuzzug (1202—04) in überraschender Weise von seinem ursprünglichen Ziele Egypten abzulenken. Die französische und niederländische Ritterschaft sammelte sich in Venedig, um von da aus Egypten anzugreifen. Venedig unterhielt mit Egypten um so wichtigere Handelsbeziehungen, je schwieriger seine Stellung im byzantinischen Reich sich gestaltete. Die Venetianer lieferten nach Egypten Schiffbaumaterial, Holz, Pech, Teer aus den Wäldern von Dalmatien, Eisen aus den Schmieden von Steiermark und Kärnthen, Waffen und Sklaven. Für diese den egyptischen Herrschern ungemein wichtigen Zufuhren erlangten die Kaufleute von San Marco für den Bezug indischer Gewürze aus Egypten solche Begünstigungen, daß damals Venedig das Zentrum des Pfefferhandels für Europa geworden war. Dem Sultan von Egypten kam der drohende Angriff der Kreuzfahrer sehr ungelegen. Er schickte deshalb eine Gesandschaft mit wertvollen Geschenken nach der Lagunenstadt und bat dringend, den Kreuzzug nach Egypten oder Syrien jetzt zu verhindern. An neuen wertvollen Handelsbegünstigungen sollte es für diesen Freundschaftsdienst nicht fehlen. Ein byzantinischer Prinz, Schwager des deutschen Königs Philipp von Schwaben, bemühte sich unter dem Kreuzfahrerheere, um mit dessen Hilfe seinen entthronten Vater in Byzanz wieder zur Herrschaft zu bringen. Vor allem aber war das Kreuzzugsheer nicht in der Lage, die Ueberfahrtskosten an Venedig voll zu entrichten. Die Ritter blieben dafür als Schuldner in der Hand der venetianischen Regierung, welche den Ausweg vorschlug, diese Schuld durch Eroberungen für den Lagunenstaat abzutragen. So zog denn das Kreuzzugsheer unter persönlicher Führung des Dogen zunächst vor Zara, um die widerspenstigen Dalmatiner unter das Joch der Republik zurück zu zwingen. Dann ging es an Egypten und Syrien vorbei nach Konstantinopel, das zweimal erobert und geplündert wurde. Die von den Kreuzfahrern erhoffte Vereinigung der griechischen Kirche mit der römischen scheiterte an dem Widerstand der Bevölkerung. Aber die Errichtung des lateinischen Kaiserreichs gelang (1204). Bei der Verteilung der Beute erhielten die Venetianer den Löwenanteil: die wichtigsten Küstenstriche mit den wertvollsten Inseln. § 170. Venedig stand auf dem Gipfel seiner Macht. Von den Laguneninseln bis nach Klein-Asien verfügte es über eine Kette von Seeplätzen, welche die Seefahrt außerordentlich erleichterten. Die neuen Erwerbungen am Bosporus und Marmarameere brachten auch den Schwarzenmeer-Handel unter seine Gewalt und ermöglichten große Handelsunternehmungen nach Bulgarien wie nach dem Don und der Wolga. Die Begünstigungen in Egypten und Syrien waren jetzt größer denn je zuvor. Ueber Kleinarmenien reichten ihre direkten Beziehungen bis nach Persien und Indien. Aber auch in Tripolis und Tunis hatten sie festen Fuß gefaßt. Venedig war auf dem besten Wege, das Monopol über den ganzen Levantehandel zu erringen. Die Venetianer waren jetzt in Konstantinopel, Alexandrien, Kairo und am Schwarzen Meere mehr zu Hause als in Rom oder Florenz. Der Schwerpunkt der venetianischen volkswirtschaftlichen Interessen lag im Orient, deshalb konnte der Doge mit Recht den Antrag stellen: die Venetianer möchten nach Konstantinopel als der Hauptstadt ihres Reiches, die ihnen damals schon zu drei Achteln gehörte, übersiedeln. Der Reichtum der Venetianer nahm rasch zu und bedeckte die Lagunen mit herrlichen Palästen, deren Architektur deutlich genug die intimen Beziehungen zum Orient erkennen läßt. Die venetianische Handelsflotte zählte über 3000 Segler mit 25'000 Matrosen, welche unter Bedeckung durch Kriegsschiffe als flandrische, armenische, egyptische und Schwarzmeerflotte ihren Geschäften nachging. Dazu kam noch der Landhandel nach Deutschland, über Wien, Augsburg und die rheinische Handelsstraße entlang. Das Einkommen des Einzelnen stieg pro Jahr bis auf 70'000 Dukaten, während die Kosten des Lebensunterhaltes so billig waren, daß man für 3000 Dukaten einen Palast bauen konnte. § 171. Mit dem Reichtume und mit der drohenden Gefahr eines venetianischen Handelsmonopols wuchs die Zahl der Feinde. Trotz der Erfolge des vierten Kreuzzuges hatte sich ein griechisches Kaisertum in Nicäa, ein zweites in Trapezunt am Schwarzen Meere erhalten. Hier fand Venedigs großer Handelskonkurrent Genua seine natürlichen Verbündeten, deren Unterstützung es ihm immer wieder ermöglichte, nach jeder schweren Niederlage durch die venetianische Flotte sich rasch zu erholen. 1261 gelang es, von Nicäa aus, im Bunde mit Genua dem lateinischen Kaisertume ein Ende zu machen und die griechische Herrschaft in Konstantinopel wieder aufzurichten. Wenn auch Venedig einen großen Teil seiner Besitzungen behielt, mit der Handelsbegünstigung von Konstantinopel aus war es vorbei. Hierin trat jetzt überall Genua an seine Stelle. In dem Maße aber als Genua seine Handelsherrschaft im griechischen Reiche und am Schwarzen Meere ausbreitete, war Venedig bemüht, mit den ihm befreundeten egyptischen Herrschern den ganzen Verkehr von und nach Asien zu monopolisieren. Die rivalisierenden Handelsinteressen zwischen Genua und Venedig ließen deshalb den Krieg zwischen diesen beiden Staaten nicht eher zu Ende kommen, bis eine der kämpfenden Parteien völlig erschöpft war. Schon schien Venedig vernichtet zu sein, als Genua in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts sich noch mit Ungarn, Oesterreich und Carrara verbündet und mit der Besetzung der Lagunenstadt schon begonnen hatte. Aber Venedig wußte kluge Separatfrieden mit den Verbündeten abzuschließen, bis Genua wieder isoliert war und die äußerste Anstrengung der venetianischen Kräfte den letzten großen Sieg über die genueser Waffen 1381 ermöglichte. Wenige Jahre später hatte Genua aufgehört ein selbständiger Staat zu sein. Trotzdem wurde Venedig in immer neue Kriege verwickelt. Die bösen Erfahrungen in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts ließen es zweckmäßig erscheinen, die Landesgrenzen auf dem Festlande von der Stadt Venedig weiter abzurücken. Deshalb wurde in den Jahren 1427—1448 die terra firma erobert, zu welcher Padua, Vicenza, Verona, Feltre, Bassano, Belluno, Friaul, Brescia, Bergamo und Crema gehörten. Diese Zeiten waren deshalb den venetianischen Interessen günstig, weil das energische Vordringen der Osmanen auf dem europäischen Kontinente die Aufmerksamkeit der Ungarn und Oesterreicher derart in Anspruch nahm, daß Beide ihre gegen Venedig gerichteten Pläne zu verfolgen aufgaben. Sobald indeß die Türken Konstantinopel erobert hatten (1453), richteten sich ihre Waffen mit gleicher Energie auch gegen die venetianischen Besitzungen. Schon der Friede von 1503, welchen Venedig mit der Türkei abgeschlossen, erinnerte die Republik an ihr nahendes Ende. Die „Liga von Cambrai“ (1508), welche der Papst, Kaiser Maximilian I., Ludwig XII. von Frankreich und Ferdinand der Katholische von Aragonien gegen Venedig vereinigte, schien den Untergang der Republik von San Marco rasch herbei zu führen. Trotzdem wußte das Geschick der venetianischen Diplomaten das drohende Verderben noch einmal abzuwenden. 1617 schloß die Lagunenstadt noch einen Bund mit Holland und Schweden gegen die spanisch – habsburgische Weltmacht. 1669 ging Kreta an die Türken verloren. Seit Anfang des XVIII. Jahrhunderts erstrebte die venetianische Politik Friede und Neutralität um jeden Preis, um der Fremdenstadt mit ihren zahllosen Festen und ihrer charakteristischen Maskenfreiheit im angenehmen Genießen keine Störungen zu bereiten. Das Jahr 1797 brachte trotzdem mit den napoleonischen Kriegen auch diesem Handelsstaate das Ende. § 172. Diesem politischen Niedergang seit Mitte des XIII. Jahrhunderts gehen bedeutsame Veränderungen im venetianischen Handel zur Seite. Der Verlust von Akkon (1291) brachte eine päpstliche Handelssperre für Aegypten und Syrien als Vorbereitung einer neuen Kreuzzugseroberung. Zwar wußte der Schleichhandel, auch angeregt durch Einfuhrprämien, welche Aegypten bezahlte, dieselbe zu umgehen und die Päpste selbst haben von Mitte des XIV. Jahrhunderts ab gegen entsprechende Zahlungen besondere Handelserlaubnis gewährt, welche mit der Aussichtslosigkeit neuer Kreuzzugsbewegungen diese Handelssperre bald in Vergessenheit geraten ließ. Dennoch bedeutete diese Maßnahme eine empfindliche Schädigung der Handelsinteressen. Im indischen Gewürzhandel traten bedenkliche Veränderungen ein. Der Sultan von Aegypten führte 1422 ein staatliches Handelsmonopol mit indischen Spezereien und Baumwolle ein und steigerte die Preise für diese Produkte um das dreifache. Die fremden Kaufleute mußten ihre Aufkäufe auf die vom Sultan bezeichneten Plätze beschränken und alle übrigen Handelsniederlassungen in seinem Reiche aufgeben. Gelegentlich gefiel es dem Sultan, alle fremden Händler gefangen zu nehmen, um sie nur gegen noch höhere Preisbewilligungen wieder frei zu geben. In noch größere Bedrängnis geriet der venetianische Gewürzhandel durch das Vordringen der Portugiesen in Indien. Die Republik von San Marco plante deshalb im Bunde mit dem Sultan von Aegypten, dem Beherrscher der Türken und den Arabern Portugal aus Indien wieder zu vertreiben. Zu einem energischen Vorgehen nach dieser Richtung ist es jedoch nicht gekommen. 1521 hat dann Portugal Venedig eingeladen, seine indischen Gewürze künftig in Lissabon einzukaufen. Weil aber der König von Portugal nicht darauf einging, den Kaufleuten aus der Lagunenstadt all seine indischen Gewürze zu verkaufen, so daß Venedig für den Wiederverkauf das Monopol gehabt hätte, blieb die Republik von San Marco bei ihrer ägyptischen Bezugsquelle. Sie hätte doch auf ihre meisten Absatzgebiete der Konkurrenz halber verzichten müssen. In Aegypten aber wurden die Spezereien immer rarer und teurer, die Behandlung der fremden Händler immer schlechter. Die Venetianer ließen sich des Gewinnes halber alles gefallen und kamen deshalb selbst bei den Eingebornen im XVI. Jahrhundert immer mehr in Mißachtung. Aehnliche Verschiebungen vollzogen sich auf dem Sklavenmarkte. Schon im VIII. Jahrhundert gehörten die Venetianer zu den regelmäßigen Besuchern des Sklavenmarktes in Rom, auf welchem die Grundherren die Kinder ihrer christlichen Hintersassen verkauften, die dann hauptsächlich nach Nordafrika an die Araber weiter verhandelt wurden. Das ganze Mittelalter hindurch bis in’s XVI. Jahrhundert war dann Venedig ein Hauptplatz des internationalen Sklavenhandels, wo Tausende von Sklaven und Sklavinnen zu steigenden Preisen verkauft wurden. Die Zufuhr besorgten zumeist die venetianischen Kolonien, der Absatz ging vielfach nach Katalonien und Roussillon. Im XV. Jahrhundert ist dann durch die Mongolenkriege ein neuer Aufschwung in den Handel mit Sklaven gekommen. Die Entdeckung Amerika’s aber hat auch den Schwerpunkt dieses Handels nach Spanien und nach dem Atlantischen Ozean verlegt. Die Bedeutung des venetianischen Marktes ging dann in diesem Artikel mehr und mehr zurück. Klugerweise war Venedig bald bestrebt, die unsicheren Quellen der internationalen Handelsgewinne durch Schaffung einer tüchtigen heimischen Industrie zu ersetzen, was nach Erwerbung eines größeren Gebietes in der Heimat möglich war. So ist die Republik von San Marco etwa um Mitte des XVI. Jahrhunderts industriell selbständig geworden. Als Industrieprodukte sind besonders zu nennen: Tuche, Ledertapeten, Glas, Spitzen, Waffen, Metalle. Die Glasindustrie beschäftigte in Murano 30'000 Menschen, welche in sechsstündigen Schichten Tag und Nacht arbeiteten und nur am Samstag Abend die Oefen ausgeblasen haben. Damit war schon im XVI. Jahrhundert eine Altersversorgung verbunden, welche 60 Dukaten im Jahre gewährte. Die Spitzenindustrie war bis in das XVIII. Jahrhundert Hausindustrie geblieben und wurde dann erst in Murano und in Pellestrina fabrikmässig betrieben. Die venetianische Mode war weltberühmt und dadurch der Absatz der venetianischen Produkte wesentlich gefördert. In Venedig selbst war der Begriff des Proletariats unbekannt. Die Lagunen gestatteten keine Anhäufung von Arbeitermassen. Die venetianische Industrie war auf der terra firma zerstreut. Wer arbeiten wollte, konnte sich in Vendig immer leicht seinen Lebensunterhalt verdienen. Die geringe Zahl von Arbeitsunfähigen fand aber durch private und öffentliche Wohltätigkeit zureichende Unterstützung. Trotzdem blieben auch dem venetianischen Staate Erschütterungen im Inneren nicht erspart. § 173. Eine der großen ständigen Sorgen des Handelsstaates betraf die Brotversorgung des Volkes. Die Laguneninseln produzierten kein Getreide. Das seit dem Jahre 1000 eroberte Dalmation war in erster Linie Lieferant von Holz und Holzprodukten. Das Mittelmeer besaß zwar reiche Kornländer. Von da konnte aber die venetianische Handelsflotte kein Getreide zuführen, wenn die betreffenden Staaten die Getreideausfuhr nicht gestatteten. Die ältesten Handelsverträge Venetiens waren deshalb bemüht, sich in fremden Ländern das Recht der Getreideausfuhr im Bedarfsfalle zu sichern. Weil auch diese Zusage eine prekäre blieb, war die Politik der Republik darauf gerichtet, in ihren kolonialen Erwerbungen fruchtbare Getreideländer zu gewinnen. Das für Venedig wichtigste Gebiet dieser Art war Kreta. Zu Anfang des XIII. Jahrhunderts besetzt, versuchte man es zunächst mit dem „Assessorismus“. Als diese Regierungsmetode rasch gründlich Fiasco gemacht hatte, wurde Kreta 1211 nach Lehensrecht organisiert. Der vorausgegangene Aufstand bot den Anlaß, den Häuptlingen des Landes wertvolle Grundbesitzungen wegzunehmen, welche im Obereigentum des venetianischen Staates blieben und an ausgewählte venetianische Familien vergeben wurden mit der Verpflichtung, sich dauernd in Kreta niederzulassen, die Verteidigung des Landes zu übernehmen und eine bestimmte Quote des Ertrages der Besitzungen in Natura an die Staatsmagazine auf Kreta abzuliefern. Die Masse des Volkes auf Kreta wurde diesen venetianischen Rittern als Hörige zugeteilt. An die gleichen Staatsmagazine mußten alle übrigen, für den Verkauf disponiblen Lebensmittel nach staatlichen Preistaxen abgegeben werden. Und falls die Ritter nicht im stande waren, ihre fälligen Naturalien zu liefern, blieben sie zu einem entsprechenden Geldzins verpflichtet. Dazu kamen die Bauern in der nächsten Umgebung von Venedig, welche immer als persönlich freie Zeitpächter, mit der alten römisch-rechtlichen Pachtdauer von 29 Jahren angesiedelt waren und ihren nicht übermäßigen Pachtzins in Natura zu entrichten hatten. War jedoch ein Pächter in der Entrichtung seines Pachtzinses unpünktlich, so wurde die verspätete Zahlung dem Diebstahl gleichgeachtet und mit der Verdoppelung der fälligen Leistung bestraft. Die Grundsätze dieser Getreidehandelspolitik des ersten Handelsstaates im Mittelmeere sind leicht erkenntlich. Man war, ohne Rücksicht auf Freihandelstheorien, bemüht, die Brotversorgung des venetianischen Volkes zu sichern. Unpünktlichkeiten in der Ablieferung der fälligen Getreidemengen wurden streng bestraft. Nicht der Staat, sondern die Ritterschaft auf Kreta hatte das Risiko einer Mißernte zu tragen. Als das Jahr 1269 für das ganze Mittelmeer eine ungünstige Ernte brachte, geriet Venedig in eine schwere Hungersnot, welche die Staatsmänner dieser Republik veranlaßte, 1276 mit aller Strenge die Verstaatlichung der Brotversorgung des Volkes durchzuführen. Und diese, jeden Freihandel in Getreide und Brot radikal beseitigende Einrichtung blieb in Venedig durch fünf Jahrhunderte in Geltung. § 174. Diese Verstaatlichung der Brotversorgung des Volkes war in folgender Weise organisiert: in den staatlichen Getreidemagazinen sammelten sich die Naturalleistungen der Staatspächter und Lehensleute. Alles übrige auf venetianischem Gebiete erzeugte und für den Verkauf disponible Getreide mußte an die Staatsmagazine abgeliefert werden, welche dieses Getreide nach einer wechselnden Staatstaxe bezahlten. Die Ausfuhr von Getreide und Futtermitteln aus venetianischem Gebiete war nur mit ausdrücklicher staatlicher Genehmigung erlaubt. Bei einer durchschnittlichen Bevölkerung von etwa 200'000 Seelen in Venedig sollten die staatlichen Minimalvorräte in Getreide etwa dem Brotbedarf für zwei Monate entsprechen. Es war jedoch eine der wichtigsten Aufgaben der Brotversorgungs-Behörde (Ufficiali al frumento), den jeweiligen Ernteertrag auf venetianischem Gebiete einschließlich der venetianischen Kolonien, tunlichst bald zu ermitteln, um dann sofort für Rechnung des Staates in anderen Ländern die noch fehlenden Getreidemengen zu kaufen. Erst im XVI. Jahrhundert, als der internationale europäische Getreidehandel schon einen hohen Grad von Durchbildung erlangt hatte, trat an die Stelle der staatlichen Aufkäufe im Auslande durch besondere Agenten die Gewährung von entsprechend hohen staatlichen Getreideeinfuhr-Prämien für fremde wie heimische Getreidehändler mit der Erlaubnis, ein Drittel der eingeführten Menge wieder ausführen zu können. Diese staatliche Organisation erstreckte sich auf Weizen, Gerste, Hirse, Bohnen, Erbsen und die gangbarsten Gemüse. Der Verkauf von Getreide und Mehl in Detail wurde vom Staate an konzessionierte Detaillisten gegen eine mäßige Abgabe mit vorgeschriebenen Verkaufspreisen vergeben. Die Zentralkasse dieser Brotversorgungsbehörde (camera del frumento) war eines der wichtigsten Geldinstitute der Republik, auf welches die meisten öffentlichen Wechsel gezogen wurden. Die Mühlen waren private Unternehmen unter staatlicher Aufsicht. Die Bäcker bildeten eine große Korporation mit eigener Fachschule und strengen Vorschriften für die Brot- und Zwiebackbäckerei, deren Einhaltung durch besondere Fachleute überwacht wurde. § 175. Die schwere Bedrängnis, in welche der Rivalitätskrieg mit Genua im Laufe des XIV. Jahrhunderts den Staat gebracht hat, kam naturgemäß in den verschiedensten Maßnahmen zum Ausdruck. Die staatlichen Verkaufspreise für Getreide stiegen von 1315 bis 1380 um 400 Proz. Der Metallwert des venetianischen Dukaten sank von 5,04 Lire 1284 auf 3,082 Lire 1382, auf 1,977 Lire 1417. Nach 1381 trat eine allgemeine Herabsetzung der Beamtengehälter ein, welche nach und nach ganz in Wegfall kamen, weil der starke Andrang von wohlhabenden Bewerbern gestattete, fast alle Staatsämter als Ehrenämter zu vergeben. Es kann unter solchen Verhältnissen nicht überraschen, daß die Naturalpacht auf dem Festlande in der Umgebung von Venedig in eine Geldpacht verwandelt und daß die staatlichen Getreideeinkaufspreise in den Kolonien unter der Herrschaft des Staatsmonopols tunlichst billig gehalten wurden. Typisch ist auch hier wieder der Verlauf der Ereignisse auf Kreta. Die Verpflichtung der Ritterschaft, ihren Zins an den Staat entweder in Natura oder in Gold zu leisten, hat im Falle ungünstiger Ernteerträge die Lehensleute zu Schuldaufnahmen gezwungen. Darlehen waren nur bei jüdischen Wucherern erhältlich. Die hohen Zinsen haben die Schuldsumme rasch anwachsen lassen. Die Ueberschuldung der Ritter zwang den Staat zu Abhülfsmaßregeln. Als solche wählte die Republik zunächst die amtliche Festsetzung des Zinsfußes auf 12 Proz., welcher Satz bald auf 10 und 8 Proz. ermäßigt wurde. Weil aber die amtliche Getreidetaxe im Interesse einer billigen Verproviantierung der Schiffe niedrig blieb, waren die Ritter auch zu dem herabgesetzten Zinsfuße nicht in der Lage, ihren Verpflichtungen zur Schuldablösung nachzukommen. Man hat die ganze Lebenshaltung tunlichst eingeschränkt. Man hat von den Hörigen herausgepreßt, was möglich war, selbst die Kinder der Hintersassen wurden wieder als Sklaven von den Grundherren verkauft. Doch die unter dem Drucke des stetig wachsenden Kriegsbedarfs sich fortwährend erhöhenden Steuerforderungen ließen die Lage immer aussichtsloser erscheinen. Nach wiederholten, kleineren Unruhen kam es deshalb 1363 zu dem großen Aufstand der Ritter auf Kreta, welcher auf eine politische Verselbständigung der Kolonie abzielte. Die Furcht, dieses böse Beispiel möchte Nachfolger erwecken, ließ jetzt alle Handelsstaaten im Mittelmeere sich an der Handelssperre gegen Kreta beteiligen. Die Hauptstadt Kandia mußte sich deshalb schon 1364 ergeben. Die Rebellen wurden mit aller Strenge bestraft. Nur im Innern der Insel dauerte der Kleinkrieg noch weiter. Um hier die Wiederkehr solcher revolutionärer Bewegungen zu verhindern, wurde der Anbau der fruchtbaren Hochebene bei Verlust eines Fußes und der Herden verboten und alle Häuser hier niedergerissen. Ueber ein Jahrhundert lang blieb hier alles wüst liegen. Die hohen Steuerrückstände mußten seit 1386 wiederholt erlassen werden. Aber der Getreidebau blieb unrentabel, weil die staatlichen Einkaufspreise dauernd zu niedrig angesetzt wurden. Die Landwirte versuchten es dann mit der Viehzucht und der Milchwirtschaft. Aber die Wucherer brachten den Vieh– und Käsehandel in ihre Hand und die Landwirte von neuem in so schwere Schuldverpflichtungen, daß sie aus Furcht vor der drohenden Schuldhaft von der Insel vielfach flüchteten. Unter Mitwirkung der venetianischen Regierung wurde schließlich der allgemeinere Uebergang zum Handelsgewächsbau gewagt. Aber der Handel brachte bald so billigen Zucker auf den Markt, daß die meisten Besitzer der Zuckerplantagen bankerott wurden, eine immer stärkere Vermögensverschiebung zu Gunsten weniger sehr reicher Familien sich bemerkbar machte und den häufigen Hungersnöten selbst durch staatliche Getreideanbau-Prämien nicht vorgebeugt werden konnte. Bei einer neuen Agrarenquete von 1415—16 wurde bekannt, daß auf der ganzen Insel keine drei Ritter nicht den Juden stark verschuldet seien. Der Zinsfuß wurde deshalb amtlich auf 5 Proz. ermäßigt und unter staatlicher Leitung mit den Gläubigern ein Arrangement getroffen, wonach den Meistverschuldeten die Schuldbeträge ganz oder teilweise erlassen wurden. 1423 untersagte ein Ausnahmegesetz den Juden den Erwerb von Immobilien außerhalb des Judenviertels. Alle außerhalb dieser Grenze bereits erworbenen Häuser und Grundstücke mußten die Juden binnen zwei Jahren wieder an Christen verkaufen. 1433 verbot ein Gesetz den Juden die Maklergeschäfte. Die Bevölkerung der Insel war von 500'000 zur Zeit der Besitzergreifung durch Venedig auf 200'000 zurückgegangen. Die Kretenser sehnten sich aus den Fesseln der kapitalistischen Wirtschaft Venedigs nach der Naturalwirtschaft der Türken. 1669 ist Kreta türkisch geworden. § 176. In Venedig selbst hatte zu Ausgang des XIII. Jahrhunderts die Verschiebung der Besitz- und Vermögensverhältnisse zu einer geschlossenen aristokratischen Verfassung geführt. Die gegen diese Neuerung gerichteten Aufstände wurden unterdrückt. Die herrschende Klasse war seitdem doppelt bemüht, das Volk durch billiges Brot und viele Festlichkeiten in guter Laune zu erhalten. Dabei wuchs das gegenseitige Mißtrauen und die Angst vor Revolution so sehr, daß 1539 drei Staatsinquisitoren eingesetzt wurden, mit dem Auftrage, durch rücksichtslose rasche Kabinetsjustiz alle der herrschenden Staatsverfassung gefährliche Personen aus dem Wege zu räumen. Die Hand dieser geheimnisvollen Staatseinrichtung, die dem Volke gegenüber wieder mit dem heiligen Markus verflochten war, machte sich seit 1583 in unheimlicher Weise bemerkbar. Aber was zur Erhaltung des Bestehenden gegen innere Feinde genügte, reichte zur Verteidigung gegen äußere Feinde längst nicht aus. Ohne Schwertstreich hat sich dieser Staat dem Machtgebote Napoleons I. unterworfen. Nur die Bauern auf dem zu Venedig gehörenden Festlande, welche trotz Einführung der Hörigkeit zu Anfang des XV. Jahrhunderts, von der Republik stets mit kluger Milde behandelt wurden, griffen für das Fortbestehen der Herrschaft des heiligen Markus zu den Waffen — natürlich umsonst! § 177. In dem Paragraphen 107 bis 110 sind die Gründe genannt, welche Holland gezwungen haben, sich aus den furchtbaren Fesseln des spanischen Absolutismus zu befreien, und welche diesem kleinen Volke gestatteten, diese Freiheit zu erringen. Das so entstandene Staatsgebilde zählte die sieben Provinzen Holland, Seeland, Utrecht, Geldern, Oberyssel, Friesland und Groningen mit weitgehenden selbständigen Rechten. Zu der ungewöhnlich reichen Küstengliederung gehörte ein nur kleines Landgebiet von kaum 33'000 qkm; also etwa der zehnte Teil der vereinigten englischen Königreiche und fast nur der siebzehnte Teil des Flächeninhaltes von Frankreich. Von diesem kleinen Landgebiet war etwa die Hälfte als natürliche Weide zu benutzen, was die Viehhaltung ungemein begünstigte, den Ackerbau aber so zurücktreten ließ, daß das Volk hinsichtlich seiner Brotversorgung immer im Wesentlichen auf die Zufuhr vom Auslande angewiesen blieb. So wurde die Beschaffung der nötigen Getreidemengen aus einer Aufgabe der heimischen Landwirte eine solche der internationalen Getreidehandelsorganisation mit Amsterdam als ihrem Zentrum. Auf dieser Basis wurzelten die wichtigsten Interessen der niederländischen Republik. Speziell die führende Provinz Holland nahm auf ihre Landwirtschaft so wenig Rücksicht, daß sie neben anderen Lasten der Landwirte eine landwirtschaftliche Grundsteuer in der Höhe von 30% der Pachtrente erhob. Die Zukunft einer solchen Volkswirtschaft lag in der Tat auf dem Wasser und stand und fiel mit der Handelsherrschaft zur See. Weil aber die weit größeren benachbarten Staaten, England und Frankreich, ebenfalls die Handelsherrschaft zur See anstrebten, konnte das Ende dieser Entwickelung kaum zweifelhaft sein. Die Niederwerfung beider Konkurrenten war völlig ausgeschlossen. Es handelte sich von Anfang an nur darum, sich dieser Konkurrenz so lange zu erwehren, als es ging. Zu diesem Zwecke war die niederländische Republik bald mit England gegen Frankreich, bald mit Frankreich gegen England verbündet. Die Vorteile aus diesem wechselnden Freundschaftsverhältnis aber blieben immer auf der stärkeren Seite, welche nicht die der Holländer war. Zur Zeit der Befreiung von der spanischen Herrschaft hatte dieses Gemeinwesen auch schon den Höhepunkt seiner Macht erreicht, welche von einer glänzenden Blüte in Kunst und Wissenschaft begleitet wurde. (Hugo Grotius gest. 1646, Spinoza gest. 1677, Rembrandt gest. 1674, Rubens gest. 1640, van Dyk gest. 1641 u.a.) Hier bleibt deshalb nur die abwärtsgehende Entwickelung zu schildern übrig. § 178. Die Beseitigung der spanischen Macht aus Holland bedeutete gleichzeitig für diese Republik den vollen Sieg der kapitalistischen Ideen. Die mittelalterliche Auffassung hatte dem Papste die Macht gegeben, die koloniale Welt mit dem Seehandel an bestimmte Länder aufzuteilen. Portugal und Spanien wußten im Dienste der Kreuzzugsideen diese päpstlichen Verleihungen für die Gewässer von Indien und Amerika zu erwerben und gestatteten folgerichtig keiner dritten Macht, in diesen Meeren und Weltteilen Handel zu treiben. Das unter spanisch – habsburgischem Szepter reich gewordene holländische Handelsvolk aber konnte nach dem Bruch mit der spanischen Herrschaft nur existieren, wenn es die Grundsätze der freien Meerfahrt und der Handelsfreiheit für alle Länder verbreitete. (Hugo Grotius über das mare liberum 1609). Die mittelalterliche Kirche hatte unter der herrschenden Naturalwirtschaft die Auffassung vertreten, daß als öffentlicher Sünder zu behandeln sei, wer gewerbsmäßig Gelddarlehn gegen Zinsen gewähre. In der neuen niederländischen Republik war statt der Naturalwirtschaft und des landwirtschaftlichen Grundbesitzes die Geldwirtschaft mit dem städtischen Besitz zur Herrschaft gekommen. Es kann deshalb nicht überraschen, daß der darüber in den Jahren 1640 bis 1658 von holländischen Gelehrten mit großer Heftigkeit geführte Streit durch einen Beschluß der Staaten von Holland gegen die mittelalterliche Auffassung entschieden wurde. Charakteristischer Weise ging diese Entscheidung dahin: die Lösung der Leihbankfrage gehöre nicht zur Kompetenz der Theologen. Der logische Zusammenhang ist klar. Wie der Papst als sichtbares Oberhaupt der Kirche nicht zu entscheiden habe, wem überseeische Erdteile gehörten und wer dort ausschließlich zu handeln berechtigt sei, so solle es auch nicht Sache der Theologen sein, für das wirtschaftliche Volksleben zu bestimmen, was erlaubt und was nicht erlaubt wäre. Der Kapitalismus auf dem Fürstenthrone hatte die Politik der Staaten aus den Fesseln der christlichen Moral befreit. Der Kapitalismus in der Gesellschaft sah seine Aufgabe darin, die wirtschaftlichen Handlungen des Einzelnen von der christlichen Auffassung unabhängig zu machen. Nicht mehr die Moral, sondern allein der Profit sollte entscheiden, ob eine wirtschaftliche Tat zulässig oder unzulässig war. Der Kapitalismus und die Wucherfreiheit kamen auf der ganzen Linie zur Herrschaft. § 179. Indeß war es mit der Freiheit des Meeres und mit der Freiheit des Handels der Völker auch bei den Holländern eine „Freiheit, die sie meinten“. Die Holländischen Schiffer waren von früher her in Gilden organisiert. Als der Handel nach dem fernen Indien begann, rüsteten diese Gilden ihre Indienfahrer aus. Und nun zeigte es sich, daß die Holländer sich selbst Konkurrenz machten und zwar sowohl beim Einkauf in Indien, wie beim Verkauf in der Heimat. In Indien steigerten sie sich die Einkaufspreise, in Holland minderten sie sich die Verkaufspreise. Das lag nicht im Interesse eines möglichst hohen Profits. Deshalb wurden alle Indienfahrer 1602 zu einer großen niederländisch – ostindischen Handelsgesellschaft verschmolzen, welche mit einem Kapital von 6,5 Millionen Gulden gegründet wurde und vom Staate für Holland das ausschließliche Recht des Handels nach Ostindien übertragen erhielt. Mit Hilfe ihres größeren Kapitals baute diese Handelsgesellschaft weit größere und besser armierte Schiffe und war dann erfolgreich bemüht, jede andere Nation am Handel mit Indien zu hindern. So war anstelle des portugiesischen Handelsmonopols von des Papstes Gnaden ein holländisches Handelsmonopol von Geldes Gnaden getreten, das in der Ausplünderung der armen indischen Bevölkerung die rücksichtsloseste Art zur Anwendung brachte, von welcher die koloniale Erfahrung überhaupt zu berichten weiß. Die Holländer haben nicht nur den Handel, sie haben auch die Produktion und den Anbau der indischen Gewürze geregelt. Innerhalb eines bestimmten Gebietes durfte immer nur eine bestimmte Art von Gewürz gebaut werden. Andere Gewürzarten wurden ausgerottet und, wenn die Ernten bestimmter Gewürze besonders reich ausfielen, wurde eine entsprechend große Menge verbrannt, um die Verkaufspreise auf einer bestimmten Höhe halten zu können. Der Profit ließ all diese Maßnahmen durchaus gerechtfertigt erscheinen. Trotzdem außerordentlich hohe Beamtengehälter gezahlt wurden, und diese Beamten noch Handel auf ihre eigene Rechnung trieben, konnte die niederländisch-ostindische Handelsgesellschaft im XVII. Jahrhundert 40, 50 und 60% Dividende pro Jahr verteilen. Der Börsenkurs der Aktien stieg in Amsterdam um das zehnfache. Bald aber brachten die bei einer solchen Politik unausbleiblichen kriegerischen Verwicklungen Verluste. Der verlautbar gewordenen Mißstände halber wurde 1748 die Regierungsaufsicht verschärft. Trotzdem verteilte die Gesellschaft jährlich 12 bis 40% Dividenden. 1783 mußte ihr ein Moratorium gewährt werden. 1797 war die Schuldenlast der Gesellschaft auf 134 Millionen Gulden gestiegen. Das folgende Jahr sah ihre Auflösung. Sehr ähnlich war der Entwicklungsverlauf der niederländisch – westindischen Handelsgesellschaft. Nachdem die ostindische Gesellschaft so fette Gewinne verteilt hatte, sollte die 1621 gegründete westindische Gesellschaft versuchen, mindestens gleich hohe Gewinne aus den amerikanischen Gewässern zu erbeuten. Und da man leicht annehmen konnte, daß die Größe des Gesellschaftskapitals über die Macht entscheide, welche bei diesem Räubergewerbe zur Anwendung kam, wurde das Kapital bald auf 18 Millionen Gulden erhöht. Tatsächlich hat das Unternehmen bis 1636 547 spanische und portugiesische Schiffe geraubt, die einen Gewinn von 30 Millionen Gulden einbrachten. 1627 glückte das Abfangen der spanischen Silberflotte im Werte von 14 Millionen Gulden. Dazu kam ein ergiebiger Sklavenhandel, Gold- und Elfenbeinhandel mit Westafrika. An Dividenden wurden 20—50 Proz. pro Jahr verteilt. Nach 1636 ging das Unternehmen unter dem Einfluß von Kriegen mit Portugal, Spanien und England zurück. 1674 folgte die Auflösung. Eine nachher gegründete neue westindische Handelsgesellschaft wurde 1792 bankerott. § 180. Das Herz der holländischen Volkswirtschaft war die Börse zu Amsterdam. Hier fand sich aus ganz Europa zusammen, was reich war und über einen gut ausgeprägten Erwerbssinn verfügte. Die portugiesisischen Juden scheinen auf die Ausbildung der Börsentechnik einen besonderen Einfluß ausgeübt zu haben. All unsere moderen Börsengeschäfte mit dem Börsenspiel und der Börsenspekulation in Aktien, Wertpapieren, Wechseln und Waren der verschiedensten Art sind im XVII. Jahrhundert an der Amsterdamer Börse erfunden worden. Zwar war die Gesetzgebung bald bemüht, diese Mißstände einzuschränken. Schon 1610 wurde der Verkauf von Aktien, welche der Verkäufer nicht besaß, gesetzlich verboten. Aber diese einfachen gesetzlichen Verbote gegen die Spielwut der Börse wurden schon damals wenig beachtet. Im Jahre 1634, als in Deutschland noch der dreißigjährige Krieg wütete und die hier gemachte Kriegsbeute in Holland zumeist versilbert wurde, kam in den niederländischen Hauptstädten die merkwürdigste Spielmanie zum Ausbruch, über welche die Börsengeschichte zu berichten weiß: die „Tulpenmanie“. Der Markt hatte plötzlich „Meinung“ für die Tulpenzwiebel. Käufer, Verkäufer und Makler fanden sich zusammen, welche über tausende von Tulpen Kontrakte abschlossen, die keiner von diesen Beteiligten je gesehen hatte. Die Usancen für Börsenlieferungsgeschäfte wurden auch auf dieses Spiel angewendet. Die neue Manie verbreitete sich rasch bis nach Paris und London. Die Kurse stiegen. Das Stadtregister von Alkmar bezeugt, daß 1637 für 120 Tulpenzwiebeln bei einer öffentlichen Versteigerung der Preis von 90'000 Gulden erzielt wurde. Fast Alle beteiligten sich an diesem Spiele. So lange die Preise stiegen, brachte jede Beteiligung Gewinn. Die Armut in Holland schien für immer verschwunden zu sein. Aber in eben diesem Jahre 1637 trat plötzlich der Umschwung ein. Die „Meinung“ des Volkes über den „Wert der Tulpe“ ernüchterte. Die vorher so gesuchten Blumenzwiebeln waren plötzlich wertlos geworden. Die Gerichte lehnten die Klagen auf Erfüllung der eingegangenen Kontrakte ab. Nur Wenige hatten sich bereichert. Viele wurden zu Grunde gerichtet. Eine Reihe von Jahren vergingen, bevor sich das Land von diesem Schlage wieder erholte und bis der Handel von den Wunden genaß, welche ihm die Tulpenmanie geschlagen. Das Börsenspiel wandte sich von nun ab allgemein gangbaren Konsumartikeln zu. Um den damit entstandenen Mißständen zu begegnen, wurde in den Jahren 1693, 1756, 1775 gesetzliche Verbote gegen die Börsenlieferungs- und Börsentermingeschäfte in Getreide, Oel, Kaffee, Kakao, Branntwein, Salpeter u.s.w. erlassen. Aber die Durchführung all dieser börsenfeindlichen Gesetze ließ viel zu wünschen übrig. Die holländischen Richter wurden nach und nach für das Börsenspiel gewonnen, und die Börse fand immer wieder neue Auswege, das formale gesetzliche Verbot zu umgehen. Am besten wird die zentrale Stellung der Amsterdamer Börse in dem vom gesellschaftlichen Kapitalismus beherrschten Holland wohl durch die Ereignisse der Jahre 1672—78 illustriert. Ausnahmsweise hatten sich nämlich durch die diplomatischen Künste Ludwigs XIV. Frankreich und England zusammen gefunden, um Holland gemeinsam zu bekriegen. Die Gefahr für den holländischen Staat war eine große. Die Regierung bemühte sich deshalb, durch reiche Subsidienzahlungen an den großen Kurfürsten von Brandenburg und den deutschen Kaiser deren Armeen gegen die holländischen Feinde marschieren zu lassen. Die Holländer aber zahlten ihre Subsidien jetzt nicht in baarem Gelde, sondern in holländischen Staatspapieren, welche, angesichts der großen Gefahr, an der Börse einen sehr niedrigen Kurs notierten. Als nun der deutsche Kaiser und der Kurfürst von Brandenburg an der Börse die empfangenen holländischen Staatspapiere verkaufen wollten, waren beide sehr erstaunt, zu erfahren, daß holländische Staatspapiere bei größerem Angebot selbst zu viel niedrigeren Kursen nur schwer Käufer finden würden, weil eben die zu Gunsten Hollands wenig energische Kriegsführung alle Welt abschrecke. Wenn aber die Armee kräftig vorrücke, werde das Geld alsbald in beliebigen Summen herbeiströmen. Es wäre also Sache des deutschen Kaisers und des Kurfürsten von Brandenburg gewesen, die Feinde der Holländer zu schlagen, die Kursgewinne an der Amsterdamer Börse zu steigern und dann erst für alle Mühe und Opfer sich bezahlt zu machen. Trotzdem ist es diesmal wieder den Holländern geglückt, ohne Land- und Handelsverluste mit Frankreich Frieden zu schließen. § 181. Auch die holländische Kriegsmacht ist nach den Befreiungskriegen bald zurückgegangen. Die Mittel für das Landheer wurden immer mehr beschnitten und den tüchtigen Erbstatthaltern der Oranier die Erfüllung ihrer Pflicht als Kommandierende der Landarmee immer mehr erschwert. Die Kriegsmarine aber blieb völlig hinter den Ansprüchen der Zeit zurück. Im Befreiungskriege wurden Handelsschiffe als Kriegsschiffe verwendet. Weil Holland im ersten Viertel des XVII. Jahrhunderts über die größte Handelsmarine der Welt verfügte, glaubte man sich damit geborgen. Aber England wie Frankreich begannen immer mehr Schiffe für die speziellen Zwecke des Seekrieges zu bauen und auszurüsten, mit welchen die rasch armierten holländischen Handelsschiffe sich nicht messen konnten. Wie die Schiffe, so war auch die Bemannung für den Krieg nicht vorbereitet. 1652 brachten vor der ersten Schlacht einige 20 Handelskapitäne ihre Schiffe in Sicherheit. 1653 wurde die holländische Flotte geschlagen, weil es ihr an Munition fehlte. Selbst die Soldzahlungen blieben aus, trotz des Reichtums der holländischen Gesellschaft. Für Kriege, welche nicht auf reiche Beute gerichtet waren, hielt man das Geld zurück. Und von Kriegen, welche keinen Profit übrig ließen, wollte man in seinen Geschäften nicht gestört sein. Als die holländische Armee 1638 Antwerpen belagerte, lieferte der Amsterdamer Kaufherr Beylandt den Belagerten Pulver. Darüber zur Rede gestellt, lautete seine Antwort: „Wenn ich, um im Handel zu gewinnen, durch die Hölle fahren müßte, so würde ich den Brand meiner Segeln dransetzen. Der Handel muß frei sein und darf durch keine Kriegstaten unterbrochen werden.“ Als 1672 Ludwig XIV. gegen Holland rüstete, lieferten Amsterdamer Kaufleute ihm Getreide. Und als Frankreich 1709 von einer schweren Hungersnot heimgesucht wurde, die sich noch durch die Handelssperre verschärfte, welche die mit Holland verbündeten Mächte gegen Frankreich verhängt hatten, entdeckte man im Sund 50 niederländische Schiffe mit Getreide für Frankreich. Die Profitwut beherrschte das Land. Um bei dem Erraffen neuer Gewinne nicht gestört zu werden, wünschte man Friede mit Jedermann und Friede um jeden anderen Preis, als den des Verzichtes auf Gewinn. Wie an der Börse in Antwerpen, so rechnete man auch in der Politik nur mit dem Gewinn des Augenblicks und der unmittelbaren Gegenwart. Die Selbständigkeit des Landes konnte so nicht erhalten bleiben. Mit leichter Mühe wurde Holland im Winter 1794 von den Truppen des revolutionären Frankreichs besetzt, während England die holländischen Kolonien wegnahm. Hollands alte Handelskonkurrenten England und Frankreich haben sein Gebiet als gute Beute verschlungen. Was inzwischen als „neues Holland“ in dem Königreich der Niederlande erstanden ist, hat nicht die eigene Kraft, sondern der Beschluß der auf dem Wiener Kongresse vertretenen Großmächte (1815) geschaffen.
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