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Inhalt Band 3
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Buchseite 240 E.

Die Diagnose.



Vorbemerkung: Es gibt offenbar zwei prinzipiell verschiedene Arten politisch zu denken, von denen die eine als politisch–juristische, die andere als politisch–naturwissenschaftliche Methode bezeichnet werden kann.

Die politisch–juristische Denkweise liegt namentlich den Staatsmännern und Politikern in den modernen Verfassungsstaaten recht nahe. Dem Wortlaut der Verfassung gemäss hat ein bestimmter Teil der Bevölkerung das politische Wahlrecht. Die Aktionen im politischen Leben werden in vielfacher Hinsicht beurteilt nach der Wahlbetätigung dieser berechtigten Bevölkerung. In den meisten wichtigeren Fragen ist die Regierung an die Zustimmung einer parlamentarischen Majorität gebunden. Verfassungsmässig haben wir in den verschiedenen Parteien eine durchaus gleichberechtigte Volksvertretung zu erblicken. Um daraus Majoritäten zu bilden, empfiehlt es sich, auch die Forderungen der verschiedenen Parteien als prinzipiell gleichberechtigt zu betrachten, um dann durch all diese Verschiedenheiten eine „mittlere Linie“ in der Weise zu legen, dass sich darauf eine parlamentarische Mehrheit vereinen lässt. Das alles ist so einfach und naheliegend, dass es fast als selbstverständlich erscheinen möchte. Und doch ist diese heute auch in fast der ganzen nationalökonomischen Literatur vertretene Methode eine in hohem Maasse bedenkliche. Der z.B. immer noch andauernde und sonst geradezu unverständliche Streit der Wissenschaft über Schutzzoll und Freihandel kann nur durch die allgemeinere Anwendung dieser politisch-juristischen Denkweise eine verzeihliche Erklärung finden.

Buchseite 241 Die politisch–naturwissenschaftliche Methode geht nicht von den Parteien und Wahlen, sondern vom Volksganzen aus und sie erblickt in diesem Ganzen des Volkskörpers einen Organismus. Das bedeutet, dass die verschiedenen Teile bezw. Gruppen des Volkes nicht etwa nur wie ein, auf der gleichen Welle aufgereihtes Räderwerk zu betrachten sind, welches ein beliebiges Auswechseln der einzelnen Nummern leicht gestattet, sondern, dass sie unter normalen Verhältnissen eine Lebenseinheit darstellen, welche durch die Abtrennung auch nur eines Teiles rettungslos der Auflösung verfällt. Die bekannte agitatorische Frage, welche auch in mehr als einer wissenschaftlichen Abhandlung über „Schutzzoll oder Freihandel?“ wiederkehrt: „Was kosten uns die Agrarier?“ ist etwa ebenso berechtigt, wie die Frage der Glieder des menschlichen Körpers: „Was kostet uns der Magen?“ Der leider heute so dominierende Grundsatz: „Möglichst billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen!“ ist im Sinne einer organischen oder politisch-naturwissenschaftlichen Auffassung prinzipiell verwerflich. An seine Stelle ist der Grundsatz: „Leben und Lebenlassen!“ zu rücken. Das alles gilt unter normalen Verhältnissen.

Es gibt aber auch im Völkerleben Abweichungen von der Norm. Diesen Zustand bezeichnet die politisch-naturwissenschaftliche Auffassung als „krank“, im Gegensatz zu „gesund“. Eine ernstere Erkrankung des Volkskörpers ist sicher dort eingetreten, wo sich wesentliche Teile des Volkes ernst bekämpfen. Der Zustand des Klassenkampfes, den die heute herrschende Nationalökonomie als etwas selbstverständlich Gegebenes betrachtet, muss nach politisch-naturwissenschaftlicher Auffassung als ein in hohem Maasse bedenklicher krankhafter Zustand bezeichnet werden, der mit allen verfügbaren Mitteln tunlichst bald zu beseitigen ist. Unter diesem Gesichtswinkel sind die Forderungen der verschiedenen Parteien keineswegs immer gleichberechtigt. Nur die Forderungen der noch gesunden Volksteile können gleichwertig erscheinen. Wo die Krankheit einzelne Volksglieder schon stark erfasst hat, sind in der Regel auch die Forderungen derselben durch und durch krank. So z. B. der Antrag der Homosexuellen auf Aufhebung des § 175 des R.St.G.B. Und wie der gute Arzt die Krankheit bekämpft, um den Körper zu heilen, so muss unter ähnlicher Voraussetzung auch der gute Staatsmann krankhafte Parteiforderungen nicht nur abweisen, sondern das Ziel seiner aktuellen Politik darin erblicken, diese krankhaften Erscheinungen verschwinden zu machen. Eine politische „mittlere Linie“ zwischen gesunden und Buchseite 242 kranken Parteiforderungen gibt natürlich wieder eine Krankheit, welche auf die Dauer nur mit dem Untergang des Staates und seiner Kultur enden kann. Diese politisch-naturwissenschaftliche Auffassung ist natürlich nichts Neues. Sie ist seit Jahrtausenden bekannt. Schon die politisch besonders begabten griechischen Völker haben, unter der Führung eines Aristoteles, die Begriffe Organ, organisch und Organismus als politische Begriffe sehr gut formuliert. Jedes Organ hat den Grund seines Daseins nur im Ganzen, dem es angehört. Daher besitzt es auch nur im Zusammenhang mit dem Ganzen Leben. Die bestehende Vereinigung einer bestimmten Anzahl von verschiedenen Organen zu einem lebensfähigen Ganzen heißt Organismus und gestaltet sich immer komplizierter, je höher derselbe in der Reihenfolge der Lebewesen steht. Die einzelnen unter sich verschiedenen Organe erhalten sich gegenseitig. Aristoteles legt besonderes Gewicht darauf, dass die Selbständigkeit eines Staates auch in der möglichst unabhängigen Deckung seiner wichtigsten Lebensbedürfnisse Ausdruck finde. Materielle Abhängigkeit vom Auslande in der Versorgung mit den wichtigen Gütern des täglichen Bedarfes führt leicht zu ernsten Verwicklungen bei internationalen Krisen. Pythagoras auf Samos hat dem gleichen Gedanken nur einen anderen Ausdruck gegeben, wenn er in der volkswirtschaftlichen Entwicklung eine harmonische Proportion zwischen Ackerbau, Handel und Industrie forderte. Die älteste römische Ueberlieferung hat uns die altklassische Fabel des Menenius Agrippa von dem Magen und den Gliedern erhalten, welche nach Livius also lautet: „Zu der Zeit, als noch im Körper alle Kräfte harmonisch zusammen wirkten und doch jedem Gliede sein besonderer Zweck und sein eigenes Wort unbenommen blieb, da gerieten einmal die übrigen Körperteile in Unmut, dass durch ihre unermüdliche Dienstleistung dem Magen alles zugeführt werde, der Magen aber da mitten drin sich in behaglicher Ruhe an den dargebotenen Genüssen gütlich tue. Da verschworen sie sich, die Hände sollten keine Speise mehr zum Munde führen, der Mund, falls sie es doch täten, keine mehr aufnehmen und die Zähne das Kauen einstellen. Wie sie so in ihrem Grimme den Magen durch Hunger bezwingen wollten, bekamen Leib und Glieder miteinander die Auszehrung. Da zeigte sich klar, daß auch des Magens Dienstleistung eine keineswegs passive sei, daß er ebenso wohl Nahrung spende, als empfange, indem er in sämtliche Körperteile das Blut zurück sende als Element des Lebens und der Kraft und Buchseite 243 es gleichmäßig in die Adern verteile, so wie es durch die Verdauung der Speisen gewonnen.“ Livius fügt noch hinzu: „So zeigte er (Menenius Agrippa) vergleichsweise, wie der innere leibliche Aufruhr ein Bild des Grolles der Plebejer gegen die Patrizier sei, und es gelang ihm, das Volk zur Vernunft zu bringen. Die Auswanderung der Plebejer auf den heiligen Berg blieb eine Drohung. Die Plebejer kehrten nach Rom zurück.“ Dieser klassischen Fabel spricht die Geschichte ein Alter von 2400 Jahren zu.

Aus dem griechischen und römischen Altertum hat die Kirche die organische Auffassung des Staates und der Volkswirtschaft übernommen. Der Lehensstaat wie auch der Ständestaat waren ein vortrefflich organisiertes organisches Gebilde. Hier schließt heute jene Spezialliteratur an, welche in der Vorbemerkung zum Abschnitt A. Seite 5 und 6 dieses Bandes genannt wurde.

Die aus der Entwickelungsgeschichte der Völker vorausgeschickten Tatsachen zwingen uns weiter zu folgenden wichtigen Schlussfolgerungen:

1. Die in Raum und Zeit verschiedensten Völker zeigen in ihrem Niedergang wesentlich gleichartige Krankheitssymptome. Schon daraus kann die Vermutung abgeleitet werden, dass die verschiedensten Völker der Geschichte volkswirtschaftlich an derselben Krankheit zu Grunde gegangen sind.

2. Die zahlreichen Versuche hervorragender Politiker und Staatsmänner, die volkswirtschaftlichen Verhältnisse ihres Landes zu heilen, lassen klar erkennen, dass diese Heilung dauernd nur dann gelingt, wenn sie in logisch konsequenter Weise durchgeführt wird und mit ihr eine zweckdienliche Vorbeugung gegen Rückfälle (Prophylaxis) sich verbindet. Wo ein noch so energisch eingeleiteter Heilungsprozess unscheinbare Eiterreste übergeht, zeigen sich alle Hoffnungen auf ein Gesunden trügerisch. Das Gleiche gilt für jede erfolgreiche Heilung ohne eine anschliessende kraftvoll vorbeugende Politik. Bei keinem Organismus sind andere Beobachtungen zu erwarten.

3. Wo die Krankheitssymptome die gleichen sind und die gleichen therapeutischen Maßnahmen sich bewähren, da muß auch die Diagnose gleich lauten.

Und wie nennen wir diese völkermordende Krankheit? Die heutige Nationalökonomie lässt diese Frage unbeantwortet. Wie schon im I. Band, S. 34 und 35 und S. 158 ff. betont wurde, gefällt sich das moderne nationalökonomische Spezialistentum darin, in seinen Monographien jedes Symptom als eine selbständige KrankBuchseite 244heit zu betrachten und ohne Kenntnis des Ganzen reformatorisch zu behandeln. Eine solche Methode muss natürlich an der Oberfläche haften bleiben. Sie ist auch ganz unvereinbar mit dem Begriff der Volkswirtschaft als Organismus. Und speziell in diesem, der Diagnose gewidmeten Abschnitt werden wir die Unhaltbarkeit der herrschenden nationalökonomischen Auffassung zu beweisen haben, indem wir zunächst zeigen, wie die verschiedensten wirtschaftspolitischen Spezialfragen der Gegenwart sich zuletzt alle auf die gleiche Krankheitsursache zurückführen und dann den Zusammenhang aller wesentlichen Missstände mit dieser eigentlichen Krankheitsursache aufdecken. So wird an Stelle der Spezialforschung die Erkenntnis der Erkrankung des Ganzen, an Stelle der Vielheit die Einheit der Diagnose treten müssen, was offenbar wesentliche Voraussetzungen für eine wirklich erfolgreiche therapeutische Behandlung des sozialen Körpers sind.

*      *      *

Als mit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die Getreidepreise in Mitteleuropa sich zu senken begannen, lag zum Mindesten für den preishistorisch geübten Blick die Vermutung nahe, dass es sich um einen so häufig beobachteten Wechsel der sieben fetten und sieben mageren Jahre handle.

Die alttestamentarische Geschichte von Josef in Egypten weist zwar schon darauf hin, dass dieser natürliche Wechsel der Jahre durch Vorratsansammlungen ausgeglichen wird. Und weitblickende Fürsten, wie Friedrich der Grosse, haben auch erfolgreich mit Hülfe staatlicher Getreidevorräte eine Politik der mittleren Getreidepreise in den natürlichen Wechsel der Jahre ausBuchseite 245gleichend hineingelegt. Aber die siebziger und achtziger Jahre vergingen, ohne dass die fetten Jahre gekommen wären. 1890/1 brachten zwar ausreichende Getreidepreise. Aber dem folgte von 1893 ab die noch schärfere Senkung der argentinischen Konkurrenz. Hier war offenbar von „natürlichen Verhältnissen“ nur in dem Sinne die Rede, in welchem bei jeder Krankheit von einer natürlichen Entwicklung gesprochen werden kann. Krankhaft, zersetzend für den Wohlstand des Landes und namentlich der landwirtschaftlichen Bevölkerung war diese Preisbewegung offensichtlich. Es fragte sich nur: was war hier die Krankheitsursache, um diese Misstände wirklich beseitigen zu können.

In Presse, Literatur und Parlament hatte sich zunächst die sogenannte „Ueberproduktionstheorie“ eingenistet. „Wir werden überschwemmt mit Getreide.“ In allen sogenannten Konkurrenzländern, wie Nordamerika, Russland, Indien, war eine fast unheimliche Zunahme der Getreideproduktion oder doch des Getreideexports zu beobachten. Tatsächlich zeigten sich auch da und dort lokale Stauungen der Getreidebewegung, welche den herrschenden Glauben an die Ueberproduktion in Getreide zu stützen schienen. Trotzdem konnte von einer Ueberproduktion in Getreide ernstlich nicht gesprochen werden.

Was versteht man überhaupt unter Ueberproduktion? Offenbar: einen Zustand, in welchem die Produktion dem Bedarf mehr oder minder wesentlich vorausgeeilt ist. Aus diesem Grunde musste die ungarische Mühlenvereinigung vom 1. Oktober 1897 ab ihre Produktion um 50% einschränken. So war die deutsche Spiritusindustrie vor ihrer Produktionseinschränkung im Syndikat mit einem unverkäuflichen Spiritusvorrat gleich 25% der Jahresproduktion belastet. So erzeugte die deutsche Zementindustrie 1901 etwa die doppelte Zementmenge des wahrscheinlichen Buchseite 246 Jahresbedarfs. So könnten die heute vorhandenen alten Kaliwerke leicht das Dreifache jener Kalimenge produzieren, welche tatsächlich verbraucht wird. In all diesen Fällen spricht man mit Recht von einer vorhandenen oder drohenden Ueberproduktion. Wie aber lagen statt dessen die Verhältnisse auf dem Getreidemarkt z.B. zur Zeit der sogenannten argentinischen Konkurrenz?

Die Weizenausfuhr aus Argentinien stieg:

von 22'806 To. im Jahre 1889
auf 395'900 " " " 1891
auf über 1 Million To. " " 1893

Damit war Weizen in Mitteleuropa fast unverkäuflich geworden. Im Oktober 1894 fiel der Weizenpreis für die Tonne an der Berliner Börse auf den unerhörten Tiefstand von 120 Mark — trotz des deutschen Weizenzolles von 35 Mark. — 1891 hatte Berlin einen Jahresdurchschnittspreis von 224 Mark pro Tonne Weizenlieferware. Den mitteleuropäischen Landwirten hat man damals allen Ernstes den Rat gegeben, an Stelle des Weizenbaues Viehzucht und Handelsgewächsbau zu treiben.

Welche Weizenmenge hatte das Gefühl der Ueberproduktion im Markte hervorgerufen? Die argentinische Weizenausfuhr war von rund 400'000 To. im Jahre 1891 auf rund 1 Million To. im Jahre 1893 gestiegen. Das ergibt für den Weltweizenmarkt eine Exportzunahme um 600'000 To. Die Weltweizenernte von 1893 wird auf 66 Millionen To. geschätzt. Der argentinische Weizenexport hatte mithin die Weizenmenge auf dem Weltmarkt von 1891 bis 1893 um nicht ganz 1% vermehrt. Offenbar kann in einem solchen Falle von einer Ueberproduktion gar nicht gesprochen werden.

Eine andere Vorstellung von der Ueberproduktion in Getreide knüpft an die vorhanden gewesenen oder noch vorhandenen Flächen „jungfräulichen Bodens“ an. Aber Buchseite 247 diese Betrachtung vergisst, dass der „jungfräuliche“ Boden in den Konkurrenzländern bekanntlich in seinen Erträgen mehr oder minder bald zurückgeht und dass schon deshalb neue Ländereien bestellt werden müssen, um die Gesamterträge des Landes annähernd auf der Höhe der Konsumentwicklung zu halten. Der intensive Getreidebau mit Düngung führt sich hier erst recht langsam ein. Dieser Zuwachs an Neuland ist in Ländern mit junger Kultur etwas ebenso Normales wie das Wachsen der Erträge auf der gleichen Fläche in alten Kulturländern. So ist z.B. in Deutschland der Weizenertrag pro Hektar von 11,3 Dz. im Jahre 1881 auf 20,3 Dz. im Jahre 1906 gestiegen. Das alles begründet nicht die Tatsache einer Ueberproduktion in Getreide. Auf dem internationalen Agrarkongress in Budapest 1896 wurde unter allgemeiner Zustimmung die Parole ausgegeben: „Agrarier aller Länder vereinigt Euch!“ In Paris kam dann im Sommer 1900 die „Internationale landwirtschaftliche Vereinigung für Stand und Bildung der Getreidepreise“ zu stande. 1906 wurde die Welt-Agrar-Kammer in Rom gegründet. In all diesen Fällen hat die Ueberzeugung geherrscht, dass unter normalen Verhältnissen die Landwirte der verschiedenen Länder sich keine ungesunde Konkurrenz bereiten. Die Preiskrisis der landwirtschaftlichen Produkte aber ist etwas durchaus krankhaftes, etwas abnormales. Es gilt die eigentliche Ursache dieses Krankheitszustandes zu erkennen. Und deshalb führt uns hier die Betrachtung auf ganz andere Gebiete, als sie in den üblichen Monographien über die auswärtige landwirtschaftliche Konkurrenz behandelt sind, nämlich:

α) zur Ausbildung des modernen internationalen Spekulationsmarktes in Getreide;
β) zur Geschichte der internationalen Transportkosten für Getreide und
γ) zur kapitalistischen Erschliessung der landwirtschaftlichen Konkurrenzländer.

Buchseite 248 α) Zur Ausbildung des modernen internationalen Spekulationsmarktes in Getreide. In früheren Zeiten haben im Süden und Westen Deutschlands „gute Männer“ um Martini (10. November) den „Martinischlag gesetzt“ und darin den wahrscheinlichen Durchschnittspreis für Getreide im laufenden Erntejahr zu schätzen versucht. Dies erfolgte auf Grund einer persönlichen Augenscheinnahme des Ernteausfalls der Umgegend, soweit dieselbe zur Versorgung des betreffenden Marktes in Frage kam. Der Marktpreis an den einzelnen Markttagen bestimmte sich nach dem Verhältnis der zugefahrenen Getreidemengen zu dem bekannten Bedarf. Die durch solche Verhältnisse bedingten stärkeren Preisschwankungen wurden etwas gemildert durch staatliche, städtische und private Getreideläger, welche bei billigen Preisen angesammelt wurden, um bei hohen Preisen abgesetzt zu werden. Die Wasserläufe im Lande änderten wenig an diesem Zustande der Verkehrsverhältnisse für Getreide. Flussregulierungen kannte man noch nicht. Man liess „Gottes Wasser über Gottes Land laufen.“ Und auf den Meeren, welche die europäische Küste bespülen, entwickelte sich verhältnismässig früh schon, von dem Bedarf der Handelsstaaten ausgehend, ein europäisch-internationaler Getreidehandel, welcher aus Russland, Polen, Livland und den östlichen Provinzen von Preussen, in Danzig hauptsächlich sein Getreide sammelte, um es seit Ausgang des XVI. und Anfang des XVII. Jahrhunderts unter vielen Zu- und Abflüssen, um den europäischen Kontinent herum bis an die norditalienischen Handelsstädte zu verfrachten. Kamen auf dem Kontinent ungünstige Erntejahre, so versuchte man die Deckung des Fehlbetrages beim Nachbarn, der dann wieder bei seinem Nachbar die Nachfrage erhöhte. So kaufte während der Revolutionsjahre der Franzose von Buchseite 249 dem Schweizer, der Schweizer von dem Schwaben, der Schwabe vom Bayern. So holte 1811 Spanien einen grossen Teil seines Getreidebedarfs aus Italien, Italien deckte sich dann in Tirol und der Schweiz und diese schliesslich in Schwaben, Bayern und Oesterreich. Selbst in grösseren Einheitsstaaten, wie Frankreich, handelten die einzelnen Provinzen bis Ende des XVIII. Jahrhunderts in Fragen der Getreideversorgung fast als selbständige Staaten. Es kann deshalb kaum überraschen, dass noch um das Jahr 1800 für einen Getreidetransport von Magdeburg nach Hamburg z. B. 14 mal Zoll gezahlt werden musste. Die Beteiligung des spekulativen Kapitals am Getreidemarkt war in dieser Zeit in der Regel bei Todesstrafe verboten.

In diese Verhältnisse des alten Getreidemarktes hat der Ausbau der modernen Verkehrswege mit der fortschreitenden Verbilligung der Transportkosten, mit der immer grösseren Raschheit und Sicherheit des Güter-, Personen-, Zahlungs- und Nachrichtenverkehrs gewaltige Veränderungen gebracht. An die Hauptmärkte Mitteleuropas wurden alle übrigen Teile der Erde zu einem Weltmarkt für Getreide angegliedert. Jetzt war es unmöglich geworden, durch eigene Augenscheinnahme an der Ware selbst die Lage des Marktes zu beurteilen. Die Mengen, wie auch die räumliche Verteilung des fraglichen Getreides mussten diese Prozedur ausschliessen. So ist denn jetzt an die Stelle der Besichtigung der Ware selbst die Nachricht über die Ware getreten. Die Gesamtheit der im Markte vorhandenen Nachrichten nennt man die Marktmeinung. Und die Marktmeinung bestimmt den Preis.

All diese Umwandlungen liegen erst wenige Jahrzehnte hinter der Gegenwart zurück. Die Haupteisenbahnlinien in Europa und Nordamerika wurden in den sechziger und Buchseite 250 siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut. Die für den Weltmarkt charakteristische Statistik der sichtbaren Getreidevorräte beginnt in Nordamerika mit dem Jahre 1873, in England mit 1877. Trotzdem der erste Kabeltelegraph zwischen Nordamerika und Europa schon 1866 fertiggestellt wurde, waren die englischen Fachzeitschriften für den Getreidehandel noch im Jahre 1880 für Nachrichten von aussereuropäischen Märkten in der Hauptsache auf briefliche Mitteilungen angewiesen.

Jetzt war die Beteiligung des spekulativen Privatkapitals an der Preisbildung für Getreide freigegeben. Die Freihandelstheorie hatte gesiegt. Und speziell für den Freihandel mit Getreide verkündete man die Lehre: Der Weltmarkt für Getreide habe in jedem Monat eine neue Ernte. Die Getreidefelder der ganzen Erde würden nie gleichmässig von einer Missernte heimgesucht. Deshalb käme für den Getreideweltmarkt die Gefahr einer Missernte nicht mehr in Betracht. Extreme Preisschwankungen, wie in früheren Zeiten, seien fortan ausgeschlossen. Die Bewegung der Getreidepreise werde eine stetigere sein. Das spekulative Privatkapital hat sich jetzt vor allem des internationalen Nachrichtendienstes für den Getreidemarkt bemächtigt. Dem ging zur Seite die moderne Organisation der Lieferungsgeschäfte, welche in den führenden modernen Getreideterminbörsen eine grossartige Organisation des Blankoangebots erhielten. Das alles war international zu Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts fertig geworden. Inzwischen hatte sich im mitteleuropäischen Mühlengewerbe der Prozess der Umwandlung der alten Kundenmühle in eine Handelsmühle ausgebreitet, wodurch der Nur-Müller der alten Zeit auch Getreide- und Mehlhändler geworden war mit einer früher ungekannten Ausdehnung der Lieferungsgeschäfte in Getreide und Mehl. Die führenden GetreideterminBuchseite 251börsen besassen mindestens ihre eigene Telegraphenleitung. Die Börse in Chikago beanspruchte bald mehrere Hundert Telegraphenapparate, welche täglich Tausende von Börsentelegrammen expedierten, Ein telegraphischer Nachrichtenaustausch z.B. zwischen Chikago und Liverpool benötigte bald nur einen Zeitaufwand von nicht ganz sechs Minuten. Wer mit der Börse in Verbindung stand, hatte Anteil an dieser Riesenproduktion von Marktnachrichten.

Inzwischen war bei den Landwirten wenig oder nichts zur Anpassung an die veränderten Marktverhältnisse geschehen. Die „guten Männer“ und der „Martinischlag“ kamen nicht mehr in Betracht. Sie waren mit dem alten Lokalmarkt verschwunden. So wandte sich denn die Produktion vertrauensvoll an den Handel mit der Frage: „Was gilt mein Weizen?“ Wenn es hoch kam, wussten die Landwirte den Marktpreis vom vorhergehenden Tage. In den unteren Donauländern und in Russland stellten die Bauern dem Getreideaufkäufer ihre Ware auf seine Wage mit der Bitte: „Sage mir Väterchen, wieviel das ist und was Du mir dafür geben kannst?“ In Indien blieb es eine Aufgabe der Zauberer, den Rayot über die Menge seines geernteten Getreides aufzuklären. Kann es überraschen, dass die neue Preisbewegung auf dem Getreidemarkte wie eine dämonische Welle über die Landwirte aller Länder hereingebrochen ist? Bald da, bald dort zeigten sich lokale Stauungen im Verkehr. Das heimische Getreide war für den Moment unverkäuflich. Dazu das ganz allgemeine Gerede von der riesigen Ueberproduktion in Getreide. Wachsende Mutlosigkeit bemächtigte sich der Getreidebauern international. Der Börsenpreis herrschte fast unbeschränkt. Damit hatten die Baissespekulanten an den führenden Terminbörsen das Heft in Händen. Das Erntejahr 1890/91 brachte zwar wieder bessere Preise. Aber diesen folgte, 1893, 1894, 1895 der fast hoffnungslose Tiefstand der sogenannten argentinischen Konkurrenz.

Buchseite 252 Was ist nun das eigentlich Ungesunde, das Krankhafte an diesen Ereignissen? Offenbar die Preisbildung für Getreide unter der Herrschaft des spekulativen Privatkapitals. Die Theorie hat hier die Phrase bereit: „Diese Preisbildung sei eine durchaus natürliche, nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage oder von Vorrat und Bedarf.“ Man hat nur noch niemals einen Vertreter dieser Anschauung finden können, welcher anzugeben wusste: Wie gross denn an einem bestimmten Tage z.B Angebot und Nachfrage in der Welt bei Weizen oder Roggen sei? In den letzten Herbstmonaten eines jeden Jahres veröffentlicht das ungarische Ackerbauministerium eine jetzt vortreffliche Welternteschätzung. Das wäre für das laufende Erntejahr eine Verhältniszahl für Vorrat und Bedarf. Aber das spekulative Kapital müsste darnach Jahrespreise festsetzen, wie die „guten Männer“ der alten Zeit ihren „Martinischlag“ bestimmten. Unsere Getreidebörsen haben es bekanntlich mit einer Preisbildung zu tun, welche nicht nur von Tag zu Tag, sondern während der Börsenzeit von Sekunde zu Sekunde wechselt. Wie könnten hier Jahresernten bestimmend sein? Die Nordamerikaner und Engländer haben hier eine plausiblere Antwort bereit. Sie sagen: ihre Statistik, der „sichtbaren Getreidevorräte in der Hand des Handels“ sei etwa dasjenige Quantum, das angeboten sei. Nehmen wir einmal an, dass dem so wäre. Jedenfalls zeigt diese Ziffer der sichtbaren Vorräte den weitgehendsten Einfluss auf die Preisbewegung. Und eine längere Reihe von Beobachtungen berechtigt zu der Regel: „Wenn diese sichtbaren Vorräte um 1% der Ernte abnehmen, steigen die Preise um 10%; wenn diese Vorräte um 1% der Ernte zunehmen, fallen die Preise um 10%.“ Aber — der moderne Verkehr rechnet doch mit den Verhältnissen der ganzen Erde. Wie gross sind nun die Buchseite 253 „sichtbaren Vorräte“ in all den anderen Ländern ausserhalb Nordamerika und England? Wir wissen es nicht. Solche Ziffern gibt es gar nicht, trotzdem die übrige Welt vier mal mehr Weizen und 40 mal mehr Roggen erntet, als diese beiden vorgenannten Länder zusammen. Also ist es auch nicht möglich, dass sich diese heutige Getreidepreisbildung weltwirtschaftlich nach Angebot und Nachfrage richtet. Auf dem nordamerikanischen Maismarkt beherrschen die Preise für den Export den allgemeinen Markt. Nun wurden in den Jahren 1902 bis 1906 von der gesamten Maisernte in Nordamerika tatsächlich exportiert: 3,8%, 1,9%, 4,1%, 4,2%. Von der deutschen Kartoffelernte werden durchschnittlich verwendet:

zur  Spiritusbrennerei 6 %
" Stärkefabrikation 4 %
" Speiseverwertung 18 %
" Saat 15 %
" Verfütterung 47 %
Fäulnisverlust   10 %
100 %

Der deutsche Kartoffelpreis aber wird im Wesentlichen bestimmt durch die 4%, welche im Markte für die Stärkefabrikation erworben werden! Es sind also geradezu lächerlich kleine Warenmengen, welche auf den Marktpreis einen bestimmenden Einfluss ausüben. Um so bedenklicher müssen jene Marktorganisationen wirken, welche das Angebot vervielfältigen. So ist es bei den mittleren und kleinen Getreidemühlen Sitte, auf je 5 bis 10 Tonnen Tagesvermahlung schon einen Mehlverkäufer zu halten, während bei den Grossmühlen auf je 90 bis 100 Tonnen Tagesvermahlung erst ein Mehlverkäufer kommt. Nürnberger Bäcker, welche ihr Mehl von auswärts beziehen, werden öfter an einem Tag von etwa sechs Agenten der umliegenden Mühlen besucht. Wenn so das Mehl Buchseite 254 wie saueres Bier ausgeboten wird, kann es nicht überraschen, dass der Mehlmarkt fast dauernd unter einer Baissestimmung zu leiden hat. Ebenso ungünstig wirkt auf den Getreidemarkt die moderne Organisation des Blankoangebotes auf den Terminbörsen. Man hat für einzelne Terminbörsen nachgewiesen, dass das 30 bis 60fache Quantum der wirklich umgesetzten effektiven Ware in Papiergetreide gehandelt wurde. Die bekannte Verteidigung dieser Blankoverkäufe: sie könnten den Markt nicht ungünstig beeinflussen, weil jedem Verkauf ein Kauf gegenüberstehe und dadurch ausgeglichen werde, ist auf Seiten der Wissenden eine Lüge, auf Seiten der Unwissenden ein Irrtum. Zunächst fragt es sich hier, ob die Hausse- oder die Baisseseite die Initiative hat, dementsprechend wird die Preisbewegung geführt. Sobald der Markt überrascht wurde, werden eine Menge Angebote der führenden Seite gar nicht aufgenommen, bis die Preisdifferenz gross genug ist, um einen Spekulanten wieder zur Teilnahme zu locken. Deshalb hat die Börse in Chikago schon Preisschwankungen um 10 Cents (etwa 15 Mark pro Tonne) und mehr innerhalb derselben Börsenstunde gehabt. In diesen Fällen ist dann der Preis reinste Spekulationsmache.

Weit richtiger als die unerwiesene und unerweisbare Phrase: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis! trifft auch heute noch ein altes Sprichwort aus dem XVI. Jahrhundert den Nagel auf den Kopf: „Geld macht den Markt!“ Das Geld beherrscht den nationalen wie internationalen Marktnachrichtendienst und bestimmt damit die Marktmeinung. Die Herrschaft des Geldes über die Marktnachrichten scheidet die Marktinteressenten in die kleine Zahl der „Wissenden“ und in die Masse der „Unwissenden“, auch „Hammelherde“ genannt. Die Höhe des Zinsfusses ist eine der wichtigsten Voraussetzungen Buchseite 255 für den Umfang der Spekulationsbeteiligung im Markte. Das Alles gibt die Börsensprache auch offen zu. Man spricht von einem „manipulierten Markt“, wenn ihn ein Spekulant derart beherrscht, dass er die Preise nach Belieben steigen oder fallen lassen kann. Andere Börsenausdrücke dieser Art sind: „Eines Mannes Markt“ oder „Den Markt melken“ oder „Scalpingmarkt“. Man spricht von einer „Tafke-Börse“, wenn die Preisbewegung den gerade entgegengesetzten Weg einschlägt, als alle Welt angenommen hatte. Die führenden Spekulanten lieben es nicht, die Gewinne mit zu viel Gesellschaft zu teilen. Deshalb werden von Zeit zu Zeit durch überraschende Ereignisse die „Mitläufer abgekehrt“.

Um das geradezu Ungeheuerliche der heutigen Getreidepreisbildung durch das spekulative Kapital allgemeiner verständlich zu machen, ist es notwendig, einen nirgends existierenden Zustand zu konstruieren. Man denke sich ein sehr grosses Restaurant, in welchem der Wirt als Erzeuger der Speisen und als Eigentümer der Getränke darauf verzichtet hätte, auf seiner Speise- und Weinkarte die Preise der bei ihm käuflichen Waren bestimmt und klar festzusetzen. Diese Preisnormierung sei einer Rotte von Spekulanten überlassen, welche sich am Büffet in der Regel aufhalten. Es sei um die Mitte des Vormittags, Gäste sind nur wenige oder keine da. Aber der Wirt lässt zur leichteren Befriedigung einer grösseren Nachfrage um die Mittagszeit die Vorräte an Speisen und Getränken anwachsen. Sofort beginnen die Spekulanten die Preise für diese Speisen und Getränke herabzusetzen. Noch mehr! Eben diese Spekulanten haben nach Analogie der Terminbörsen-Usancen das unbeschränkte Recht, auf dem Papier beliebig grosse Mengen Speisen und Getränke anzubieten, die sie garnicht besitzen. Dadurch fallen natürlich die Preise noch tiefer. Das bringt den Baissespekulanten Buchseite 256 gerade Gewinn. Denn jetzt kaufen sie ihre ersten Blankoverkäufe billiger zurück von anderen Blankoverkäufern und streichen die Preisdifferenz zwischen den ersten „Verkäufen“ und den „Deckungskäufen“ als Gewinn in die Tasche. Ausserdem wird das Spiel der Preisschwankungen noch belebt durch gefälschte Nachrichten über die Grösse der Vorräte am Büffet, über die Vorräte in Keller und Küche usw. Und was all diese Misstände noch verschärft: diese Spekulanten verleiten ein mehr oder minder grosses „Publikum“ zum Mitspielen. Nun schlägt es 12 Uhr. Die hungrigen und durstigen Gäste kommen zu allen Türen in das Lokal geströmt. Die Kellner haben alle Hände voll zu tun, die rege Nachfrage zu befriedigen. Die Vorräte am Büffet gehen flott weg. Sofort werden durch die Spekulanten die Preise entsprechend erhöht und weil die Blankoverkäufer es jetzt mit der Angst zu tun kriegen, am Schluss des Lieferungstermins „eingeklemmt“ zu werden, kaufen sie ihre Blankoverkäufe im Markte zurück, machen ausserdem noch neue Käufe auf dem Papier für sich und ihre überredeten Spielgenossen hinzu und verstärken so jetzt die Teuerung ebenso sehr, wie sie vorher die Entwertung der Speisen und der Getränke verschärft hatten. Eine solche ganz ungeheuerliche und ganz unvernünftige Preisbildung kann natürlich nur dort sich auswachsen, wo die Produzenten von ihrem Hausrecht keinen Gebrauch machen, weil sie sich über die „neuen Verhältnisse“ noch ungenügend unterrichtet haben.

Die Freihandelslehre hat sich aber auch in ihrer speziellen Begründung des Freihandels in Getreide als ein Irrtum erwiesen. Es ist nicht wahr, dass durch den Welthandel mit Getreide ein so grosses Gebiet umschlossen sei, dass Missernten nicht mehr zu befürchten wären. Wir haben innerhalb zehn Jahren zweimal eine internationale Missernte in Weizen gehabt: 1897/98 und 1907/8, welche Buchseite 257 gegen das unmittelbare Vorjahr Mindererträge von acht bis zehn Millionen Tonnen, bei einer Weltweizenernte von 75 bis 90 Millionen Tonnen, ergeben haben. Dazu ist die Herbstbestellung für Weizen und Roggen 1907 so ungünstig verlaufen, dass eine zweite unmittelbar folgende internationale Missernte nicht ausgeschlossen ist. Die Missernte von 1897/98 wie von 1907/8 konnte noch einigermassen ausgeglichen werden durch Aufzehrung der Vorräte von etwa 3 bis 4% der Welternte. Folgt aber eine zweite Fehlernte bei aufgezehrten Reserven, dann sind allerdings Hungersnotpreise von 300 bis 500 Mark pro Tonne Brotgetreide in Mitteleuropa fast unausbleiblich. Das alles sind durchaus unhaltbare ungesunde Verhältnisse, die nur zur Auswucherung des Volkes durch das Freihandelssystem und durch die Freihändler führen. Man weist mit Recht darauf hin, dass bei der russischen, indischen und argentinischen Konkurrenz auch die schlecht geordneten Währungsverhältnisse dieser Länder eine Rolle gespielt haben. Aber all diese Währungsmissstände sind nur die Folgen der Tatsache, dass der internationale Zahlungsverkehr dem spekulativen Privatkapital ausgeliefert wurde.

Die Festsetzung der internationalen Wechselkurse, der Kurse für Papiergeld und Silber sind diesem überlassen. Dazu kommen die Schuldaufnahmen des Staates und der Kommunen bei den Privatbanken. Der Zusammenwirkung dieser Faktoren verdanken wir die bedenklichen Schwankungen der Währungswerte.

Die eigentliche Ursache der ungesunden Preisbildung für Getreide liegt also in der führenden Stellung, welche hierbei das spekulative Privatkapital einnimmt, oder, um es noch allgemeiner auszudrücken: in dem heute herrschenden Kapitalismus.

Buchseite 258 β) Zur Geschichte der internationalen Transportkosten für Getreide. Seit Anfang der 70er bis Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts löste im internationalen Getreideverkehr eine Verbilligung der Transportkosten die andere ab. Für die Verfrachtung von 1000 kg Weizen auf der 3000 km langen Strecke von Chicago nach New-York waren 1872: 38,70 Mark; im Juni 1895 nur 8 Mark zu zahlen — eine Verbilligung auf nicht ganz den fünften Teil. Die russischen Eisenbahntarifsätze für Getreide waren 1870 pro Pud und Werst 1⁄24 Kopeken und 1893 für 980 Werst und mehr auf 1⁄123 Kopeken gefallen — eine Verbilligung auf weniger als den fünften Teil. Die Transportkosten für Weizen auf dem Seewege New-York—Liverpool 1868 = 100 gesetzt, ergibt ein Zurückgehen derselben im Jahre 1898 auf die Verhältniszahl von 29 — eine Verbilligung auf weniger als den dritten Teil. Diese Verbilligung der Transportkosten kann zwar nicht einfach dem Rückgang der Getreidepreise gleichgesetzt werden, wie es schon versucht wurde. Das Jahr 1898 z.B. hatte sehr niedrige Seefrachten von Amerika nach England, aber die Getreidepreise waren hoch. Das Jahr 1899 brachte für diese Route um 1⁄3 höhere Seefrachten, die Getreidepreise waren aber wesentlich niedriger. Ein Herabgehen der Eisenbahnfrachten führte ebenso häufig zu einer Preissteigerung in den Exportgebieten wie zu einer Preissenkung in den Importländern. Aber im Allgemeinen darf gesagt werden, dass eine Verbilligung der Transportkosten auch eine entsprechende Verbilligung der Warenpreise bewirkt.

Welcher Einfluss brachte nun eine so weitgehende Herabsetzung der Getreidetransporttarife zustande?

Die Eisenbahnen wurden zumeist als Privatbahnen gebaut. Die Grundsätze, welche in der EisenbahntarifBuchseite 259politik Eingang gefunden haben, waren rein privatwirtschaftliche. Auf jener Bahnstrecke, welche für die Umwohner eine Monopolstellung hatte, kamen Lokaltarife zur Anwendung, welche den Verfrachtern so hohe Sätze aufbürdeten, als „sie tragen konnten“. Wo Konkurrenzlinien in Frage kamen, bestimmte der Konkurrenzkampf die Tarifsätze. Diese Konkurrenzerscheinungen wurden dadurch noch komplizierter gestaltet, dass die Handelsorganisationen am Exporthafen alles aufgeboten haben, um einen möglichst grossen Umsatz in Getreide zu erzielen. Hier wirkte nicht nur die Kunst der Ueberredung, hier kam auch der Einfluss der Kapitalbeteiligung an den Bahnen in Betracht. Immer aber war das rein privatwirtschaftliche Interesse, möglichst bald reich zu werden, die eigentliche Triebfeder. Nun erreichte irgend eine Handelskammer in einem Exporthafen eine Tarifermässigung für ihre Zufuhrbahnen. Für den Augenblick war das gewiss recht vorteilhaft. Aber die Sache blieb ja nicht geheim. Deshalb waren bald alle Konkurrenzhäfen bemüht, eine ähnliche Tarifverbilligung für ihre Zufuhrbahnen herauszuschlagen. Dann war der momentane Geschäftsvorteil wieder ganz entschwunden, und eine neue Zufuhrtarifermässigung musste durchgesetzt werden. Die Verbilligung der Seefrachten stand mit dem Uebergang vom Holzschiff zum Eisenschiff und vom Eisen- zum Stahlschiff in engem Zusammenhange, dem schwere internationale Krisen des Reedereigewerbes parallel liefen, bei fast völligem Mangel einer grösseren Organisation dieser individual–wirtschaftlichen Unternehmungen. So spielte die Konkurrenz der Handelskammern mit den Eisenbahntarifen und Seefrachten nicht nur zwischen den Golfhäfen und den atlantischen Häfen in Nordamerika, zwischen den nordrussischen, den südrussischen und Donauhäfen, in Indien zwischen Bombay, Kurrachee und Kalkutta, sie spielte Buchseite 260 auch international zwischen diesen verschiedenen Ausfuhrländern, mit Beteiligung der Einfuhrländer, bis die Sache absolut nicht mehr so weiter gehen konnte.

Als die Getreidepreise in Mitteleuropa unter die Gestehungskosten der Landwirte gesunken waren, begann die Periode der Getreidefinanzzölle. Um diese Zölle auszugleichen, wurden neuerliche Transportkostenermässigungen durchgesetzt. Denen folgten höhere Zölle in Mitteleuropa und bald neuerliche Verbilligungen des Getreidetransportes. Die daraus naturgemäss entsprungene Kampfesstimmung der verschiedenen Nationen konnte nur mühsam durch den Abschluss von Handelsverträgen verdeckt werden. In Nordamerika, wo die Ferntarife zu den Lokaltarifen das Verhältnis von 1 zu 100 erreichten, und wo man das Getreide auf grössere Entfernungen zu so billigen Sätzen verfrachtete, dass kaum die Kohlen in der Lokomotive damit bezahlt wurden, blieben periodisch schwere finanzielle Krisen der Bahngesellschaften nicht aus. 1893/94 haben die Bahnen der Union mit einem Fehlbetrage von 46 Millionen Dollars abgeschlossen und am 1. Juli 1895 befanden sich 169 Gesellschaften mit einer Bahnlänge von 37'856 englischen Meilen und einem Anlagekapital von 2'432 Millionen Dollars in Konkurs. Die russischen Bahnen erforderten 1896 einen Staatszuschuss in der Höhe von 140 Millionen Rubel. Die indische Regierung hatte in dem gleichen Jahre den indischen Bahnen einen Staatsbeitrag von 28 Millionen Rupien zu leisten. Die finanziellen Gefahren für das eigene Land mussten es jetzt verbieten, die Getreideausfuhrtarife auch ferner wie bisher nach den Wünschen des spekulativen Privatkapitals zu gestalten.

γ) Die kapitalistische Erschliessung der landwirtschaftlichen Konkurrenzländer. Es ist eine oft gehörte Buchseite 261 Behauptung: die Verschiebung der Verkehrswege, namentlich der Eisenbahnen, habe die moderne internationale landwirtschaftliche Konkurrenz verursacht! Aber — die Verkehrswege verschieben sich doch nicht aus eigener Kraft. Die Eisenbahnen wachsen nicht wie die Lilien auf dem Felde. In Nordamerika sagt jeder Fachmann: „Der Westen ist erschlossen worden durch die Finanzkräfte in Boston, Philadelphia und Newyork.“ Diese Auskunft muss nur dahin erweitert werden: „Zur Erschliessung der sogenannten landwirtschaftlichen Konkurrenzländer waren gewaltige internationale Vermögensverschiebungen nötig, welche unter der Oberleitung der grossen privaten Kreditbanken erfolgt sind.“

Das geschah etwa in folgender Weise:

In den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts machten sich bekanntlich radikale wirtschaftspolitische Strömungen auf dem europäischen Kontinent geltend. Die dadurch erschreckten reichen Leute verwandelten ihr Vermögen in Gold und Silber und schickten es der Bank von England. Hier wusste man nichts besseres damit anzufangen, als es nach Nordamerika zu senden, wo man bald weniger um Geld, als um eine Gelegenheit seiner Veranlagung in Verlegenheit war. Da kamen die Amerikaner auf die Idee, diesen Goldzufluss zu Bahnbauten zu verwenden. Die amerikanischen Gesetze von 1848 und 1849 erleichterten die Gründung von Eisenbahngesellschaften ausserordentlich und wiesen deutlich darauf hin, das fremde Geld in der Form von Obligationen zum Bahnbau zuzulassen. Eine Verschuldung des Aktienkapitals etwa um das fünfunddreissigfache schien dabei als normal betrachtet zu werden. Riesige Landschenkungen der Regierung an die Eisenbahngesellschaften trugen noch wesentlich zur Reklame und zur Kurstreiberei der EisenBuchseite 262bahnaktien bei. Die bis 1875 nach Nordamerika von Europa ausgewanderte Geldsumme schätzt Schaeffle auf 1700 Millionen Mark. Nach Poor’s Manual sind in der Union von 1840 bis 1860 etwa 445'000 km neue Eisenbahnen mit einem durchschnittlichen Kostenaufwand von 22'000 Dollars per Kilometer gebaut worden. Daraus berechnet sich ein Gesamtkostenaufwand von 4112 Millionen Mark. Die Reichtümer, welche auf den Goldfeldern von Kalifornien und Australien gewonnen wurden, scheinen sich mithin ebenfalls wesentlich an dem nordamerikanischen Bahnbau beteiligt zu haben.

Als der Zusammenbruch dieser Kreditwirtschaft im Jahre 1856/7 kam, war das gewaltige Mississippital durch Schienenwege bereits erschlossen. Nun folgte eine für die moderne Erschliessung der jungen Kulturländer höchst charakteristische Bevölkerungsverschiebung. Die Einwanderungsreklame hatte zur Zeit des Aufschwungs die europäischen Auswanderer bis auf 170'000 Köpfe pro Jahr anschwellen lassen, die zunächst überwiegend in den Städten Aufnahme fanden. Zur Zeit der Krisis hörte diese Zuwanderung ganz auf, an ihre Stelle trat sogar eine Rückwanderung. Jetzt waren viele Hunderttausende in den Städten brotlos geworden, die im Interesse ihrer Selbsterhaltung die Offerte der Bahngesellschaften angenommen haben, im neuen Westen Landwirte zu werden. Die Zahl der Nichtlandwirte nimmt deshalb rasch wesentlich ab, die Zahl der Landwirte vermehrt sich entsprechend. Mit ihr steigt die landwirtschaftlich benützte Fläche, und wenige Jahre später, nachdem die neuen Landwirte sich in ihren neuen Beruf eingelebt haben, schnellt die Welle der Weizenausfuhr nach Europa rasch an. 1830 war der Weizenexport der Union noch 5 Millionen Bushels, 1856/7 kam die Krisis, 1860 stieg die Weizenausfuhr auf 15,9 Millionen Bushels, 1861 auf Buchseite 263 50,6 Millionen Bushels. In der gleichen Zeit schreitet die für die nordamerikanische Entwicklung so charakteristische Wanderung der Kornkammer von Osten nach Westen sichtlich fort. Aus dieser ersten internationalen Spekulationskrisis hat namentlich das Grosskapital wichtige Lehren gezogen. In wachsender Zahl wurden internationale grosskapitalistische Beziehungen angeknüpft, um für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung die Oberleitung in zielbewussten Händen zu halten. Der nordamerikanische Bürgerkrieg mit seinen riesigen Schuldaufnahmen bei bald folgender Rückzahlung, der deutsch-französische Krieg mit seinem Milliardensegen und mit einer etwas seltsamen Art der Durchführung der deutschen Münzreform, gab der internationalen Bankwelt alle Hände voll zu tun. Schon 1870 wurde von Sachverständigen die Summe der im Westen Nordamerikas angelegten Gelder Europas auf 4,2 Milliarden Mark geschätzt. Jedenfalls wurden in den acht Jahren vor 1873 nach Henry V. Poor in den Vereinigten Staaten 35'183 englische Meilen neue Bahnen gebaut, mit einem Kostenaufwand von 6 Milliarden Mark. Die Kühnheit der Schuldenaufnahme und die Vertrauensseligkeit der Geldgeber stiegen weit über alles hinaus, was vor der Krisis 1856/7 bekannt geworden. Dementsprechend gab es in der Krisis 1873 auch grössere Verluste. 250 Eisenbahngesellschaften kamen unter den Hammer mit einem Anlagekapital von 3'868 Millionen Mark, das fast vollständig verloren ging. Die Erschliessung des ganzen Westens war eingeleitet. Schon im Mai 1869 hatte die erste Pacificbahn den stillen Ozean erreicht. Die Zahl der europäischen Einwanderer war in den Gründerjahren bis auf 295'000 Köpfe jährlich gestiegen. Während der Krisis hörte die Einwanderung wieder auf, um so grösser wird diesmal die Binnenwanderung aus den Städten des Ostens nach dem neuen Westen.

Buchseite 264 Die mit Getreide bestellte Fläche der Union war:

1873   74'112'137 Acres
1879   102'260'950 "

Der Weizen- und Weizenmehlexport der Union betrug:

1873   50'733'000 Bushels
1879   147'687'000 "

Das Unheil der nordamerikanischen Konkurrenz war über die mitteleuropäische Landwirtschaft hereingebrochen.

Jetzt ist die europäische Auswanderung nach Nordamerika erst recht angeschwollen und erreichte 1882 das Maximum mit 730'349 Personen. Der Bahnbau mit Hilfe des europäischen Kapitals nahm neuen Aufschwung. 1884 waren bereits 125'152 Meilen in der Union in Betrieb. Jetzt wurde die heutige Kornkammer Nordamerikas, Minnesota und die beiden Dakotas, erschlossen. Heute ist das nordamerikanische Eisenbahnnetz etwa gerade so gross, wie die Bahnlinien der ganzen übrigen Welt zusammengenommen. Eine grosse nordamerikanische Eisenbahnkrisis fällt namentlich noch in die Jahre 1893/95. Aber auch zwischen diesen Jahren und dem Jahre 1873 gibt es häufige Bahnkonkurse. Die nordamerikanischen Eisenbahnkönige machten sich gegenseitig die Beute streitig, namentlich durch Bahntarifkämpfe und Börsenmanöver. So sind nach Poor von 1856 bis zur Gegenwart die nordamerikanischen Eisenbahnen etwa mit über 42 Milliarden Mark in Konkurs geraten. Daran war das europäische Kapital mindestens zur Hälfte beteiligt.

In Indien und Russland hat der Staat keine nordamerikanische Gründerfreiheit beim Bahnbau gestattet. Deshalb ist die landwirtschaftliche Konkurrenz aus diesen Ländern nie in gleichem Masse schwer auf dem Weltmarkt empfunden worden. Desto ungestörter konnten die gewohnten kapitalistischen Orgien in Argentinien gefeiert werden.

Buchseite 265 Argentinien hatte zwar immer die Papierwährung. Als es aber mit Hilfe der internationalen Grossbanken gelungen war, den Kurs des Papierpeso pari mit dem Goldpeso zu halten, hiess es in der europäischen Presse: „Argentinien ist zur Goldwährung übergegangen!“ Da die Argentinier von jetzt ab versprachen, ihre neuen Anleihen in Gold zu verzinsen, gleichzeitig eine Politik des fallenden Zinsfusses von den Banken beliebt war, welche Konvertierungen der höher verzinslichen Anleihen und Herabsetzung des Zinsfusses der neuen Anleihen zur Folge hatten, verkaufte das europäische Publikum seine sicheren heimischen Rentenpaiere zu dem geltenden hohen Kurse und nahm die höher verzinslichen Argentinier für „Gold.“ Im Jahre 1892 stellte das argentinische Handelsministerium fest, dass für Eisenbahnen, Industrieunternehmungen und Banken, für Hypotheken, Staats- und Provinzanleihen im Ganzen 4427,2 Millionen Franken vom Auslande in Argentinien veranlagt seien. Eisenbahnen waren in Argentinien in Betrieb:

1883   3'123 km
1893   13'961 "

Die Einwanderung stieg während der Gründerperiode bis auf 220'360 Personen 1889. 1890 begann die Krisis. 1891 erreichte die Rückwanderung 44'124 Köpfe. Gleichzeitig setzte die so charakteristische Binnenwanderung ein, welche durch Abnahme der nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung und Zunahme der Landwirte die Weizenausfuhr aus Argentinien von 22'806 Tonnen im Jahre 1891 auf über 1 Million Tonnen im Jahre 1893 anschwellen liess. Der Papierpeso, welcher 1883 und 1884 pari mit dem Goldpeso gehalten wurde, ist im Oktober 1894 so tief im Kurse gesunken, dass hundert Goldpeso mit 464 Papierpeso bezahlt werden mussten. Weil aber in Argentinien der Papierpeso gesetzliches Zahlungsmittel war, wirkte die Buchseite 266 Entwertung des argentinischen Geldes auf die Ausfuhr wie eine Exportprämie. Der Wertverlust der europäischen Forderungen durch die argentinische Krisis von 1890/93 darf auf 3 1⁄2 Milliarden Franken geschätzt werden.

Aus all diesen Entwicklungstatsachen müssen folgende wichtige Schlüsse gezogen werden:

  1. Die sogenannten landwirtschaftlichen Konkurrenzländer haben sich nicht selbst aus eigener Kraft erschlossen, ihre Erschliessung erfolgte vielmehr im wesentlichen mit Hilfe des goldenen Schlüssels, welcher sich in der Hand der mitteleuropäischen Kreditbanken befindet.
  2. Diese Erschliessung erfolgte im wesentlichen nicht mit den eigenen Mitteln der Banken, sondern mit jenen Geldern, welche diese Banken aus den Taschen der mitteleuropäischen Sparer herauszulocken wussten.
  3. Die Erschliessung selbst erfolgte nicht in solider, stetiger Weise, sondern in jener bedenklichen treibhausartigen Form, welche allen übereilten Börsengründungen eigen ist.
  4. Die Kosten dieser Misswirtschaft hatten zu tragen: zunächst die europäischen Geldgeber und dann die ehrliche landwirtschaftliche Arbeit aller Länder, welche die Konkurrenz mit dieser Bankerottwirtschaft aushalten musste.
  5. Nachdem die Oberleitung all dieser Ereignisse in der Hand der Grosskapitalisten ruhte, und diese auf der ganzen Linie die reichsten Gewinne einzuheimsen verstanden haben, wird man das darin enthaltene spezifisch Krankhafte nur als eine „kapitalistische Erscheinung“ bezeichnen können.

Als die Zeit reif geworden war, dem landwirtschaftlichen Grundbesitz in Deutschland die letzten lehensstaatlichen Fesseln zu lösen, brachte man sein Kreditproblem in die Formel: Möglichst viel und möglichst billigen Kredit! Es handelte sich damals darum, die weitvorausgerückte landwirtschaftliche Produktionstechnik der Engländer einzuholen. Der intensivere Betrieb erforderte eine wesentliche Erhöhung des investierten Kapitals. Auch die Einführung der technischen Gewerbe in der Landwirtschaft kostete Geld. Den strebsamen Lohnarbeitern sollte das Aufsteigen in die Reihe der Grundbesitzer tunlichst erleichtert werden. Zu alldem war viel und billiger Grundkredit nötig. Die hypothekenrechtlichen Bestimmungen wurden vereinfacht, das Subhastationsverfahren tunlichst abgekürzt, eine Reihe von Grundkreditinstituten neu errichtet und in der verschiedensten Art staatlich unterstützt. Kredit war Kapital und Schulden Reichtum geworden.

α) Die Rodbertus’sche Kreditnot des Grundbesitzes. Mitten in der Freude über diesen neuen Fortschritt veröffentlichte Rodbertus seine von ihm beobachtete neue Kreditnot des landwirtschaftlichen Grundbesitzes. In den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts war der allgemeine Zinsfuss gefallen. Auf gute Hypotheken wurde gern zu billigem Zins Geld auf Grundbesitz geliehen. Dann stieg der Zinsfuss mit der industriellen Entwicklung. Die Kapitalisten kündigten deshalb den Landwirten ihre Hypotheken, um das Geld der höher rentierenden Industrie oder dem Staatskredit zuzuwenden. Wer dann als Grundbesitzer für die gekündigten Hypotheken keinen Ersatz Buchseite 268 fand, war bankrott. Aber auch dort, wo sich ein neuer Geldgeber finden liess, musste für die neue Hypothek ein höherer Zinssatz zugebilligt werden. Und je nach der Höhe der Verschuldung stand dann dem Grundeigentümer bei gleicher Rentabilität seiner Wirtschaft der Konkurs in Aussicht. Rodbertus verlangt zur Beseitigung dieser Notlage: Verschuldung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes nur in der Form von unkündbaren Rentenbriefen.

Der intensivere Landwirtschaftsbetrieb hat inzwischen den landwirtschaftlichen Grundbesitz aus einem ewigen Rentenfonds in ein Arbeitsprodukt verwandelt. Damit ist tatsächlich den Rodbertus’schen ewigen Rentenbriefen die theoretische Begründung entzogen worden. Aber den Vorteil unkündbarer Hypotheken haben die deutschen Landwirte vielfach dem Auftreten Rodbertus’ zu danken.

β) Die herrschende Kreditnot des landwirtschaftlichen Grundbesitzes. Inzwischen mehrten sich weiter die Wohlhabenheit und der Reichtum des Volkes. Um Geld für sichere Hypotheken kam niemand in Verlegenheit. Durch die grössere Leichtigkeit der Schuldaufnahme stiegen — wie bei der Börse die Kurse der Börsenwerte — die Preise auf dem Grundstücksmarkte. Dadurch wurden bald die zuerst unsicheren und gewagten Hypotheken so gut wie sichere Forderungen. Die Verschuldung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes mehrte sich. Die Schuldaufnahme diente ganz überwiegend als Restkaufschillinge und Erbschaftsgelder dem Zwecke der Besitzausgleichung. Es wurde mehr und mehr Sitte, bei der Besitzübernahme bezw. bei dem Grunderwerb allen verfügbaren Kredit aufzubrauchen. Folgten dann gute Jahre mit steigenden Preisen der landwirtschaftlichen Produkte, Buchseite 269 so konnte sich der neue Besitzer mit Fleiss und Sparsamkeit aus seinen Schulden herausarbeiten. Kamen sofort ungünstige Jahre, so mussten alle Grundbesitzer ohne Reserve in einer schweren Notlage sich befinden. Das Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts brachte solch ungünstige Zeiten, nachdem zu Anfang der 70er Jahre eine Hochkonjunktur in den landwirtschaftlichen Grundstückspreisen vorausgegangen war. Die landwirtschaftliche Notlage war da und verschärfte sich immer mehr mit der wachsenden Zahl der ungünstigen Jahre und mit dem Sinken der Preise der landwirtschaftlichen Produkte unter die Produktionskosten. Die Landwirte wandten sich nun noch mehr dem intensiveren Betriebe zu. Ausgaben für eine weitere Erhöhung des Düngerkapitales, neue Be- und Entwässerungsanlagen, die Melioration der Moore, verbesserte und vermehrte Viehhaltung mit den Kosten für neue Gebäude, welche durch all das notwendig geworden waren, Einführung neuer industrieller Betriebe u.s.w. mussten gerade jetzt die Schuldenlast der Landwirte noch mehr anwachsen lassen. Das alles ist einfach und klar. Umstritten ist nur die Frage: „Wer für diese übermässige Belastung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes mit Besitzkredit verantwortlich sei?“ Die Freihändler behaupten, die Schuldner selbst seien dafür verantwortlich, während die sozialpolitische Betrachtung dieser Dinge die eigentliche Verantwortung auf die Gesamtheit unseres geltenden Rechtes und unserer wirtschaftlichen Verhältnisse abwälzen muss. Dies aus folgenden Gründen: Unser geltendes Recht hat die landwirtschaftlichen Grundstücke zu einer beliebig veräusserlichen und beliebig verpfändbaren „Ware“ gemacht. Dadurch hat der spekulative Handel mit Grundstücken die Preisbildung für dieselben übernommen, so wie die Börse die Kursfestsetzung für Wertpapiere und die Preisfestsetzung für die zum Buchseite 270 Börsenhandel zugelassenen Waren leitet. In Norddeutschland werden immer mehr „Landbanken“ gegründet, auch „Schlächterbanken“ genannt. In Bayern hat sich die Zahl der gewerbsmässigen Güterzertrümmerer von 1901 bis 1907 von 577 auf 1022 oder im Durchschnitt pro Jahr um 15% erhöht. Aber die Zahl der Spekulanten in landwirtschaftlichen Grundstücken ist weit grösser. Fast jeder spekulativ veranlagte Landwirt ist bereit, einen Grundbesitz zu höchsten Preisen zu erwerben, wenn er Aussichten hat, denselben in nicht zu ferner Zeit zu einem noch höheren Preise wieder veräussern zu können. Für all diese Spekulationskäufe hat der Grund und Boden aufgehört, Werkzeug und Produktionsort für die Gewinnung landwirtschaftlicher Produkte zu sein. Für diese Menschenklasse ist der Grund und Boden einfach „Ware“ geworden, die man mit Gewinn wieder zu veräussern trachtet. Dazu wird der Grundbesitz „frisiert“ wie die Ware in der Auslage des Kaufmanns. Das besonders Unsinnige in der, durch das geltende Recht, künstlich und gewaltsam geschaffenen Warenqualität des Grundbesitzes liegt nur darin, dass die Ware im engeren Sinne, wie Besen und Zündhölzer, beliebig vermehrbar und beliebig transportabel ist, während der landwirtschaftliche Grundbesitz im ganzen als unvermehrbar und nicht transportabel bezeichnet werden muss. Unsere Gesetze hätten, um mit Rodbertus zu reden, ebenso gut dekretieren können, dass das „Pferd“ ein „Vogel“ sei.

Dieser heute leider sich immer mehr ausbreitende Spekulationsmarkt für landwirtschaftliche Grundstücke bestimmt nun allgemein die Preise für den Verkehr mit Grund und Boden unter Lebenden wie im Erbgange. Wenn der reich gewordene Grossindustrielle für seine Luxusbedürfnisse ein Rittergut in schöner Gegend, mit See, altem Park, prächtigem Landhaus und angenehmer Jagd um 100'000 bis 200'000 Mark überzahlt, so mag Buchseite 271 das zunächst für die Gesamtheit ganz gleichgültig sein. Wenn aber durch diese Ueberzahlung alle Grunderwerbungen durch Landwirte in der ganzen Umgegend zu ähnlich hohen Grundpreisen gezwungen werden, so ist das eine sozial im höchsten Maasse bedenkliche Erscheinung. Denn der echte Landwirt erwirbt sein Gut als Produktions- und Arbeitsgelegenheit. Jede Ueberzahlung bedeutet für ihn in der Regel eine entsprechende Erhöhung der Grundschulden, eine dauernde Zinsknechtschaft für spekulative Kapitalgewinne anderer Personen, einen entsprechenden Raub an seinem natürlichen Arbeitsertrag und eine bedenkliche Schwächung unserer landwirtschaftlichen Verhältnisse gegen ungünstige äussere Verhältnisse. Dass aber in einem weiten Kreise der Nachbarschaft solche Spekulationspreise den Grundstücksmarkt so verderblich beeinflussen, ist die natürliche Folge der Unvermehrbarkeit und Unübertragbarkeit der landwirtschaftlichen Grundstücke. Der Uebernehmende oder der neue Käufer kann sich nicht aus einer Fabrik neue Grundstücke kommen lassen. Ihnen bleibt nur die Alternative: Entweder auf die Forderungen der Geschwister oder des bisherigen Eigentümers einzugehen, oder auszuwandern und anderwärts ihr Glück zu versuchen.

Vom Ganzen des Grundmarktes aus betrachtet, ermöglicht die heute zu Recht bestehende Freiheit der Verschuldung und Veräusserung der landwirtschaftlichen Grundstücke den Andrang der Besitzlosen als Bewerber um die kleinen und kleinsten Parzellen. Die Landwirte werden deshalb hier am Markte verdrängt und auf den Erwerb grösserer Grundflächen angewiesen. Und so fort in der ganzen Stufenleiter des Marktes. Die Besitzlosen können wenig oder nichts verlieren, während die Gewinnstchancen für sie offen bleiben. Diese Leute wagen deshalb am meisten. Sie bieten die höchsten Preise für die kleinsten Grundstücke, wie aus dem gleichen Grunde die Buchseite 272 kleinsten Wohnungen in den Städten am höchsten im Preise stehen. Mit dem grösseren Besitz nimmt die Konkurrenz der Nachfrage als Regel ab. Deshalb gilt auf dem Grundstücksmarkt die Regel, dass die Ueberzahlung der Grundstücke im umgekehrten Verhältnis zur Kleinheit der Besitzfläche wächst. Ist dem aber so, dann ist der Landwirt bei seiner Verselbständigung im eigensten Interesse gezwungen, einen möglichst grossen Besitz mit möglichst viel Schulden zu erwerben, mit andern Worten, in der allgemeinen Freiheit der Verschuldung und Veräusserung der Grundstücke liegt für den einzelnen Landwirt der Verschuldungszwang. Die Zulassung des Besitzlosen als Käufer auf dem Grundstücksmarkte wirkt wie eine wesentliche Erweiterung der Aussenseite in den Börsenspekulationen und trägt sichtlich dazu bei, dass jährlich viele Millionen der natürlichen Arbeitserträge der Landwirte in spekulative Kapitalgewinne andrer Personen verwandelt werden. So kommt der landwirtschaftliche Arbeitsertrag des Grundbesitzes in Not, weil der kapitalistische Spekulationsgewinn von Nichtlandwirten blüht. Schon Rodbertus hat bekanntlich darauf hingewiesen: wenn in den Städten die reich gewordenen ehemaligen Gutsbesitzer erscheinen, welche zu höchsten Preisen ihren Besitz verkauft haben, so sind das die Schwalben, welche den nahenden Sturm einer agrarischen Krisis mit fallenden Grundpreisen ankündigen. Ein englisches landwirtschaftliches Sprichwort sagt klipp und klar: „Dear land eats up labour!“, zu deutsch: „Teures Land frisst die Arbeit auf!“ oder, wie man auch zu sagen pflegt: „Teurer Grund bringt auf den Hund!“ Die herrschende Kreditnot des landwirtschaftlichen Grundbesitzes besteht also nicht darin, dass die Landwirte zu wenig, sondern vielmehr darin, dass sie zu viel Kredit zum Erwerb ihrer zu teuer bezahlten GrundBuchseite 273stücke erhalten haben. Der periodischen Ueberzahlung der Grundstücke folgt als naturgemässe Reaktion die periodische Entwertung der Grundstücke. Der sogenannten guten Konjunktur reiht sich notwendigerweise die schlechte an. Zu dem aufsteigenden Ast reicher Spekulationsgewinne der Grundstücksverkäufer gehört unausbleiblich der absteigende Ast der Vermögensverluste der Landwirte während der Zeit der Krisen. Was anderes aber liegt all diesen charakteristischen Misständen zu Grunde als das System des herrschenden Kapitalismus?

γ) Die drohende landwirtschaftliche Betriebskreditnot. Auch in Deutschland herrscht — trotz aller Schutzzölle und der sozialen Gesetzgebung — das kapitalistische System der Volkswirtschaft. Die Verwaltung des mobilen Vermögens des deutschen Volkes ist im wesentlichen den Privatbanken überlassen. Diese Privatbanken entscheiden, wie viel Kredit Handel und Industrie im Lande, wie viel den ausländischen Staaten und Unternehmungen, oder der Spekulation in Börsenwerten zufallen soll. In ihrer Hand ruht im wesentlichen der internationale Zahlungsausgleich. Und sogar die deutschen Staaten und das Reich lassen sich von den Privatbanken die Bedingungen diktieren, zu denen ihr Kredit im Markte Aufnahme findet, und von den Börsen unter Leitung der Privatbanken die Kurse für ihre Staatsanleihen festsetzen. So ist naturgemäss auch der Zinsfuss in deutschen Landen durch die geschäftlichen Dispositionen unserer Privatbanken beherrscht. In den 80er Jahren war die Politik der Banken darauf gerichtet, die höher verzinslichen Staats- und Rentenpapiere in niedriger verzinsliche umzuwandeln, um dadurch das Geld der deutschen Sparer aus den alt gewohnten Buchseite 274 sicheren Positionen herauszulocken und für die neu aufgelegten Emissionen ausländischer Werte zu gewinnen. Deshalb erfreute sich damals der Zinsfuss einer ziemlich andauernden fortschreitenden Verbilligung. Das ist heute anders geworden. Seit Ende 1905 setzte eine fortschreitende Verteuerung des Geldes ein, die Anfang November 1907 bis auf 7 1⁄2 bezw. 8 1⁄2% im Wechsel- und Lombardverkehr der Reichsbank gestiegen ist und vorläufig nur wenig gemildert wurde. Was verursachte diese ungeheuerliche Geldverteuerung ?

Einige Stimmen waren der Meinung, Deutschland besitze nicht genügend Goldgeld. Nach dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich hat Deutschland im Rechnungsjahr 1906 einen Reichsmünzenbestand in Gold von 4,349 Millionen Mark besessen. Frankreich, das heute noch mit einem Zinsfuss von 4% auskommt, hat nach dem Schatzamt in Washington 1906 nur 3,890 Millionen Gold zur Verfügung. Also kann für Deutschland kaum der Mangel an Goldmünzen den teuren Geldstand erklären.

Anders liegt das Verhältnis im Bestand an Silbermünzen. Deutschland hat 1906 im Ganzen für 850'787'000 Mk.; Frankreich für 1'726'620'000 Mk. Silbergeld. Das ist mehr als die doppelte Menge und gleicht den Mehrvorrat an Goldmünzen in Deutschland von 459 Millionen Mark reichlich aus. Trotzdem wird es nicht möglich sein, die Höhe eines Zinsfusses von 8  1⁄2% aus diesen Zahlen zu rechtfertigen.

Näherliegend ist scheinbar eine Erklärung, welche sich den Metallbeständen der Hauptbanken zuwendet. Die Deckung der Noten und der fremden Gelder durch Metall erreichte seit 1890 in der Deutschen Reichsbank ihren höchsten Stand im Jahresdurchschnitt 1895 mit 63,4% bei einem Vorrat von 704 Millionen Mark Gold und 306 Millionen Mark Silber — ihren tiefsten Stand im Jahresdurchschnitt 1906 mit Buchseite 275 45,4% Deckung bei einem Vorrat von 674,7 Millionen Mark Gold und 214 Millionen Mark Silber. In der Bank von Frankreich schwankte in der gleichen Zeit die Deckung der Noten und der fremden Gelder durch Barvorrat ziemlich gleichmässig zwischen 62,0% (1899) und 78,1% (1894) bei einem Vorrat von 1500 bis 1656 Millionen Mark in Gold und 800 bezw. 1000 Millionen Mark Silber in den Jahren 1899 und 1894. Von dem gesamten Metallgeld des Landes sammelt sich in Frankreich ein weit grösserer Teil in den Kellern der Zentralnotenbank als in Deutschland. Und mit der schwächeren metallischen Deckung der Noten wächst die Nervosität in der Zinsfussnormierung der Deutschen Reichsbank. Daraus wird gewiss ein Teil der heutigen Geldverteuerung in Deutschland erklärt werden müssen. Aber zureichend ist auch diese Erklärung noch nicht.

Sehen wir uns die Handelskammerberichte für das Geschäftsjahr 1906 an und zwar für Berlin (S. 25), Frankfurt a. Main (S. 47, 52 bis 56), Köln (S. 120), Münster (S. 128/29), Chemnitz (S. 82), so wird übereinstimmend in erster Linie die überspannte Börsenspekulation in New-York, welche tägliches Geld mit 100% und höher zu bezahlen bereit sei und dadurch Geld aus Europa heranziehe, für den aussergewöhnlich teuren Geldstand verantwortlich gemacht. Daneben verlange England für die von der deutschen Spekulation eingegangenen Engagements in Minenaktien Zahlung. (Nach Schätzung von Sachverständigen für 1906 sollen etwa 45'000 deutsche Spekulanten mit ungefähr 450 Millionen Mark an den südafrikanischen Goldminen beteiligt sein. Von 40'000 Minengesellschaften, welche in den letzten 10 Jahren in England eingeführt wurden, mussten 15'000 liquidieren mit einem Verlust von etwa 5 Milliarden Mark.)

Aber auch diese Tatsachen können nicht die eigentliche Ursache dafür sein, dass die Deutsche Reichsbank Buchseite 276 bei geringerem Goldabfluss seit November 1906 ihren Zinsfuss auf 8 1⁄2% erhöhte, während die Bank von Frankreich bei stärkerer Goldabgabe gleichzeitig mit 4% auskommt. Der bekannte Abgeordnete Dr. Otto Arendt hat hierzu mit Recht betont, dass die „Freizügigkeit des Goldes“ bezw. der „Freihandel in Gold“ verantwortlich wäre. Die Deutsche Reichsbank behandelt Goldforderungen des Auslandes genau ebenso wie inländische Goldforderungen. Befürchtet sie, dass an ihre Goldvorräte vom Auslande zu hohe Anforderungen gestellt werden, dann erhöht sie für das Inland wie für das Ausland den Zinsfuss gleichmässig. Weil die Anforderungen einer unmässig überspannten Börsenspekulation in Nordamerika ihre verhältnismässig kleinen Goldbestände bedrohen, wird von der Deutschen Reichsbank auch der Zinsfuss für die redliche produktive Arbeit des deutschen Volkes wesentlich erhöht. Die Bank von Frankreich kennt einen solchen Freihandel in Gold nicht. Ausländische Finanzwechsel oder Forderungen auf Gold werden von ihr für sich allein mit einer entsprechend hohen Goldprämie belastet oder überhaupt abgelehnt, ohne den billigen Zinsfuss für die inländischen Geschäfte zu berühren. Diese nationale Zinspolitik der Bank von Frankreich, welche gegen übermässige Goldansprüche der ausländischen Spekulation einen Schutzzoll eingeführt hat, der sich zu einem Prohibitivzoll und selbst zum Ausfuhrverbot erweitern kann, um die Ansprüche der einheimischen Arbeit auf billiges Geld wirksam zu schützen, datiert seit Anfang der 80er Jahre.

Neben diesem internationalen Freihandel in Gold, bei drohender Goldausfuhr nach Nordamerika, spielt eine nicht minder grosse Rolle das Uebermass an Spekulationen in Deutschland selbst. Wir haben im vorhergehenden Abschnitt die Gründe kennen gelernt, aus denen die jährliche Sparkraft des deutschen Volkes heute für kaum mehr Buchseite 277 als 1 Milliarde Mark neue Börsenwerte aufnahmefähig ist. Die deutschen Banken aber haben, nach dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich nur an inländischen Werten, abzüglich der Umwandlungen neuer Werte, in den Börsenhandel gebracht:

        1902    1903    1904    1905    1906
        ====================================
        2103    1892    2430    3150    2765  Mill.  Mk.

Dazu kommen für eben diese Jahre neue ausländische Börsenwerte, abzüglich der Umwandlungen:

        1461     604    1119    4937     888  Mill.   Mk.

Lassen wir aber auch diese Emissionen in ausländischen Papieren ganz ausser Rechnung, weil es nicht möglich ist, zu erfahren, wie viel von diesen Werten zu einem bestimmten Zeitpunkte in Deutschland untergebracht waren, so bleiben für die letzten fünf Jahre immer noch 12'340 Millionen Mark Börsenwerte übrig, welche neu auf den deutschen Markt geworfen wurden. Das deutsche Volksvermögen war aber in diesen Jahren nur für fünf Milliarden Mark neue Wertpapiere aufnahmefähig. Mithin hat in dieser Zeit eine Ueberemission von mindestens 7340 Milliarden Mark stattgefunden. Dieser Betrag kann als „Anlagewert“ vom deutschen Volke nicht aufgenommen worden sein. Er „schwimmt“ also im Markte, wo er mit Hülfe eines Spekulationskredites von Milliarden über Wasser gehalten wird. Auch auf diesem wichtigen Punkte weichen die deutschen Verhältnisse sehr wesentlich von jenen Frankreichs ab. Richard Calwer gibt im zweiten Teile seines „Wirtschaftsjahr 1905“ zum ersten Male die internationale Emissionsstatistik in tabellarischer Form. Darnach haben

  1904 1905
Deutschland 1'718'547'000 Mark 2'476'977'000 Mark
Frankreich 479'732'000 " 684'400'000 "

Buchseite 278 neue Börsenwerte ausgegeben. Das bekanntlich viel reichere Frankreich hat mithin fast nur den vierten Teil jener Summe emittiert, welche an den deutschen Börsen zur Ausgabe gelangt ist. Dazu kommen vor allem noch die masslosen Spekulationen in Grundstücken aller Art, die Kapitalanforderungen der spekulativen Gründungen in der Industrie wie im Verkehr. Kann da die herrschende Verteuerung des Geldes in Deutschland wirklich noch überraschen?

Endlich ist in diesem Zusammenhange noch eine veränderte Politik unserer Grossbanken seit den letzten Jahren zu erwähnen. Georg Bernhard hat in einem Artikel des „März“ (2. Heft 1907) über die „Wurzel der Geldnot“ nachgewiesen, dass die Parole unserer Grossbanken in der Krisis 1900 „sanieren“ hiess. Man hat dadurch den drohenden Zusammenbruch vieler Unternehmungen abgewendet und die Zeitdauer der Krisis sichtlich verkürzt. Das alles erforderte aber eine entsprechend erhöhte Inanspruchnahme des Kredits, wie die Ziffern des Wechselbestandes der Reichsbank bezeugen. Deshalb konnten sich jetzt, in der Zeit der Erholung nach der Krisis, keine grösseren Barbestände in den Kellern der Banken ansammeln, wie das nach früheren Krisen die Regel war. Und als die Ueberspekulationen der Börsen und Banken wieder einsetzten, kamen unsere Geldverhältnisse um so rascher zu einem Kulminationspunkt. Die Zwischenzeit bis zur neuen Krisis musste sich verkürzen. Wir nähern uns damit einem Zustande der Krisis in Permanenz mit fast andauernd teuerem Geldstande. Für die Geldbesitzer mag dieser Zustand gar nicht unangenehm sein. — Wie aber steht es mit dem Einfluss solcher Ereignisse auf den Personalkredit der Landwirte?

In der preussischen Zentralgenossenschaftskasse ist ein kapitalkräftiges Institut geschaffen worden, das innerhalb Buchseite 279 gewisser Grenzen mit Erfolg bemüht ist, die Konjunkturenschwankungen im Zinsfusse auszugleichen und denselben Zinssatz von 3 1⁄2% durchzuhalten. Aber diese Oase in der deutschen kapitalistischen Welt begrenzt sich heute etwa auf einen Jahresumsatz von rund 360 Millionen. Auch im Kreise der landwirtschaftlichen Genossenschaften ist man bemüht, den Zinsfussschwankungen im Geldmarkte, so lange es irgend geht, nicht zu folgen. Diese Genossenschaften zählen etwa eine Million Mitglieder. Anders steht es mit jenen Bauern und jenen grösseren Grundbesitzern, welche an lokale Kreditgenossenschaften nicht angeschlossen sind und deshalb auf Privatbankiers oder auf ihre Händler angewiesen bleiben. Hier macht sich der erhöhte Zinsfuss natürlich sofort als eine schwere neue Last bemerkbar. Wie hoch werden sich die Kosten dieser heutigen Personalkreditverteuerung für die deutschen Landwirte berechnen?

Nach dem „Jahrbuch des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften für 1905“ war der Gesamtumsatz der Spar- und Darlehnskassen in Einnahmen und Ausgaben 2 1⁄2 Milliarden Mark. Nach der Berufszählung von 1895 gab es über 2 1⁄2 Millionen selbständig erwerbstätige Landwirte. In den Kreditgenossenschaften sind mithin nicht ganz die Hälfte und namentlich nicht die grösseren Besitzer zusammengeschlossen. Man wird also das Personalkreditbedürfnis der deutschen Landwirte in Einnahmen und Ausgaben pro Jahr auf weit über 5 Milliarden Mark veranschlagen können. Davon wird heute schon mindestens die Hälfte einen Zinsfuss statt von 4 bis 4 1⁄2%, von 6 bis 9% und mehr zu tragen haben. Mit jedem weiteren Monat anhaltender Geldverteuerung mehrt sich der Kreis der Teilnehmer an dieser Personalkreditnot. Damit steigt in erhöhtem Masse die Kreditkostenlast auf den Schultern der deutschen Landwirte. Die schwächeren Existenzen werden daran zugrunde gehen, Buchseite 280 der intensivere Landwirtschaftsbetrieb allgemeiner aufgehalten. Der derzeitige Präsident der „Preussenkasse“, Dr. Heiligenstadt, hat mit Recht erklärt, dass bei Zinssätzen von 6 bis 9%, wie sie heute bezahlt werden, die deutsche Landwirtschaft ebenso wie die Industrie und der reguläre Handel auf die Dauer nicht arbeiten können.

Was aber ist der Grund dieses schweren Uebels? Nach dem Vorausgeschickten kann die Antwort kaum zweifelhaft sein. Die Herrschaft des spekulativen Privatkapitals über die Verwaltung des mobilen Vermögens, über die Zuteilung des Kredites, über die Deutsche Reichsbank, über die Ereignisse an den Börsen, über die Bewegung des Zinsfusses und also kurz gesagt: der herrschende Kapitalismus trägt die eigentliche Verantwortung an der heute bald allgemeiner drohenden landwirtschaftlichen Betriebskreditnot.

Seit fünf bis sechs Jahrzehnten predigt der herrschend gewordene Kapitalismus dem deutschen Volke das Evangelium des Materialismus, der Spekulation und der Genusssucht. Bald ist dieser, bald jener vom Lande den Lockungen zur Abwanderung nach der Stadt oder nach dem Auslande gefolgt. Der eine hat in Nordamerika grosse Reichtümer erworben; der andere ist als Bäckerbursche in die Stadt gezogen und hat sich hier zu einem mehrfachen Hausbesitzer emporgeschwungen. Der dritte hat als Schlossergeselle angefangen und als reicher Fabrikbesitzer geendet. Gewiss sind gleichzeitig Tausende zu Grunde gegangen Buchseite 281 und Hunderttausende haben in den neuen Verhältnissen kaum eine vorteilhaftere Lage eingetauscht. Aber die Zahl der Gewinner ist in jeder Lotterie eine kleine gegen die übergrosse Zahl der Verlierenden. Und ein Volk, das erst von der Sucht nach Reichtum erfasst wurde, Iässt sich auch allgemeiner von grossen Treffern blenden. Es war in Australien wie in Nordamerika längst wohl bekannt, dass im Durchschnitt auf den Goldfeldern nicht viel mehr als der einfache Tagelohn verdient wurde. Sobald aber wieder einmal Einer Goldklumpen (nuggets) im Werte von 100'000 Mark und mehr auf seinem „Loose“ gefunden hatte, erfasste auch wieder fast die ganze Bevölkerung das „Goldfieber“ und Goldgräberstädte von 60'000 Einwohnern und mehr wuchsen fast über Nacht mitten in der Wüste aus dem Boden. Heute bedeuten die Aufforderungen zur Beteiligung am Börsenspiel eine ständige Verführung dieser Art. Bis in die entlegensten Täler der bayerischen Alpen dringen die „finanziellen Wegweiser“ und die „Ratgeber für Kapitalisten“. Almhirten debattieren darüber, ob sie ihre ersten ersparten 500 Mark bei der Sparkasse oder in Pfandbriefen bezw. Staatspapieren oder in Aktien anlegen sollen und ob „Rente“ oder „Dividende“ für sie vorteilhafter ist. Der Abgeordnete Dr. Hahn hat im deutschen Reichstage (Sitzung vom 13. Dezember 1907) einen lebhaften Hausierhandel mit Wertpapieren und Bezugsscheinen für ländliche Gebiete im Norden Deutschlands nachgewiesen. Der erste Versuch dieser Art lehrt die Leute, dass es in solchen Fällen besser ist, in der Grosstadt selbst zu wohnen. Es scheint deshalb der Nachweis wenig zu bedeuten, dass der höhere Geldlohn in der Stadt nur in den Fällen einer Ueberschätzung des baren Geldes die Abwanderung vom Lande verursacht haben könnte. Die Flucht vom Lande nach der Stadt ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern eines der charakteristischesten Buchseite 282 Symptome für den herrschenden Kapitalismus selbst bei allgemeinerer Sklavenwirtschaft gewesen. Nur eine irrige Auffassung kann darin eine selbständige Krankheit erblicken. Für die energievolleren spekulativ veranlagten Charaktere spielt die grössere Leichtigkeit der Eröffnung eines Spekulationskredits eine grosse Rolle. Darin hat die grössere Stadt schon deshalb dauernd einen grossen Vorsprung, weil sich hier die auf- und absteigenden Linien der Konjunkturen viel deutlicher zeigen. Aber auch für diejenigen, welche dauernd mit einem Lohnverhältnis zufrieden sind, bietet die Stadt bessere kapitalistisch ausgebildete Formen in der Koalitionsfreiheit, in dem Recht auf Streiks, in der gekürzten Arbeitszeit. Dazu die grössere Leichtigkeit, sich Genüssen der verschiedensten Art zuzuwenden. Kann das Land ernstlich daran denken, hier mit den grösseren Städten konkurrieren zu wollen? Und wenn es nicht angeht, den allgemeinen Streik mit der Gewerkschaftsorganisation, der Achtstundenbewegung und den städtischen Genüssen und Vergnügungen auf das Land und die landwirtschaftlichen Verhältnisse zu übertragen, dann muss vor allem die eigentliche Ursache auch dieser Uebelstände richtiger erkannt werden, um sie beseitigen zu können.

Inzwischen werden die sich hier anheftenden Erscheinungen immer komplizierter. In den Grossstädten geht die natürliche Bevölkerungszunahme mehr oder minder rasch zurück. Diese Bewegung überträgt sich nach und nach auf das Land. Das langsame Aussterben der kapitalistisch gewordenen Völker, wovon die Weltgeschichte erzählt, kündigt sich an. Der Abzug der besten Arbeitskräfte vom Lande lässt die Leistungen der Arbeiter zurückgehen und die Armenlasten anwachsen. Der Mangel an einheimischen landwirtschaftlichen Arbeitern ruft Arbeiter vom Auslande herbei. Sie kommen nicht nur über die Buchseite 283 östliche Grenze von Preussen, sondern auch über die dänische, holländische, italienische und österreichische Grenze. Ihre Zahl mehrt sich rasch von Jahr zu Jahr und erreichte 1907 wahrscheinlich im Ganzen für Deutschland die Ziffer von 1 Million. Das ist etwa der fünfzehnte Teil der deutschen Lohnarbeiter. Die inländischen Sitten haben sich unter dem Einfluss dieser Ausländer entschieden verschlechtert. So hat z.B die Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft in Folge vieler Mordtaten in der letzten Zeit ihren sämtlichen kroatischen Arbeitern gekündigt. Der Kontraktbruch ist bei den ausländischen Saisonarbeitern an der Tagesordnung. Der bäuerliche Besitz leidet unter dieser Arbeiternot am meisten. Soll das so weiter gehen? Und was soll daraus werden, wenn diese ausländischen Arbeiter eines Tages nach ihrer Heimat zurückkehren und nicht wiederkommen? In den östlichen Provinzen von Preussen leitet die Abwanderung der ländlichen Arbeiter die Abwanderung der Deutschen überhaupt ein. Die so frei werdenden Stellen werden von Polen besetzt. Die Königliche Ansiedelungskommission hat vergeblich gegen diese Spezialerscheinung anzukämpfen versucht. Seit 1886 sind 350 Millionen Mark für diese Zwecke verbraucht worden, aber der polnische Landbesitz hat trotzdem in den östlichen Provinzen zugenommen. Jetzt sind die Mittel der Ansiedelungskommission um neue Millionen vermehrt und ihre Kompetenzen durch das Enteignungsrecht erweitert worden. Ob dadurch von jetzt ab bessere Resultate zu erzielen sein werden?

Offenbar hat die wirksame Beseitigung eines jeden Uebels die richtige Erkenntnis der wirkenden Ursache zur unerlässlichen Voraussetzung. Die Abwanderung der Bevölkerung vom Lande ist eine naturnotwendige Folge der sich ausbreitenden Herrschaft des Kapitalismus, welcher das Volk zur Spekulation und zur Genusssucht erzieht.

Das deutsche Reich hat 1877 mit 4%igen Anleihen begonnen, welche zu einem Kurse von 99,54 zur Ausgabe gelangten. Der Privatdiskont an der Berliner Börse war 1877 im Jahresdurchschnitt 3,17%. Als dann dieser Privatdiskont auf 2,85% (1885), 2,16% (1886) und sogar auf 2,11% (1888) fiel, weil die Politik der deutschen Grossbanken in der Richtung eines billigeren Zinsfusses eingestellt war, begann 1885/88 die Ausgabe der 3 1⁄2%igen Reichsanleihen, welche am 27. August 1886 erstmalig zu einem Kurse von 103,75 freihändig verkauft wurden. Als dann 1890/93 der internationale argentinische Krach kam und unter dessen Einfluss der Berliner Privatdiskont auf 1,80% (1892) und 1,74% (1894) zurückging, kam es zur Ausgabe 3%iger deutscher Anleihen, welche zuerst (im Oktober 1890) zu einem Kurse von 87 begeben wurden, Ultimo 1895 aber mit 99,60 den Parikurs nahezu erreichten. Gegen Ende 1894 waren die Reichsanleihen zum Terminhandel an den Börsen von London, Amsterdam und Brüssel zugelassen worden. Die üblichen Stimulationen, welche die Grossbanken der Börsenspekulation verabreicht haben, konnten die Kurse noch einige Zeit halten, trotz der wieder beginnenden Verteuerung des Geldes. Der Berliner Privatdiskont ging 1896 auf 3,04%, 1897 auf 3,09%, 1898 auf 3,55%. Als aber 1899 und 1900 4,45% bezw. 4,41% folgten und der Wechselzinsfuss der Reichsbank 7%, der Lombardzinsfuss 8% erreichte, ging das Deutsche Reich wieder zu 4% eigene Anleihen zurück und verkaufte zunächst — unter Schonung des deutschen Marktes — 80 Millionen Mark in Nordamerika. Der Börsenkurs der 3%igen Reichsanleihen ist in diesem Jahre auf 84,90 gesunken. Dann kam 1902, 1903 und Anfangs 1904 eine kurze Erholung des Geldstandes. Die 3%ige ReichsBuchseite 285anleihe konnte im Juli 1902: 93,50, im Februar 1903: 93,40, im Jahre 1904: 92,20 notieren, um von da ab, bei stetiger Verteuerung des Geldes bis 7 1⁄2 und 8 1⁄2%, heute (Weihnachten 1907) auf einen Kurs von 82,25 zu sinken gegen 99,60 Ultimo 1895. Jetzt hat das Reich auch für inländische Anleihen wieder eine 4%ige Verzinsung zugestanden, von der man in den 70er Jahren ausgegangen war.

Der unermüdliche Statistiker Richard Calwer berechnete nach seiner „Wirtschaftlichen Korrespondenz“ vom 25. Oktober 1907 den Nominalbetrag der an der Berliner Börse zugelassenen Anleihen deutscher Staaten für 1904 auf 14,319 Milliarden Mark, den Kurswert dieser Anleihen Ende Januar 1904 auf 14,241 Milliarden Mark, den Kurswert dieser Anleihen Ende August 1907 auf 12,709 Milliarden Mark. Daraus ergibt sich ein Kursverlust von 1,532 Milliarden Mark.

Für die Inhaber der deutschen Staatsschuldverschreibungen ist damit eine recht prekäre Situation entstanden. Sparkassen, Berufsgenossenschaften und andere Institute, welche grössere Beträge deutscher Staatsanleihen liegen haben, müssen auf diese Kursverluste entsprechend grosse Abschreibungen machen. Wo aber Verkäufe vorgenommen werden mussten, wie vor allem bei einem grossen Teil des Privatpublikums, blieben schwere Verluste um so weniger aus, je länger man in der Hoffnung, dass es wieder besser werden könne, mit dem Verkaufe gezögert hat. Die Belastung der Steuerzahler des deutschen Reiches hat sich für die neu aufzunehmenden Schulden von 3 auf 4% erhöht. Das Ansehen des deutschen Reiches soll nach dem Minister von Rheinbaben infolge dieser Kursbewegung der Reichsanleihen nicht gelitten haben, denn — so begründet der Minister diese Behauptung — während die deutsche 3%ige Anleihe von 97 im Jahre 1897 Buchseite 286 auf 85,25, also um 11,75 Punkte gefallen ist, gingen gleichzeitig die englischen Konsols von 112 auf 83, die französischen Renten von 103 auf 94,30, also um 29 bezw. 8,70 Punkte zurück. Der Kursrückgang der Staatsrenten ist in den letzten Jahren ein allgemeiner. Könnte deshalb die Schädigung des Ansehens der Staaten nicht auch eine allgemeine sein?

Man hat darauf hingewiesen, dass in Deutschland nicht in gleichem Maasse wie in Frankreich, England und Nordamerika die Depositen der Sparbanken, die Mündelgelder und ähnliche Fonds zur Anlage in Staatspapieren gesetzlich verpflichtet seien, und dass durch eine solche Massnahme der Kurs der deutschen Reichs- und Staatsanleihen wesentlich gehoben werden könnte. Aber, hiesse dies nicht, die Schwächen des Marktes der Staatsanleihen zum Teil auf die Schultern der Sparer und Mündel abwälzen ?

Offenbar muss die Heilung auch der herrschenden Misstände im Staatskredit von der Beantwortung der Frage ausgehen: Was ist die Ursache dieser Kalamität? Da wird die Antwort an erster Stelle lauten müssen: Der Zinsfuss ist heute nicht mehr der direkte Ausdruck des zunehmenden Reichtums des Volkes. Die Vermögenszunahme in Deutschland darf heute nach C. Evert auf etwa 2 Milliarden Mark pro Jahr geschätzt werden und der Reichsbankzinsfuss ist seit 1902 fast dauernd bis auf 7 1⁄2 bezw. 8 1⁄2% im Dezember 1907 gestiegen. Das ist die unmittelbare Folge der Tatsache, dass der Zinsfuss Spekulationsobjekt der privaten Grossbanken geworden ist. Also ist in erster Linie das herrschende System des Kapitalismus für die Kalamitäten des Staatskredits verantwortlich zu machen.

Es wurde ferner behauptet, viele Besitzer von Staatspapieren hätten diese verkauft, um industrielle Werte dafür Buchseite 287 einzutauschen und von den höheren Dividenden zu profitieren. Dadurch seien die Staatspapiere so im Kurse gesunken. Aber die höhere Rentabilität der Industrie führt sich auf die Ausbreitung der industriellen Syndikate zurück, die im wesentlichen unter der Initiative der Privatbanken und Hand in Hand mit der fortschreitenden Konzentration der Banken erfolgt ist. Und die Umwandlung des bisherigen Besitzes an Staatspapieren in Dividendenpapiere muss überwiegend zurückgeführt werden auf Anregungen, welche aus den Büros der Banken und aus den Kreisen der Börseninteressenten in grossen Massen unter dem Volk verbreitet wurden. So begegnet uns auch hier, auf dem Grunde der Erscheinungen der herrschende Kapitalismus.

Andere sind der Meinung, dass die wesentlich gesteigerten Ansprüche der Industrie an den deutschen Geldmarkt den Zinsfuss so sehr verteuert hätten. Diese Auffassung wurde schon im obigen Abschnitte über die drohende landwirtschaftliche Betriebskreditnot als irrig erwiesen. Die Neuemissionen in Aktien und Obligationen der heimischen Industrie sind in den letzten vier Jahren um etwas mehr als das Doppelte gestiegen, während der von unseren Privatbanken für Spekulationszwecke gewährte Kredit sich in den letzten Jahren sicher verdoppelt hat. Dort handelt es sich 1906 um eine Gesamtemission von 708 Millionen Mark, hier im gleichen Jahre um einen Jahresumsatz von weit mehr als vier Milliarden Mark. Rechnet man hierzu, dass viele Neuemissionen der Industrie dazu dienten, gewährte Spekulationskredite der Banken zu begleichen, und dass die Ausgabe von 1180 Millionen landwirtschaftlicher Pfandbriefe (in 1905 und 1906) neben 3653 Millionen Pfandbriefen der Hypothekenbanken (1902 bis 1906) ganz überwiegend den Spekulationen im Grundstücksmarkte dienen, so kann es gar nicht zweifelhaft Buchseite 288 sein, dass nicht die eigentliche Industrie, sondern die immer masslosere Spekulation die weitaus grössten Ansprüche an den deutschen Geldmarkt gestellt hat. Diese Spekulation aber wurde grossgezogen und wird getragen von dem herrschenden Kapitalismus.

Eine noch eindringendere Kritik der heutigen Kalamität des Staatskredites würde zu untersuchen haben: welche Gründe zu einer Verschuldung des Reiches und der deutschen Einzelstaaten in der Höhe von über 15 Milliarden geführt haben? und: warum die erforderlichen Mittel zur Schuldentilgung nicht auf dem Wege der Steuereinnahmen gedeckt werden konnten? Wir würden bei dieser Analyse mit jenen fortlaufend wachsenden Ausgaben uns zu beschäftigen haben für ein Programm, dessen Durchführung auf eine erfolgreiche Konkurrenz des deutschen Handels mit dem Welthandel der Engländer namentlich gerichtet ist. Hierher gehören auch jene Hunderte von Millionen, welche für den Bau von Wasserstrassen ausgegeben wurden, bevor unser geltendes Recht, das den Gewinn dieser Verkehrsverbesserungen ganz überwiegend den kapitalistischen Unternehmungen verschiedenster Art zuführt, abgeändert wurde. Die Steuerverfassung unserer Staaten zeigt uns wie ein historisches Museum eine Sammlung aller Steuern bis zurück in die Zeiten des Lehensstaates, aber nur keine einfachen klaren Steuerprinzipien, welche den neuzeitlichen Verhältnissen auf den Leib zugeschnitten wären. Daneben die fortschreitende Vernichtung des selbständigen Mittelstandes durch den herrschenden Kapitalismus, welche die Steuerkraft der breiten Massen des Volkes nicht zur Entfaltung kommen lässt, während die kleine Zahl der Reichsten tausend Wege findet, sich einer gerechten Besteuerung zu entziehen. So wird die soziale Not in weitestem Sinne des Wortes zu einer Not unserer staatlichen Steuerkassen. Statt die alten Schulden abzuzahlen, Buchseite 289 werden immer neue Schulden aufgenommen. Eine gesunde Reform unserer staatlichen Finanzen gehört zu den schier unlösbaren Aufgaben. So begegnet uns auch hier auf der ganzen Linie als letzte Ursache aller Schwierigkeiten das herrschende kapitalistische System.

Man kann die Beurteilung des Sozialismus der Wahlpraxis entnehmen. Hier steht die grosse Mehrheit der Parteien in schärfster Opposition zu den Vertretern des Sozialismus, den Sozialdemokraten: „Die Wahlen gegen die Sozialdemokratie werden mit Zähneknirschen gemacht,“ wie es Kammerherr von Oldenburg im Reichstage bezeichnet hat. Aus diesen scharfen Reibungen ist zu Bismarcks Zeiten das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie entsprungen. Wo in solchem Maasse persönliche Antipathien in Aktion treten, bleibt kaum ein Raum für kausale Erwägungen. Man kann die Beurteilung des Sozialismus der einschlägigen Spezialliteratur entnehmen. Dann findet man, dass heute von den Sozialisten nur noch die Karl Marxschen Theorien in wissenschaftlichen Ausführungen vertreten werden, und dass inzwischen auch eine Reihe von Sozialisten erkannt hat, wie sehr diese Theorien zumeist in die Irre gegangen sind. Wer darauf seine Beurteilung baut, kommt zu dem Schlusse: „Der Sozialismus ist eine vorübergehende Erscheinung. Man muss dieser Bewegung nur Zeit lassen, dann wird sie von selbst verschwinden.“ Diese Auffassung vergisst, dass die Masse der Sozialdemokraten ebenso wie die Masse einer jeden Glaubensgemeinschaft über das System der Buchseite 290 Glaubenslehre kaum etwas unterrichtet ist. Speziell bei der Sozialdemokratie kann man beobachten, dass in guten Zeiten der Einfluss der Gewerkschaftsbewegung wächst, die Macht der radikalen Politiker aber zurückgeht. Volkswirtschaftlich ungünstige Zeiten bringen dagegen die Gewerkschaftsbewegung in eine schwierigere Lage und lassen den Einfluss radikaler Führer rasch zunehmen. Der erleichterte Erwerb eines Vermögens lässt im Volke umstürzlerische Bestrebungen abflauen, während Zeiten, in denen viele kleinere und mittlere Vermögen vernichtet wurden, die Zahl der rücksichtslosesten Anhänger einer extremen Wirtschaftspolitik rasch mehren. Also ist auch die Sozialdemokratie kein „Ding an sich,“ sondern eine Folgeerscheinung bestimmter volkswirtschaftlicher Zustände, fast ohne jede Rücksicht auf zeitweilig herrschende sozialistische Theorien.

Ein Rückblick auf die Lebensgeschichte der Völker kann diese Auffassung nur bestätigen. So lange das jüdische Volk eine gleichmässigere Grundbesitzverteilung besessen hat, gab es keine extremen Parteiungen. Erst als mit König Salomo der Reichtum und die Kapitalisten mit der Latifundienbildung ins Land gezogen waren, kam es zum Bürgerkriege, zur Spaltung des Reiches und dann zur assyrischen und babylonischen Eroberung. Nach Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft wurde die drohende Verschuldung und Verknechtung des Volkes zuerst durch Nehemia und dann durch die Makkabäerbewegung wieder beseitigt. Unter der Oberherrschaft Roms war eine solche Sanierung nicht mehr möglich. Als jetzt mit der Herrschaft des Kapitalismus die Ungleichheit des Besitzes eine immer schreiendere wurde, nahm die anarchistische, kommunistische und sozialistische Bewegung rasch überhand. Fast keiner der Könige starb mehr eines natürlichen Todes. Die Essäer verwarfen Ehe und Eigentum, Buchseite 291 die Sikarier durchzogen das Land, überfielen die Reichsten und trieben einen umfangreichen Grundstückhandel mit jenen Besitzungen, welche sie mit dem Dolche in der Hand den Kapitalisten abgenommen hatten. Was die Habgier sich zusammengeraubt, das ist auf diese Weise und insbesondere durch die bald nachfolgende grosse soziale Revolution „expropriiert“ worden. Damit war allerdings auch die Vernichtung des jüdischen Staates besiegelt. Besonders instruktiv ist die Geschichte der griechischen Welt. Hier hat der Kapitalismus zunächst in den Staaten der kleinasiatischen Küste seinen Einzug gehalten. Dann übersiedelte seine Herrschaft nach den ionischen Inselstaaten, um zuletzt sich in den Staaten des griechischen Festlandes einzunisten. In ganz der gleichen Reihenfolge begleiteten die charakteristischen Erscheinungen des Sozialismus den Niedergang dieser Staaten. Schon zu Anfang des V. Jahrhunderts begegnen wir in Milet dem blutigen Kampfe der „Armen“ gegen die „Reichen“ mit rücksichtslosen Vermögenskonfiskationen. In Chalkis und Eretria hat dann etwa von Mitte des V. Jahrhunderts ab der soziale Bürgerkrieg gewütet, bis beide einst so blühenden Handelsstädte in einen Trümmerhaufen sich verwandelt haben. Für Korinth und Athen bezeichnet der peloponnesische Krieg (431 bis 404 v. Chr.) den Zeitpunkt, in welchem die Vernichtung des alten Mittelstandes in Proletariermassen neben wenigen sehr reichen Leuten eine gewaltsame Neuverteilung des Besitzes entwicklungsgeschichtlich notwendig machte. In Athen war dieser Prozess der „Expropriation der Expropriatöre“ durch umfassende staatssozialistische Einrichtungen bei radikal demokratischer Verfassung günstig vorbereitet. Zwar siegte ab und zu die Partei der „Reichen“ über die „Armen“ mit Hilfe der Ausländer. Aber das Volk wurde dadurch nur desto mehr zu blutiger Rache gereizt. Diese selbstmörderischen Buchseite 292 Bürgerkriege mit Vermögenskonfiskation dauerten, bis die eiserne Hand Roms zu Anfang der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts wegführte, was wertvoll und transportabel war. Ganz zuletzt kam der Agrarstaat Sparta an die Reihe. Durch die vielen siegreichen Kriege war nach Mitte des 3. Jahrhunderts die alte spartanische Einfachheit verschwunden. Mit dem Reichtum hatten Luxus, Bestechlichkeit, Latifundien und andere böse Dinge ihren Einzug gehalten. Mit rücksichtslosen Mitteln hat die Staatsgewalt selbst eine Neuverteilung des Besitzes jetzt durchgeführt und die Rückkehr zur alten strengen Zucht und Ordnung erzwungen. Erst im Kampfe gegen die kapitalistischen Nachbarn ist diese Reformbewegung erlegen. Von da ab wütete auch in Sparta der Bürgerkrieg, bis die Macht der Römer über Mein und Dein verfügte.

Sehr ähnliche Erscheinungen begegnen uns in der römischen Geschichte. Als die Quiriten sich nach und nach zur altrömischen Feldmark den damals bekannten Erdkreis erobert hatten, war natürlich auch die Kriegsbeute zu einer vorher nie erreichten Höhe angewachsen. Weil aber gleichzeitig die Masse der Bürger verarmt ist, standen sich in der Hauptsache sehr viele Arme und sehr wenig Reiche gegenüber. Die Verarmung des Volkes machte diese Bürger für Bestechungen zugänglich. Das Proletarier- und Söldnerheer stand demjenigen Heerführer zur Verfügung, welcher den grössten Beuteanteil versprechen konnte. Mit dieser Voraussetzung begannen die römischen Bürgerkriege, welche eine sehr wesentliche Neuverteilung des Besitzes zum Ziele hatten. In schier endlosen Proskriptionen und Vermögenskonfiskationen wurden durch mehr als ein halbes Jahrhundert (88 bis 31 v. Chr.) den Reichsten Leben und Vermögen genommen. Mit der Alleinherrschaft des Augustus kam diese Bewegung zum vorläufigen Abschluss, um bald darauf als kaiserliches Mittel zur Buchseite 293 Minderung der Finanznot des Staates wieder aufzuleben. Inzwischen war durch Kaiser Augustus, zur Verhütung von proletarischen Hungersnotrevolten, mit der Einführung eines Staatssozialismus auf berufsgenossenschaftlicher Basis begonnen worden. An dem Hunger seiner Proletarier hat sich dann der Reichtum Roms verblutet, ohne das Aufkommen anarchistischer Strömungen verhüten zu können. Nur hiessen die Anarchisten jetzt „Prätorianer“, die die Kaiser ermordeten, um dann den Kaiserthron öffentlich meistbietend zu verauktionieren.

Das islamitische Weltreich zeigt in seiner Entwicklungsgeschichte das sozialistische Gesetz der „Expropriation der Expropriatöre“ in konsequentester Durchbildung. Zunächst wurde das Volk der Araber als Räuberhorde organisiert, um möglichst viele Länder zu erobern und dauernd auszuplündern. Dann wird dem arabischen Volke das auf diese Weise gewonnene Einkommen durch den Kalifen entzogen. Damit verschärft sich der blutige Kampf um den Kalifenthron innerhalb der Prophetenfamilie. Der einzelne Araber wird so darauf angewiesen, als Beamter oder Händler, oder Unternehmer aller Art, sich tunlichst zu bereichern. Waren die so gesammelten Reichtümer gross geworden, so gefiel es dem Kalifen, diesen Privatreichtum der Staatskasse zuzuführen. Die Reaktion auf solche Zustände führte zur umfassenden Organisation eines weitverzweigten Bundes der Anarchisten, welche hier den Namen „Assassinen“ führten, zu denen sich die kommunistischen Sekten der Zendiken, der Moskaditen, des Ismaeliten u.s.w. gesellten. Weiter wurde es notwendig, dass der „Fürst der Gläubigen“ zu seinem persönlichen Schutze sich fremde Soldtruppen hielt, die bald die anarchistische Rolle der römischen Prätorianer zu spielen wussten, und ihrerseits den Kalifen auszuräubern begannen, bis schliesslich die selbständig gewordenen Buchseite 294 Statthalter den Beuteertrag des Staates sich aneigneten. Das damit allgemein eingeleitete Hazardieren um Königreiche mit fabelhaften Schätzen, weckte den Türken- und Mongolensturm, welcher die Herrschaft der Araber begraben hat.

In der christlich-germanischen Welt waren sozialistische Strömungen unbekannt geblieben, bis durch die Beziehungen zu dem islamischen Weltreiche im X., XI. und XII. Jahrhundert der Kapitalismus und die kapitalistische Wirtschaft auch hier Eingang gefunden hat. Die Geldwirtschaft und der übermässige Geldreichtum sind der Boden, auf dem allein sozialistische Ideen wachsen und wuchern können. Beide Voraussetzungen waren zuerst in Ober-Italien und Süd-Frankreich gegeben. Hier zeigten sich deshalb naturgemäss die ersten sozialistischen Ansätze, welche auch gegen die reiche Kirche gerichtet waren und deshalb als Ketzerbewegungen bekämpft wurden. (Siehe das Nähere in dem Abschnitt „Kapitalismus in der Kirche“, II. Band, Seite 178 bis 214.) Durch diese Verfolgungen verbreiteten sich die Anhänger dieser Lehre über die mittleren und nördlichen Staaten Europas. Das erwachende Staatsbewusstsein war einer Bekämpfung der alten Kirche günstig. Und so führte schliesslich diese Bewegung, mit oder ohne kirchliche Reformation, zu dem gewaltigen Prozess der „Expropriation des Kirchengutes“.

Inzwischen war der absolute Fürst der reichste Kapitalist im Lande geworden, welcher auch den Anspruch auf Gut und Blut aller Bürger erhoben hat. Wo dieser Rechtsanspruch im Sinne einer masslos gesteigerten Herrschsucht und Genussucht des Fürsten geltend gemacht wurde, blieben die anarchistischen Reaktionen in der Form von Meuchelmord und Bürgerkriegen nicht aus, denen die „Expropriation der kleinen Fürsten“ durch die Grossen folgte. In den grossen Staaten kam es schliesslich zur politischen Buchseite 295 Revolution mit einer „Expropriation des Fürsten“ durch den modernen Staat. Seitdem haben die absoluten Fürsten, sobald die Verhältnisse dazu reif schienen, lieber freiwillig auf ihr absolutes Fürstenrecht verzichtet und dem Staate eine Verfassung gegeben. (Siehe das Nähere in dem Abschnitt: „Kapitalismus auf dem Fürstenthrone“, Band II, Seite 215 bis 367.)

Damit ist die Bahn für eine Herrschaft des Kapitalismus in der Gesellschaft freigegeben. Ueberall regt sich die masslose Erwerbssucht und Habgier der Menschen, die bald den Mitbürgern nicht mehr zum Vorteile gereicht, sondern zur allgemeineren Knechtung, Verschuldung und Ausbeutung führt, während die Reichsten einen immer massloseren Luxus entfalten. Und schon zeigt sich auch überall das rasche Emporwachsen der sozialistischen Strömungen, deren Ziel auf eine „Expropriation der Expropriatöre“ gerichtet ist. Wie unter solchen Umständen der Sozialismus als eine „vorübergehende Erscheinung“ bezeichnet werden kann, wird aus der geschichtlichen Entwickelung der letzten Jahrtausende jedenfalls nicht ersichtlich. Aber — eine vorübergehende Erscheinung kann der Sozialismus werden, wenn es gelingt, den heute herrschenden Kapitalismus in der Gesellschaft ebenso zu beseitigen, wie der Kapitalismus vom Fürstenthrone und aus der Kirche beseitigt worden ist. Denn der Sozialismus war immer und überall nur eine Folgeerscheinung, und zwar eine Degenerationserscheinung des herrschend gewordenen Kapitalismus, die naturgemäss nach Beseitigung der Krankheitsursache von selbst verschwindet.

Die Friedensbewegung unserer Tage hat es zuwege gebracht, dass im Haag wiederholt Friedenskonferenzen der Staaten abgehalten wurden, zu welchen der russische Kaiser eingeladen. Es kamen Beschlüsse zustande über den Begriff kriegsgerechter Waffen, über die Begrenzung von Krieg und Frieden durch die Kriegserklärung, über die Sicherheit des Privateigentums im Kriege usw. Im weiteren zielten diese Besprechungen der staatlichen Delegierten sogar auf staatliche Schiedsgerichtsverträge und Abrüstungsverträge! Vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkt betrachtet, ist durch all das ausserordentlich viel erreicht worden. Wer hätte vor wenigen Jahren noch solche Konferenzen staatlicher Delegierter für möglich gehalten! Gegenüber der gewaltigen Grösse des Friedensproblems und gegenüber der unbestreitbaren Tatsache, dass mit der fortschreitenden Intensität des Weltverkehrs die Zahl der kriegerischen Konflikte unter den gegebenen Verhältnissen wachsen muss, bedeuten die Haager Beschlüsse freilich herzlich wenig. Man kann es deshalb begreifen, dass ein Münchener Witzblatt die Resultate der letzten Haager Abrüstungsreden in der Bemerkung zusammenfasste: „Wonderfull, John! Deine Seifenblase ist die grösste!“ Selbst die Schiedsgerichtsverträge, welche eine Reihe von Staaten gegenseitig abgeschlossen haben, behalten für die Fälle vitaler Interessen oder der Ehrenkränkung die Entscheidung des Streitfalles durch die Waffen vor. Alle Kolonialkriege und die Bürgerkriege verschiedenster Art bleiben von den internationalen Abmachungen der Staaten selbstverständlich ausgeschlossen. Also scheint der Krieg mit seinen Vorbereitungen auch nach dem offiziellen Friedensprogramm eine dauernde Einrichtung zu sein.

Buchseite 297 Offenbar ist auch der Krieg kein „Ding an sich“. Wir haben in einem vorausgehenden Abschnitt den Krieg bezeichnet als das akute Stadium einer Reihe von Erscheinungen, welche mit einander im engsten Kausalzusammenhange stehen und im Ganzen sich stets auf einen längeren Zeitraum erstrecken. Wer den Krieg in der Entwickelung der Jahrtausende tiefer erfasst, wird zu dem Schlusse kommen: Auch das Friedensproblem ist ein wirtschaftliches Problem. Schon Plato hat seine historischen Kenntnisse auf diesem Gebiete in den Satz zusammengefasst: „Entstehen uns doch alle Kriege um des Geldes Besitz!“ Wir glauben aus der neueren Geschichte der Kriege in einem früheren Abschnitt nachgewiesen zu haben: „Der Krieg ist eine Art des wirtschaftlichen Erwerbs und zwar in der Regel eine Erwerbsart der Reichen“. Selbst die seltenen Ausnahmen der sogenannten Entwickelungskriege stehen mit dem wirtschaftlichen Erwerbsleben des Volkes im engsten Zusammenhange.

Der heute herrschende Kapitalismus in der Gesellschaft bedeutet ewigen Krieg. Jeder echte Kapitalist strebt, wie einst Cäsar, nach der Weltherrschaft. Das liegt begrifflich schon in der Unersättlichkeit seiner Habgier. Aus der stetig wachsenden Zahl der Welteroberer ergibt sich eine quadratisch wachsende Zahl wirtschaftlicher Konflikte, zunächst schon innerhalb der Familie, wo sich die Geschwister und Verwandten schamlos gegenseitig übervorteilen, dann innerhalb der Gemeinde, wo der Nachbar den Nachbarn um sein Vermögen bringt, dann innerhalb der Provinz und innerhalb des Staates in den tausend Formen des unlauteren Wettbewerbs, der Verleumdung, der Spekulation aller Art, bis zu den Streiks der Lohnarbeiter, dem vergifteten Kampfe der politischen Parteien und dem immer kostspieligeren Ringen der Staatsgewalt mit der rasch wachsenden Zahl von Verbrechern Buchseite 298 aller Art. Das alles trägt den verruchten Stempel der Friedlosigkeit und muss nach und nach aus dem Stadium des latenten Bürgerkrieges zum offenen Bruderkriege ausarten. Wo die kapitalistischen Welteroberer im Auslande neue Millionen zu gewinnen trachten, wissen sie in der Regel sehr geschickt ihre Erwerbssucht mit der Ehre und dem Ansehen der Nation, der sie angehören, zu verflechten. Deshalb werden hier so leicht wirtschaftliche Konflikte mit den Welteroberern anderer Nationalitäten oder Konflikte mit den Opfern ihrer Ausbeutung zu staatlichen kriegerischen Konflikten. Aber es wäre irrig, die eigentliche Ursache der Kriege nur im Auslande zu suchen. Die Geschichte erzählt von einer langen Reihe von Kriegen, die dadurch entstanden sind, dass man die öffentliche Aufmerksamkeit von den wirtschaftlichen Konflikten im eigenen Lande ablenken musste oder doch wollte.

Die Kriege sind Lösungsversuche wirtschaftlicher Fragen in kapitalistischem Sinne. Namentlich die griechische Geschichte ist angefüllt mit blutigen Kämpfen um neue Märkte und neue Absatzwege für Handel und Industrie. Alle Schlachten der niedergehenden römischen Republik wurden geschlagen auf Befehl kapitalistischer Welteroberer. Die blutigen Kolonialkriege des XVI. und XVII. Jahrhunderts sind naturgemäss aus dem Seeraub hervorgewachsen. Das Wesen unserer modernen Kolonialkriege wurde an anderer Stelle bereits dargelegt. Plato hat also immer noch Recht: „Es entstehen uns fast alle Kriege um des Geldes Besitz“!

Schauen wir in die Zukunft, so drohen vor allem die grossen Entscheidungsschlachten zwischen den führenden Welthandelsstaaten Deutschland und England auf der einen Seite, Nord-Amerika und Japan auf der anderen Seite des Meeres, denen aber auch Kriege zwischen Deutschland und Nord-Amerika, zwischen England und Japan zugerechnet Buchseite 299 werden müssen. Der nordamerikanische Schatzsekretär Shaw hat deshalb in einer Rede an die Harvardstudenten ganz zutreffend gesagt: „Das neue Jahrhundert wird Zeuge sein eines erbitterten und riesenhaften internationalen Handelskrieges zwischen England, Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika um die Märkte der Welt. Gebe Gott, dass der Krieg unblutig bleibe. Aber er wird genau so heftig und unerbittlich geführt werden, wie nur irgend ein Krieg in früheren Zeiten“. Vorübergehende Bündnisse und Freundschaften ändern wenig an diesen Notwendigkeiten. Korinth war dauernd mit Athen befreundet, so lange noch gemeinsame dritte Konkurrenten zu vernichten waren, um dann erst den grossen Entscheidungskrieg über die Frage, ob Korinth oder Athen die Weltherrschaft haben solle? zu beginnen. Venedig und Genua waren immer einig in den Kriegen gegen gemeinsame Mitbewerber und doch blieb ihnen schliesslich der Kampf auf Leben und Tod um die Weltherrschaft nicht erspart. Der Reichtum von Portugal, Spanien und Frankreich hat sich der Reihe nach in Kämpfen um die Weltherrschaft verblutet. Sollte diese Entwickelung heute zu Ende sein, wenn der Geist des kapitalistischen Erwerbs, der all diese Kriege im Grunde geleitet hat, mehr denn je dominiert?

Die entscheidende Frage der Friedensbewegung lautet: Wird es gelingen, den heute herrschenden Kapitalismus aus der Gesellschaft zu beseitigen? Dann mag der Friede mit der Politik der offenen Türe zwischen den Staaten und Völkern herrschen; denn der Friede ist in diesem Falle von dem Einzelnen ausgehend, in der Familie, Gemeinde und Provinz, von unten auf sicher fundiert. Bleibt aber das kapitalistische Erwerbssystem herrschend, dann müssen die Zeiten der ewigen Kriege fortdauern trotz aller Friedenskonferenzen.

Wir haben in Vorhergehendem die Ursache der landwirtschaftlichen Krisis untersucht und dabei für jene Erscheinungen, die man in der Regel in Bausch und Bogen einheitlich erledigen zu können glaubt, sieben Unterscheidungen als notwendig erkannt. Die sogenannte landwirtschaftliche Krisis will aufgelöst sein in:

  1. Die Preiskrisis der landwirtschaftlichen Produkte als Krisis der Marktorganisation.
  2. Die Preiskrisis der landwirtschaftlichen Produkte als Krisis der internationalen Transportkosten.
  3. Die Preiskrisis der landwirtschaftlichen Produkte als kapitalistische Gründung neuer Konkurrenzländer.
  4. Die Kreditkrisis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes als Rodbertus’sche Kreditnot.
  5. Die Kreditkrisis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes als heute herrschende Kreditnot des Grundbesitzes.
  6. Die Kreditkrisis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes als drohende Betriebskreditnot und
  7. die landwirtschaftliche Krisis als landwirtschaftlicher Arbeitermangel.

Auf dem Grunde all dieser sieben sachlich notwendigerweise zu trennenden Misstände ist uns der herrschende Kapitalismus als eigentliche Krankheitsursache begegnet. Dann hat unsere Betrachtung drei öffentlichen Fragen sich zugewendet, welche nach der üblichen Auffassung weit auseinander liegen: der Staatskreditkalamität, dem Sozialismus und dem Friedensproblem. Und abermals musste schliesslich ganz die gleiche Diagnose: „Folgeerscheinung des herrschenden Kapitalismus“ gestellt werden. Also werden wir wohl jetzt zu der Vermutung berechtigt sein, dass alle oben für die GegenBuchseite 301wart ermittelten volkswirtschaftlichen Krankheitssymptome sich gleichmässig auf den herrschenden Kapitalismus als eigentliche Krankheitsursache zurückführen. Bevor aber dieser allgemeine Nachweis erbracht wird, soll uns die entwickelungsgeschichtliche Betrachtung der kapitalistischen Erscheinungen vor dem Wirrwarr der heute gegebenen Definitionen für „Kapital“ und „Kapitalismus“ bewahren.

Bei den alten Völkern, wie bei den Völkern der Gegenwart konnten drei Arten des Kapitalismus beobachtet werden: der Kapitalismus des Handels- und Leihkapitals, der Kapitalismus des Industriekapitals und der Kapitalismus des Bank- und Börsenkapitals.

Die Periode des Handels- und Leihkapitals brachte das arbeitende Volk durch Wucherrecht und Wucherzins mit Hungersnotpreisen für Getreide in schwere Verschuldung und persönliche Abhängigkeit von den Kapitalisten.

Die Periode des Industriekapitals zielte auf eine Proletarisierung des Mittelstandes in Stadt und Land ab und schuf die abhängigen Arbeitermassen in den Städten, auf dem Lande grosskapitalistische Latifundien.

Die Periode des Bank- und Börsenkapitals vollendete die Abhängigkeit des Staates von den Grosskapitalisten durch Wahlbestechungen und Gelddarlehen aller Art, um sich das Recht der Wucherfreiheit zu sichern und die Machtmittel des Staates zur Beitreibung seiner Wuchergewinne im In- und Auslande zur Verfügung zu haben.

Die Kapitalisten sind mithin, wie schon Schaeffle betont hat, parasitäre Erscheinungen. Ein Volk von Kapitalisten ist undenkbar. Als echte Parasiten haben sie zu ihrer Existenz ein „Wirtsvolk“ nötig. So begegnen wir bei dem jüdischen Volke, als es noch agrarisch war, den Phöniziern und Kanaanitern als Kapitalisten. Dann fanden sich die jüdischen Händler und Geldwechsler auf Buchseite 302 den grossen griechischen Handelsplätzen ein. Zu Anfang der römischen Kaiserzeit konnte Juvenal ausrufen: „Es ist, als ob der Orontes (Hauptfluss in Syrien) sich in den Tiber ergossen hätte!“ So hatten sich die orientalischen Kapitalisten in Rom zusammengefunden. Wir begegnen diesen Orientalen wieder im islamischen Weltreich. Sie folgen dem Zuge des Welthandels über Portugal und Spanien nach Holland, Frankreich, England und Deutschland. Ueberall bringen sie ihr Kapitalistenrecht mit, das seit Jahrhunderten schon sich in Handels-, Wechsel- und Börsenrecht teilt. Sobald die volkswirtschaftlichen Verhältnisse des „Wirtsvolkes“ ihrem Ende zuneigen, verlassen sie die bisherigen Stätten ihrer Wirksamkeit, um sich anderwärts anzusiedeln. Zwischen den Parasiten und dem „Wirtsvolke“ und deshalb auch zwischen Kapital und Arbeit besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Man muss sich nur nicht einreden lassen, dass unter „Kapital angesammelte Arbeitsprodukte“ zu verstehen seien, „welche dem Zweck der volkswirtschaftlichen Gütererzeugung dienen.“ Kapital ist eine kleine oder grosse Gütermenge, welche der Gewinnsucht dient. Kapitalisten sind Wucherer im weitesten Sinne des Wortes. Unter Wucher in diesem Sinne verstehe ich mit Franz Schaub: jede vertragsmässige Aneignung eines offenkundigen Mehrwertes. Und mit dem Worte Kapitalismus bezeichnen wir heute ein gesellschaftliches System, in welchem die Wucherfreiheit mehr oder minder vollständig zu Recht besteht. Von diesen klaren, einfachen Begriffen ausgehend, soll eine einheitliche Erklärung der oben zusammengestellten „pathologischen Symptome im Völkerleben der Gegenwart“ versucht werden:

a) Dass die Kapitalisten darnach trachten, möglichst das ganze Volksvermögen in „Ware“ zu verwandeln, ist Buchseite 303 selbstverständlich. Für den Warenverkehr gilt der durchaus wucherische Grundsatz: „Möglichst billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen.“ Je grösser die Warenmasse im Markte ist, desto grösser können die Gewinne der Kapitalisten sein. Für die „Ware“ wird der Preis durch die kapitalistische Spekulation, d.h. durch alle Künste der Kapitalisten bestimmt, ganz ohne Rücksicht auf die Erzeugungskosten oder auf die Interessen der Produzenten und Konsumenten. Karl Marx erblickt in dieser Herrschaft des Geldpreises den „Fetischcharakter der Ware.“ Die ganze heutige Gesellschaft beugt sich vor diesem Marktpreise, wie vor einem „Fetisch.“ Trotz der tausend Klagen, welche das Volk gegen die herrschende Marktpreisbildung zu erheben hat, betrachtet man diese selbst geschaffene Einrichtung fast wie ein unabänderliches Geschenk der Allmacht Gottes. Die offizielle Wissenschaft steht bewundernd vor dem „Wellengekräusel der Preise“ und „vor dem kaufmännischen Instinkt, durch welchen die Spekulanten die künftige Preisbewegung des Marktes so trefflich zu erraten vermögen.“ Der Sekretär der Börse in Chicago aber zögert nicht, einzugestehen, dass die fortwährenden täglichen Preisschwankungen dem Produzenten, wie dem Konsumenten je 10%, also zusammen 20% des Durchschnittspreises als Schaden zufügen, weil jener bei der fortschreitenden Unsicherheit entsprechend zu billig verkaufe, dieser entsprechend zu teuer einkaufe. Für das deutsche Volk allein bedeutet das nur bei Brot und Fleisch jährlich einen Schaden von über einer halben Milliarde Mark. Mit den übrigen Waren des grossen Konsums darf dieser Schaden für Deutschland pro Jahr auf mindestens 1 Milliarde Mark abgerundet werden. Dazu kommen die Schädigungen des Volkes aus den Kursschwankungen der Wertpapiere. Im Ganzen besitzen wir davon in Deutschland nach Calwer bekanntlich 80 Milliarden Mark. Soweit Buchseite 304 dieselben im Besitze von Kapitalisten sind, bedeutet die Schädigung der Einzelnen durch Kursschwankungen nur den „Kampf der Wucherer um die Beute.“ Wir müssen deshalb den Wertpapierbesitz der Kapitalisten aus einer Rechnung ausscheiden, welche den Schaden ermitteln will, den das herrschende kapitalistische System dem Volkswohlstande zufügt. Nehmen wir an, in den Händen der Sparkassen, der öffentlichen Institute aller Art, wie in den Händen der Sparer im deutschen Volke seien etwa 20 Milliarden Wertpapiere, die ihren Besitzern, infolge unausgesetzter Kursschwankungen, pro Jahr einen Schaden von etwa 5% einbringen. Das ergibt im Ganzen 1 Milliarde. Mit andern Worten, die Preisfestsetzung für die „Waren“ durch das spekulative Kapital kostet jährlich dem deutschen Volke, nur infolge der fortgesetzten Preisschwankungen, mindestens zwei Milliarden Mark. Der Gewinn der Kapitalisten aus diesen Preisoszillationen ist natürlich sehr viel kleiner und steht in keinem Verhältnis zu dem Schaden, welchen die übrige Bevölkerung aus diesem Titel zu tragen hat.

b) Bei diesem „Wellengekräusel der Preise“ bleibt es nicht. Die Spekulation neigt in ihren Bewertungen fortwährend zu Extremen schon deshalb, weil sie die „ahnungslosen“ Volksmassen zur Teilnahme wachruft. Neigt die Preisbewegung nach abwärts, so verbreitet die Börsenpresse eine solche Mutlosigkeit im Volke, dass es sich gar nicht voraussehen lässt, wie billig die Ware werden kann. Welcher Fachmann hätte in den 80er Jahren geglaubt, dass die Tonne Weizen in Berlin im Oktober 1894 bis auf 120 Mark sinken könnte? Eine solche übermässige Baissebewegung musste international zu einer übermässigen Einschränkung des Weizenbaues führen. Und als das 1897/98 Tatsache geworden war, sahen kühne Grosskapitalisten ihre Aufgabe darin, die Weizenpreise ebenso Buchseite 305 masslos in die Höhe schnellen zu lassen. Der Weizenpreis in Berlin stieg im Mai 1898 auf 260 Mark pro 1000 Kilo! So geht es bald bei Weizen und Roggen, bald bei den verschiedenen Fleischarten, bald bei Kaffee und Zucker, bald bei Baumwolle oder Kupfer, bald bei den verschiedenen Wertpapieren, welche an der Börse gehandelt werden. Und wenn die Preise für Getreide oder Fleisch wieder einmal sehr hoch gestiegen sind, dann hat die kapitalistische Presse und die ihr Handlangerdienste leistende sozialistische Presse den seltsamen Mut, die Agrarier als „Brot- und Fleischwucherer“ in der Oeffentlichkeit anzuklagen — weil sie in Zoll und Grenzsperre unvollkommene Hilfsmittel gegen die kapitalistische Preisbildung ihrer Produkte ergriffen haben. Bei den Spekulationspapieren der Börse liegt die Initiative mehr auf Seiten der Hausse, durch welche das Publikum zur Teilnahme an den Spekulationskäufen verleitet wird. So hat man z.B die wertlosen Treberaktien im Herbst 1896 auf einen Kurs von 895 hinaufgetrieben! In dem Maasse, wie die Spekulationspapiere steigen, oder das Geld teurer wird, fallen in der Regel die Rentenpapiere. Immer aber wechseln auch hier Krisis und Erholung, Hausse und Baisse mit einander ab, unter der intellektuellen und materiellen Führung der grossen Kreditbanken. Solche Krisen zählen wir in Europa seit Mitte des vorigen Jahrhunderts, also innerhalb 57 Jahren sieben, nämlich 1857, 1866, 1873, 1882, 1890/3, 1899/1900 und 1906/7, also im Durchschnitt eine innerhalb acht Jahren. Die Verluste in den Krisen zählen nach vielen Milliarden. Bekannte argentinische Rentenpapiere sanken vom Mai 1889 bis Juni 1894 durchschnittlich von 97 auf 34 in ihrem Berliner Kurswerte. Reine Spekulationswerte gehen ganz oder fast ganz verloren. Weil sich jedoch diese Schäden auf durchschnittlich acht Jahre verteilen und die ständigen Benachteiligungen durch die unausgesetzten Preisschwankungen Buchseite 306 schon in Rechnung gesetzt wurden, soll der materielle Schaden der extremen Preisschwankungen nach oben und unten pro Jahr auf nur den vierten Teil des Schadens der ständigen Preisschwankungen eingeschätzt werden. Das ergibt für das deutsche Volk allein jährlich 1⁄2 Milliarde Mark, welche diese Seite des herrschenden Kapitalismus kostet. Auch hier steht der Verlust der Gesamtheit in keinem Verhältnis zu den Gewinnen, die schliesslich einige Kapitalisten in der Tasche haben.

c) Von Nordamerika her hat sich in den letzten Jahrzehnten unter den Kapitalisten der Grundsatz verbreitet: „business is better than boom!“ „Ein regelmässig fortlaufendes Geschäft ist besser als zeitweilige ausserordentliche Gewinne!“ Seitdem ist der Kapitalismus bestrebt, die Erzeugung von Massenartikeln für das Volk durch Syndikate und Trusts monopolartig zu beherrschen, um daraus dauernd übermässige Gewinne (Mehrwerte) zu ziehen. Namentlich die Zeiten allgemeiner Krisen sind die Zeiten der Ausbreitung solcher Syndikate und Trusts. Auch die fortschreitende Konzentration der deutschen, österreichischen, englischen und nordamerikanischen Grossbanken ist eine Art Syndikatsbewegung auf dem Geldmarkte, welche die Entstehung neuer Syndikate auf anderen Gebieten direkt begünstigt und sogar erzwingt, wie der typische Fall der Phönixwerke in Laar bezeugt. Als zu Beginn des Jahres 1904 sich der Stahlwerksverband bildete, wollten die Phönixwerke nicht beitreten. Da kauften die an dem Zustandekommen dieses Syndikats wesentlich interessierten Grossbanken die Mehrheit der Phönixaktien auf, und eine dann vom Aufsichtsrat zusammenberufene ausserordentliche Generalversammlung beschloss, gegen die eindringlichen Gründe der Direktion, den Beitritt zum Stahlwerksverband. Die westfälischen Stahlwerke hat die Nationalbank für Buchseite 307 Deutschland dem Syndikate „zugeführt“. Eine Reihe ähnlicher Fälle findet sich in dem trefflichen Buche von O. Jeidels „über das Verhältnis der Grossbanken zur Industrie“ (1905). Einzelne Grossbanken haben Spezialbüros zur Förderung der Syndikatsbewegung eingerichtet, wie das Syndikatskontor des Schaaffhausenschen Bankvereins, das Zentralverkaufskontor von Hintermauersteinen der Dresdener Bank in Berlin usw. So sind vielfach unter wesentlicher Mithilfe der Grossbanken in Deutschland heute über 400 Syndikate entstanden. Schon sind eine Reihe internationaler Syndikatsvereinigungen zu Stande gekommen. Und sobald erst einmal ein grosskapitalistisches Syndikat fest genug begründet ist, „schämt es sich nicht mehr“, vom Volke sich zahlen zu lassen, „was es tragen kann“. Das naheliegende Beispiel des Kohlensyndikates mag diesen Satz weiter erläutern. Nachdem das rheinisch-westfälische Kohlensyndikat zustande gekommen war, berechnete man die zu fordernden Preise auf der Basis der teuersten Produktionssorte. Dann wurden diese Werke von den grösseren, billiger erzeugenden Zechen aufgekauft, still gelegt und ihre Produktion auf die billiger arbeitenden Werke übernommen. Dann hat man durch eine Produktionseinschränkung die Kohlenpreise noch weiter erhöht. Dazu kommen weiter die verschiedensten Formen der „Mehrwertaneignung“ wie: Verschlechterung des Koks, Doppeltberechnung der Frachten usw. Nach der Wochenschrift „Plutus“ (Georg Bernhard) setzt das Syndikat seine Preise für Süddeutschland ab Mannheim fest. Für den Transport von Mühlheim nach Mannheim wurde dabei die Eisenbahnfracht eingerechnet. In Wirklichkeit benutzt aber hier das Kohlensyndikat den Wasserweg. Ist die Rheinschiffahrt erschwert, so gestattet das Syndikat den Beziehern als besonderes Entgegenkommen, die Kohlen direkt von der Zeche zu holen und dabei die Bahnfracht, welche in den Buchseite 308 Preis schon einkalkuliert ist, noch einmal zu zahlen. Das Syndikat verkaufte 1905 rund 41 Millionen Tonnen Kohlen allein und verbrauchte 25 Millionen Tonnen in den eigenen Werken. Es ist aus all dem unschwer zu folgern, dass diese eine Organisation aus dem deutschen Volke jährlich weit mehr als 100 Millionen Mark „Mehrwert“ herausholt. Wir haben heute im deutschen Vaterlande über 400 solcher Syndikate. Es ist gewiss eine sehr mässige Schätzung, wenn wir die unbillige Belastung des deutschen Konsums durch die vorhandenen Syndikate nur auf eine Milliarde Mark pro Jahr ansetzen. Weiter ist anzuschlagen, dass mit dem Fortschreiten der Konzentration die mittleren und kleinen Existenzen verschwinden, falls nicht, wie bei den landwirtschaftlichen Brennereien, besondere gesetzliche Bestimmungen diese Entwickelung verhindern. So wird auch hier die Ausbreitung des Kapitalismus, über den Profit des Kapitalisten hinaus, von schweren volkswirtschaftlichen Schädigungen begleitet.

d) Das Kapitalistenrecht trennt in der Aktiengesellschaft, wie in der Gesellschaft mit beschränkter Haftung und in ähnlichen Organisationen den Geldwert eines Unternehmens von der Arbeit. Die Arbeit wird dann in ihrer Entlohnung in der Regel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen. Der Zuwachs in der Produktivität auf Grund allgemeiner volkswirtschaftlicher Fortschritte pflegt als Kapitalgewinn berechnet und vereinnahmt zu werden. Diese durchaus antisoziale wucherische Betrachtung der Dinge ist uns heute so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass man diesen Verteilungsmodus des Ertrages zwischen Kapital und Arbeit in „Ertragswertanschlag“ als etwas ganz „Ehrenhaftes“ zu betrachten gewohnt ist.

Die Sache wird schon deutlicher bei der Ausgabe neuer Aktien oder Anteilscheine. Ein grosses angesehenes Buchseite 309 Aktienunternehmen, das seit einigen Jahren etwa 10% Dividende an die Aktionäre verteilt, offeriert dem Markte neue Aktien, welche mit den alten gleichberechtigt sind, mindestens zu einem Kurse von 200. Der nominelle Anteil von 100 Mark wird mithin hier mit 200 Mark bar bezahlt. Das Recht und die Aussicht der Anteilnahme an einem Gewinn von 10% bewirkt, dass der Fetischcharakter der Ware „Aktie“ die Bewertung auf den doppelten Nominalbetrag ansetzt. Ein solches Aktienunternehmen erhält dann, bei voller Einzahlung, für verausgabte 5 Millionen Mark Aktien 10 Millionen Mark bares Geld. Am 28. Januar 1908 notierte im Berliner Kurszettel die Arenberger Bergwerksaktie 770%. Für eine Arenberger Aktie im Nennbetrage von 1500 Mark müsste also der Käufer 11'500 Mark zahlen. Man erwartete wieder eine Verteilung von 45% Dividende. Diese Aenderung der Börsenkurse mit der Höhe der Dividende machen die Politik der Banken verständlich, in der Generalversammlung die Dividenden nach dem Börsenkurse festzusetzen. Jedenfalls hat die Dividendenerhöhung die Tendenz, den Kurswert der Aktie entsprechend zu steigern. Aktienverkäufe bringen dann eine höhere Geldsumme, welchen „Mehrwert“ Cäsar Straus als „Freikapital“ bezeichnet hat.

Noch mehr enthüllt sich das Wesen dieser Kapitalgewinne bei sogenannten Gründungsvorgängen. Als Beispiel soll eine Gründung aus 1898 dienen, deren Einzelheiten erst in jüngster Zeit bekannt geworden sind. (Siehe „Frankfurter Zeitung“ vom 25. und 31. Oktober 1907.) In Mannheim hat der Eigentümer einer mittleren Seilfabrik die Herstellung quadratischer Seile erfunden und sich patentieren lassen. Am 2. Dezember 1897 verkaufte dieser Mann seine Fabrik mit seinem Patent an den Generaldirektor der Mannheimer Aktiengesellschaft für Seilindustrie um 142'500 Mk. Im Auftrage des Käufers verwandelte Buchseite 310 dann der bisherige Eigentümer das Unternehmen in eine G.m.b.H. mit 150'000 Mk., welche von der Aktiengesellschaft übernommen wurden. Zwei Monate später verkaufte die Aktiengesellschaft 120'000 Mk. Anteilscheine dieser G.m.b.H. an wenige Privatpersonen, bei welchen der Generaldirektor der Aktiengesellschaft mit seiner Schwiegermutter die weitaus Hauptbeteiligten waren, zum Nominalwert. Nach abermals zwei Monaten kaufte die alte Aktiengesellschaft diese 120'000 Mark Anteilscheine der G.m.b.H. wieder zurück und zwar zu einem Kurse von 500, welcher mit neuen Aktien bezahlt wurde, die man dann zu einem Kurse von 190 an der Börse verkaufte. Ausserdem beanspruchte inzwischen dieser Generaldirektor 170'000 Mk. „nachträgliche Tantième“. Endlich gründete dieser Generaldirektor zur Ausbeutung des neuen Verfahrens im Auslande eine „internationale Seilfabrikgesellschaft“, an welcher die Mannheimer Aktiengesellschaft für Seilindustrie 1905 mit 1'197'000 Mk. „fest“ beteiligt war und am 30. Juni 1907 auch noch Buchforderungen in der Höhe von 1'347'835 Mk. hatte. Die Dividenden der Aktiengesellschaft für Seilindustrie waren anfangs 12%, dann 8, 5, 0, 4, 4, 4%. Hier sieht man recht deutlich „das Kapital an der Arbeit“, um sich von dem Arbeitsertrage der Gegenwart, der Zukunft und der Vergangenheit einen möglichst grossen Teil vertragsmässig als „Mehrwert“ anzueignen. In besonders aussichtsreichen Fällen werden die Aktien in der Regel nicht in den Börsenverkehr gebracht, sondern von den Gründern und ihren Freunden behalten. So z.B bei der „Internationalen Bohrgesellschaft in Erkelenz, Aktiengesellschaft“. Sie hat ein Aktienkapital von 1 Million und damit im letzten Jahre einen Gesamtgewinn von 18 Millionen erzielt. Davon wurden nur 500% Dividende verteilt. Die Dividende des Vorjahres war 100%. Diese Riesengewinne sind erzielt worden auf Buchseite 311 Grund der Monopolstellung, welche die geltenden Bergrechte kapitalkräftigen und intelligenten Gesellschaften übertragen. Die Gewinne aus dem Schatzkästlein dieser Gesellschaft werden noch wesentlich weiter steigen. Der Schaaffhausensche Bankverein, welcher die überwiegende Mehrheit dieser Aktien besitzt, erlangte damit eine Reihe von wichtigen geschäftlichen Beziehungen. Durch die ausgedehnten Kohlenfelder im nördlichen Kohlengebiet von Rheinland-Westfalen war diese Bank ein mächtiger Faktor bei der Bildung des zweiten Kohlensyndikates. Dazu kommen ferner wichtige Gerechtsame im deutschen Oelgebiet, im westfälischen Erzbergbau, in Belgien, in Rumänien, Kamerun usw. Hier breiten sich die Fangarme kapitalistischer Monopolgewinne nach allen Seiten aus!

Bei dem privaten Grundbesitz kommt es zur Trennung zwischen Geldwert und Arbeit in jedem Falle der Handänderung. Der Landwirt, welcher seinen Besitz verkauft, hört in diesem Augenblicke auf, als landwirtschaftlicher Produzent zu denken. Er trachtet vor allem, möglichst teuer zu verkaufen. Zwischen Verkäufer und Käufer begegnet uns deshalb auch hier der scharfe Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Bei Verpachtungen gilt häufig das gleiche für das Verhältnis zwischen Verpächter und Pächter. Die Baugrundstücke im Umkreis der grösseren Städte erscheinen schon fast als „reines Kapital“, das bei jeder Handänderung, auch ohne Hinzurechnung von wirklichen Arbeitsleistungen, eine entsprechende Preiserhöhung erfahren soll, bis schliesslich 1 ha Land, welches vor wenigen Jahrzehnten mit 600 bis 1000 Mk. bezahlt wurde, Millionen Mark kostet. So wurde z.B von der „Pommernbank“ das sogenannte Wollanksche Terrain in Pankow 1898 mit 5 Millionen Mk. erstanden. 1899 wurde dieser Besitz auf 10,33 Millionen Mk., 1900 auf 21,07 Millionen Mk. „geschätzt“ und mit 21 Millionen Mk. beliehen.

Buchseite 312 Das Wesen all dieser typischen Vorgänge liegt darin, dass ein Einkommen, welches ursprünglich dem volkswirtschaftlichen Konto: „Arbeitserfolg“ gehörte, unter den so ungemein verschiedenen Formen des herrschenden Kapitalistenrechts, ohne Gegenleistung, auf das Konto „Geldgewinn“ übertragen wird. Und dann wundern sich die Rechtsnachfolger des Kontos: „Arbeitserfolg“, dass trotz gewaltiger Fortschritte und Anstrengungen für sie verhältnismässig wenig übrig bleibt.

Wie gross sind etwa im Durchschnitt pro Jahr diese kapitalistischen Umwandlungen der „Arbeitserträge“ in „Geldgewinne“ innerhalb Deutschland? Die in den fünf Jahren 1902 bis 1906 an die deutschen Börsen gebrachten Aktien von Banken, Eisenbahnen und Industrieunternehmungen erreichten im Jahresdurchschnitt etwa 550 Millionen Mark. Nehmen wir für unsolide und solidere Emissionen im Mittel einen Mehrwert von nur 100% des Nominalkapitals an, so wird auf diese Weise das deutsche volkswirtschaftliche Konto „Arbeitsertrag“ um 550 Millionen Mark mehr pro Jahr nach Kapitalistenrecht gekürzt. Die durch keinerlei Investierungen und Arbeitsaufwendungen motivierten Grundpreissteigerungen dürfen erfahrungsgemäss etwa der Hypothekenzunahme gleichgestellt werden, wobei der schuldenfreie Besitz den Betrag der nachweisbaren berechtigten Aufwendungen ausgleichen mag. Die Zunahme der Hypothekenschulden des gesamten deutschen Grundbesitzes (Stadt und Land) haben wir oben für die Jahre 1900 bis 1906 auf jährlich 2,66 Milliarden Mark kalkuliert. Das ergibt mit dem „Mehrwert“ der jährlich emittierten Aktien zusammen rund drei Milliarden Mark, welche dem Konto „Arbeitsertrag“ des deutschen Volkes jährlich als „Geldgewinne“ abgezogen werden.

e) Daneben läuft eine Reihe schwerster Schädigungen der produktiven Arbeit des deutschen Volkes. Die KonBuchseite 313zentration des Geldes in den Händen weniger Grossbanken fördert sichtlich die Entstehung von riesenhaften Unternehmungen auch auf Gebieten, auf denen bisher der Mittelstand zu Hause war. So hat die Hamburger Hypothekenbank mit der Diskontogesellschaft den Neubau des Warenhauses Wertheim in Berlin mit 11,7 Millionen Mark, die Preussische Bodenkreditbank mit der Deutschen Bank Jandorfs Kaufhaus des Westens mit 5,3 Millionen Mark beliehen. Für die Umwandlung privater industrieller Unternehmungen in Aktiengesellschaften hat man spezielle Finanzierungsinstitute eingerichtet, wie z.B die „Bank für Brauindustrie“ der Darmstädter Bank. Einzelne Industrien sind treibhausartig durch Börse und Banken gegründet worden, wie z.B die Luxemburgische Eisenindustrie. Von Zeit zu Zeit gefällt es dem internationalen Grosskapital, Länder mit jungfräulichem Boden durch Milliardenanleihen zu erschliessen, davon dann in der Krisis tüchtige Abschreibungen zu machen, eventuell mit weitgehender Entwertung der Valuta des betr. Landes. So ist die landwirtschaftliche Konkurrenz von Nordamerika und Argentinien entstanden. Aktiengesellschaften, welche mit Grossbanken in Verbindung stehen, neigen zu fortwährenden Vergrösserungen und tragen dadurch wesentlich zu zeitweiligen Ueberproduktionserscheinungen bei. In schlechten Zeiten wird das Unternehmen „saniert“ und auch ohne Gewinn Jahre lang weiter geführt. So ist die „Dortmunder Union“ z.B. von der Diskontogesellschaft mit 33 Millonen Mark gegründet worden. Der Börsenkurs erreichte 1873 die Höhe von 171%. Dann ist das Unternehmen von der Bank sechs Mal „saniert“ worden. Dividenden wurden durch eine Reihe von Jahren überhaupt nicht verteilt. Heute beträgt das Aktienkapital der Union 42 Millionen Mark, nachdem — wie Otto Lindenberg kalkuliert — die Aktionäre mehr als 100 Millionen Mark verloren haben. Buchseite 314 Vorsichtig geleitete Grossunternehmungen mit einem Werte von vielen Millionen schreiben in guten Zeiten ihr gesamtes Vermögen ab bis auf eine Mark! Privatunternehmungen des Mittelstandes können mit einer solchen Geschäftspraxis unmöglich ehrlich konkurrieren. Die Fortexistenz des Mittelstandes in Stadt und Land ist deshalb durch die Herrschaft des Kapitalismus in seiner Existenz bedroht. Das Volk scheint sich immer schärfer in Proletariermassen und wenige sehr reiche Leute scheiden zu sollen. Es ist eine gewiss sehr mässige Schätzung, wenn die Verluste des deutschen Volkes aus diesen Titeln jährlich im Ganzen auf nur 500 Millionen Mark veranschlagt werden. Auch hier stehen die Gewinne der Kapitalisten ganz ausser Proportion zu den schweren Verlusten des Volkes.

f) Der herrschende Kapitalismus bedeutet den ewigen Unfrieden in der Gesellschaft, der in einer wachsenden Zahl von Rechtsstreiten deutlichen Ausdruck findet. Im Jahre 1905 waren nach der amtlichen Statistik in Deutschland an den verschiedenen Instanzen 3'111'373 Prozesse anhängig geworden. Rechnen wir für beide Parteien als Verluste an Zeit und Gesundheit, als Kosten der Prozessführung und Verurteilung, als uneinbringbare Kosten des Staates für jeden Rechtsstreit nur 200 Mark, so wird das deutsche Volk durch seine leidigen Prozesse jährlich um über 500 Millionen Mark geschädigt.

g) Dazu kommt die wachsende Verschuldung des Volkes.

Das deutsche Reich und die deutschen Bundesstaaten haben sich in den 30 Jahren 1875 bis 1905 um rund 12 Milliarden Mark mit Staatsschulden neu belastet. Das macht im Durchschnitt pro Jahr 400 Millionen Mark. Diese Schulden müssen aufgenommen werden, weil die Steuerkraft der Volksmasse sich ungenügend entwickelt, Buchseite 315 infolge des herrschenden kapitalistischen Systems, und weil die Ausgaben für Heer und Marine infolge der internationalen Herrschaft des kapitalistischen Geistes unaufhaltsam wachsen.

Die neuen Anleihen der deutschen Provinzen und Städte dürfen nach dem vorher angeführten statistischen Material auf jährlich abermals 400 Millionen Mark geschätzt werden. Diese Mittel werden hauptsächlich aufgebraucht für Schulen, Friedhöfe, Schlachthäuser, Strassenbahnen, Gas- und Wasserleitungen, sowie für Kanalisation und Arbeiterwohnungen; m.a.W. dieser Mehraufwand der Städte und Provinzen steht ganz wesentlich im Zusammenhange mit der starken Abwanderung der Bevölkerung vom Lande nach der Stadt und mit der ungenügenden Steuerkraft des Volkes. Beides aber sind wesentliche Merkmale des Kapitalismus.

Die jährliche Mehrbelastung des deutschen Grundbesitzes um 2,66 Milliarden Mark haben wir bereits als Grundrentenzuwachs kennen gelernt.

An Obligationen der Banken, Eisenbahnen und industriellen Unternehmungen sind im Durchschnitt der fünf Jahre 1902 bis 1906 jährlich etwa 300 Millionen Mark an den Deutschen Börsen zur Ausgabe gelangt.

Das Schuldnerkonto der 143 deutschen Banken, für welche der „Deutsche Oekonomist“ die statistischen Uebersichten veröffentlichte, zeigt für 1906 als Wechsel-, Lombard- und Debitoren-Konto, unter Einrechnung eines entsprechenden Teils der Zunahme der Akzepte und Konsortialbeteiligungen gegen das Jahr 1905 eine Erhöhung um rund 2 Milliarden Mark. Unter der Annahme, dass die durchschnittliche Dauer dieser Schuldverhältnisse drei Monate ist, ergibt sich daraus eine jährliche Schuldzunahme um 500 Millionen Mark. Soweit hier Schuldner im Auslande mitgerechnet sind, mögen sie an Stelle derjenigen inländischen Schuldner gezählt werden, welche durch unsere Kalkulation nicht erfasst wurden.

Buchseite 316 Die jährliche Zunahme der Verschuldung in Deutschland bei den Staaten, Provinzen, Städten, Aktiengesellschaften, wie bei den Privaten — ohne den Grundbesitz — darf mithin auf über 1500 Millionen Mark angesetzt werden. Mit den neuen Schulden des Grundbesitzes erhöht sich diese Ziffer auf 4200 Millionen Mark. Hervorragende Sachverständige schätzten die jährliche Vermögenszunahme des deutschen Volkes heute auf 2 Milliarden Mark. Sie erreicht mithin kaum die Hälfte der jährlichen Schuldzunahme und muss in absehbarer Zeit das ganze Vermögen des deutschen Volkes den Kapitalisten ausliefern.

Rekapitulieren wir die Kosten des herrschenden Kapitalismus, welche die ehrliche Arbeit des deutschen Volkes jährlich zu tragen hat, so erhalten wir:

a)  für Kosten der Preisschwankungen 2  Milliarden
b)  für Kosten der Krisen 1⁄2 "
c)  für Kosten der Syndikate 1 "
d)  Grundrenten-, Gründer- und Kursgewinne aller Art 3 "
e)  Spezielle Schädigungen des Mittelstandes 1⁄2 "
f)  Prozesskosten 1⁄2 "
g)  wachsende Verschuldung, ohne Grundverschuldung   1⁄2 "
zusammen jährlich   9  Milliarden

Hierzu gehört noch eine Reihe von Schädigungen des Volkes in unschätzbarem Werte. Die wachsende Schuldenlast und damit die wachsende Abhängigkeit des Volkes raubt nur zu vielfach die Lust an der Arbeit und an der schöpferischen Tätigkeit. Das gleiche gilt von der wachsenden Verfeindung der Volkskreise. Die immer grössere Zahl von Schuldverschreibungen geben den Grossbanken tausendfache Gelegenheit, aus ihren Vermittlerdiensten steigende Gewinne zu ziehen. Die Zeit der Ueberspekulation Buchseite 317 mit nachfolgender Krisis erleichtert wesentlich die Abschlachtung der schwächeren Mitläufer durch die grösseren Kapitalisten und damit die Konzentration des Vermögens in immer wenigeren Händen. Ueberallhin verbreitet sich die Sucht zu geniessen und mit zu spekulieren. Bestechungskünste aller Art helfen den Wucherbegriff unserer Väter umprägen. Unternehmungen verwandeln sich nur zu vielfach in gross angelegte Raubzüge. Das Einkommen der einzelnen stuft sich ab nach seiner Teilnahme am kapitalistischen Erwerb. Fast alle sind bestrebt, an dem Tanz ums goldene Kalb sich zu beteiligen. Dadurch ist die für kapitalistische Zeiten so charakteristische Flucht der Bevölkerung vom Lande nach der Stadt eingeleitet. An den Stätten der Erwerbs- und Genussucht aber geht die Kindererzeugung zurück. Allen kapitalistischen Völkern droht der Untergang durch völkische Vernichtung. Der unbegrenzten Habgier sind alle nationalen Grenzen zu eng. Ihr Feld ist die Welt. Im Auslande aber knüpft sich nur zu leicht an die verschiedenen Formen der Erwerbstätigkeit und der Herrschsucht der Einzelnen die nationale Ehre. So wird die Betätigung der unbegrenzten Habgier zur ewigen Quelle der Kriege und ihrer Vorbereitungen. Der Luxus der Ueberreichen wird immer massloser. Von oben sickert das Gift der „Mode“ in die Volksmassen und namentlich in die Proletariermassen. Das öffentliche Gewissen des Volkes drängt zu grösseren Aufwendungen für Arme und Besitzlose aus öffentlichen Mitteln. Genussucht, Zuchtlosigkeit und der ewige Konjunkturenwechsel führen rasch zur Degeneration der Bevölkerung, bei wachsender Unzufriedenheit und zunehmender Prostitution in allen Formen. Der Bürgerkrieg breitet sich als Kampf mit den Verbrechern und in der Form von Streiks immer mehr aus. Die sozialistische Partei ist entschlossen, durch eine „Expropriation der Expropriateure“ auch mit dem heutigen Kapitalismus Abrechnung zu halten.



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