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Inhalt Band 1
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Buchseite 43 C.

Entstehungsgeschichte und Kritik der
bisherigen national - ökonomischen
Schul - Systeme.



Litteratur. Das Beste, was wir darüber besitzen, ist zweifelsohne auch heute noch die Schmoller’sche Abhandlung: „Das Merkantil - System in seiner historischen Bedeutung“, zuerst 1884, jetzt in „Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs- Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte“ 1898 separat erschienen. Vergleiche ferner Schönberg, Handbuch der politischen Oekonomie, Band 1, Seite 88 ff., 4. Auflage, 1896. Adolf Wagner, Finanz - Wissenschaft, Band I, Seite 30 ff., 3. Auflage, 1883. J. Conrad’s Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Artikel Merkantil - System, ferner Conrad, Leitfaden, 1. Teil, 3. Auflage. Wilhelm Roscher: Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien, 1884. Von den historischen Spezialwerken sind hier insbesondere zu beachten: Ehrenberg, „Das Zeitalter der Fugger“, 1. und 2. Band, 1896; Max Jähns, „Heeresverfassung und Völkerleben“, 1885 und A. Gottlob, „Die päpstlichen Kreuzzugssteuern des 13. Jahrhunderts“, 1892. Vergleiche ferner die Geschichte der nationalökonomischen Theorien: Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2 Bände, 1884 und 1889. Aug. Oncken-Bern, Was sagt die Nationalökonomie als Wissenschaft über die Bedeutung hoher und niedriger Getreidepreise, 1901, und Aug. Oncken-Bern, Die Geschichte der politischen Oekonomie, Band 1; Die Periode vor Adam Smith, 1902.

Buchseite 44 Als nationalökonomische Schriftsteller der merkantilistischen Periode werden genannt:

Antonio Serra, breve trattato della cause, che possono far abondare gli regni d’oro e d’argento, dove non sono miniere, Napoli 1613. Antonio Broggia, trattati dei tributi e delle monete, 1743. Antonio Genovesi, Lezioni di Commerzio e di Economia civile, 1760. Deutsch: Leipzig 1776. Thomas Mun, a discourse of trade from England into the East Indies 1609, 2. Aufl, 1621. Dann: Englands treasure by foreign trade or the balance of our foreign trade is the rule of our treasure, 1664. Josiah Child, Observations concerning trade and interest of Money, 1868 und: A new discourse of trade, 1690. William Temple, Considerations sur le Commerce et l’argent, 1672. François Mélon, Essais polit. sur le commerce, 1731; deutsch: Jena 1740. In Deutschland sind zu nennen: Kaspar Klock, Tractatus economico - politicus de contributionibus 1632 II de aerario. Veit. Ludw. von Seckendorff, Der teutsche Fürstenstaat, 1655, zuletzt 1754. Johann Joachim Becher, Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte, Länder etc., 1668. W. von Schröder, Fürstliche Schatz- und Rentkammer, 1686.

Die merkantilistische Praxis finden wir im 17. und 18. Jahrhundert, ohne Einseitigkeit besonders unter Colbert (1619 bis 87), sehr ausgeprägt unter Cromwell, aber auch bei Friedrich Wilhelm I., Friedrich dem Grossen und anderen Fürsten.

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Innerhalb der Grenzen des mächtigen Kaiserreiches, wie es Karl der Grosse geschaffen hatte, kam bekanntlich zunächst die lehensstaatliche Verfassung zur Blüte und der Idee nach zur Herrschaft. Das alles war ein gewaltiger Fortschritt in der Organisation der Völker auf der Basis des Grundbesitzes. In den Städten und an den Sitzen der grossen Herren entwickelte sich indess bald jener Keim, der mit seiner weiteren Ausbreitung schliesslich den ganzen Lehensstaat als herrschende Verfassung vernichten sollte, um das Volk nach einer Uebergangszeit recht bedenklicher Buchseite 45 Wirren zur vollkommeneren Organisation des modernen Staates auf der Basis der Freiheit der Personen und der Arbeit zu führen. Der Träger dieser ganzen Bewegung war der mobile Besitz und vor allem das Geld. Im Lehensstaat ist der Grundeigentümer oder Obereigentümer der Herr. Wer sich von ihm beleihen liess, war damit in seine Abhängigkeit gekommen. Wer Zins zahlte, war nicht frei, sondern dem betreffenden Zinsempfänger ergeben. Wer frei war, zahlte keinen Zins, sondern empfing Zins. Mit der Ansammlung des mobilen Besitzes in der Hand der eigentlichen Untertanen und mit der Nachfrage nach diesem mobilen Besitz bei den eigentlichen Herren wurde diese ganze lehensstaatliche Ordnung der Idee nach schon gesprengt, denn damit lieh ja der Untergebene jetzt dem Herrn, und der Herr hatte Leistungen an den Untergebenen übernommen. Die naturgemässe Folge dieser tiefgreifenden Veränderungen war die fast unmerkliche Entstehung der Städtefreiheit im lehensstaatlich organisirten Reiche. Handel und Gewerbe begannen zu blühen. Den Kreuzzügen verdankten beide eine weitere mächtige Förderung. Das Geld begann eine immer grössere Rolle im Leben der romanischen und germanischen Kulturvölker zu spielen. Die Kirche begünstigte diese Bewegung, und wusste sie geschickt zu benutzen. Im dreizehnten Jahrhundert wird der Papst in Rom zum geldreichsten Herrn der Christenheit. Die fast ausschliesslich auf Grundbesitz noch ruhende „geldarme“ Herrlichkeit des deutschen Kaisers tritt mehr und mehr in den Schatten. Das Geld war Herr über den Grundbesitz und damit Herr der Welt geworden. Das Zeitalter der Renaissance hatte begonnen, in welchem für Geld alles feil war: die höchsten weltlichen und kirchlichen Würden, das Blut der Männer, die Ehre vornehmster Frauen und selbst das ewige Seelenheil (Ehrenberg). Wer klug und energisch war, Geld erhalten und Buchseite 46 zugreifen konnte, wurde ein grosser und mächtiger Mann. Es war die Zeit, in der ein ehemaliger Bauer, Muzio Attendolo als Sforza, Herzog von Mailand, ein Findling, Castruccio Castracani, Herrscher von Lucca, Pisa und Pistoria wurde, die Zeit eines Cesare Borgia, die Zeit, in der die Wahl Karls V. zum deutschen Kaiser 850'000 Gulden, die Wahl Ferdinand’s II. zum römischen König 275'000 Gulden an Bestechungsgeldern bei den deutschen Kurfürsten kostete, in der die Würde eines Bischofs, eines Kardinals, eines Papstes ihren ganz bestimmten Preis hatte u.s.w. Die Entdeckung Amerikas und die damit gewonnene Erschliessung einer mächtigen Zufuhr an Edelmetallen nach Europa hatten mit den darüber aus Spanien verbreiteten märchenhaften Nachrichten und der allgemeinen Preisrevolution die Geister noch mehr an die fast unbeschränkte Zaubermacht des Geldes glauben lassen. Es war deshalb garnicht anders möglich, als dass jetzt jeder Leiter eines Gemeinwesens vor allem darauf bedacht sein musste, den Geldvorrat thunlichst zu mehren. Die Reception des römischen Rechtes lieferte dieser Politik das fertige Gesetzbuch.

Die Ersten, welche in der germanischen Geschichte diese Grundsätze zur praktischen Anwendung brachten, waren die mittelalterlichen Städte. In dem Masse, als dann die selbständigen Monarchien neben dem Deutschen Kaiser sich ausbildeten, mussten auch diese in der gleichen Weise handeln.

Mit der Ausbreitung der Geldwirtschaft hatte sich auch die lehensstaatliche Heeresverfassung rasch als nicht mehr zeitgemäss erwiesen. An ihre Stelle traten die Söldner, die zu Anfang namentlich durchaus in den Formen einer Kapitalsanlage in der Hand der Kriegsspekulanten auftraten. Der Soldat war, wie man schon gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in der Schweiz Buchseite 47 zu sagen pflegte, „Lebeware“ geworden, und bei dem starken Angebot dieser Ware durch die schweizerischen Behörden schrieb der schweizerische Chronist Anshelm: „Eidgenössisches Fleisch wurde billiger als Kälbernes.“ Es war deshalb durchaus logisch, wenn nach einem Ausspruche von König Franz I. von Frankreich die Fürsten das Kriegführen als eine andere Art des Hazardspiels mit Geld bezeichneten. Als den Fürsten dieses Spiel bald mehr Verluste als Gewinne brachte, versuchte man es, wie alle Spieler, mit der Aufnahme von Schulden. Und als diese nur zu häufig nicht bezahlt wurden, denn jetzt war „Versprechen edelmännisch und Halten bäuerisch“, so verpfändete man schliesslich alles, was man hatte, einschliesslich der Königskrone und der Mitra.

So waren die Zeitverhältnisse, unter denen allein der dreissigjährige Krieg möglich war. Nach seinem Ende waren die Völker so sehr verarmt, dass die Widerstände gegen den Ausbau der territorialen Gewalt geschwunden und die Entwickelung des modernen Staates beginnen konnte; zunächst in der Form des Absolutismus. Dass es in der bis dahin üblichen „wilden“ Wirtschaft bei dem „Regieren“ nicht weiter gehen konnte, musste jedem Denkenden klar sein. Und indem man nun anfing, eine wirtschaftliche Ordnung zu schaffen, und darüber nachdachte, wie diese Ordnung am besten gestaltet sein könnte, entstand jene Litteratur, die wir als die des Merkantilismus bezeichnen. Unzweifelhaft aber wird man es als einen Beweis des Fortschritts in der Gesittung unter der Herrschaft des aufgeklärten Absolutismus bezeichnen müssen, wenn die Fälle der Soldatenvermietungen gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts und später, wie von Fürst Bernhard von Galen, Bischof von Münster, Kurfürst Johann Georg III. von Sachsen, von den Fürsten und Herren von Hessen- Buchseite 48 Nassau, Braunschweig, Anspach, Waldeck und Zerbst, jetzt so energisch von der öffentlichen Meinung verurteilt wurden.

Eine Politik, deren Aufgabe es war, den absoluten Fürsten möglichst gross und mächtig zu machen, was unter den gegebenen Verhältnissen mit „reich“ zusammenfiel, musste offenbar nicht nur den Reichtum in Geld, sondern auch den in Grundbesitz erstreben. Daraus folgt der Grundsatz: den Dominialbesitz nicht nur zu erhalten, sondern auch thunlichst zu mehren. Was vorher darin zur Zeit der „wilden“ Wirtschaft vielfach verschleudert worden war, musste so viel als möglich zurückerworben werden. Hierzu eignete sich namentlich die Auflösung der noch vorhandenen deutsch-rechtlichen Ober- und Unter- Eigentumsverhältnisse nach den römisch-rechtlichen Begriffen. Die Bedeutung eines grossen Domänenbesitzes lag nicht nur in dem sicheren Einkommen, welches derselbe gewährt, sondern auch in dessen Eigenschaft, nötigen Falls als Pfandobjekt für grössere Gelddarlehne zu dienen. Mit diesem Dominialbesitz in engster Verbindung steht die merkantilitische Getreidepreispolitik. Wo, wie in Preussen, das Einkommen aus den Domänen einen wesentlichen Teil des Staatseinkommens ausmachte, musste eine weise Regierung bestrebt sein, durch eine zielbewusste Magazinpolitik in Verbindung mit einem ganz bestimmten System von Einfuhrverboten, Einfuhrzöllen und eventuellen Ausfuhrvergünstigungen die Getreidepreise möglichst stetig auf mittlerer Höhe zu erhalten. Das ist bekanntlich am vollkommensten einem Friedrich dem Grossen gelungen. Wo, wie in Frankreich, das Staatseinkommen hauptsächlich auf Gewerbe und Industrie beruhte, und dem gegenüber das Einkommen aus den Buchseite 49 Domänen wesentlich zurücktrat, da war man logischer Weise bestrebt, vor allem durch Ausfuhrverbote möglichst niedrige Getreidepreise zu erzielen, um damit dem Gewerbe und der Industrie möglichst billige Arbeitskräfte beschaffen zu helfen. Wo, wie in Holland, die Getreidehändler zu den Herren des Landes gehörten, war die Freiheit des Getreidehandels als Regel neben dem Princip der Ansammlung grosser Getreidevorräte die selbstverständliche Getreidepolitik. Wo aber, wie in England, die Herren des Landes im Parlament sassen, und zur Hälfte aus Vertretern des mobilen Besitzes, zur anderen Hälfte aus Latifundienbesitzern sich zusammensetzten, da war es nicht minder natürlich, dass auch für Getreide eine Exportprämie aus der Staatskasse gezahlt wurde, nachdem eben diese Begünstigung den wichtigsten gewerblichen Produkten zugebilligt worden war. So erklärt sich zwanglos die Verschiedenheit der merkantilistischen Getreidehandelspolitik.

Eine andere naheliegende Quelle zur Mehrung des fürstlichen Geldeinkommens bot abermals das römische Recht in der Ausbildung der Regalien. Hier gab es das Zollregal auf Strömen, Flüssen und Strassen. Es gab das fürstliche Heimfallrecht an dem Vermögen der ausgestorbenen Familien, das bei den verheerenden Volksseuchen während und nach dem 30 jährigen Krieg gewiss nicht unergiebig war. Es gab das Recht auf die gestrandeten Güter, das Jagd- und Fischerei-Regal und die Kriegshoheit mit dem Rechte, heimische Truppen an fremde Mächte zum Kriegführen zu vermieten. Es gab das Gebührenwesen verschiedenster Art für einzelne obrigkeitliche Handlungen. Es gab den Verkauf von Privilegien, Titeln und Aemtern aller Art. Es gab die Gerichtshoheit mit Geld- und Vermögensstrafen bis zur vollen Vermögenskonfiskation, welche namentlich bei grossen politischen Bewegungen umfassend Buchseite 50 geübt wurden. Es gab das Postregal, das Münzregal mit dem Rechte der Münzverschlechterung, das Bergregal, das Lotto, die Einrichtung der Spielhäuser, das Salzregal und die Tabak-, Bier- und Wein-Accise. Und alle diese Regalien konnten entweder von der fürstlichen Kammer selbst ausgeübt oder an die Geldleiher verkauft oder verpfändet werden. Und ebenso konnte die Kammer zu direkten Handelsgeschäften greifen, Handelsmonopole daraus machen oder Industriegeschäfte betreiben. Das alles brachte Geld in die landesfürstliche Kasse.

In engster Verbindung mit dieser Regalienpolitik stand dann wieder die Begünstigung des Handels mit den Produkten der exportierenden Gewerbe. Wo ein exportierendes Gewerbe noch nicht vorhanden war, musste ein solches durch Mithilfe des Staates geschaffen werden. Fremde Unternehmer und Arbeiter wurden gerufen und vor allem mit dem Privilegium der Steuerfreiheit ausgestattet. Der Export dieser Produkte nach fremden Märkten oder Ländern war zollfrei oder sogar durch Exportprämien unterstützt, während ihnen auf dem inländischen Markte durch das Einfuhrverbot für gewerbliche Produkte das Monopol reserviert wurde. Um die Produktionskosten thunlichst zu verringern, wurde den inländischen Rohprodukten die Ausfuhr verboten, die Einfuhr von Rohprodukten aber freigegeben oder eventuell durch Importprämien begünstigt. Dazu kamen Preis- und Lohntaxen und eine Bevölkerungspolitik, welche auf eine thunlichste Mehrung der Bevölkerungszahl abzielte. Damit aber auch der Exportgewinn ganz im eigenen Lande bliebe, wurde der Export durch inländische Kaufleute mit Hilfe der heimischen Handelsflotte bevorzugt. So wurde der Handel mit dem Auslande nach dem Grundsatze organisiert: Export von veredelten gewerblichen Produkten und Import von zu Buchseite 51 verarbeitenden Rohprodukten. Da hierbei der Wert des Exportes naturgemäss den Wert des Importes überragte, wurde die Differenz zwischen beiden vom Auslande in Geld gezahlt, das wieder durch ein strenges Ausfuhrverbot im Inlande festgehalten wurde. Und weil nicht ein jedes Land geneigt war, sich auf solche Weise von seinem Nachbarn merkantilistisch ausbeuten zu lassen, suchte man die einzelnen Länder durch Abschluss von Handelsverträgen entsprechend zu übervorteilen und auf eine bestimmte Reihe von Jahren zu binden. Noch rentabler erschien es, möglichst ausgedehnte Kolonien zu erwerben, für die das Monopol der Ausbeutung durch das Mutterland in der rücksichtslosesten Weise organisiert wurde. „Jahrhunderte wütete deshalb mit frevelhafter Gewalt und Mordthaten die furchtbare Konkurrenz“ der Portugiesen mit den Arabern, der Holländer mit den Portugiesen und Spaniern um das Handelsmonopol von Indien. Den Holländern folgten dann auf dieser politischen Bahn England und Frankreich. „Die ganze Zeit von 1600 bis 1800 ist von Jahre und Jahrzehnte langen Kriegen ausgefüllt“, deren wesentlicher Zweck die Erwerbssucht der merkantilistischen Politik auf dem Gebiete des auswärtigen Handels und des Kolonialbesitzes war und für welche „die schamlosen Brutalitäten der englischen Flotte einerseits, die Kontinentalsperren andererseits das furchtbare Schlussdrama sind“ (Schmoller).

Es steht also in der merkantilistischen Politik neben dem Prinzip der Ansammlung eines möglichst grossen Reichtums, und zwar vor allem des Geldreichtums, die Begünstigung der Exportindustrie, des auswärtigen Handels, der heimischen Handelsflotte und die Notwendigkeit einer möglichsten Ausdehnung der Kriegsflotte.

Vom Standpunkte der Entwickelungsgeschichte der Völker betrachtet, charakterisiert sich das Merkantilsystem als das durchaus notwendige Uebergangsstadium aus der stadtwirtschaftlichen in die volkswirtschaftliche Epoche (Schmoller und Bücher). Dass hier der Absolutismus mit Hilfe des Geldes seine Aufgabe im allgemeinen in durchaus befriedigender Weise gelöst hat, bezeugt am besten die Thatsache, dass unsere moderne Kultur durchweg auf dem Fundamente ruht, das der Absolutismus damals gelegt hat. Wenn aber in jener Periode namentlich der Bauer mit der Arbeiterbevölkerung besonders zu leiden hatte, so mögen heute beide nicht vergessen, dass die wirtschaftlichen wie politischen Freiheiten, deren sie sich erfreuen, nicht zuletzt dem gleichen theoretischen Grundgedanken entsprungen sind. Wir dürfen deshalb im allgemeinen unter den gleichen wirtschaftlichen Voraussetzungen auch wieder das gleiche wirtschaftlich-politische System erwarten.

Trotzdem seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in allen mitteleuropäischen Kulturländern namentlich das Merkantilsystem alten Stils durch eine neue und unzweifelhaft bessere volkswirtschaftliche Ordnung auf dem Prinzip der Freiheit der Arbeit und der Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen ersetzt worden ist, gefällt sich die Wirtschaftspolitik unserer Tage doch wieder in überraschenden Anklängen an das alte Merkantilsystem. Unter der Leitung des Geldes (Grossbanken) beobachten wir eine kapitalistisch – industrielle Entwickelung der Völker auf Kosten der Landwirtschaft und des Mittelstandes. Der Exporthandel gewinnt abermals eine ganz besondere Bedeutung. Die Entwickelung und Ausdehnung der Handelsflotten wird thunlichst gefördert. Die Ausbreitung des Kolonialbesitzes führt zu den charakteristischen Kolonialkriegen, und die bei dieser Entwickelung einander widerstreitenden Interessen werden nur zu häufig Buchseite 53 abermals nach der Grösse der Geldsummen abgewogen, die darin repräsentiert werden. Weil aber gerade diese materialistischen Entwickelungstendenzen unserer Tage eine der wesentlichsten Ursachen der modernen Agrar- und Mittelstandsfrage sind, ist es uns nicht möglich, darin dauernde nationalökonomische Wahrheiten verkörpert zu sehen. Denn was zu einer bereits bedenklichen Erkrankung des socialen Körpers geführt hat, kann unmöglich zu den echten Wahrheiten jener Lehre gehören, deren Ziel es ist, den socialen Körper möglichst gesund zu erhalten.

Trotzdem umfasst auch das Merkantilsystem mit seinen Anschauungen eine Reihe von Sätzen, die uns von Dauer zu sein scheinen, und als solche möchten wir bezeichnen:

1. Jede Volkswirtschaft braucht auf einer gewissen Höhe ihrer Entwickelung neben der Urproduktion und ihren Produkten Geld, Gewerbe und Industrie als gleichbedeutende und gleichberechtigte Faktoren.

2. Das Blühen und Gedeihen eines Landes in volkswirtschaftlicher Hinsicht wie auch der Arbeitserfolg eines jeden Einzelnen ist dann im wesentlichen abhängig von einer richtigen Wirtschaftspolitik des Staates.

3. Alle Massnahmen des Staates finden einen höchst beachtenswerten und höchst bedeutungsvollen Massstab ihrer Zweckmässigkeit an dem Abschluss der jährlichen Handelsbilanz. Ein Volk, das dauernd mehr ausgiebt, als es einnimmt, wird ebenso sicher zu Grunde gehen, wie das im gleichen Falle bei jeder Einzelwirtschaft nicht anders zu erwarten ist. Ein Streit kann nur darüber noch geführt werden, ob dieser Nachweis statistisch in zutreffender oder unzutreffender Weise geführt wurde.

Vorbemerkungen und Litteratur: Der eigentliche Inhalt des physiokratischen Systems ist uns erst neuerdings durch die ausgezeichneten Arbeiten von Professor August Oncken-Bern erschlossen worden. Vergleiche dessen „Oeuvres Economiques et Philosophiques de François Quesnay“, Frankfurt und Paris 1880. Derselbe: „Entstehen und Werden der physiokratischen Ideen“, „Biographie des Stifters der Physiokratie“, „Ludwig XVI. und das physiokratische System“ als Abhandlung in der „Vierteljahrsschrift für Staats- und Volkswirtschaft“ von Kuno Frankenstein 1898/9. Derselbe: Artikel „François Quesnay“ und „Das physiokratische System“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften von Conrad.

François Quesnay war am 4. Juni 1694 in dem Dorfe Méré bei Versailles geboren. Seine Entwicklung ist eine durchaus autodidaktische. Von einem Gärtner hat er Lesen gelernt, ist dann bei einem Wundarzt als Lehrling davongelaufen, in Paris Lithograph geworden, hat als solcher durch Selbststudium medizinische und philosophische Kenntnisse sich angeeignet, wird im Alter von 24 Jahren (1718) staatlich geprüfter Wundarzt, 1735 Leibchirurg des Herzogs von Villeroy und veröffentlicht als solcher mehrere bedeutende Werke über Chirurgie. Ein Gichtleiden hindert ihn am Operieren. Er wendet sich deshalb dem Studium der inneren Medizin zu, erwirbt 1744 im Alter von 50 Jahren den medizinischen Doktorgrad und wird damit praktischer Arzt. 1749 ist er Leibarzt der Pompadour und kommt deshalb nach Versailles, 1752 königlicher Leibarzt, nachdem er den Dauphin von den Blattern geheilt. Jetzt erst beginnen im Anschluss an psychophysiologische Studien die ökonomischen Studien Quesnay’s, deren erste im Jahre 1756/7 (im Alter von 62 Jahren !) in der „Encyclopädie“ von d’Alembert erschienen sind und zwar gezeichnet mit dem Namen seines Sohnes, der Landwirt war. Ende 1758 vollendete er das „Tableau économique“, den „Trésor de la science économique“, wie seine Schüler es nannten. Darüber hinaus hat die physiokratische Lehre keine Entwicklung erfahren. Quesnay wendet sich dann im Alter von 75 Jahren mathematischen Studien zu und stirbt am 16. Dezember 1774 im Alter von 80 Jahren. Quesnays erster Schüler war der Marquis Victor de Mirabeau. Weiter werden als solche genannt: Dupont de Nemours, Gournay Buchseite 55 und andere in Frankreich, in Deutschland Schlettwein, Fulda, Schmalz, der Schweizer Isaak Iselin und der Engländer Tucker.

Ueber die Zeitverhältnisse vergleiche insbesondere: H. Taine, „Die Entstehung des modernen Frankreichs“, deutsch von Katscher (1877), ferner Thiers „L’histoire de la révolution française“ (6 Bände, 15. Auflage, 1881), von Sybel „Geschichte der Revolutionszeit“ (5 Bände, 1882).

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Das französische Königtum hat den französischen Staat geschaffen: äusserlich zusammengefügt und innerlich verschmolzen zu einer grossen volkswirtschaftlichen Gemeinschaft, die alle Aussicht auf glückliche Verhältnisse für ihre Mitglieder zu haben schien. Die Herrschaft der Engländer in Frankreich (1346—1453), welcher das Land schon fast hoffnungslos erlegen war, haben die französischen Könige durch Organisation und Einrichtung des ersten modernen stehenden Heeres (1439) beseitigt. Die damit Hand in Hand gehende Ausbildung eines Geldsteuersystems (Jacques Coeur) lieferte die hierzu unentbehrlichen Geldmittel. Die grössere Konzentration des Einkommens in der Hofhaltung förderte Kunst und Gewerbe ganz ausserordentlich. Damit wuchs auch das Ansehen und die Bedeutung des französischen Handels, der durch eine sehr energische Kolonialpolitik in nachhaltigster Weise unterstützt und begünstigt wurde.

In eben dieser Allmacht des französischen Königs lag indess auch der Keim zum Verderben, zunächst für das Wohl des französischen Volkes, und schliesslich für das Königtum selbst. Ludwig XIV. (1643—1715) hatte durch ein berüchtigtes Werbesystem seine königliche Armee von 180'000 Mann im Jahre 1672 rasch auf 400'000 Mann anwachsen lassen. Zeitweilig wurden z. B. alle Bauten Buchseite 56 verboten, um die Maurer zu zwingen, Soldaten zu werden. Im Besitze dieser damals mächtigsten Armee Europas fand der Ehrgeiz des Königs keine Grenze. Aber die Kosten der endlosen Kriege, zuletzt namentlich der Kämpfe um den gewinnbringenden spanisch - amerikanischen Handel, gingen mit den ebenfalls enormen Kosten der Hofhaltung weit über die Einkünfte des Staates hinaus, trotz der raffiniertesten Ausbildung des Systems der indirekten Steuern. Eine immer masslosere Verschuldung des Staates war unvermeidlich. Und gegen Ende der Regierung Ludwig’s XIV. kam es zum ersten grossen Staatsbankrott mit einer Summe von rund 2 Milliarden Francs. Bei alledem wurde der Luxus des Hofes immer raffinierter, seine Lebenshaltung immer ausschweifender, die Belastung des Volkes immer unerträglicher.

All diese schweren Missstände, die unter der Regierung Ludwigs XIV. schon deutlich genug begonnen hatten, dauern unter den beiden folgenden Königen an und wandelten alle früheren Segnungen des Königtums rasch in wachsendes Unheil. Das Princip, das Kalb im Leibe der Kuh aufzuessen und das laufende Jahr stets im voraus die Früchte des folgenden aufzehren zu lassen, wurde beibehalten. Dem Staatsbankrott unter Ludwig XIV. folgte ein zweiter in der gleichen Höhe zur Zeit des berüchtigten Börsen- und Aktienschwindlers Law (1671—1729), ein dritter unter Terray, denen sich bis zur grossen Revolution noch zwei weitere tief einschneidende Staatsbankrotte anschliessen. Seit Heinrich IV. bis auf das Ministerium Loménie sind die öffentlichen Verbindlichkeiten 56 Mal nicht eingehalten worden. Schon um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war der Staat unfähig, seinen ausgedehnten Kolonialbesitz zu halten. Die stattliche Kriegsflotte wurde aufgerieben. Die Zinsen der Staatsschulden betrugen 1755: 45 Millionen Francs, 1776: 106 Millionen Francs, 1789: 206 Millionen Buchseite 57 Francs. Zur letzteren Ziffer kommen noch 16 Millionen Francs für Spesen der Anleihevermittlung. 1778 schuldete der Hof dem Weinhändler 793'000 Francs, dem Fleisch- und Fischhändler 3 1⁄2 Millionen Francs. Alle diese Zustände konnten unmöglich von langer Dauer sein.

Das Bürgertum hat bei diesen Veränderungen unzweifelhaft viel Geld zu gewinnen verstanden. Es war selbstverständlich, dass dem König nicht unter 10% geliehen wurde. Dazu kamen die grossen Schuldaufnahmen des Adels, das allgemein eingeführte Steuer-Pachtwesen mit seinen Tausenden von Gelegenheiten, sich zu bereichern, die eigentümliche Einrichtung der Intendanten, die als die „32 Könige von Frankreich“ bezeichnet wurden u.s.w. Das Luxusgewerbe und der Export industrieller Erzeugnisse blühten. Bordeaux war damals nach London der bedeutendste Handelshafen Europas. Die Ausfuhr Frankreichs betrug in den Jahren 1720: 106 Millionen Francs, 1748: 192 Millionen Francs, 1788: 354 Millionen Francs. Frankreich versorgte die ganze Welt mit künstlerischen und kunstgewerblichen Erzeugnissen.

Aber trotz dieser ganz unzweifelhaften Zunahme des Wohlstandes in Bürgerkreisen war man auch hier mit den bestehenden Verhältnissen recht unzufrieden. Die häufigen Staatsbankrotte hatten auch die Bürger misstrauisch gemacht. Man hätte gern die Verwendung seiner, dem König geliehenen Gelder überwacht. Denn mit dem Staatsbankrott drohte auch den Staatsgläubigern Unheil. Aber statt dieser Ueberwachung der Verwendung der Staatsgelder war dem Bürgertum von damals nicht einmal seine Selbstverwaltung gesichert. Seit dem Jahre 1692 hatten die Städte sieben Mal eine Art Selbstverwaltung erhalten, die immer wieder aufgehoben wurde, um sie dann von der Krone für teures Geld wieder zurückkaufen zu lassen. Dazu kam der in der sonst so liebenswürdigen Gesellschaft Buchseite 58 schwer empfundene Mangel einer Gleichstellung des reich gewordenen Bürgertums mit Adel und Geistlichkeit. All diese Unzufriedenheit wurde von den bürgerlichen Schriftstellern in das Schlagwort „Emancipation des dritten Standes“ zusammengefasst, trotzdem andere Stände eigentlich mit weit mehr Berechtigung Grund zur Klage gehabt hätten.

Der Adel ging durch seine Teilnahme an dem so überaus luxuriösen Hofleben des Königs nur zu rasch der Verarmung entgegen und ward durch die gegebenen Verhältnisse geradezu gezwungen, seine übermässigen Ausgaben auf den von ihm abhängigen Bauernstand abzuwälzen. Die Masse der Geistlichkeit war arm geblieben, und wenn sie auch formell das Privileg der Steuerfreiheit besass, so wandte sich doch von Zeit zu Zeit der König um Geldgeschenke an den Klerus, wobei dann selbst die armen Landgeistlichen mitsteuern mussten.

Am schlechtesten von allen erging es dem Bauernstand. Die Beziehungen zwischen ihm und dem Adel konnten um so leichter eine höchst drückende Form annehmen, als die Mehrzahl der Adligen durch dauernde Anwesenheit bei Hofe mit ihren bäuerlichen Pächtern garnicht direkt, sondern stets durch Vermittelung ihrer Beamten verkehrten. Durch die Verbindung der längst veralteten, aber immer noch zu Recht bestehenden Feudalleistungen mit dem indirekten Steuersystem des Merkantilismus kam eine fast unübersehbare Zahl von Forderungstiteln zusammen, welche ebenso viel Handhaben zu ungerechten Bedrückungen der Bauern boten. So gab es z. B. neben der allgemeinen direkten persönlichen Staatssteuer den kirchlichen Zehnt, Frohndienste, Zölle aller Art, hohe Handänderungs-Gebühren für den Grundbesitz, herrschaftliche Kelter- und Mühlenmonopole, das herrschaftliche Jagdrecht, herrschaftliche Taubenschläge, Wegebauten für alle mögBuchseite 59lichen Zwecke, die Getränkesteuer, Marktgelder, Backofengelder, Gerichtsabgaben der verschiedensten Art u.s.w. Soweit die Bauern freie Grundeigentümer waren, lastete auf ihnen womöglich noch härter die Hand der staatlichen Steuerpächter, die selbstverständlich ihre Aufgabe darin erblickten, das vom Staate gepachtete Recht der Steuererhebung in einer für ihre private Tasche möglichst vorteilhaften Weise auszuüben. Bei alledem waren die Einnahmen der Landwirte gering, denn der Preis der landwirtschaftlichen Produkte wurde seit Colbert’s Tod (1683) durch Ausfuhrverbote und Binnenzölle aller Art gewaltsam möglichst niedergehalten. Wein musste z. B. bei einer Lieferung aus den östlichen Provinzen nach Paris vierzig Mal verzollt werden. Nur den Günstlingen des Königs war es erlaubt, Getreide im Inlande zum Zwecke einer Ausfuhr nach dem Auslande abgabefrei aufzukaufen.

Die Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung nahm unter solchen Umständen furchtbare Dimensionen an. Etwa seit dem Jahre 1672 war die Hungersnot auf dem Lande fast permanent geworden. Vauban sagt 1699 in seiner „Dîme royale“: „Fast der zehnte Teil des Volkes bettelt. Von den anderen neun Zehnteln können fünf den Bettlern kein Almosen geben, denn sie bedürften dessen eigentlich selbst. Drei Zehntel sind auch noch überaus schlecht daran, und das letzte Zehntel umfasst etwa 100'000 Familien, von denen vielleicht 10'000 "à leur aise" leben. “ — Im Jahre 1715 sollen 6 Millionen Franzosen den Hungertod gestorben sein. Im Jahre 1725 lebte ein Drittel der Landbevölkerung der so fruchtbaren Normandie von Feldkräutern. In hundert Jahren soll die Bevölkerung Frankreichs von 23 auf 12 Millionen zurückgegangen sein. Die procentuale Abnahme der ländlichen Bevölkerung war natürlich eine noch weit stärkere. Was nicht überhaupt auswanderte, das zog in die Städte und namentlich nach Paris, um die Buchseite 60 Reihen der Proletarier zu mehren, oder es schloss sich jenen Banden an, die besonders den Salz- und Tabakschmuggel oder gar das Räuberhandwerk betrieben.

Man wird es unter solchen Umständen begreiflich finden, wenn Taine die grosse französische Revolution die „siebente Jacquerie“ (französischer Bauernkrieg) nannte, die allgemein und endgültig war. Nur in der Vendée hatten sich bessere Beziehungen zwischen Adel und Bauern erhalten, und deshalb wurde hier eine echt konservative Gesinnung für den König noch über die Revolutionsjahre hinaus bewahrt.

Das nationalökonomische System, welches solche Zeitverhältnisse zum Ausgangspunkt hatte, war vor dem Irrtum sicher, im Gelde und in einer blühenden Exportindustrie die Elemente des Glücks und der Wohlfahrt der Völker zu erblicken. Jetzt ging man vielmehr von der grundlegenden Frage aus: „Wie muss die wirtschaftspolitische Ordnung eines Landes beschaffen sein, um ein Volk auf gutem Boden, unter günstigen klimatischen Verhältnissen vor Not zu bewahren ?“ Und die Antwort von François Quesnay kam naturgemäss vor allem zu der fundamentalen Bedeutung des gerade damals so sehr verachteten und bedrückten Bauernstandes. Denn — so sagte Quesnay — „die Wohlhabenheit, der Reichtum eines Volkes, setzt sich zusammen aus der Summe jener materiellen Güter, welche in der einen oder anderen Form dem Boden entnommen sind.“ Jede Vermehrung der Güter hat deshalb ein vermehrtes Schöpfen von Stoffen aus dem Boden zur Voraussetzung. Und nachdem diese Stoffe vom Boden losgelöst sind, kann im weiteren die menschliche Arbeit dieselben zwar veredeln Buchseite 61 und verbessern für den Verbrauch, aber sie kann sie niemals vermehren. Die Arbeit von Gewerbe und Handel ist deshalb nicht eigentlich produktiv. Volkswirtschaftlich produktiv ist nur die auf den Boden verwendete Arbeit: die Landwirtschaft, Forstwirtschaft, der Bergbau und die Fischerei oder in einem Wort: die Urproduktion. Und diese Arbeit ist dann und in soweit produktiv, als sie bei der Produktion weniger verzehrt, als sie erzeugt. Der Boden aber ist deshalb die einzige und alleinige Quelle alles dessen, was wir Güter und Reichtum nennen.

Die wichtigste Urproduktion ist die landwirtschaftliche Produktion und zwar speziell die Getreideproduktion. Im Mittelpunkte aller wirtschaftspolitischen Erwägungen steht deshalb die Frage nach der richtigen Getreidepreispolitik. Die Getreidepreise sollen nicht zu hoch sein, damit das Volk nicht Not leiden muss. Sie sollen aber auch nicht zu niedrig sein, um den Bauer nicht vom Acker zu verjagen und die Landbevölkerung im Elend verderben zu lassen. Es handelt sich also um mittlere Getreidepreise, bei denen Bauer und Bürger bestehen können. Diese guten, mittleren Getreidepreise sollen nicht vorübergehend, sondern von Dauer sein. Und wenn diese dauernd guten Getreidepreise den Pächter wohlhabend machen, dann kann er sein Betriebskapital vermehren, den Betrieb intensiver gestalten und damit das Volk immer besser vor Not sichern. Er kann dem Grundeigentümer höhere Pachtrenten zahlen, womit die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung für industrielle Produkte allgemein wächst. Und da mit der Höhe der Getreidepreise auch die Arbeitslöhne direkt proportional steigen und fallen, so hat auch der Lohnarbeiter aus einer Besserung der Getreidepreise zunächst keinen Nachteil, wohl aber durch die wachsende landwirtschaftliche Wohlhabenheit den Vorteil gesteigerter Arbeitsgelegenheit. Sind umgekehrt die Buchseite 62 Getreidepreise dauernd niedrig, dann wird die Getreideproduktion eingeschränkt, die Zunahme des Reichtums des Volks kommt ins Stocken, die Arbeitslöhne werden billiger, die Arbeitsgelegenheit geringer, und alle Welt kommt in Zahlungsschwierigkeiten. Deshalb hat François Quesnay an die Spitze seiner berühmtesten nationalökonomischen Schrift, des „Tableau économique“ vom Jahre 1758 das Motto gesetzt: „Pauvre paysan, pauvre royaume, pauvre royaume, pauvre roi“ — auf deutsch: „Ist der Bauer arm, ist auch das Reich arm, hat der Bauer Geld, so hat’s die ganze Welt.“

Dieses Hauptziel: dauernd gute, mittlere Getreidepreise, wäre nach Quesnay zu seiner Zeit zu erreichen gewesen durch freie Getreideausfuhr mit Ausfuhrprämie bei niedrigen inländischen Getreidepreisen, durch Getreideeinfuhrverbot, ausgenommen in Teurungsjahren, und durch Verbesserung der inländischen Verkehrswege. Damit aber der Bauer in freudiger Arbeit sich und der Gesamtheit die reichen Vorteile aus den besseren Getreidepreisen erwerbe, verlangt François Quesnay gleichzeitig: Beseitigung der damals allgemein üblichen Zwerg- und Teilpachtungen durch ebenso allgemeine Einführung grösserer Pachtgüter, vollständige Abschaffung aller Feudallasten und feudalen Unfreiheiten jeder Art, Aufhebung des Flurzwanges, Befreiung vom Milizdienst und last but not least: Aufhebung aller direkten und indirekten Steuern des Merkantilismus und Deckung des Staatsbedarfs durch eine einzige Staatssteuer, welche auf den Reinertrag des Bodens gelegt wird.

Auch dieser steuerpolitische Vorschlag Quesnay’s steht in engstem Zusammenhange mit seiner Auffassung des Bodens als ausschliessliche Quelle des Reichtums und hat naturgemäss die allgemeine Einrichtung grosser Pachtgüter und dauernd gute, mittlere Getreidepreise zur VorausBuchseite 63setzung. Die Ausscheidung dieses Boden-Reinertrags erfolgt auf landwirtschaftlichem Boden nach Quesnay in folgender Weise:

Die Grundherren haben den Boden in Kultur gebracht, Häuser gebaut und andere Meliorationen aller Art ausgeführt. Sie behalten auch ferner die Oberleitung des Betriebes. Dafür beziehen sie die Pachtrente, welche Quesnay „Produit net“, also Reinertrag, nennt. Dieser Reinertrag setzt sich nach ihm zusammen aus dem Ertrage der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens plus Zinsen für die ausgeführten Meliorationen. Der Wert der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens deckt sich allem Anschein nach mit dem ursprünglichen Ertragswert des Bodens, der nach seiner einmaligen Ermittelung unverändert bleibe. Veränderlich ist in dem Quesnay’schen Grundwertbegriff das Meliorationskapital und die Höhe des Zinsfusses, zu welchem dasselbe dem Grundherrn von Seiten des Pächters verzinst werden muss. Dieser Zinsfuss soll gesetzlich und möglichst hoch — mindestens auf 10% — festgesetzt werden, damit die Grundeigentümer sich zur Ausführung von Meliorationen möglichst angeregt fühlen. In analoger Weise wäre die städtische Mietsrente zu ermitteln, um so die eine Staatssteuer auf dem Boden-Reinertrag gleichmässig durch das ganze Land auslegen zu können, nach Massgabe eines Katasters, dessen Steuern nicht die Steuerpächter, sondern die Provinzen einziehen und an den König abführen würden, der keinen Staatsschatz anlegen, aber auch keine Staatsschulden machen soll. Kommt aber der Staat in Geldnot, dann würden die Grundbesitzer und Landwirte freiwillig aushelfen.

Im Gegensatze zu den Urproduzenten, welche dem Boden die Güter abgewinnen, sind die Manufakturisten und Händler zwar nicht direkt unproduktiv, aber der von ihnen erzeugte Mehrwert wird von den Kosten der darauf Buchseite 64 verwendeten Arbeit so ziemlich verzehrt. Machen trotzdem Händler, Gewerbetreibende und Industrielle grosse Gewinne, so geschieht das nach Quesnay immer auf Grund von Privilegien und auf Kosten von anderen Volksklassen. Aus diesen Quellen fliesst dann jener unheilvolle Geldreichtum, der dem Lande leicht gefährlich werden kann und den die Merkantilisten so sehr begünstigt haben, dass das Volk und das Land dabei verarmt ist. Die reinen Handelsstaaten, wie Genua, Venedig und Holland, seien deshalb nicht als Staaten im eigentlichen Sinne, sondern nur als Zweigniederlassungen einer internationalen Gesellschaft von Grosskaufleuten zu betrachten, die jeden Staat ausbeuten, sobald sie können. Man solle deshalb auch keinen Unterschied zwischen fremden und einheimischen Kaufleuten machen, sondern hier allgemein möglichst freie Konkurrenz zulassen, um die Gewinne in angemessener Weise zu mindern. Statt mit den Merkantilisten die Getreideausfuhr mit der Einfuhr der gewerblichen Produkte zu verbieten, um die Getreideeinfuhr mit der Ausfuhr gewerblicher Produkte frei zu lassen, will François Quesnay gerade umgekehrt die Einfuhr von Getreide im Princip verbieten, die Ausfuhr von gewerblichen Produkten mindestens nicht begünstigen, um statt dessen die Getreideausfuhr zu fördern und die Einfuhr gewerblicher Produkte möglichst frei zu geben.

François Quesnay, der seine Laufbahn als Chirurg begann und schliesslich Leibarzt des Königs von Frankreich geworden war, hat sich erst im Alter von etwa 60 Jahren dem Studium der volkswirtschaftlichen Fragen zugewendet. Dieser Umstand hat ihn zum mindesten gehindert, eine rege Beziehung und Wechselbeziehung Jahre hindurch mit dem wirtschaftspolitischen Leben seiner Zeit zu unterhalten. Buchseite 65 Rechnen wir dazu seine Neigung für eine metaphysisch - philosophische Ausdrucksweise, so wird es leicht erklärlich, dass die von ihm aufgefundenen neuen volkswirtschaftlichen Ideen sich nicht zu jener vollen Klarheit durchgerungen haben, mit der sie erst allgemein und gleichmässig verständlich geworden wären. Keiner seiner Schüler, Turgot eingerechnet, hat seine Ausführungen nach ihrem Geiste ganz und richtig erfasst. François Quesnay hat sich deshalb bald mit Verstimmung von der Nationalökonomie überhaupt abgewendet. Die französische Revolution und die neuere Zeit haben zwar von Quesnay die Bedeutung der Grundsteuer und des Grundsteuer-Katasters gelernt, aber kein Gesetz dieser Art lässt auch nur im entferntesten ersehen, dass es die Quesnay’schen Ideen mit Verständnis aufgenommen hätte. Die kleinen Versuche, welche der Markgraf Karl Friedrich von Baden in den Dörfern Dietlingen, Balingen und Theningen angestellt hat, beweisen nur, dass ihm die Quesnay’sche Lehre nicht in der rechten Weise übermittelt worden. Füge ich noch hinzu, dass Adam Smith viel zu viel Engländer seiner Zeit war, als dass er Quesnay hätte ganz verstehen und richtig kritisieren können, so kann es nicht überraschen, dass das physiokratische System der Nationalökonomie bis in die Gegenwart hinein fasst völlig verkannt wurde. Erst die umfassenden Spezialarbeiten von Professor August Oncken in Bern haben uns neuerdings dessen eigentlichen tieferen Wert enthüllt, und selbst mit diesen ausgezeichneten Vorarbeiten müssen wir dem Alter und der Schreibweise Quesnay’s immer noch so weit Rechnung tragen, dass wir im Zweifel seine Sätze stets zu seinen Gunsten in die heute übliche Ausdrucksweise übertragen.

Es ist dies meines Erachtens von um so grösserer Bedeutung, als jetzt erst in der nationalökonomischen EntBuchseite 66wickelung der modernen Kulturvölker die Zeit beginnt, für welche François Quesnay eigentlich gedacht und geschrieben hat. Dass ihm selbst diese Erkenntnis verschlossen blieb, das hängt in erster Linie wohl mit seiner überwiegenden Stubengelehrsamkeit und dann auch mit seinen, der damaligen naturrechtlichen Richtung entsprechenden, unzureichenden historischen Kenntnissen zusammen. Sonst hätte er wissen müssen, dass die Völker in ihrer Entwickelung nicht in geradem Wege der besten Ordnung ihrer materiellen Verhältnisse zustreben. Die Völker lieben hier vielmehr recht grosse Krümmungen oder, wie Herder einmal gesagt hat: „Die Staatsgemeinschaft ist ein eisernes Vieh, das die Not hart ankauen muss, ehe es zum Richtigen greift.“ Die kapitalistische Entwickelung, welche mit der Zerstörung der lehensstaatlichen Organisation der Völker bereits in den Kreuzzügen begonnen hatte, war mit der merkantilistischen Uebertreibung des Kapitalismus als Absolutismus noch längst nicht zum Abschluss gekommen. Da musste zunächst die Herrschaft des Industriekapitals nachfolgen, für welche Adam Smith und seine Schüler die Theorien geliefert haben, und dann musste in neuester Zeit die Herrschaft des Bank- und Börsenkapitals kommen, für welche wir noch nicht einmal eine diagnostisch zusammenfassende neueste nationalökonomische Litteratur besitzen, die über das hinausginge, was Albert Schäffle in seinem „Kapitalismus und Sozialismus“ vom Jahre 1870 bereits gesagt.

Jetzt erst beginnt die Zeit auszureifen für die Quesnay’sche Erkenntnis, dass das Glück und die Wohlfahrt der Völker sich nationalökonomisch nicht in dem Begriff des Kapitals erschöpft, sondern auf dem Acker in der Entwickelung der Ideen beginnen muss. Ich bin deshalb der Meinung, dass gerade das physiokratische System Buchseite 67 Quesnay’s uns eine grosse Zahl dauernder nationalökonomischer Wahrheiten überliefert hat, trotzdem die nationalökonomischen Lehrbücher bisher darin zumeist nur ein Konglomerat von schwer verständlichen Irrtümern erblickten. Als solche dauernde Wahrheiten nenne ich insbesondere:

1. Der Begriff Reichtum der Völker — in volkswirtschaftlich-absolutem, nicht historisch- relativem Sinne — muss mit jenen Stoffen beginnen, welche der Erde entnommen werden. Und deshalb ist und bleibt die Mutter Erde die alleinige Quelle alles Reichtums.

2. Jede einseitige Herrschaft des Kapitalismus, der kapitalistischen Exportindustrie und des Exporthandels muss nach einer gewissen Zeit zur Verarmung und Verelendung der Volksmassen führen, selbst dann, wenn anfangs die wirtschaftliche Lage des Volkes sich dabei verbessert hat.

3. Der Wohlstand keines Teils der Nationen ist in gleichem Masse mit dem Gesamtwohl des Volkes inniger verwachsen, als der Wohlstand der Bauern und der Landwirte.

4. Für diesen landwirtschaftlichen Wohlstand sind in erster Linie der Staat und die Gesetzgebung verantwortlich, weil beide für eine rationelle Getreidepreis- und Grundwertspolitik verantwortlich sind.

5. Aufgabe einer rationellen Getreidepolitik ist es, dauernd gute und möglichst stetige mittlere Getreidepreise zu erzielen, bei denen Bauer und Bürger bestehen können.

6. Der wahre und natürliche Wert des landwirtschaftlichen Grundbesitzes wird gebildet aus dem ursprünglichen Ertragswert plus Summe des rationell investierten Kapitals.


Adam Smith, Robert Malthus, David Ricardo
und die eigentliche Freihandelsschule.

Vorbemerkungen und Litteratur: Die Nationalökonomie als „reine“ Wissenschaft mag immerhin die sogenannten „Vorläufer“ von Adam Smith und Andern eingehend berücksichtigen. Die Nationalökonomie als „praktische“ Wissenschaft wird sich stets erinnern müssen, dass es ihre ernste und schwierige Aufgabe ist, den Plan zu zeichnen, nach dem die Gesetzgebung der Gegenwart und der nächsten Zukunft im Interesse einer inneren Wiedergesundung unserer volkswirtschaftlichen Verhältnisse ausgebaut werden muss, ehe es zu spät ist. Die deshalb von uns hier angewendete kairologische Methode lässt im Zweifel jeden für diesen einen grossen praktischen Zweck überflüssigen Wissensstoff bei Seite. Gleichzeitig gehen wir dabei auch von der praktischen Erfahrung aus, dass Männer, welche wirklich nachhaltig auf die volkswirtschaftliche Praxis einwirken, ihre Stärke in der Durchdenkung dieser Zeitverhältnisse, niemals aber im Abschreiben ihrer sogenannten „Vorläufer“ suchen und finden werden. Wir beschäftigen uns hier deshalb speziell nur mit Adam Smith, Robert Malthus und David Ricardo.

Von jenen Nationalökonomen, welche das damit in seinen Elementen gegebene Freihandelssystem dann in der Schule und in der Volksversammlung populär gemacht haben, darf es genügen, unten im Zusammenhang der Darstellung die Namen zu nennen.

Adam Smith, geboren im Jahre 1723 in dem schottischen Städtchen Kirkcaldy, wird im Jahre 1751 Professor der Logik und Moralphilosophie in Glasgow. Er geht im Februar 1764 mit dem jungen Herzog von Buccleuch, dessen Ausbildung er leitete, nach Frankreich und der Schweiz, lernt in Paris die Philosophen und die Nationalökonomen der Quesnay’schen Schule kennen, kehrt im Jahre 1766 nach Kirkcaldy zurück, wo er 1776, also nach 10 Jahren, sein berühmtes Werk über den Reichtum der Nationen: „An Inquiry into the nature and causes of wealth of nation“ beendet. Er wird darnach Mitglied der obersten Zollbehörde für Schottland in Edinburg und stirbt 1790.

Thomas Robert Malthus lebt in der Zeit von 1766 bis 1834. Nachdem er Geistlicher geworden war, nimmt er 1797 an der politischen Bewegung für und gegen die englische Armenrechtsordnung Buchseite 69 mit der Ausarbeitung einer Schrift Anteil, die indessen nicht veröffentlicht wurde. Im folgenden Jahre, 1798, erschien zuerst anonym sein berühmtes Werk: „Essay on Population“, in welchem er namentlich Godwin und Condorcet entgegentrat, die davon träumten, dass es bei dem Fortschritt der Kultur möglich werde, mit einer halben Stunde täglicher Arbeit genug zu produzieren, um den Rest des Tages der geistigen Ausbildung und der Vervollkommnung zu widmen, die schliesslich auch die Herrschaft über Alter, Krankheit und Tod gewinnen werden. Malthus führt im Jahre 1800 auch die hohen Getreidepreise auf die Uebervölkerung zurück. Seine Reisen von 1797 bis 1812 und seine historischen Studien sind der Verteidigung der einmal eingenommenen theoretischen Stellung gewidmet. Im Jahre 1805 wird er Professor für Geschichte und Nationalökonomie an der hohen Schule der ostindischen Kolonie in Haileybury.

David Ricardo wird im Jahre 1778 in London als Sohn eines holländischen Juden geboren, sein Vater war strenggläubig. Nach kaum vollendetem vierzehnten Lebensjahre ist der Sohn in das Geschäft des Vaters eingetreten, noch im Jünglingsalter aus Rücksichten auf sein geschäftliches Fortkommen zur anglikanischen Kirche übergetreten und wird deshalb von seinem Vater verstossen. Mittellos, aber mit Fähigkeiten und ausgeprägtem Geschäftssinn ausgestattet, wird er dann Privatmakler in der City of London, macht in der damals unruhigen Zeit Arbitragegeschäfte in Wechseln und Wertpapieren, spekuliert auch mit Erfolg in Getreide und ist bereits mit 25 Jahren mehrfacher Millionär. Jetzt widmet er sich der Wissenschaft und zwar vor Allem der Nationalökonomie, welcher eine ganze Reihe von Gelegenheitsschriften gehören. Sein Hauptwerk, in welchem diese Gelegenheitsschriften mit verwendet werden, erschien zuerst 1817 unter dem Titel: „Principles of political Economy und Taxation“ Er wird 1797 Mitglied des englischen Parlaments und stirbt 1823.

Ueber die Zeitverhältnisse vergleiche insbesondere:

Ashley: „Englische Wirtschaftsgeschichte“ (1896)
Schanz: „Englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters“ 1. 2 (1889).
Ochenkowski: Englands wirtschaftliche Entwickelung im Ausgang des Mittelalters. (1879)
Rogers: „A history of agricultur and prices in England“.
W. Naudé: „Getreidehandelspolitik der europäischen Staaten“ 1. 2 (1896, 1901). Buchseite 70
Tooke — Newmarch: „Geschichte der Preise“ (1859).
Cunningham: „Growth of English industry and commerce“ (1890).
Nasse: „Ueber mittelalterliche Feldgemeinschaft und Einhegungen des XVI. Jahrhunderts“ (1869).
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Das Eindringen der Geldwirtschaft zeigt in der englischen Geschichte früh schon die Tendenz, die Masse des Volkes vom Grund und Boden loszulösen, den Bauernstand zu vernichten.

Schon unter Eduard III. (1327 bis 77) kommt es zur Trennung des Parlaments in Ober- und Unterhaus, welch letzteres das Steuer - Bewilligungsrecht und das Petitionsrecht erhält: die Vertreter der Geldwirtschaft hatten damit als Mitregenten des Landes ihre selbständige verfassungsrechtliche Organisation erhalten. Sofort beginnt eine zielbewusste merkantilistische Gewerbe-Politik, die sich speziell dem Hauptgewerbe der damaligen Zeit, dem Wollgewerbe, widmet: die Einwanderung fremder Weber wurde begünstigt, das Tragen fremder Tuche verboten, die Wollausfuhr an Privilegien gebunden und damit indirekt in den Händen der Privilegierten monopolisiert, die Entwickelung der eigenen Handelsmarine und des eigenen Aussenhandels thunlichst begünstigt.

Zunächst wirkte dieses Aufblühen von Handel und Gewerbe vorteilhaft auf die Lage der englischen Bauern zurück, die ihre überflüssigen Produkte jetzt leichter als vorher versilbern konnten, und mit dem so gewonnenen Gelde schon im dreizehnten Jahrhundert begannen, sich aus dem gutsherrlichen Verbande loszukaufen, um eine freie Bauernschaft zu werden.

Da kommt mit den Jahren 1348/49, 1361/62 und 1368/69 das „Grosse Sterben“ nach England, der Buchseite 71 „Schwarze Tod“, der nach den Chronisten die Hälfte, nach Roger 1⁄10 der gesamten englischen Bevölkerung dahingerafft haben soll. Namentlich die Zahl der Arbeiter war damit vermindert worden. Deshalb stieg jetzt der Arbeitslohn rasch. Gleichzeitig waren mit verstärktem Eifer die Bauern bemüht, in der bereits Sitte gewordenen Form, durch Zahlung einer gewissen Geldsumme sich aus der Abhängigkeit vom Gutsherrn zu befreien. So wurde der Arbeitermangel der grossen Grundherrschaften ein derart empfindlicher, dass es schwierig wurde, die Felder zu bestellen und die Ernährung der Bevölkerung des Landes in Gefahr kam. Gleichzeitig wurde durch die Preissteigerung für Wolle und Tücher die Wollproduktion mit der Schafhaltung immer gewinnbringender, sodass die reich gewordenen Tuchhändler, die sich seit 1364 in London zu einer Zunft zusammengeschlossen hatten, schon anfingen, Grundherrschaften zusammen zu kaufen, um sie mit grossen Schafheerden zu besetzen.

Die englische Bauernschaft war damit zwischen zwei Mühlsteine gekommen. Auf der einen Seite die alten Grundherren, welche infolge des Arbeitermangels nicht nur kein weiteres Loskaufen der Bauern aus dem Gutsverbande gestatteten, sondern auch die bereits freigekauften Bauern zu Arbeitsleistungen auf der Gutsherrschaft zurückzuzwingen bemüht waren, und für diese Leistungen eine ihren Verhältnissen angepasste gesetzliche Lohntaxe erwirkt hatten — auf der anderen Seite die beginnende Ausdehnung der Latifundien für Schafhaltung, die natürlich von Anfang an dort am wenigsten Halt machte, wo ein freier Bauernhof im Wege lag. Das kurz vorher erwachte Selbstbewusstsein der Bauern wurde durch alles das natürlich tief verletzt. Im Jahre 1381 kam es deshalb zu dem ersten grossen Bauernaufstand unter Wat Tyler und Jack Straw. Nach dessen Niederwerfung wurden auch die freien Bauern noch Buchseite 72 gewaltsamer in den gutsherrlichen Verband wieder eingezogen, die kapitalistische Latifundienbildung zum Zwecke der Wollproduktion ging nun den Bauern gegenüber noch rücksichtsloser vor. Es kam zu immer neuen Bauernaufständen (1450 und später), die indes alle erfolglos blieben. Der Bauer aber war damit in den Augen der herrschenden Klassen rechtlos geworden. Die Latifundienbildung der Wollinteressen nahm so sehr überhand, dass Thomas Morus (1478 –1535) in seiner Denkschrift über die „Männer verzehrenden Schafe“ ausführen konnte: es seien in 60 Jahren 4 bis 500 Bauerndörfer durch Einhegungen für Schafheerden vernichtet worden: ein grosser Wollkaufmann in London habe den Grundbesitz von 4 bis 5000 „Gemeinen“ zerstört; ein grosser Schafzüchter habe den Untergang von 1000, 1200 und 1400 Menschen zu verantworten. — Die englische Kirchentrennung führte zur Confiskation des Kirchenvermögens durch den König und lieferte so auch diesen Grundbesitz den kapitalistischen Interessen aus. Und nachdem mit dem Ausbruch der Reformationskriege auf dem Continent die Stockung in der Tuchausfuhr immer grösser wurde, und wachsende Arbeitermassen in der Wollmanufaktur ihre Erwerbsgelegenheit verloren hatten, kam es unter der Mitwirkung der auch in England erwachten Reformationsideen im Jahre 1549 zu einem grossen Bauern- und Proletarieraufstand, der schliesslich im Blute erstickt wird.

Das Schicksal des englischen Bauernstandes war damit entschieden. Das Land wurde von nun an ausschliesslich nach kapitalistischen Gesichtspunkten regiert und verwaltet. Um auch der Wollmanufaktur wenigstens eine Art unfreier Arbeiter zu liefern, hat man unter Eduard VI. (1547 bis 53) durch Gesetz den siebenjährigen Lehrzwang eingeführt. Und als auch dieses Mittel nicht zu genügen schien, die vom Grund und Boden losgerissenen und seitBuchseite 73dem fluktuierenden Arbeitermassen zu bändigen, wurde unter der glorreichen Regierung der Königin Elisabeth im Jahre 1601 das berüchtigte englische Armengesetz erlassen, welches die arbeitsfähigen Armen zur Arbeit verpflichtet. Und dieses Armengesetz kam mit solcher Strenge zur Durchführung, dass nach den Worten eines Zeitgenossen in wenigen Jahren 70'000 arbeitsfähige aber arbeitsunwillige Proletarier „wie Krammetsvögel an den Bäumen aufgehängt“ wurden. So zwang man das englische Volk unter die Herrschaft des Geldes, nachdem man den Bauernstand proletarisiert hatte.

Die Interessen der Wollmanufaktur wurden in der denkbar sorgsamsten Weise gesetzlich geschützt. Nach der Auslieferung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes an die Wollproduktion hat man durch die vorgenannten Gesetze das auf die Lohnarbeit angewiesene Volk gefügig gemacht und das Verbot der Einfuhr fremder Wollwaaren in strengster Weise gehandhabt; Uebertretungen des Verbots der Ausfuhr von Schafen, Lämmern und Böcken wurden im Wiederholungsfalle mit dem Tode bestraft und das Verbot der Ausfuhr von Wolle für Verkäufer wie Schiffseigentümer hart geahndet. Dazu kam ein ganzes System von Verhütungsmassregeln dieser verbotenen Handlungen. Wolle durfte im Inlande nur in Ballen von Leder oder Packleinwand, auf deren Aussenseite in drei Zoll langen Buchstaben das Wort „Wolle“ stand, verpackt und nur zwischen Auf- und Niedergang der Sonne zu Pferd oder Wagen transportiert werden. Jeder Besitzer von Wolle innerhalb zehn Meilen von der Küste musste binnen drei Tagen nach der Schafschur dem nächsten Zollbeamten die Anzahl der Fliesse und deren Aufbewahrungsort, und bevor er davon etwas wegschaffte, Zahl und Gewicht der Fliesse, Namen und Wohnort des Käufers sowie den Bestimmungsort des Transports schriftlich anzeigen. Verboten war ferner die Ausfuhr Buchseite 74 von Walkererde und Walkerthon, weil beide zur Bereitung und Reinigung der Wollfabrikate als unentbehrlich galten. Verboten war aber auch die Ausfuhr von Pfeifenthon, weil der Pfeifenthon vom Walkerthon schwer zu unterscheiden war. Dazu kam eine fortwährende Ausdehnung des englischen Kolonialbesitzes, der sich bald über die ganze Erde erstreckte und der Abschluss von Handelsverträgen, wie der berühmte Methuen-Vertrag zwischen England und Portugal vom Jahre 1703, wonach sich Portugal verpflichtete, den Zoll auf englische Wollwaren nicht weiter zu erhöhen, während England gehalten war, die portugisischen Weine gegen Zahlung von nur 2⁄3 des für französische Weine geltenden Zolls zuzulassen.

Den Aufgaben der Getreidepolitik gegenüber war diese geldwirtschaftliche Ordnung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse lange Zeit hindurch ziemlich ratlos. Man versuchte es mit dem Einfuhrverbot, mit Schutzzöllen in der verschiedensten Höhe wie mit Freihandel, und keine dieser Massregeln konnte die Beunruhigungen durch Hungersnotrevolten beseitigen. Da kam man gelegentlich des Regierungsantritts des Oraniers Wilhelm III., des Königs „von Parlamentes Gnaden“, im Jahre 1698 auf den Gedanken, auch die Getreideproduktion — nach den herrschenden merkantilistischen Grundsätzen — durch Exportprämien in Verbindung mit hohen Einfuhrzöllen in ein Exportgewerbe zu verwandeln. Um dem Könige die Zahlung dieser Exportprämie zu ermöglichen, wurde die Einführung einer allgemeinen Grundsteuer zugestanden. Und um auch die Interessen des englischen Handels und der englischen Rhederei mit dieser Massregel zu verknüpfen, wurde bestimmt, dass diese Exportprämie für Getreide im Betrage von etwa 16% der damaligen Weizenpreise nur dann gezahlt werde, wenn der Schiffseigentümer und mindestens 2⁄3 der Schiffsmannschaft englische Unterthanen Buchseite 75 seien. So kam das berühmte englische Ausfuhrprämien - Gesetz für Getreide vom 5. Mai 1698 zu stande, welches die Technik des Getreidebaus und der Landwirtschaft in den englischen Seegrafschaften — in welchen so wie so die Wolle lästigen Ueberwachungen unterstellt war — ganz ausserordentlich gefördert hat.

Die rücksichtslose Begünstigung der Fabrikanteninteressen war in der Gesetzgebung allgemein durchgeführt worden. So hatte man z. B. den Zoll auf gebleichtes Garn abgeschafft, die Ausfuhr von fertiger Leinwand durch Prämienzahlung begünstigt und die Einfuhr von fremdem Leinen durch hohe Einfuhrzölle gehemmt. Die Ausfuhr von rohen Häuten und gegerbtem Leder war verboten, ebenso die Ausfuhr von rohen Tüchern — die sollten erst im Lande gefärbt werden —, wie auch die Schuhe im Lande verfertigt werden sollten. Verboten war ferner die Ausfuhr von Metallen, die Ausfuhr von Werkzeugen, von gelernten Arbeitern u.s.w. Das ganze englische Reich schien nur zu dem Zwecke gegründet zu sein, eine Nation von „Kunden“ aufzuziehen, die aus den Werkstätten der englischen Fabrikanten alles, womit diese sie versorgen können, zu möglichst hohen Preisen kaufen müssen. Um die Gewinne der Fabrikanten und Händler thunlichst zu mehren, wurden dem ganzen Lande die Kosten von Millionen für Kriege aufgebürdet, die mit Soldtruppen gegen Holland, Spanien und Frankreich geführt wurden, um diesen Ländern ihren wertvollsten Kolonialbesitz, der ein höchst ergiebiges Ausbeutungsobjekt war, zu entreissen. Wo auch nicht gleichzeitig sogenannte „höhere politische Gesichtspunkte“ noch hinzukamen, griff der Staat ohne jedes Bedenken zum Krieg, als Mittel zur Bereicherung der englischen Unternehmer. So führte England z. B. im Jahre 1755 einen Krieg mit Senegal, um für die englischen Kaufleute dort das Gummi-Monopol zu erwerben.

Buchseite 76 All diese in die Augen fallenden Begünstigungen des englischen Unternehmertums wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überflüssig, weil die Produktions- und Verkehrstechnik in England solche Fortschritte gemacht hatte, dass die englische Ware auf Grund ihres niedrigen Verkaufspreises die Märkte aller Länder zu beherrschen vermochte. Warum also durch höchst komplizierte und vielfach schon recht lästig empfundene staatliche Massnahmen, den politischen Nachbarn auch ferner ein unerwünschtes Beispiel zur Nachahmung geben? Auch das englische Unternehmerinteresse neigte jetzt aus wohlverstandenem eigenem Interesse überwiegend zur möglichsten Freiheit des wirtschaftlichen Verkehrs.

Nicht minder einschneidend hatten sich die Verhältnisse der Getreideversorgung geändert. Der grosse europäische Getreidehandel, welcher in Russland, Polen, Livland und Preussen seine Massen sammelte, um sie fast der ganzen europäischen Meeresküste entlang zu verfrachten, besass in dem England nahe gelegenen Freihafen Amsterdam einen Centralstapelplatz, in welchem immer solche gewaltige Getreidemassen umgeschlagen wurden, dass auch für England die Gefahr einer Hungersnot im Falle einer ungenügenden inländischen Ernte ausgeschlossen schien. Die Notwendigkeit, den nationalen Getreidebau aus Furcht vor Hungersnotrevolten als eine mit Prämien begünstigte Exportindustrie von Staatswegen zu behandeln, war also damit entschwunden. Statt dessen lag der Gedanke, auch die englischen Häfen in Hauptstapelplätze des internationalen Getreidehandels umzuwandeln, jetzt um so näher, je neidischer längst England den Reichtum betrachtete, welchen die Holländer gerade aus den internationalen Getreidegeschäften bis dahin zu ziehen wussten.

Die entscheidende Wendung nach dieser Richtung war bereits im Jahre 1765 hervorgetreten. Die Fortschritte in Gewerbe und Industrie hatten die englische Bevölkerung rasch Buchseite 77 vermehrt (von 6 1⁄2 Million im Jahre 1750 auf 9'872'980 Einwohner im Jahre 1801). Deshalb hörte jetzt bei ungünstigen inländischen Ernten die englische Getreideausfuhr ganz auf. England begann — trotz Ausfuhrprämiengesetz — ein Getreideimportland zu werden. Im Jahre 1766 kam es in allen Teilen des Landes zu Hungersrevolten, nachdem der Weizenpreis von 22 bis 34 Shilling (M. 99,80 bis 154,30 per 1000 Kilo) *) in den Jahren 1750 bis 1756 auf 49 s. 9 d. und 58 s. 8 d. per Quarter (M. 225,80, bezw. M. 266,20 per 1000 Kilo) gestiegen war. Die Getreideausfuhr wurde verboten, die Getreideeinfuhr zeitweilig freigegeben und die fernere Gewährung von Ausfuhrprämien an eine Preisscala gebunden. Dazu kam im Jahre 1774 die Einrichtung zollfreier Getreideläger für den Handel, welche jetzt schon die Grundlage schufen für die weitere Ausbildung des internationalen Getreidezwischenhandels in England.

Unter diesen Zeitverhältnissen schrieb Adam Smith sein berühmtes Werk über „Wesen und Ursache des Nationalen Reichtums“.

Die Schwankungen in der englischen Getreidepolitik dauerten weiter. Die Weizenpreise stiegen 1782 bis 1784 auf durchschnittlich 54 s. per Quarter (M. 245 per 1000 Kilo) im Jahre 1789 auf 59 s. (M. 258,70 per 1000 Kilo). Die englischen Armenlasten wuchsen von durchschnittlich 713'000 £ auf 1'300'000 im Jahre 1770, auf 2'700'000 im Jahre 1790, auf 3'800'000 im Jahre 1800. Die Frage einer zweckmässigeren Regelung der Armenverhältnisse kam auf die Tagesordnung der gesetzgebenden Körperschaften. Und jetzt veröffentlichte Thomas Robert Malthus (1798) seinen „Versuch über die Bevölkerungsprincipien und deren Einfluss auf die Wohlfart der Menschen“.

Buchseite 78 Jahre mit Hungersnotpreisen wechseln mit Jahren allgemeiner landwirtschaftlicher Notlage. 1791 wurden die englischen Getreideeinfuhrzölle wieder erhöht, dann kamen die Jahre 1797 und 1801: schlechte Ernten im Inlande in Verbindung mit den Wirkungen des Krieges mit Frankreich und des preussischen Getreideausfuhrzolles haben die englischen Weizenpreise im Jahresdurchschnitt 69 s. (M. 313), 113 s. 10 d. (M. 517), 119 s. 6 d. (M. 542 per 1000 Kilo) und im März 1801 sogar 156 s. 2 d. (M. 708,80 per 1000 Kilo) erreichen lassen. Die bereits überwiegend industrielle und handeltreibende Bevölkerung Englands, die sich schon auf eine Brotversorgung vom Auslande einzurichten begonnen hatte, wurde damit plötzlich in ihrer Ernährung wieder auf die heimische Landwirtschaft zurückgewiesen. Die Landwirte nahmen jetzt unter Anregung so hoher Preise auch solche Ländereien unter den Pflug, welche sich für den Getreidebau weniger eigneten. Da aber durch eben die hohen Preise auch grosse Getreidemengen auf dem Wege des Importes angelockt wurden, sanken die englischen Weizenpreise im Jahre 1803 wieder rasch auf einen Durchschnitt von 58 s. 10 d. (M. 267 per 1000 Kilo) zurück. Die englischen Pächter konnten jetzt ihre, bei den vorausgegangenen hohen Getreidepreisen übernommenen hohen Pachtverpflichtungen nicht mehr erfüllen. Die dadurch hervorgerufene landwirtschaftliche Notlage suchte die Gesetzgebung durch Erhöhung der Getreidezölle (1804) zu beseitigen. Die Preise stiegen auf 89, 79, 75, 81 s. (M. 404, 358,50, 340, 367,50 per 1000 Kilo). Dann brachten die Jahre 1809 bis 1813 wieder die ganz ausserordentliche Höhe von 97 s. 4 d. (M. 441,50), 106 s. 5 d. (M. 483), 95 s. 3 d. (M. 432,20), 126 s. 6 d. (M. 574), 109 s. 9 d. (M. 498 per 1000 Kilo), als die Wirkung schlechter Ernten in Verbindung mit den Folgen der Kontinentalsperre. In dieser etwas längeren Periode höchster Buchseite 79 Getreidepreise waren die Pachtshillinge abermals allgemein wesentlich gestiegen. Dann kam der Sturz Napoleons mit guten Getreideernten im Inlande und einer enormen Getreideeinfuhr vom Auslande. Die Weizenpreise sanken auf 74 s. 4d. (M. 337,50 per 1000 Kilo) im Jahre 1814 und 65 s. 7 d. (M. 297,50 per 1000 Kilo) im Jahre 1815. Allgemein wurden Klagen über eine landwirtschaftliche Notlage laut und eine parlamentarische Erhebung stellte fest, dass die englische Landwirtschaft sich darauf eingerichtet hatte, den inländischen Getreidebedarf in schlechten Erntejahren zu decken und dass sie dieser für Kriegsfälle unerlässlichen Anforderung nicht nachkommen könne, wenn der Weizenpreis unter 80 s. per Quarter (M. 363 per 1000 Kilo) herabsinke. Das englische Parlament billigte diese Auffassung und bestimmte durch Gesetz vom Jahre 1815, dass die Weizeneinfuhr verboten sei, so lange der Weizenpreis in England unter 80 s. per Quarter (M. 363 per 1000 Kilo) stehe. Steigt der Weizenpreis über 80 s. (M. 363 per 1000 Kilo), so ist die Einfuhr frei. Auch damit wurde jedoch das Problem der Getreidepolitik noch nicht gelöst. Und während der Streit über diese Frage in der öffentlichen Meinung fortdauerte, erschien von David Ricardo im Jahre 1817 sein Hauptwerk über „die Principien der politischen Oekonomie und der Steuerlehre“.

Nachdem es unbestritten war, dass das Ziel und die Aufgabe aller Wirtschaftspolitik darin bestehe, die Völker reich und reicher zu machen, und nachdem schon Quesnay und seine Schule erkannt hatten, dass der Reichtum eines Volkes nicht dem Vorrat an Geld, sondern dem Vorrat an jenen Gütern gleich sei, welcher dem Volke zu Konsumzwecken zur Verfügung stehe, war jetzt die naheliegende Frage der Theorie offenbar die Frage nach der Buchseite 80 Quelle des Reichtums. Die physiokratische Schule in Frankreich hatte zu einer Zeit der Hungersnöte den Boden als Urquelle des Reichtums bezeichnet. England zur Zeit Adam Smith’s kaufte Rohbaumwolle, Rohseide, Wolle, Rohleder, Gewürze u.s.w. in seinen Kolonien und anderen Produktionsländern, um diese Rohstoffe dann zu verarbeiten und zu veredeln, sie als fertige Produkte an die ganze Welt wieder zu verkaufen und reich dabei zu werden. Hier musste man auf die gleiche Frage eine andere Antwort finden. Und deshalb beginnt Adam Smith sein berühmtes Werk mit dem Satze: „Die jährliche Arbeit eines Volkes ist der Fond, welcher dasselbe ursprünglich mit allen Bedürfnissen und Annehmlichkeiten des Lebens versorgt, die es jährlich verbraucht und die immer entweder in dem unmittelbaren Erzeugnis der Arbeit oder in demjenigen bestehen, was für dieses Erzeugnis von anderen Völkern gekauft wird.“ Wie aber erklärt es sich, dass diese Quelle des Reichtums bei den verschiedenen Völkern so verschieden stark fliesst? Antwort: Neben der Zahl der Arbeiter vor allem durch die Geschicklichkeit und Intensität der Arbeit. Und welches ist das wichtigste Mittel zur Stärkung dieses Arbeitserfolges und damit des Reichtums? Die Arbeitsteilung. Adam Smith zeigt an dem Beispiel der Fabrikation der Stecknadel, wie der einzelne Arbeiter ohne Arbeitsteilung kaum viel mehr als eine, sicher aber keine 20 Stecknadeln per Tag fertig bringen wird, während in einer kleinen Fabrik zu seiner Zeit von nur 10 Arbeitern bei Arbeitsteilung mit Arbeitsmaschinen täglich über 48'000 Nadeln, also pro Arbeiter über 4800 Nadeln fabriziert wurden. An diese Vorteile der lokalen Arbeitsteilung reihen sich naturgemäss die Vorteile der nationalen Buchseite 81 Arbeitsteilung und im weiteren jene der internationalen Arbeitsteilung. Jedermann, jede Provinz und jedes Volk erzeugt das, was für seine Geschicklichkeit und seine Verhältnisse am Besten passt und tauscht den Ueberschuss seiner Produktion bei anderen Personen, Provinzen und Völkern aus, um sich allseits am Besten dabei zu stehen. Die wichtigste internationale Arbeitsteilung dieser Art ist das Verhältnis zwischen den Industriestaaten und den Agrikulturstaaten.

Diese nach Adam Smith naturgemässe Entwicklung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse wurde zu seiner Zeit vor Allem aufgehalten durch die bevormundende Einmischung des Staates in die wirtschaftliche Thätigkeit des Einzelnen, die insbesondere deshalb geradezu verhängnisvolle Wirkungen zeigte, weil die Reichsten die Staatsgewalt missbrauchten, um die Schwächeren noch mehr zu unterdrücken und die Massen des Volkes in rücksichtslosester Weise durch Monopole aller Art auszubeuten. Adam Smith kann deshalb nach seinem Empfinden gar nicht häufig genug den Nachweis erbringen, dass das wohlverstandene eigne Interesse des Einzelnen die beste Triebfeder aller volkswirtschaftlichen Entwicklung sei und dass der Staat nichts zweckmässigeres thun könne, als eben diese Triebfeder endlich frei zu geben.

„Zweck und Ziel aller Produktion ist die Konsumtion und das Interesse der Produzenten sollte nur so weit berücksichtigt werden, als zur Förderung der Interessen der Konsumenten nötig ist. Dieser Grundsatz ist so einleuchtend, dass es abgeschmackt wäre, ihn beweisen zu wollen. In den merkantilistischen Privilegien aber, welche man einzelnen Industriezweigen erteilt hat, wird das Interesse der Konsumenten fast beständig dem der Produzenten aufgeopfert, und dabei scheint man die Produktion und nicht die Konsumtion als Endzweck allen Gewerbefleisses und Buchseite 82 Handels zu betrachten.“ Die Industrie wolle dabei nicht durch ihre eigene Tüchtigkeit, sondern durch Unterdrückung der Konkurrenz reich werden. „Es bedarf keines Beweises, wie sehr solche gesetzliche Bestimmungen der viel gepriesenen bürgerlichen Freiheit widersprechen, die wir (in England) so eifersüchtig zu wahren behaupten, die aber in solchen Fällen den niedrigen Interessen, der Habgier unserer Kaufleute und Fabrikanten offenkundig geopfert wird. Obendrein drängt die merkantilistische Begünstigung das Kapital nur in minder vorteilhafte Kanäle als in die es von selber strömen würde. So schwächt man die Initiative und die Thatkraft der Unternehmer, welche ohne diese Privilegien weit Tüchtigeres in der Produktion zu leisten vermöchten. Die Bevormundung der Privatwirtschaften durch die Gesetzgebung und den Staat ist aber ein Hemmnis, aber niemals eine Förderung des Volksreichtumes.“

Trotzdem sind alle diese Begünstigungen, welche man der Industrie zugewendet hat, längst nicht im gleichen Masse schädlich als jene, welche vorgeblich den inländischen Getreidebau fördern.

„Der grössere Gewinn der Fabrikanten gestattet wenigstens, mehr Arbeiter zu beschäftigen. Das Getreideausfuhrprämiengesetz aber mit den hohen Getreideschutzzöllen hat nur nachteilige Wirkungen.“

„Jede Steuer auf Getreide muss entweder die Nahrungsmenge der Arbeiter reduzieren oder eine der Erhöhung des Geldpreises für Getreide entsprechende Erhöhung der Geldlöhne veranlassen. Im ersteren Falle werden die Arbeiter weniger Kinder erzeugen und wird also ein Rückgang der Bevölkerung eintreten, im anderen Falle wird der Arbeitgeber gezwungen, bei höheren Löhnen mit seinem Kapital weniger Arbeiter zu beschäftigen, als niedrigere Löhne gestatten würden, und damit wird dann der Gewerbefleiss des Landes eingeschränkt.“

Buchseite 83 „Jede künstliche Steigerung der Getreidepreise durch Zölle und Prämien wirkt aber auch darum so besonders schädlich, weil der Geldpreis für Getreide den Geldpreis aller anderen inländischen Waren bestimmt. Der Geldpreis für Getreide reguliert den Geldpreis für die Arbeit, weil das Getreide das wichtigste Nahrungsmittel der Arbeiter ist. Es reguliert naturgemäss den Geldpreis von Gras und Heu, Fleisch und Pferdefutter, weil diese Produkte der Landwirtschaft in einer Wertrelation zum Getreide stehen. Auf diese Weise aber reguliert der Getreidegeldpreis auch die sämtlichen Frachten, als die Kosten des Hauptverkehrsmittels im Binnenlande. Durch die Regulierung des Geldpreises aller landwirtschaftlichen Rohprodukte reguliert er auch die Rohstoffe fast aller Fabrikate; durch die Regulierung des Geldpreises der Arbeit reguliert er auch den aller industriellen und gewerblichen Produkte und somit aller Produkte des Inlandes überhaupt.“

„Die merkantilistische Politik der Prämien auf die Getreideausfuhr und der Zölle auf die Getreideeinfuhr musste deshalb dazu führen, in England die Getreidepreise zu steigern und im Auslande sie etwas zu verbilligen. Damit wurden aber alle englischen Waren auf allen Märkten etwas teuerer und die ausländischen Waren umgekehrt etwas billiger, als es sonst der Fall gewesen wäre, und man gab folglich der ausländischen Industrie einen doppelten Vorsprung über die englische. Den Grundbesitzern allerdings bringen zunächst höhere Getreidepreise etwas mehr Geld in die Tasche, aber, nachdem infolge dieser höheren Geldpreise für Getreide die Preise für ihre heimischen Produkte entsprechend steigen, sind auch für sie die Vorteile dieser höheren Geldeinnahme nur imaginär.“

„Den Geldpreis von Getreide künstlich steigern heisst also, eine beständige Verteuerung hervorrufen. Die Politik Buchseite 84 der Getreidepreissteigerung bringt nur Schaden und selbst für die Landwirte keinen Nutzen.“

„Die tiefere Einsicht in diese Verhältnisse fordert deshalb den Freihandel nicht nur für die industrielle und gewerbliche Produktion, sondern insbesondere auch den Freihandel für Getreide. Dadurch wird die Gefahr einer Hungersnot am Besten vermieden, denn der Freihandel in Getreide macht die verschiedenen Länder gewissermassen zu Provinzen eines grossen Versorgungsgebietes. Hier kann dann selbst bei ungünstigster Witterung der veranlasste Mangel kein grosser sein. Entweder ist die Witterung zu trocken, dann geben die zu feuchten Ländereien um so bessere Erträge, oder die Witterung ist zu nass, dann geben die zu trockenen Ländereien bessere Erträge und gleichen so den Minderertrag auf den anderen Flächen wesentlich aus. Speziell für die Industriestaaten bietet es nicht die geringsten Schwierigkeiten, die erforderlichen Nahrungsmittel einzutauschen. Das freihändlerische Holland z. B. bezieht lebendes Vieh aus Holstein und Jütland und Getreide fast aus allen europäischen Ländern und muss dafür im Austausch nur eine verhältnismässig kleine Menge von seinen weit wertvolleren industriellen und gewerblichen Produkten hingeben.“ Also Freihandel möglichst auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens.

Dieser Freihandel ist jedoch bei Adam Smith nicht blind und nicht bedingungslos. Demselben liegt vielmehr eine ganz bestimmte bessere volkswirtschaftliche Ordnung zu Grunde, die sich der Idee nach aus dem Princip der Arbeit ableitet.

Die Arbeit ist nämlich der einzig normale und naturgemässe Massstab jenes Wertes, zu dem die Arbeitsprodukte auf dem freien Markte gegen einander ausgetauscht werden. So sollen die natürlichen Getreidepreise nach Adam Smith Buchseite 85 selbstverständlich dem Landmann die Arbeit und die Unkosten in dem Masse vergüten, dass ihm das verwendete Kapital mit dem landesüblichen Gewinn ersetzt werde, und ausserdem noch eine angemessene Rente für Grund und Boden verbleibe. Weil nun der Grund und Boden bei weitem den grössten, wichtigsten und dauerhaftesten Teil des Reichtums eines Landes bildet und der Wert des Bodens abhängig ist von dem Blühen und Gedeihen der Landwirtschaft, so fordert der fortschreitende Reichtum eines Landes und jede vollkommenere Kultur naturgemäss bessere Preise der landwirtschaftlichen Produkte. Und weil diese Steigerung der Preise für die Bodenprodukte der verbesserten Kultur des Landes, von welcher sie gewonnen werden sollten, offenbar vorausgehen muss, sollte man auch eine jede Preiserhöhung dieser Art nicht als eine Kalamität, sondern als den Vorboten des grössten Segens betrachten.

Wesentlich anders verhält es sich nach Adam Smith mit der natürlichen Preisbewegung für industrielle Produkte. Hier geht die naturgemässe Entwicklung bei fortschreitender Kultur infolge Arbeitsteilung, verbesserter Arbeitsmaschinen, Verbilligung des Zinses u.s.w. dahin, den Preis fast aller Manufakturwaren immer mehr herabzusetzen. Hohe Preise mit steigender Tendenz für Ackerbauprodukte und billige Preise bei fallender Tendenz für industrielle Produkte sind also nach Adam Smith die Merkmale einer höheren und fortschreitenden Kultur. Der Wertbegriff von Adam Smith begnügt sich nicht mit der Thatsache des Preises, er deckt sich nicht mit dem „Verkehrswert“, sondern findet in bewusster Weise seinen normalen selbständigen Massstab im Buchwert.

Endlich begnügte sich Adam Smith nicht mit dem rein negativen „laissez faire“ der PhysioBuchseite 86kraten, sondern er fügte demselben den höchst bedeutsamen positiven wirtschaftspolitischen Satz hinzu: überlasset dem spekulativen Privatkapital die Leitung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse. Deshalb wird Adam Smith mit Recht als der „Vater der Freihandelsschule“ bezeichnet. Den Schlüssel für diese Auffassung bietet der Adam Smith’sche Kapitalbegriff, den er den englischen volkswirtschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit genau anzupassen und gleichzeitig in eigenartiger Weise mit seiner Theorie der Arbeit als Quelle des Reichtums zu versöhnen versuchte:

Das Produkt der Arbeit ist auch nach Adam Smith der naturgemässe Arbeitslohn. Und früher, als es noch keine Latifundienbesitzer und noch keine Grosskapitalisten gab, da war in England dieser ideale Zustand reale Wirklichkeit, mit anderen Worten: damals war in England der Mittelstand allgemein verbreitet, dessen inneres Wesen darin besteht, dass der Arbeiter auch Eigentümer seiner Produktionsmittel ist. Deshalb gehörte ihm sein Arbeitsprodukt als Arbeitslohn. Inzwischen war das im Verlauf der englischen Geschichte leider anders geworden. Der Mittelstand war mit dem Bauernstand fast vollständig verschwunden, es kam nur „manchmal noch vor, dass ein einzelner unabhängiger Arbeiter genügend Mittel hatte, um die nötigen Materialien zu kaufen, und sich bis zur Vollendung der Arbeit zu unterhalten.“ Die englische Gesellschaft trennte sich zur Zeit von Adam Smith in Grundbesitzer, Grosskapitalisten und besitzlose Arbeiter. Deshalb, — so folgert Adam Smith — erhält heute der Arbeiter nur den Arbeitslohn aus dem gesamten Wert des Arbeitsproduktes, während ausserdem noch für den Unternehmer der Kapitalgewinn und für den Grundeigentümer die Grundrente Buchseite 87 daraus entfällt. Die Leitung des Produktionsprozesses hatte dabei der Kapitalist, der Geldbesitzer, übernommen. Das alles war offenbar nach Adam Smith nun einmal nicht mehr zu ändern. Es blieb also nichts besseres übrig, als mit diesem gegebenen Zustand, so gut es eben gehen wollte, sich abzufinden. Und das geschah in folgender Weise:

Bis vor Adam Smith verstand man unter Kapital in der Regel eine Geldsumme, die gegen Zinsen ausgeliehen wurde und der der sittliche Makel des Wuchers anhaftete. Man kann in diesem Sinne das Wort „Kapital“ definieren als eine Geld- oder Güter-Summe, die in habsüchtiger Weise verwendet wird. Indem nun Adam Smith seinen Reichtumsbegriff nicht nur auf das Geld, sondern auf alle stofflichen Güter ausdehnte und von der Arbeit als Quelle des Reichtums ausging, wurde durch die fasst ausschliessliche Betrachtung des Geldes in seiner Wirkung bei dem Produktionsprozess der Güter das Kapital jetzt zu „angesammelten Arbeitsprodukten, welche zur Deckung des Lebensunterhaltes der Arbeiter (Lohnzahlung) während der Dauer des Produktionsprozesses, wie zur Verwertung der Produkte auf dem Markte, wie zur Beschaffung der erforderlichen Rohmaterialien mit Maschinen und Werkzeugen verwendet wurden“. Die Grösse des Kapitalvorrates begrenzte so die Zahl der im Produktionsprozess möglicherweise verwendbaren Arbeiter, sie bedingte damit auch den Grad der Vollkommenheit der Arbeitsteilung und so nicht zuletzt die Grösse des Produktionserfolges überhaupt. Mit dieser Grösse des Produktionserfolges aber steigt der Reichtum der Nation und also auch der Lohn der Arbeiter. Mithin sind die angesammelten Kapitalvorräte gewissermassen als: „milde Stiftung im Buchseite 88 Interesse der Gesamtheit, wie im Interesse der Arbeiter“ zu betrachten. Auf diese Weise hat durch Adam Smith der Kapitalbegriff seinen bis dahin ihm anhaftenden etwas unangenehmen wucherischen Beigeschmack vollkommen verloren und dafür sogar einen gewissen Glorienschein verliehen erhalten. Und wer war jetzt nicht auch Kapitalist? Jeder Fischerjunge, der noch einen Angelstock zum Angeln sein Eigen nannte, jeder Schreiber in der höchsten Dachstube, der noch Feder, Tintenzeug und Papier zur Fertigung von Uebersetzungen und dergleichen besass, jeder Proletarier, der etwa noch einen Pinsel mit etwas Farbe und einige Holzbretter in seiner Wohnung hatte, um damit in seinen späten Abendstunden etwa Firmenschilder auf Bestellung zu fertigen, alle diese Personen waren jetzt Kapitalisten geworden, denn auch sie besassen angesammelte Arbeitsprodukte, welche dem Produktionsprozess dienten. —

In der Erinnerung an die Geschichte des Kapitalismus in England scheint jedoch auch Adam Smith bei dieser seiner Kapitaldefinition etwas bedenklich geworden zu sein, denn er versäumte es nicht, den Staatsregierungen folgende ernste Mahnung zu hinterlassen: „Das Interesse des grundbesitzenden Landwirtes — der von dem „auch“ Grundeigentum besitzenden Grosskapitalisten scharf zu trennen ist — steht im engen unzertrennlichen Zusammenhange mit den allgemeinen Interessen der ganzen Gesellschaft. Was zur Förderung oder Beeinträchtigung des einen dient, fördert und beeinträchtigt auch die anderen. Beratschlagt das Volk über Gesetze für Handel und Politik, so können diese Grundbesitzer es niemals irreleiten, um ihre eigenen Sonderinteressen zu fördern, wenigstens dann nicht, wenn sie dieses Interesse einigermassen kennen. Ebenso innig ist das Interesse der Arbeiter mit dem der übrigen Buchseite 89 Gesellschaft verwachsen, denn der Lohn des Arbeiters ist niemals so hoch, als wenn der Begehr von Arbeit beständig steigt. Geht aber die Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zurück, so kommt das auch sofort in der Lohnhöhe zum Ausdruck. Anders steht es mit den Kapitalisten, die sich bei ihren Unternehmungen von dem Gewinn leiten lassen, den sie aus denselben ziehen oder zu ziehen beabsichtigen. Nun ist aber dieser Kapitalgewinn von Natur aus gering in reichen und hoch in armen Ländern und am höchsten in denjenigen, die ihrem Untergang am schnellsten entgegengehen. Das Interesse der Kapitalisten steht also nicht in derselben Verbindung mit dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft, wie dies bei den Grundbesitzern und Arbeitern der Fall ist. Es kommt hier ferner in Betracht, dass Kaufleute und Fabrikanten in der Regel die grössten Kapitalien beschäftigen und durch ihren Reichtum sich das meiste Ansehen beim Publikum verschaffen.“

„Da sie während ihres ganzen Lebens sich mit Plänen und Berechnungen beschäftigen, so ist ihr Verstand in der Regel mehr geschärft als bei den meisten Landedelleuten; aber, da ihre Gedanken in der Regel mehr auf das, was ihrem eigenen Geschäfte, als auf das was der Gesellschaft im allgemeinen frommt, gerichtet sind, so kann man auf ihr Urteil, selbst wenn es mit der grössten Unbefangenheit abgegeben wird, was nicht immer geschieht, mehr bauen, wenn es den ersten, als wenn es den letzten dieser Gegenstände betrifft. Ihre Ueberlegenheit über den Landedelmann besteht nicht sowohl darin, dass sie das öffentliche Interesse, als darin, dass sie ihr eigenes besser verstehen als er das seinige. Durch diese Art der Ueberlegenheit haben sie oft seine Grossmut gemissbraucht, und ihn zur Preisgebung seines eigenen wie des öffentlichen Interesses zu bewegen vermocht, indem sie ihm einredeten, Buchseite 90 ihr Interesse und nicht das seinige sei das des Publikums im allgemeinen. Nun ist aber das Interesse eines jeden Geschäftsmannes in der einen oder anderen Beziehung ein von dem öffentlichen verschiedenes und oft selbst entgegengesetztes. Jeder Vorschlag zu neuen Gesetzen oder Handelsreglements, der von dieser Klasse ausgeht, ist mit grosser Vorsicht aufzunehmen, und sollte nie genehmigt werden, bevor er nicht mit der genauesten, ja mit der ängstlichsten Sorgfalt geprüft worden ist; denn er rührt von einer Menschenklasse her, deren Interesse niemals ganz mit dem öffentlichen zusammenfällt, die in der Regel ein Interesse daran hat, das Publikum zu hintergehen oder selbst zu bedrücken, und die es in der That schon oft sowohl hintergangen als bedrückt hat.

In der Steuerpolitik verlangt Adam Smith, dass die Unterthanen möglichst nach dem Verhältnis ihres Vermögens und ihres Einkommens Steuern zahlen sollten. Diese Steuerpflicht soll durch das Gesetz möglichst genau und klar bezeichnet werden, sodass der Willkür der Steuereinnehmer kein Raum gelassen ist. Die Steuererhebung soll sich den Verhältnissen der Steuerzahler derart anpassen, dass die Steuerleistung möglichst erleichtert werde. Der Steuerzahler soll auch der Steuerträger sein und nicht die Steuern auf andere Schultern überwälzen können. Endlich sollte die billigste Erhebungsform gewählt werden. Als prinzipieller Gegner des Merkantilsystems ist er gleich Quesnay nicht minder entschieden gegen alle indirekten Steuern und Gebühren, welche, soweit sie bestehen, möglichst bald abgeschafft werden sollen. Am meisten empfehlenswert scheint ihm eine Art Grundrentensteuer auf städtischen und ländlichen Grundbesitz, welche überdies den Vorzug habe, dass sie eine Art Einkommen Buchseite 91 belastet, das seinem Eigentümer in der Regel weder Sorge noch Arbeit gekostet habe.

So viel von den Theorien von Adam Smith.

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Alle jene wirtschaftlichen Störungen, welche den französischen Revolutionskriegen voraus und in verstärktem Masse neben ihnen einhergingen, haben den nüchternen Beobachter und Denker Robert Malthus erkennen lassen, dass die Schwärmereien eines Wallace, Godwin und Condorcet über die mögliche Vervollkommnung der menschlichen Verhältnisse durch die technischen Fortschritte im Produktionsprozess und Verkehr, und durch die Fortschritte der Wissenschaft nur geeignet seien, höchst gefährliche Irrtümer zu verbreiten. Trotz, oder richtiger gesagt, wegen eben dieser Fortschritte in England, wurde jetzt die Stockung in dem Absatz industrieller Produkte um so empfindlicher und die Steigerung der Getreidepreise um so höher. Das englische Armengesetz aber setzte aller wirtschaftspolitischen Unvernunft die Krone auf. Denn: indem es die Kirchspiele verpflichtete, einem jeden arbeitsfähigen Armen Beschäftigung, jedem Armen einen angemessenen Unterhalt zu verschaffen und die hierzu nötigen Mittel durch Steuern zu erheben, wurde in recht gedankenloser Weise das bestehende Missverhältnis zwischen der Bevölkerungszahl und den Nahrungsmitteln beibehalten und noch mehr verschärft.

Einer solchen wenig durchdachten Wirtschaftspolitik gegenüber, wies Robert Malthus vor allem darauf hin, dass die Proletariermassen das Streben hätten, sich in geometrischer Progression zu vermehren, wie 1 zu 2 : 4 : 8 : 16 u.s.w., während die Nahrungsmittel höchstens in arithmetischer Reihe wie 1 zu 2 : 3 : 4 : 5 zur Verfügung ständen. Deshalb trete von Zeit zu Zeit ein MissBuchseite 92verhältnis ein zwischen Produktion und Konsum, das — wie die Dinge einmal liegen — nur durch Minderung der Bevölkerungszahl der Proletarier gebessert und geheilt werden könne. Statt in den Zeiten der Krisen die hungernden Armen auf Kosten der Besitzenden zu erhalten, sei es deshalb volkswirtschaftlich weit richtiger, den Armen die, wenn auch bittere Wahrheit frei herauszusagen: „Es hat niemand ein Recht auf Existenz, für den kein Platz an der Tafel der Volkswirtschaft gedeckt ist“ und „Es ist ein Verbrechen, Kinder zu zeugen, die man nicht ernähren kann.“

Für Robert Malthus war die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen nur ein anderer Ausdruck für die wirtschaftliche Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen. Wenn in dem Zustand der wirtschaftlichen Freiheit der Einzelne sich nicht selbst helfen und sich nicht selbst ernähren kann, dann können ihm auch Staat und Gesellschaft nicht helfen. Aber Malthus war bei dieser Auffassung sich wohl bewusst, dass der Staat und die Gesellschaft gleichzeitig allerdings dafür verantwortlich seien, eine solche Politik zu treiben, dass dem Einzelnen die Erfüllung seiner Pflicht der ökonomischen Selbstverantwortlichkeit nicht etwa erschwert oder gar unmöglich gemacht werde. Malthus vertrat in diesem Zusammenhange insbesondere die Ueberzeugung, dass der Staat jedes einseitige Ueberwuchertwerden der Landwirtschaft durch die Industrie verhüten müsse. England sei in der Richtung einseitiger Begünstigung der industriellen Entwickelung auf Kosten der Landwirtschaft schon viel zu weit gegangen. In diesem Sinne sei allerdings der Staat verantwortlich für die Leiden der Armen, weil man durch seine Massnahmen und durch seine Buchseite 93 Unterlassungen jetzt auf den stets unsicheren Absatz an Industrieprodukten nach dem Auslande und auf die stets unsichere Zufuhr an Brotgetreide vom Auslande, teilweise wenigstens, angewiesen worden sei, und nun hierfür durch die Ereignisse im Auslande den Boden verloren habe. Der wirtschaftlichen Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen entspreche notwendigerweise die ökonomische Selbständigkeit der Staatsgemeinschaft in der Versorgung mit allen wichtigen Produkten des täglichen Bedarfes und in dem Absatz der Massenprodukte der industriellen und gewerblichen Produktion. Jedes Verlassen in dieser Richtung auf das Ausland sei mit der so wichtigen ökonomischen Selbstständigkeit der Staatsgemeinschaft unvereinbar. Deshalb müsse zwischen der Entwickelung der Industrie und der Landwirtschaft eine gewisse gegenseitige Proportion eingehalten werden. Für Malthus bleibt die Politik der internationalen Arbeitsteilung eine verwerfliche, weil der internationale Handel nie ganz so beurteilt werden könne, wie der Handel zwischen den Provinzen desselben Staates. Deshalb sei es vom Standpunkte höherer politischer Interessen unerlässlich, durch Schutzzölle von Staatswegen für genügend hohe Getreidepreise zu sorgen, um die Brotversorgung des Volkes im eigenen Lande zu sichern. Und wenn dadurch der Absatz an industriellen Produkten im Auslande gehemmt werde, so sei das eine durchaus wünschenswerte und gesunde Wirtschaftspolitik, denn man verhütet damit ein künstliches ungesundes Steigen der Arbeitslöhne, das sofort eine entsprechende Zunahme der Proletarierbevölkerung bewirkt; wofür dann eben diese Proletarier um so mehr an jenem unausbleiblichen Tage leiden müssen, an welchem der stets unsichere Absatz an Industrieprodukten Buchseite 94 nach dem Auslande unterbrochen oder gar auch noch gleichzeitig die Nahrungsmittelzufuhr vom Auslande aufgehalten wird. Eine vollkommene internationale Handelsfreiheit sei ein schöner Traum, der wahrscheinlich niemals realisiert werden könne. —

So viel aus den Theorien von Robert Malthus.

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Während Adam Smith und Robert Malthus ihr volkswirtschaftliches Gebäude zuletzt auf der heimischen Landwirtschaft ruhen liessen, und trotz aller Neigung für den kapitalistischen Produktionsprozess gegen die Alleinherrschaft des Kapitalismus laut ihre warnenden Stimmen erhoben haben, versteht es der Grosskapitalist David Ricardo in recht wirksamer Weise, durch seine Grundrententheorie einen Keil zu treiben zwischen die wirtschaftlichen Interessen der Grundbesitzer und die Interessen der übrigen Bevölkerung.

Diese Theorie lautet folgendermassen:

Wenn der Boden bester Qualität in genügender Menge vorhanden ist, um das Brotgetreide für das Volk darauf zu bauen, dann bestimmen die Produktionskosten den Preis und darüber hinaus giebt es jetzt keinen Gewinn und keine Grundrente. Wenn aber dieser beste Boden nicht mehr ausreicht, das Volk mit Getreide zu versorgen, weil durch den Andrang der Bevölkerung die Nachfrage nach Getreide über seine Produktionsleistungen hinaus gewachsen ist, dann müssen die Getreidepreise steigen und zwar so hoch, dass die Produktionskosten der schlechtesten, noch zur Deckung des Getreidebedarfes notwendig unter den Pflug zu nehmenden Bodenklasse damit noch gedeckt werden. Hiermit ist dann für die besseren, ursprünglich allein mit Getreide bebauten Böden ein besonderer Gewinn entstanden, der als „GrundBuchseite 95rente“ bezeichnet wird. Diese Grundrente hat nichts mit dem wirtschaftlichen Verdienst der Grundeigentümer, nichts mit dem Fortschritt der Produktion, nichts mit der volkswirtschaftlichen Werterzeugung gemein. Diese Grundrente erzeugt keine Werte, sie überträgt sie nur. Im Falle einer Verabredung der Grundbesitzer oder der Vereinigung des Grundbesitzes in einer Hand kann die gesamte Bevölkerung durch das Mittel der Getreidepreissteigerung gezwungen werden, Hab und Gut den Grundeigentümern als Grundrente abzutreten. Und diese Grundrente definiert Ricardo als: „denjenigen Teil des Erzeugnisses der Erde, welcher dem Grundeigentümer für die Benutzung der ursprünglichen und unzerstörbaren Kräfte des Bodens bezahlt wird.“ Ricardo versteht unter diesen „ursprünglichen und unzerstörbaren Kräften des Bodens“ die Qualitätsdifferenz der besseren gegenüber den schlechteren Bodenarten.

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Erst durch diese Art der Ausscheidung des Grundbesitzes aus der engeren harmonischen Interessenverbindung der Volkswirtschaft war die Interessenpolitik des Kapitalismus zur Allein - Herrschaft gelangt, die nun ihren theoretisch konsequenten Ausdruck in den „Lehren der reinen Freihandelsschule“ gefunden hat. Jede genauere Untersuchung der konkreten Verhältnisse und ihres geschichtlichen Werdeprozesses war jetzt überflüssig geworden. Es genügte, nach der von Ricardo eingeführten abstrakten Methode zu allgemein gültigen Normen für die Volkswirtschaftspolitik zu kommen, die thatsächlich nur das eine Ziel erstreben: den Interessen des spekulativen Privatkapitals zu dienen. Dies, und nicht der Grundsatz der individuellen Freiheit Buchseite 96 macht den eigentlichen Kern der Freihandelslehre aus. Die unbedingte Freiheit des allgegenwärtigen Marktes bedeutet vor allem die Freiheit des spekulativen Privatkapitals, in seinem Rennen und Jagen nach Gewinn aus jeder beliebigen Position jederzeit austreten und in jede beliebige andere Position jederzeit eintreten zu können. In diesem Sinne war jetzt alles glattweg zur „Ware“ geworden: die menschliche Arbeitskraft, der Grundbesitz, das Geld und selbstverständlich auch die Ware im engeren Sinne. Vorgeblich war es die Aufgabe des Staates, nur die Person und das Eigentum zu schützen — in Wirklichkeit aber war es die Aufgabe aller Wirtschaftspolitik, alle ökonomischen Güter und Verhältnisse in diesen „Warenbegriff des freien Marktes“ der Freihandelslehre hineinzuzwängen und der Ausbeutung durch das spekulative Privatkapital preiszugeben. Staatsgrenzen durften diese Jagd nach dem Kapitalgewinn nicht hindern. Deshalb war man für unbedingten internationalen Freihandel, für unbedingte internationale Arbeitsteilung, für unbeschränkte Börsen- und Marktfreiheit, für Wucherfreiheit, für Freiheit des Grundeigentums durch Beseitigung jeder Art von Gebundenheit, für Freiheit der Verschuldung, für Gewerbefreiheit, für Freiheit der Privateisenbahnen, für internationale Goldwährung u.s.w.

So wurde jetzt die Nationalökonomie gelehrt von „reinen“ Theoretikern, wie MacCulloch, James Mill und Senior in England, von J. B. Say, L. L. F. Faucher, Bastiat u. A. in Frankreich, Prince-Smith, Michaelis, Max Wirth u. A. in Deutschland. Für die Nationalökonomen dieser Art kamen die Zeitverhältnisse nur insofern in Betracht, als sie der Ausbreitung der Kapitalsherrschaft günstig waren.

Jede Beurteilung des kapitalistischen Freihandels - Systems wird vor Allem anerkennen müssen, dass der Vater desselben, Adam Smith, in bewundernswerter Weise die tieferen ökonomischen Bedürfnisse seiner Zeit erkannt hat. Von dem Jahre 1776 an bis in unsere Tage herrschen diese Theorien in durchaus massgebender Weise. Und wenn heute jemand glauben wollte, die schutzzöllnerischen Ideen hätten die Freihandelslehre verdrängt, so sollte ein Hinweis auf die der internationalen Handelsvertragspolitik beigelegte Bedeutung genügen, um uns zu lehren, wie tief noch allgemein die Theorie von der internationalen Arbeitsteilung uns in den Knochen steckt und dass Schutzzoll und Freihandel für sich allein keine prinzipiellen ökonomischen Gegensätze wissenschaftlicher Art, sondern zunächst nur persönliche Interessengegenstätze bezeichnen.

Jede historische Betrachtung der Freihandelsepoche wird bestätigen müssen, dass eine Periode der Herrschaft des spekulativen Privatkapitals aller Wahrscheinlichkeit nach in der Entwicklungsgeschichte keines höheren Kulturvolkes entbehrlich ist. Wenn es die Aufgabe des Merkantilsystems war, die überlebten stadtwirtschaftlichen Kreise niederzulegen, die Volkswirtschaft einheitlich zu organisieren und die Produktivkräfte des Volkes auf grössere Leistungen vorzubereiten, so war es die Aufgabe des freihändlerischen Kapitalismus, eben diese Produktivkräfte zur vollen Entfaltung zu bringen. Was nach dieser Richtung, wie nach der Richtung der Organisation des Verkehrs und des Geld- und Bankenwesens geschaffen wurde, das hat nur die eiserne Thatkraft der Einzelnen in der unersättlichen Jagd nach Reichtum und Gewinn zu leisten vermocht. Und nicht zuletzt ist eben dieser Reichtum, den die kapitalistische Epoche des Freihandels geschaffen, eine der wesentlichsten Voraussetzungen für jene neue volkswirtschaftliche EntBuchseite 98wicklungsepoche, welche in unseren Tagen sich vorbereitet, das Freihandelssystem endlich einmal abzulösen.

Die Kritik aber, welche sich bemüht, auch hier das Dauernde von dem Vergänglichen zu trennen, wird notwendigerweise mit dem ersten Satze des Adam Smith’schen Hauptwerkes beginnen, der bekanntlich lautet: „Die jährliche Arbeit eines Volkes ist der Fond, welcher dasselbe mit allen Bedürfnissen und Annehmlichkeiten des Lebens versorgt, die es jährlich verbraucht und die immer entweder in dem unmittelbaren Erzeugnis der Arbeit oder in demjenigen bestehen, was für diese Erzeugnisse von anderen Völkern gekauft wird.“

Ist dieser Satz richtig? Zunächst wird zu ergänzen sein, dass die Völker gelegentlich auch Arbeitsprodukte aus früheren Jahren verbrauchen und dass also der Verbrauch nicht an die Produktion des laufenden oder vorhergehenden Jahres gebunden ist. Im Sinne der Adam Smith’schen Terminologie steckt diese frühere Arbeit in dem Begriff Kapital, das in seinen Teilen ja aus Arbeitsprodukten besteht. Aber damit wird der Begriff Arbeit im Produktionsprozess noch nicht erschöpft. Die Arbeitskraft, welche in den Maschinen und Werkzeugen der höher entwickelten Kultur enthalten ist und die durch das Hinzutreten der lebendigen Arbeit des anwesenden Menschen in Aktion tritt, beschränkt sich nicht auf die Jahresleistungen und nicht auf die schwielige Hand des Lohnarbeiters. Wenn wir den Arbeitsbegriff an dem Dampfhammer, an der Bänder - Maschine, an dem modernen Webstuhl, an dem Dampfpflug u.s.w. richtig analysieren, so kommen wir auf den grossen und gewaltigen Begriff der Arbeitsgemeinschaft der Menschheit, der in seinen Zusammenhängen bis über die Stein- und Broncezeit hinausreicht und nicht nur die Leistungen der schwieligen Fäuste, sondern auch insbesondere alle Fortschritte von Kultur und WissenBuchseite 99schaft zum Inhalte hat. Bei den Leistungen unserer modernen Maschinen arbeiten die Menschen der vergangenen Jahrtausende mit. Was diese gearbeitet und gedacht haben, das haben sie nicht mit ins Grab genommen, das ist auf der Erde in ganz bestimmten Formen zurückgeblieben, von der jeweils lebenden Generation gehegt und gepflegt worden. In dem Prozess der Arbeit im objektiven Sinne sehen wir deshalb eine jener wunderbaren Erscheinungen, die wir als den Prozess der Vereinigung von Geist und Materie bezeichnen.

Diese soziale Arbeitsgemeinschaft ist der grundlegende Teil des Begriffes der ökonomischen Arbeit. Indem Adam Smith den rein technischen Begriff der Arbeitsteilung an die Spitze seiner Betrachtungen stellte, hatte er von Anfang an eine viel zu enge Basis gewählt. Und diese zu enge Begrenzung seiner Aufgabe hatte zur weiteren Folge, dass ihm die Arbeit als alleinige und eigentliche Quelle des Reichtums erscheinen konnte. Die Arbeit der Menschheit als Ganzes hat selbstverständlich für die Schaffung des materiellen ökonomischen Reichtums die Erde zur unentbehrlichen Voraussetzung. Alle Stoffe, die wir besitzen und die wir Güter nennen, müssen einmal irgend wo und irgend wann der Erde entnommen worden sein. Deshalb müssen wir schon den ersten Adam Smith’schen Satz dahin abändern, dass wir sagen: Die Erde ist die Quelle, aus welcher die menschliche Arbeit jene Stoffe gewinnt, die in den verschiedenen Graden ihrer Veredelung die Gesamtheit jener Gütermengen ausmachen, die wir den Reichtum des Volkes nennen.

Adam Smith ist gleichzeitig in diesen seinen grundlegenden Ausführungen zu sehr in den Verhältnissen seiner Zeit hängen geblieben. Weil zu seiner Zeit England den übrigen Völkern technisch in Buchseite 100 der gewerblichen und industriellen Produktion überlegen war und deshalb seine Produkte leicht überall mit Vorteil verkaufen konnte, und weil England zu seiner Zeit bis 1776 leicht seinen eventuell nötigen Getreidebedarf vom Auslande beziehen konnte, bleibt es gewiss verständlich, dass Adam Smith so sehr der Politik der internationalen Arbeitsteilung zugeneigt war. Aber zu dauernden Wahrheiten können deshalb diese seine Ausführungen nicht werden.

Adam Smith bezieht sich bekanntlich auf das Beispiel eines Manschettenmachers, der aus einer Flachsmenge im Werte von nur 8 Pfg. eine kunstvolle Spitzenmanschette im Werte von 60 M. herstellen kann und dann auf dem freien Markte für ein kleines Volumen seines veredelten Produktes leicht grosse Massen billiger Nahrungsmittel und Rohprodukte von anderen Völkern einzutauschen vermag. Das scheint zunächst ganz einleuchtend. In Wahrheit aber hat diese Politik der internationalen Arbeitsteilung drei wichtige Dinge zur Voraussetzung:

  1. muss dieser Manschettenmacher im Auslande auch immer einen Markt für seine Manschetten finden,
  2. muss er vom Auslande den zwar billigen aber immerhin unentbehrlichen Flachs immer kaufen können, und
  3. muss sich das Ausland bereit finden, Nahrungsmittel zu entsprechendem Preise zu liefern.

Dass die Theorie der internationalen Arbeitsteilung nach diesen drei Seiten auf recht unsicherem Boden steht, lässt sich leicht beweisen.

Das englische Volk hat schon zur Zeit der Kontinentalsperre recht hart empfinden müssen, wie gefährlich der damals erreichte Grad der internationalen Arbeitsteilung für Leib und Leben der einheimischen Arbeiterbevölkerung war. Der Absatz der industriellen Buchseite 101 Produkte nach dem Auslande, wie der Bezug von Rohstoffen von dem Auslande waren plötzlich ungemein erschwert worden. Bekannt ist auch die Baumwollenhungersnot in England zur Zeit des nordamerikanischen Bürgerkrieges. Heute beginnen selbst Indien, Japan und China sich in der Erzeugung ihrer industriellen Produkte vom Auslande zu emancipieren. England hat z. B. nach Indien zunächst Baumwollenstoffe und Garne exportiert, dann hat es die Maschinen dahin exportiert, mit denen Indien seine Baumwollenprodukte selbst erzeugen konnte, und zuletzt exportierte es die Einrichtungen für jene Fabriken, welche die Maschinen zur Herstellung von Baumwollenprodukten fabrizieren. Heute aber wollen die Klagen der englischen Baumwollenfabrikanten über die scharfe und recht empfindliche Konkurrenz der indischen Baumwollenspinnereien und Webereien nicht aufhören. Es lässt sich kaum bestreiten, dass die Entwicklungstendenz der Völker ganz allgemein und ausnahmslos darauf gerichtet ist, neben der Rohproduktion auch die industrielle Produktion einzuführen, um den heimischen Bedarf an industriellen Erzeugnissen selbst zu decken. Dass damit auch der Ueberschuss an Rohprodukten und speziell an Getreide auf dem internationalen Markte zu Ende geht, ist schon aus logischen Gründen zu erwarten. Der empirische Beweis ist jedoch hier viel zu wichtig, als dass er ausser Acht bleiben dürfte.

Zunächst wird auch hier wieder die gerechte Beurteilung anerkennen, dass man zur Zeit von Adam Smith den Eindruck haben konnte, die Weizenpreise würden sich dauernd über 200 M. p. 1000 kg, also dauernd auf der Höhe der bekannten „Kanitzpreise“ halten, während zu etwas billigeren Preisen in dem benachbarten Amsterdam anscheinend beliebige Mengen von Brotgetreide gekauft werden konnten. Dass man unter solchen Umständen vor eineinviertel Jahrhundert in dem industriell Buchseite 102 aufblühenden England zu der wirtschaftspolitischen Ueberzeugung kommen musste: es sei nicht nur überflüssig, sondern auch unbillig, bei so hohen Getreidepreisen den inländischen Getreidebau auf den Latifundien der englischen Grosskapitalisten noch durch hohe Schutzzölle mit Einfuhrprämien zu begünstigen — das dürfte allgemein verständlich erscheinen. Andererseits sagt das Adam Smith’sche Programm ausdrücklich: die Getreidepreise müssen die Produktionskosten decken und sie haben deshalb bei fortschreitender Kultur naturgemäss eine steigende Tendenz. Damit trennt sich dieser Nationalökonom tief und scharf von den heutigen Vertretern des blinden und bedingungslosen Freihandels, die auch dann keine Massregeln zum Schutz der heimischen Landwirtschaft billigen wollen, wenn der durchschnittliche Weizenpreis von 200 M. und mehr zur Zeit von Adam Smith inzwischen auf 130 M. und noch tiefer herabgesunken ist und wenn es sich dabei nicht um die Grundrente der englischen Latifundienbesitzer, sondern um den Arbeitsverdienst der deutschen Bauern handelt.

Diese unbedingte Anerkennung der Adam Smith’schen Stellungnahme vorausgeschickt, sind wir heute auf Grund der inzwischen neu gesammelten Erfahrungen in der Lage, in den Adam Smith’schen Argumenten zu Gunsten eines internationalen Handels in Getreide folgende Irrtümer nachzuweisen.

Die Getreideernte leidet nicht nur unter dem Einflusse der Trockenheit und der Nässe, sie leidet auch unter dem häufig noch schärfer auftretenden Einfluss der Kälte. Auch grössere Produktionsgebiete schliessen das unerwünschte Ereignis einer Missernte nicht aus. So hatte das Weizenproduktionsgebiet der Erde innerhalb der letzten 26 Jahre sieben schlechte Ernten, nämlich in den Jahren 1876, Buchseite 103 1879, 1881, 1889, 1890, 1896 und 1897. Speziell die Erfahrungen des Leiter-Corner-Jahres 1897/98 haben gezeigt, dass nach solchen schlechten Ernten mit Hilfe der Getreideterminbörsen grosse internationale Spekulationsvereinigungen zu Stande kommen, welche auch für Mitteleuropa die Getreidepreise auf die Höhe von Hungersnotspreisen treiben können. Dieser Versuch ist allerdings im Mai 1898 nicht vollkommen geglückt, weil Russland und Indien ihre Grenzen zur Ausfuhr der letzten Getreidereserven offen gelassen hatten. Dafür wurden dann diese beiden Länder im nachfolgenden Jahre von einer furchtbaren Hungersnot heimgesucht, in der Hunderttausende den Hungerstod gestorben sind. Für Mitteleuropa wurden diesmal auf solche Weise Hungersnotpreise vermieden; nur in Spanien und Italien kam es trotzdem zu Hungersnotrevolten.

Es können indessen auch Fälle eintreten, in denen durch andere Faktoren die Zufuhr von Brotgetreide verhindert wird. Einen solchen Fall hatte die englische Geschichte schon bald nach Adam Smith zur Zeit der Napoleonischen Kriege und der Kontinentalsperre zu verzeichnen, als die Preise für 1000 kg Weizen auf 708,80 M. stiegen! Als im Winter 1895/6 ein kriegerischer Konflikt zwischen England und den Vereinigten Staaten von Nordamerika drohte, brachte die englische Tagespresse Hunderte von Leitartikeln über das Thema: „Krieg zwischen England und Amerika, England muss sich binnen vier Wochen ergeben“ — aus dem ganz einfachen Grunde, weil England in seiner Brotversorgung auf Nordamerika angewiesen sei.

Die Adam Smith’sche Theorie der internationalen Arbeitsteilung hat übersehen, dass England nicht der einzige Industriestaat auf der Welt bleiben konnte. Alle Märchen über die natürliche Ueberlegenheit und über das natürliche Monopol von Buchseite 104 England in seiner Stellung als Industriestaat sind inzwischen fast schon in Vergessenheit geraten. Ein Land nach dem anderen ging oder geht zur industriellen Entwickelung über und in rascher Folge wird daher ein Land nach dem anderen aus einem Getreideexportland ein Getreideimportland. England selbst war um die Mitte des 18ten Jahrhunderts noch stolz auf seine Getreideausfuhr, heute reicht seine jährliche Weizenproduktion oft kaum für zwei Monate zur Ernährung seiner Bevölkerung aus. Die englischen Farmer klagten in dem zweiten und dritten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts laut über die gefährliche Getreidekonkurrenz der deutschen Landwirte. Heute führte Deutschland in dem allerdings ungünstigen Erntejahr 1901/2 2,379 Millionen Tonnen Weizen netto ein bei einer eignen Weizenproduktion von 2,931 Millionen Tonnen. Zu Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts war eine ganze Litteratur über die Gefahr der österreich – ungarischen Getreidekonkurrenz erstanden. Heute produziert Oesterreich-Ungarn gerade noch genug Getreide, um seinen eignen Bedarf zu decken. Die Adam Smith’sche Theorie führt deshalb logischer Weise in eine Sackgasse.

England hatte die Unrichtigkeit dieser Theorie zur Zeit der Napoleonischen Kriege am eigenen Leibe kennen gelernt und setzte deshalb damals sofort mit einer energischen Schutzzollpolitik ein, die bis in die 40 er Jahre des vorigen Jahrhunderts andauerte. Dann begann man allerdings die ernste Lehre der Napoleonischen Zeit wieder zu vergessen, um erst in unseren Tagen von Neuem Erwägungen über diese drohenden Gefahren anzustellen. Der Sozialist Robert Blatchford schreibt in seinem „Merie England“, das eine Verbreitung in weit über eine Million Exemplaren gefunden hat: „Der Kapitalismus, der die englische Landwirtschaft zerstört hat, hat zugleich auch die Unabhängigkeit des englischen Staates zerstört. Noch 20 Jahre des blühenden Buchseite 105 Handels und des billigen Brotes wie bisher und England ist rettungslos verloren.“ — So oft aus irgend einem politischen oder ökonomischen Wetterwinkel die Gefahr droht, dass dem englischen Königreich die Brotgetreidezufuhr abgeschnitten oder wesentlich erschwert würde, erörtert auch das englische Parlament mehr oder minder eingehend die Frage: auf welche Weise durch staatliche Getreideläger und dergleichen dem englischen Volke der Brotgetreidebedarf wenigstens auf 3 Monate gesichert werden könnte? — um all diese Verhandlungen und Kommissionsberatungen mit dem Verschwinden der unmittelbar drohenden Gefahr sofort wieder bei Seite zu legen. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Das englische Parlamentsmitglied Lord Georges Hamilton hat in seinem am 20. Februar 1894 vor der Royal Statistical Society in London gehaltenen Vortrag über diese bedenkliche Situation des englischen Volkes folgende charakteristische Worte gesagt: „Wir sind in der Lage eines Mannes, der gezwungen ist zu spielen und seinen Spieleinsatz fortwährend zu erhöhen, nicht deshalb, weil er das Spiel liebt, sondern weil er jetzt nicht mehr aufhören kann zu spielen, ohne sich dem Untergang und dem Verderben preiszugeben.“ — Man wird angesichts dieser Thatsachen und Erfahrungen unmöglich behaupten können, dass die Adam Smith’sche Lehre von der internationalen Arbeitsteilung eine dauernde ökonomische Wahrheit sei.

Robert Malthus hat die für das englische Volk so schlimmen Zeiten der Napoleonischen Kriege und der Kontinentalsperre miterlebt. Deshalb war er in der Lage, die Adam Smith’sche Lehre in wesentlichen Teilen zu verbessern und zu ergänzen. Nach seiner Auffassung hat der internationale Buchseite 106 Freihandel zur Voraussetzung, dass die Brotgetreideversorgung in jedem Lande durch die eigene Produktion in der Hauptsache gesichert sei, dass auch die industriellen und gewerblichen Produkte ihre wichtigsten Märkte im Inlande finden und jedes Ueberwiegen der industriellen Entwicklung sorgsam verhütet werde. Nach Robert Malthus sollen die landwirtschaftliche und die industrielle Produktion einander proportional sein, sich gegenseitig stützen und decken, um so die ökonomische Unabhängigkeit der Staatsgemeinschaft zu sichern und zu erhalten. So lange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, ist die Zeit auch noch nicht reif für einen internationalen Freihandel. Aber diese Bedingungen würden wahrscheinlich erfüllt sein, wenn die richtige Lehre von Adam Smith erfüllt wäre, nämlich: wenn die Getreidepreise die heimischen Produktionskosten deckten und bei fortschreitender Kultur eine steigende Tendenz zeigten gegen eine fallende Tendenz in der Preisbewegung der industriellen Produkte.

Für Robert Malthus ist diese ökonomische Selbständigkeit der Staatsgemeinschaft eine wesentliche Voraussetzung der ökonomischen Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Einzelnen. Nur innerhalb der Grenze des Staates können die Machtmittel desselben bei arbeitsteiliger Produktion einen geordneten gegenseitigen Austausch der Güter dauernd sichern. Je mehr die arbeitsteilige Produktion in wesentlichen Dingen vom Auslande abhängig wird, desto mehr läuft sie Gefahr, durch unberechenbare Ereignisse tiefgehende Störungen zu erleben, zu deren Beseitigung die Machtmittel des Staates nicht mehr ausreichen und für welche dann die Einzelnen schuld- und schutzlos zu leiden haben.

Solche Krisen sind speziell der industriestaatlichen Entwicklung eigen Buchseite 107 und stehen in ihrer Intensität immer in direkter Proportion zur Grösse der Proletariermassen. Denn: jeder industrielle Aufschwung bringt dem besitzlosen Arbeiter höheren Arbeitslohn und damit eine bessere Lebenshaltung. Die unmittelbaren Folgen sind: Zunahme der Ehegründungen und entsprechende Zunahme der Bevölkerungszahl. Dabei ergiebt sich bei einem Ueberwiegen der Industrie über die heimische Landwirtschaft eine noch grössere Abhängigkeit der Volksernährung vom Auslande. Die Geschichte lehrt uns, dass die damit begonnene einseitige Entwicklungstendenz in kürzeren Zeiträumen immer wieder Störungen der verschiedensten Art und des verschiedensten Grades erlebt, die immer mit besonderer Härte auf den besitzlosen Arbeitermassen lasten. Die übliche kurzsichtige Politik der Staaten ist in solchen Fällen bemüht, durch Armenunterstützungen aller Art in Verbindung mit neuen handelspolitischen Beziehungen zum Auslande die Dauer der Krisis abzukürzen, um so möglichst bald wieder einen neuen industriellen Aufschwung mit weiterer Lohnsteigerung, neuer Proletarierzunahme u.s.w. zu erreichen. Nach Robert Malthus folgen in all diesen Fällen die Politiker leider nur der Entwicklungstendenz der Krankheit, die den volkswirtschaftlichen Körper befallen hat und also der Entwicklungstendenz des Verderbens. Die Krankheit selbst greift unter solchen Massnahmen mehr und mehr um sich. Die natürliche Lebenskraft des volkswirtschaftlichen Organs wird verbraucht. Und das Ende kann nur ein Ende mit Schrecken sein.

Wer nach Robert Malthus auch hier den Mut hat, der Wahrheit ins Auge zu schauen, wird als Politiker — statt dieser verhängnisvollen Entwicklungstendenz der Krankheit in kurzsichtiger Weise zu folgen — bemüht sein müssen, dem volkswirtschaftlichen Körper Buchseite 108 wieder zur vollen Gesundheit zu verhelfen. Und hierfür gilt bei Freiheit der Arbeit und bei Arbeitsteilung nur der Grundsatz: der Staat kann die Arbeiter nicht ernähren, wenn sie sich nicht selbst ernähren können. Der Staat kann den einzelnen nicht bereichern, wenn er sich nicht selbst bereichert. Der Staat kann nur die äusseren Bedingungen so ordnen, dass sich der Einzelne selbst helfen kann. Zeigt es sich aber, dass jede einseitige industrielle Entwicklung infolge ihres Uebergreifens auf das stets unzuverlässige Ausland von Zeit zu Zeit durch Krisen heimgesucht wird, so kann im Interesse einer inneren Gesundung der Volkswirtschaft wie im Interesse der Proletarier gar nicht früh und gar nicht energisch genug durch eine entsprechende Förderung der heimischen Landwirtschaft der Schwerpunkt der volkswirtschaftlichen Entwicklung im eigenen Lande wieder gesichert werden. Nur so kommt die Wirtschaft des Volkes bei Arbeitsteilung zu dauernd geordneten Verhältnissen.

Die Kritik dieser Malthus’schen Lehre hat bis heute darauf hinweisen können, dass für junge Kulturländer, wie Nordamerika, Argentinien u.s.w. die Malthus’schen Theorien zur Erklärung der Krisen nicht verwendbar sind. Man hat auch mit Recht betont, dass Malthus eigentlich nicht gezeigt habe, wie der Uebergang aus der einseitig industriellen Entwicklung zur harmonischen Entwickelung von Landwirtschaft und Industrie wirtschaftspolitisch vollzogen werden könnte. Mit der Abschaffung der armenrechtlichen Verpflichtungen jeder Art zur Unterstützung der Hungernden und mit der Einführung genügend hoher Schutzzölle Buchseite 109 allein ist offenbar dieses Problem noch nicht gelöst. Aber die gerechte wissenschaftliche Kritik ist heute auch darüber einig, dass die eminente soziale Gefahr in der Bevölkerungszunahme der Proletariermassen, auf welche Malthus zuerst nachhaltig aufmerksam gemacht hat, thatsächlich besteht, und wir möchten sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: der gesunde Kern jener Theorien, welche die Lehren des ökonomischen Liberalismus ausmachen, hat einem Robert Malthus mehr zu danken als einem Adam Smith.

Dem Adam Smith’schen Kapitalbegriff gegenüber haben namentlich Rodbertus und Adolf Wagner schon darauf hingewiesen, dass mindestens zwischen Kapital im volkswirtschaftlichen und Kapital im privatwirtschaftlichen Sinne unterschieden werden müsse. Wenn es einem Unternehmer gelingt, seine Lohnarbeiter in rücksichtslosester Weise auszubeuten, so kann der Reichtum, den er alsdann in seiner Tasche ansammelt, einer solchen Belastung der Gesamtheit infolge der Verelendung der Arbeiterfamilien gegenüberstehen, dass unmöglich eine gleichzeitige Zunahme des Nationalreichtums angenommen werden kann. Wenn ein Spekulant an der Börse durch geschickte Verbreitung falscher Nachrichten eine nach grossem Styl angelegte Baissespekulation mit reichem Gewinn zu Ende führt, so haben auf dem Getreidemarkte z. B. andere Personen das Geld millionenfach verloren, das der eine Spekulant dabei gewonnen, während der ganze Vorgang den nationalen Gütervorrat an sich völlig unberührt gelassen hat. Wenn ein Güterschlächter in einer Bauerngemeinde sein unheilvolles Gewerbe zum Abschluss gebracht hat, so mag seine Privatbörse eine wohlgefüllte sein, die nationale Produktion aber hat dieser Mann ganz gewiss nicht gefördert, sondern Buchseite 110 nur geschädigt. In all diesen Fällen handelt es sich um die werbende Thätigkeit nicht des volkswirtschaftlichen, sondern des privaten Kapitals, um gewinnbringende Handlungen der Privatkapitalisten, um markante Vorgänge, die dem „Kapitalismus“ angehören, und trotzdem fehlen die Merkmale des Adam Smith’schen Kapitalbegriffes: denn nirgends erkennen wir „angesammelte Arbeitsprodukte, welche dem Zwecke der volkswirtschaftlichen Güterproduktion dienen.“

C. Menger hat deshalb seine Definition des Kapitals wieder mehr dem Begriff des Kapitalismus und der ursprünglichen und allgemeinen Auffassung des Kapitals angepasst, indem damit das „Vermögen der Erwerbswirtschaft bezeichnet wird, dessen Geldwert Gegenstand unseres ökonomischen Calculs ist und das sich uns rechnungsmässig als eine werbende Geldsumme darstellt.“ Aber auch hierbei scheint Vorsicht von Nöten zu sein. Die mehr als hundertjährige Herrschaft des Adam Smith’schen Kapitalbegriffes ist uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass heute auf der kleinsten landwirtschaftlichen Winterschule den Bauernsöhnen gelehrt wird, den ökonomischen Jahreserfolg der Bauernwirtschaft nach rechnerischem Calcul zu zerlegen in: Grundrente, Kapitalzins und Arbeitslohn. Fast jede landwirtschaftliche Produktionskostenberechnung zählt selbstverständlich zu den Kosten auch die Zinsen des investierten Kapitals. Wo die öffentliche Meinung so gründlich von kapitalistischen Anschauungen durchsetzt ist, da wird es ratsam sein, den allgemeinen Sprachgebrauch nicht als Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Definition zu wählen. Hier scheint es richtiger, auf die Quelle dieses Begriffes bei Adam Smith zurückzugreifen.

Da ist es nun vor Allem wichtig, sich zunächst zu erinnern, dass Adam Smith selbst wohl der unbedingten Richtigkeit seines Kapitalbegriffes nicht voll vertraute. Sonst Buchseite 111 wäre es unverständlich, dass er in so nachdrücklicher und so zutreffender Weise vor den Folgen des Kapitalismus warnen konnte, wie das in dem oben angeführten Citat zum Ausdruck kommt.

Weiter ist zu beachten, dass Adam Smith beim Kapital ebenso wie bei der Preisbewegung für landwirtschaftliche und industrielle Produkte ganz bestimmte Normen kannte, denen eine gute gesunde volkswirtschaftliche Entwicklung sich möglichst zu nähern habe.

Bei gesunden volkswirtschaftlichen Zuständen, wie sie auch in England schon einmal waren, ist nach Adam Smith der einzelne Arbeiter in der Regel auch Eigentümer seiner Produktionsmittel und besitzt genug Vermögen, um sich während der Dauer der Produktion zu erhalten. In diesem Falle ist dann das Arbeitsprodukt der naturgemässe Arbeitslohn. In diesem Normalfalle giebt es weder ein Kapital, noch einen Kapitalzins, noch eine Grundrente, sondern nur naturgemässen Arbeitslohn. Auf dieser Basis lässt sich nun die Lehre vom Kapital folgendermassen anschliessen.

Diese normalen Verhältnisse werden häufig in der Weise gestört, dass Geldbesitzer die Macht gewinnen, die selbstständigen Arbeiter ihrer Produktionsmittel zu berauben. So kam es in England schon Ausgangs des Mittelalters zur Vernichtung des englischen Bauernstandes hauptsächlich durch die Wollinteressenten. Dann teilt sich die natürliche Grundzelle der Volkswirtschaft, der Mittelstand nämlich, in Arbeit und Produktionsmittel und es tritt ein Zustand ein, den man als den kapitalistischen auch deshalb bezeichnen kann, weil alle grösseren Produktionsleistungen jetzt unter der Herrschaft und Oberleitung des spekulativen Privatkapitals stehen, womit jedoch in keiner Weise gesagt werden darf, dass sich das spekulative Kapital etwa nur darauf beschränken würde, den Produktionsprozess Buchseite 112 zu fördern. Das Kapital benutzt jede mögliche Form der Aneignung von Gütern und sieht eine Grenze seiner Aneignungsfähigkeit nur in dem vorhandenen Gütervorrat. Erst jetzt, im Zeitalter des Kapitalismus, wird das fertige Arbeitsprodukt aufgeteilt in Arbeitslohn, Kapitalzins und Grundrente. Und eine specifische Art dieser privaten Gewinnerzielung hat David Ricardo in seiner Grundrentendefinition erfasst, wie sich das in folgender Weise begründen lässt.

Die volkswirtschaftliche Produktion unter der Herrschaft des Kapitalismus drängt leicht zur Spezialisierung in der Produktion, zur internationalen Arbeitsteilung, zur Abhängigkeit vom Auslande hinsichtlich des Absatzes der industriellen Produkte, wie hinsichtlich der Getreideversorgung des Volkes und des Bezuges an Rohstoffen. Da nun in der Zeit einer anscheinend aufsteigenden Entwicklung die Proletarierbevölkerung sich immer stark vermehrt, so tritt zur Zeit der bei kapitalistischer Herrschaft unausbleiblichen Krisen mit der Stockung der Getreidezufuhr vom Auslande ein plötzlicher „Andrang der heimischen Bevölkerung“ auf dem bis dahin vernachlässigten heimischen Getreidemarkt ein, welcher die Getreidepreise jetzt so hoch treibt, dass sie durch ihre Höhe zur genügenden Getreideproduktion im eigenen Lande binnen kürzester Zeit anreizen. In diesem Falle erzielen die Eigentümer der besseren Böden einen Extragewinn, der sich mit der Ricardo’schen Grundrente deckt. Die Kritik hat mit Recht behauptet, dass unter solchen Umständen die Beibehaltung des privaten Grundeigentums sich nicht mehr rechtfertigen lässt. Die Kritik hätte gleichzeitig noch einen guten Schritt weiter gehen und sagen können, dass unter solchen Zuständen die ganze Unhaltbarkeit der rein kapitalistischen Ordnung der Volkswirtschaft in aller Schärfe uns entgentritt und dass deshalb die WiederBuchseite 113kehr normaler Verhältnisse mit vorherrschendem Mittelstand gar nicht eilig genug herbeigeführt werden kann.

Die Litteratur nach David Ricardo hat jedoch diese Schlüsse zunächst nicht gezogen. Ihr schien vielmehr die reinste Darstellung der kapitalistischen Volkswirtschaftslehre die zunächst wichtigste Aufgabe aller ökonomischen Wissenschaft. Sie hat damit heute den Beweis wesentlich erleichtert, dass eine kapitalistische Ordnung des ökonomischen Volkslebens nicht von Dauer sein kann.

Die „reinen“ bedingungslosen Freihändler waren bekanntlich der Ansicht, dass die beste Ordnung unserer volkswirtschaftlichen Verhältnisse darin bestehe, die vier wichtigsten Güterkategorien, nämlich die Arbeit, den Grund und Boden, das Geld und die eigentliche Ware dergestalt in freihändlerische „Ware“ zu verwandeln, dass auf all diesen Gebieten alle volkswirtschaftliche Sorge dem spekulativen Privatkapital überlassen werde. Diese bedingungslose freihändlerische Richtung hat bekanntlich in allen modernen Kulturländern den Gesetzgebungsapparat in ihre Gewalt bekommen. Fast überall tragen heute noch die Völker die Fesseln dieser Freihandelsgesetze. Und wie haben diese sich in der Praxis bewährt?

All jene furchtbaren Missstände, welche die freihändlerische Behandlung der Arbeit als „Ware“ zur Folge hatte, hat den modernen wissenschaftlichen Sozialismus gezeitigt, der wirtschaftspolitisch die Verstaatlichung der Produktionsmittel fordern zu müssen glaubt. Die heute in Deutschland herrschende kathedersozialistische Richtung hat sich der sozialistischen Kritik des Freihandels auf dem Gebiete der Lohnarbeit angeschlossen. Und seit dem Beginn der modernen sozialen Gesetzgebung zu Buchseite 114 Gunsten der Lohnarbeiter haben die legislativen Faktoren in ihrer Mehrheit entschieden, dass die Freihandelslehre von der menschlichen Arbeit als „Ware“ eine Irrlehre sei.

Der Güterschlächter, als hervorragendster Repräsentant des Freihandels in Grund und Boden, wird heute in fast allen Kulturländern als eine Persönlichkeit betrachtet, die mehr oder minder scharf unter Polizeiaufsicht gestellt werden muss. In den Alpenländern ausserhalb der Schweiz, wie in den landschaftlich schönsten Teilen der deutschen Mittelgebirge zeigen sich bereits höchst verdächtige Entwickelungen der Latifundienbildung zu Jagdzwecken, sodass es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis die Gesetzgebung auch hier dem unheilvollen „Kapitalismus“ entgegentreten muss. Dazu kommen fortwährend sich mehrende Gesetze im Sinne einer positiven Ordnung des bäuerlichen Erbrechts, Massnahmen gegen die schwindelhaften Bauspekulationen in den Städten, Bestrebungen zu Gunsten einer Neuordnung der Grundverschuldung u.s.w. All diesen Gesetzen und wirtschaftspolitischen Strömungen aber liegt die eine feste Ueberzeugung zu Grunde: es war ein höchst bedenklicher Irrtum des Freihandels, Grund und Boden als „Ware“ zu behandeln.

Die freihändlerische Lehre vom Gelde hat bereits verschiedene Wandlungen durchgemacht. Nachdem ursprünglich in den Ländern mit Doppel-Währung die freie Prägung der beiden Edelmetalle beliebt war, sodass dem spekulativen Privatkapital auch die Festsetzung des Metallgeldvorrates überlassen blieb, siegte dann die Richtung zu Gunsten einer internationalen Goldwährung, womit in Doppelwährungsländern die freie Prägung eingestellt wurde. Die Erklärung für diese veränderte Auffassung liegt nahe: nicht nur der internationale Warenverkehr, auch die internationale Ausbeutung der Völker durch das spekulative Buchseite 115 Privatkapital wird wesentlich erleichtert, wenn überall die gleiche Währung gilt. Die Ausdehnung dieser Politik auch auf Russland und Indien hat indes gezeigt, dass Staaten auf diesem Niveau der wirtschaftlichen Entwickelung sich darauf beschränken müssen, durch eine besondere Goldreserve den Cours der Landesmünze im nationalen Geldverkehr zu halten. Inzwischen ist in Russland, Indien und auch in China eine immer noch wachsende Strömung erwacht gegen die Einführung der modernen Geldwirtschaft überhaupt. In anderen Ländern, wie in Argentinien, Italien und der Türkei, wo man die Goldwährung eingeführt hat, folgte ihr das Fiasko auf dem Fusse. Die Freihandelslehre, dass der Zins eine ebenso ursprüngliche volkswirtschaftliche Einkommensart sei, wie der Arbeitslohn und das Einkommen aus Grund und Boden, konnte vor allem von der historischen Forschung dahin korrigiert werden, dass fast alle Kulturvölker ursprünglich den Zins nicht kannten und dass der Zins, nachdem er sich in der weiteren Entwickelung als eine Art des Einkommens eingefunden, bei den Juden wie bei den Römern und bei den germanischen Völkern ausdrücklich durch besondere Gesetze verboten wurde. Auch die heutige Entwickelung ist wenigstens in den grössten Bankinstituten, wie in der deutschen Reichsbank, in der Bank von Frankreich und in der Bank von England mit Hunderten von Millionen Mark wieder beim zinsfreien Gelde angekommen. In den Wirtschaftsplan der Forsten haben vor einigen Jahrzehnten Theoretiker die Zinseszinsrechnung einführen wollen. Aber die daraus sich ergebenden Konsequenzen waren so ungeheuerlich, und der Widerstand der praktischen Forstmänner gegen diese Theorie ein so energischer, dass die Staatsbehörden überall die Aufnahme des Zinses in ihre forstwirtschaftlichen Erwägungen abgelehnt haben. Der vielgerühmte Ertragswertanschlag zur Buchseite 116 Ermittelung des Werts der landwirtschaftlichen Grundstücke besitzt seine grösste Schwäche darin, dass er den gefundenen Reinertrag nach dem landesüblichen Zinsfuss kapitalisiert und deshalb den Grundwert proportional dem Zinsfusse schwanken lässt. Nachdem der landesübliche Zinsfuss in den letzten 30 Jahren in Deutschland fast um 100% schwankte, hätte nur deshalb auch der Wert der landwirtschaftlichen Grundstücke um nahezu 100% schwanken müssen, selbst unter der Voraussetzung, dass der Ertrag der landwirtschaftlichen Grundstücke in der ganzen Zeit genau der gleiche geblieben wäre. Man ersieht aus alledem: in der Theorie erweist sich die Freihandelslehre vom Gelde als falsch, in der Praxis als unbrauchbar.

Ja nicht einmal bei der eigentlichen Ware konnte die Freihandelslehre ihre Anerkennung bis heute erhalten. Es klang doch so überzeugend fest für jedermann: der Preis der Ware wird am zweckmässigsten bestimmt durch Angebot und Nachfrage auf dem freien Markte. Ist das Angebot zu gross, dann geht der Preis zurück und wirkt einschränkend auf die Produktion. Ist das Angebot zu klein, so steigt der Preis und wirkt anregend auf die Produktion. So wurde die Preisbildung auf dem freien Markte auch zum volkswirtschaftlichen Regulator der Produktion. In der Praxis aber zeigte sich folgendes:

Die Preisbildung des freien Marktes unter der Herrschaft des spekulativen Privatkapitals ist keine solche nach weiten festen Gesichtspunkten, sondern in recht nervöser Weise an die tägliche und stündliche Marktsituation gebunden. Die Augenblickssituation des Marktes beherrscht den freihändlerischen Marktpreis. Und weil diese Situation ausserordentlich wechselvoll sich gestaltet, ist die Preisbewegung auf den freien Märkten nie vor Ueberraschungen sicher und deshalb eine fortwährend schwankende.

Buchseite 117 Bei den modernen Weltmärkten für die verschiedenen Waren wird ausserdem der Markt durch „Stimmungen“ beherrscht, die sich auf den eingelaufenen Nachrichten von und über den Markt aufbauen. Weil und soweit aber dieser Nachrichtendienst mehr oder minder ausschliesslich in der Hand des spekulativen Privatkapitals ruht, werden diese Nachrichten im Interesse grosser Privatspekulationen immer wieder systematisch gefälscht. Damit wird dann natürlich auch immer die Preisbildung gefälscht. Und das schliessliche Resultat ist eine Verschärfung der Preisschwankungen nach oben und unten, wodurch bald die Interessen der Produzenten, bald die der Konsumenten empfindlich geschädigt werden. Nur die reinen Preisspekulanten gewinnen am meisten, wenn die Preisschwankungen am stärksten sind.

Der Konsument hat ein recht bedeutendes Interesse daran, schon im Voraus für eine möglichst lange Zeit zu wissen, was eine bestimmte Ware ihn kosten wird. Jede Art von Haushaltung wird damit wesentlich erleichtert. Nicht minder verlangen die Interessen der Produzenten die gleiche möglichste Stabilität der Preise. Nur dann sind einschneidende Reformen im Produktionsprozess allgemein möglich und zu rechtfertigen. Weil nun die Schwankungen in der Tagessituation des Marktes hauptsächlich in der ungeordneten Ablieferung der Produzenten an den Markt und in den Fälschungen der Marktnachrichten durch das Spekulationsinteresse verursacht werden, beginnen neuerdings die Produzenten eine bessere Ordnung des Marktes in der Weise zu schaffen, dass sie sich an der Organisation des Nachrichtendienstes über und für den Markt wesentlich beteiligen, dadurch Nachrichtenfälschungen bedeutend erschweren und endlich auf Grund dieses Nachrichtendienstes die Zufuhren zu dem Markte gemeinsam in Buchseite 118 der Weise regeln, dass in der Hand des Handels sich nicht mehr Ware ansammelt, als der Konsum in kurzer Zeit unmittelbar abnimmt. Durch diese bessere Regulierung des Zuflusses zum Markte regulieren sich dann auch die Preise auf mittlerer Höhe. Die weitere Entwickelung gestaltet sich in der Regel so, dass der solidere Teil des Warenhandels sich dieser Organisation der Produzenten unmittelbar anschliesst, um gemeinsam eine Verkaufsorganisation zu schaffen, bei der die Vernunft auf Grund besserer Einsicht die Preise reguliert an Stelle der rohen freihändlerischen Gewalten von Angebot und Nachfrage.

Das ist der heute ganz allgemein erkennbare Entwickelungszug bei fast allen Waren, und deshalb muss gesagt werden: selbst für die Ware im eigentlichen Sinne hat unsere Zeit schon begonnen, diejenige Freihandelslehre über Bord zu werfen, welche sagt, dass das spekulative Privatkapital auf dem freien Markt am besten in der Lage sei, die Warenpreise im volkswirtschaftlichen Sinne zu regulieren.

Der gesunde und dauernde Kern dessen aber, was wir als den ökonomischen Liberalismus bezeichnen können, entstammt aus der Zeit vor dem „reinen“ und „bedingungslosen“ Freihandel und lässt sich etwa in folgenden Sätzen zusammenfassen:

1. Auf einer gewissen Stufe der volkswirtschaftlichen Entwickelung muss das Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit des Einzelnen, welcher andererseits das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen entspricht, zur allgemeinen Anerkennung gelangen. Danach kann der Staat den Einzelnen nicht ernähren, wenn er sich nicht selbst ernährt, und der Staat kann den Einzelnen nicht bereichern, wenn er sich nicht selbst bereichert.

Buchseite 119 2. In dieser Periode der individuellen wirtschaftlichen Freiheit besteht die grosse und höchst wichtige Aufgabe des Staates darin, jene wesentlichen allgemeinen Bedingungen zu erhalten, oder binnen kürzester Zeit mit aller Energie wieder zu schaffen, welche dem Einzelnen die Erfüllung seiner ökonomischen Selbstverantwortlichkeit ermöglichen. Diese wesentlichen Voraussetzungen bestehen darin, dass innerhalb der Staatsgrenzen die Versorgung des Volkes mit Brotgetreide, der Bezug der wichtigsten Rohmaterialien der Massenproduktion und der Absatz der wichtigsten Massenprodukte gesichert sei. Nur wenn die andern Staaten in gleicher Weise dieser normalen Entwickelung zustreben, ist die Voraussetzung für einen internationalen Freihandel gegeben.

3. Zu diesen normalen volkswirtschaftlichen Verhältnissen, wie sie sein sollen bezw. erstrebt werden sollen, gehört ein bedeutendes Vorherrschen des Mittelstandes, der Eigentümer seiner Produktionsmittel und wohlhabend genug ist, sich während der Dauer der Produktion selbst zu ernähren. In diesem Falle ist dann das Arbeitsprodukt der naturgemässe Arbeitslohn. Hier bleibt die Bevölkerungsbewegung innerhalb der rechten Proportion zur Nahrungsmittelzunahme. Hier giebt es weder Kapital noch Zins noch Grundrente.

4. Werden diese normalen volkswirtschaftlichen Verhältnisse durch Ausbreitung und Herrschaft des Privatkapitals wesentlich gestört, dann trennt sich der Mittelstand in Kapitalisten, Grundbesitzer und Buchseite 120 Lohnarbeiter. Das fertige Arbeitsprodukt wird dann bei kapitalistischer Ordnung der Volkswirtschaft aufgeteilt in Grundrente, Kapitalzins und Arbeitslohn.

5. Diese kapitalistische volkswirtschaftliche Ordnung ist deshalb für die Gesamtheit so ausserordentlich gefahrvoll, weil dann bei den Proletariern die ausgesprochene Tendenz besteht, über die heimische Nahrungsmittelproduktion immer mehr hinauszuwachsen. Diese Tendenz ist um so gefahrvoller, weil die Herrschaft des spekulativen Privatkapitals zur immer schärferen internationalen Arbeitsteilung neigt und damit das Wohlergehen der eigenen Volkswirtschaft in eine immer bedenklichere Abhängigkeit kommt von dem Wohlverhalten fast aller Länder der Erde. Weil aber in der Welt erfahrungsgemäss tiefere ökonomische Störungen immer wiederkehren, wird dann jedes Mal die eigene Volkswirtschaft von einer entsprechenden einschneidenden Krisis heimgesucht, in welcher die Einzelnen schuldlos und schwer leiden müssen für die Unterlassungssünden des Staates. In solchen kritischen Zeiten durch irgend welche armenrechtlichen Bestimmungen „helfen“ wollen, ist Selbstbetrug, der die Vernichtung der Volkswirtschaft nicht nur nicht aufhalten, sondern nur beschleunigen kann. Hier giebt es nur eine Art der Rettung und das ist: eiligste Rückkehr zu normalen volkswirtschaftlichen Verhältnissen.

6. Der Wert der Arbeitsprodukte bestimmt sich im Prinzip nach den Produktions- resp. Reproduktionskosten und ist also gleich dem „Buchwerte“. Je mehr sich der Preis der Waren dieser Buchseite 121 Wertnorm nähert, desto besser sind die volkswirtschaftlichen Verhältnisse geordnet. Bei normaler volkswirtschaftlicher Entwickelung haben ferner die Getreidepreise die Tendenz, langsam und stetig zu steigen, während umgekehrt die industriellen Produkte eine fallende Tendenz zeigen.

7. Die beste Steuer ist eine Einkommensteuer mit der Heranziehung des Vermögens und unter besonderer Belastung desjenigen Einkommens, das weder Sorge noch Arbeit gekostet hat.

Vorbemerkungen und Litteratur: Der moderne wissenschaftliche Sozialismus wurde durch Karl Marx und Friedrich Engels gemeinsam begründet.

Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 als Sohn eines jüdischen Advokaten in Trier geboren, der im Jahre 1824 über Aufforderung der preussischen Regierung mit seiner Familie zum Protestantismus übertrat. Karl Marx studierte von 1835 bis 41 in Bonn und Berlin Rechtswissenschaften und Philosophie. Seine 1841 beabsichtigte Habilitation in Bonn unterblieb unter Einfluss ministerieller Massnahmen gegen radikale Universitätsdozenten. Wurde Journalist. Gründung der „Rheinischen Zeitung“ von Jung-Hegelianern im Einverständnis mit den liberalen Führern Camphausen und Hansemann als grosses Oppositionsblatt in Köln. Marx schrieb über bäuerliche Winzerverhältnisse an der Mosel und die Gesetzgebung betreffend den Holzdiebstahl. Wurde im Oktober 1842 Chef - Redakteur der „Rheinischen Zeitung“. Musste am 1. Januar 1843 Preussen verlassen. Ging nach Paris. Studium der französischen Sozialisten (Proud’hon) der politischen Oekonomie und Geschichte Frankreichs. Sein Uebergang zum Sozialismus. Wurde Mitarbeiter am „Vorwärts“, einem kleinen in Paris erscheinenden Wochenblatte, das sich hauptsächlich mit dem damaligen deutschen Absolutismus und Konstitutionalismus kritisch beschäftigte. Preussen verlangte Marx’ Ausweisung aus Paris. Die französische Regierung entsprach diesem Verlangen. Marx ging 1845 nach Brüssel, veröffentlichte hier seine Streitschrift gegen Proud’hon „Misère de la philosophie, réponse à la philosophie de la misère“ 1847. Im Frühjahr 1847 waren Karl Marx und Friedrich Engels dem Bunde der Kommunisten, einer geheimen internationalen Propagandagesellschaft, beigetreten, in deren Auftrage sie gemeinsam im Januar 1848 „Das Manifest der kommunistischen Partei“ verfassten. Im Frühjahr 1848 aus Belgien ausgewiesen kommt er nach kurzem Aufenthalt in Paris im April 1848 wieder nach Köln, wo vom 1. Juni 1848 ab die „Neue Rheinische Zeitung“ erschien, die am 19. Mai 1849 zum letzten Male zur Ausgabe gelangte. Die Redakteure wurden teils verhaftet, teils landesverwiesen. Wieder nach Paris gewandert, musste Marx auch hier flüchten, um vom Juli 1849 ab im Alter von 31 Jahren in London dauernd Wohnsitz zu nehmen, wo rastlose Studien in der Bibliothek des britischen Museum abwechselten mit praktisch-politischer Buchseite 123 Thätigkeit für die internationale Arbeiterassociation, deren Gründung 1864 erfolgte. Starb in London 14. März 1883 im Alter von 65 Jahren. Von seinen kleineren Arbeiten sei besonders erwähnt: „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“, 3. Auflage, Hamburg 1889. Sein Hauptwerk: „Das Kapital“ Kritik der politischen Oekonomie, 1. Band 1867, 2. Band 1885, 3. Band 1894.

Friedrich Engels, als Sohn eines reichen Fabrikbesitzers in Barmen am 28. November 1820 geboren, verbrachte seine kaufmännische Lehrzeit in einem Zweiggeschäfte seines Vaters in Manchester, beschäftigte sich viel mit philosophischen Studien, traf im September 1844 mit Karl Marx in Paris zusammen, mit dem er sich rasch innigst befreundete. Von 1845 bis 49 lebte Engels mit Marx in Brüssel und Paris und dann in Köln. Er beteiligte sich als Adjutant des Willig’schen Freicorps am badischen Aufstande und flüchtete dann nach England, wo er von 1850 bis 70 im väterlichen Geschäfte in Manchester thätig war, in den letzten 6 Jahren als Associé. Seit 1870 lebte Engels in London, wo er am 6. August 1895 starb. Engels war für Marx nicht nur der treue Mitarbeiter, welcher mit liebevollem Verständnis seinen Intentionen und Ideen gefolgt ist, er entlastete ihn auch vielfach von den Mühen der praktisch-politischen Agitation, ohne dadurch seine Fühlung mit der politischen Praxis zu unterbrechen, und er war endlich der wohlhabende Mann, welcher in selbstloser Weise aus seiner gut gefüllten Börse Hunderttausende zur Verfügung stellte, um auch so das gemeinsame Werk in jeder Weise zu fördern.

Von seinen vielen Schriften verdienen besondere Erwähnung: „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“, Neudruck Stuttgart 1882. „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, 4. Auflage, Berlin 1891. „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, 6. Auflage, Stuttgart 1894.

Für die Zeitverhältnisse kommen hauptsächlich in Betracht: Engels, „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ und Karl Marx: „Das Kapital“ 1. Band und die in diesen beiden Werken benutzten englischen parlamentarischen Erhebungen. Ueber tendenziöses Zitiren dieser parlamentarischen Enquête bei Marx, vergleiche: Weyer, „Die englische Fabrikinspektion“, Tübingen 1888.

Buchseite 124 Zur allgemeinen Orientierung über den „Marxismus“ und seine Kritik vergleiche ausser den diesbezüglichen Artikeln in Conrad’s Handwörterbuch der Staatswissenschaften und Elsters Wörterbuch der Volkswirtschaft namentlich Werner Sombart: „Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert“, 3. Auflage, Jena 1900; Ed. Bernstein: „Die Voraussetzung des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, Stuttgart 1899; Karl Kautsky: „Bernstein und das sozialdemokratische Programm“, eine Antikritik, Stuttgart 1899; und besonders die kleine Schrift L. Pohle: Die Sozialdemokratie eine vorübergehende Erscheinung? Berlin 1900; als Hauptwerk der Kritik der Marx’schen geschichtsphilosophischen Auffassung Stammler „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung“, Leipzig 1896.

*      *      *

Noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschah das Spinnen und Weben der Stoffe auch in England im Hause des Webers. Die Mutter mit den Töchtern spannen das Garn, das der Mann verwebte. Diese Weberfamilien lebten auf dem Lande, in der Nähe einer Stadt. Die Nachfrage nach Stoffen steigerte sich mit der Zunahme der Bevölkerung. Man verkaufte Garn und Gewebe an reisende Agenten und erhielt im Preis der Arbeitsprodukte seinen Arbeitslohn. Die Leute lebten in bescheidenen Verhältnissen zufrieden, hatten zumeist eine kleine Landparzelle gepachtet, um ihren Küchenbedarf selbst zu pflanzen und waren dabei gesund und wohl, wie die Landleute.

Da kam — nachdem schon um 1700 Maschinen zum Spinnen erfunden, aber von der Bevölkerung immer wieder unterdrückt wurden — um das Jahr 1764 die Einführung der Jenny, welche von einem Arbeiter mit der Hand getrieben, statt 1 Spindel, wie das gewöhnliche Spinnrad, Buchseite 125 16 bis 18 Spindeln hatte. Und während früher ein Weber drei Spinnerinnen beschäftigt hielt und doch nie Garn genug da war, war jetzt auf einmal mehr Garn da, als von den vorhandenen Webern verarbeitet werden konnte. Gleichzeitig wurde die Herstellung des Garns und damit auch die fertigen Stoffe billiger. Der Absatz der gewebten Zeuge erweiterte sich. Der Preis der Weberarbeit stieg. Die Weberfamilien zogen sich von der Bebauung ihrer Pachtparzelle ganz zurück, um sich ausschliesslich der Weberei zu widmen. Und wenn jetzt eine Familie von vier Erwachsenen und zwei Kindern, welche zum Spulen angehalten wurden, täglich 10 Stunden arbeitete, konnte sie 80 M. und mehr in der Woche verdienen. Ja es kam oft genug vor, dass ein einziger Weber an seinem Stuhle wöchentlich 40 M. vereinnahmte.

Aber mit der Einführung der Jenny hatte die Maschine erst ihren Anfang genommen. Bald begannen einzelne Kapitalisten, Jennys in grossen Gebäuden aufzustellen und durch Wasserkraft zu betreiben. Dann kam im Jahre 1767 die Erfindung des Spinning-Throstle, bei uns Drosselmaschine genannt, die von Anfang an auf eine mechanische Triebkraft berechnet war. Durch Vereinigung der Jenny mit der Drosselmaschine kam 1785 die Mule zu Stande. Und da um dieselbe Zeit die Kardir- und Vorspinnmaschine erfunden wurde, war das Fabriksystem zunächst für das Spinnen der Baumwolle fertig geworden. Die Maschinen für das Spinnen von Wolle, Flachs und Seide folgten. Im Jahre 1804 trat der mechanische Webstuhl in Betrieb, nachdem schon seit 1785 James Watt’s Dampfmaschinen als Triebkraft in den Spinnereien verwendet worden waren.

An diese Entwicklung der Fabrikation der Bekleidungsstoffe schloss sich mit der Ausdehnung des Maschinenbaues auch die Entwicklung der Eisen- und SteinkohlenBuchseite 126bergwerke und der Metallindustrie im Allgemeinen. Gleichzeitig steigen die Ziffern der Einfuhr von Rohmaterial und der Ausfuhr fertiger Produkte in raschester Progression. Es war z. B.:

Tabelle Band 1, Seite 126

Die Grafschaft Lancashire, der Hauptsitz der Baumwollindustrie, hat ihre Bevölkerung in 80 Jahren verzehnfacht und die beiden Grossstädte Liverpool und Manchester geschaffen. Aehnlich gewaltige Fortschritte verzeichnen die anderen Industrien. An Kohlengruben zählte man in den beiden Grafschaften Northumberland und Durham

                    1753   .  .  .  .    14
                    1800   .  .  .  .    40
                    1836   .  .  .  .    76
                    1843   .  .  .  .   130

England allein hatte im Jahre 1844 2200 Meilen Kanäle und 1800 Meilen schiffbare Flüsse. Von 1818 bis 1829 wurden in England und Wales 1000 englische Meilen Chausseen mit einer Breite von 60 engl. Fuss gebaut. Dazu das erste englische Dampfschiff seit 1811, die erste englische Eisenbahn seit 1830. — England stand mitten Buchseite 127 in seiner industriellen Entwicklung, die so gewaltige Reichtümer angesammelt hat, dass englisches Kapital nicht nur in allen Staaten Europas, sondern in allen Ländern der Erde an fast allen wichtigeren Unternehmungen in massgebender Weise sich beteiligte, so dass alle Länder der Erde bald nur mehr Provinzen des englischen Kapitals zu sein schienen. —

Und wie war in dieser Entwicklungsepoche die Lage der arbeitenden Klasse in England? — Eine jede maschinelle Erfindung verdrängt Handarbeit in einem gewissen Umfange, steigert die Produktionsleistung, setzt die Produktionskosten herab, ermöglicht den Massenkonsum und steigert dadurch wieder die Nachfrage nach Arbeitsprodukten und also schliesslich auch die Nachfrage nach Arbeit. So war durch die Spinnmaschine die Handspinnerei binnen kurzer Zeit brotlos geworden, denn es war der Handspinnerin unmöglich, neben der Maschine sich mit ihrer Arbeit das Brot zu verdienen. Die Nachfrage nach Handwebern war allerdings mit der Spinnmaschine wesentlich gewachsen und dementsprechend ihr Lohn. Mit dem mechanischen Webstuhl aber wurden auch die Handweber zu Grunde gerichtet. Ihre Löhne gingen rapid zurück. Bald waren sie froh, bei 14- bis 18stündiger täglicher Arbeitszeit nur 10 M. statt wie früher bis 40 M. wöchentlich zu verdienen. Der Hunger und die Not trieb allerdings die Mehrzahl dieser Handweber als Lohnarbeiter in die Fabriken. Aber zum Erlernen ungewohnter Arbeiten an einer Maschine ist eine gewisse Jugend erforderlich. Das Alter eignet sich hierzu nicht mehr; es bleibt am alten Werkzeug hängen, um mit ihm zu Grunde zu gehen. Diese unheilvollen Begleiterscheinungen des Prozesses der Verdrängung von Handarbeit durch die Maschine wiederholten sich mit jeder maschinellen Verbesserung und Erfindung. Und bis schliesslich die günstigen Buchseite 128 Wirkungen des zunehmenden Massenkonsums auch für den Arbeiter sich zeigten, darüber vergingen oft Jahre. Inzwischen lagen die brotlos gewordenen Arbeiter auf der Strasse und fielen den Armenhäusern oder den Spitälern zur Last. Die Tendenz aller technischen Fortschritte zielte auch darauf ab, die anstrengendere Arbeit mehr und mehr der Maschine zu übertragen. Männer werden dadurch fast nur noch für die Aufsicht erforderlich, während Frauen und Kinderarbeit zum halben und Drittellohn an Stelle der Männerarbeit tritt. Von den 419'560 Fabrikarbeitern des britischen Reiches waren 1839 192'889, also beinahe die Hälfte, unter 18 Jahren, 242'296 weiblichen Geschlechts, von denen 112'192 unter 18 Jahren und nur 96'569 oder 23% männliche erwachsene Arbeiter. Die Wochenlöhne für Mädchen waren auf 7 bis 11 M. bei 16 bis 18stündiger täglicher Arbeitszeit zurückgegangen. Bei den scharfen Abzügen aber, welche für Strafen gemacht wurden, blieben für die tägliche Nahrung der Arbeiterin oft nur 13 Pfg. Kinder, welche in der Spitzenarbeit verwendet wurden, erhielten neben ärmlichster Kleidung und schlechter Wohnung als Nahrung nur Brot und Thee und oft Monate lang kein Fleisch. In einer Seidenfabrik waren die Löhne für gleiche Arbeitsleistungen bei den gleichen Maschinen in den Jahren 1821 bis 1831 von 30 auf 9, von 16 auf 6, von 14 auf 7 1⁄2, von 10 auf 6 1⁄4 M. herabgesetzt worden.

Die massenhafte Beschäftigung der Frauen und Mütter durch 12 bis 13 Stunden pro Tag in der Fabrik lässt die Kinder wild wie Unkraut aufwachsen. Deshalb vor Allem die grosse Zahl von Unglücksfällen gerade in Fabrikdistrikten. Die Fabrikanten zahlten bei Unglücksfällen höchstens die Kurkosten. Was sonst aus dem Arbeiter wurde, war ihnen gleichgültig. Aus Furcht, die Arbeit zu verlieren, kamen die Frauen oft schon drei bis vier Tage nach der Niederkunft wieder in die Fabrik. Die arbeitslos gewordenen Buchseite 129 Männer mussten im ärmlichen Heim die Arbeit der Frauen übernehmen. Die Kinder versagten den Eltern den Gehorsam, weil mit ihrem Lohn die Familie unterhalten wurde. Um die Nachfrage nach Kinderarbeit zu befriedigen, schickten die Armenverwaltungen von London ganze Schiffsladungen von jugendlichen Armen, Waisen, Findlingen und Besserungsbedürftigen beiderlei Geschlechts als „Lehrlinge“ oder „Dienstboten“ nach dem industriereichen Norden. Und hier wurden dann die Kinder selten mit 5, häufig mit 6, sehr oft mit 7, meist mit 8 bis 9 Jahren beschäftigt und zwar 14 bis 16 Stunden täglich, wobei körperliche Züchtigung in ausgiebigem Masse angewendet wurde.

Um das in den Gebäuden und Maschinen steckende Kapital möglichst rentabel zu machen, ging man von dem möglichst langen Arbeitstag zur Tag- und Nachtarbeit mit 2 Schichten zu je 12 Stunden über. Andere Unternehmer liessen viele Arbeiter 30 bis 40 Stunden durcharbeiten. Dazu schlechte Ventilation in den Fabriken, höchst ungesunde, überfüllte Massenquartiere, schlechte, mangelhafte Ernährung, die furchtbaren Wirkungen der Handelskrisen in den Jahren 1815, 1825, 1836/39, 1847, 1857, welche die Arbeiter zu Hunderttausenden arbeitslos machten — und das körperliche wie sittliche Verderben der Arbeitermassen war eine unabwendbare Konsequenz. Eine lange Reihe von Krankheiten und Verkrümmungen des Körpers mit Hungertyphus und Volksseuchen aller Art, erschreckende Zunahme des Pauperismus und der Trunksucht mit all ihren Folgen stellten sich ein. Die Lebensdauer der Arbeiter ging wesentlich zurück. In Liverpool war die durchschnittliche Lebensdauer der höheren Klasse 35, der Geschäftsleute und besseren Handwerker 22, der Arbeiter und Tagelöhner 15 Jahre. Gegen das 40. Jahr wurden die Arbeiter als „alte Leute“ in der Regel entlassen. Die Verhaftungen für Kriminalverbrechen hatten sich in Buchseite 130 den Jahren 1805 bis 1842 von 4605 auf 31'309 erhöht, also versiebenfacht. —

Solch’ entsetzliche Missstände beschäftigten natürlich die öffentliche Meinung von Anfang an. Vom Jahre 1802 ab wurden wiederholt Spezialgesetze zum Schutze der Arbeiter erlassen.

Aber all diese gesetzlichen Bestimmungen blieben tote Buchstaben. Die englische Verknüpfung der Lokalverwaltung mit dem Fabrikantentum hatte z. B. zur Folge, dass ein Friedensrichter, welcher einen seiner Kollegen wegen Verletzungen der Fabrikarbeitergesetzgebung zur Verantwortung gezogen und freigesprochen hatte, sich dann auf seine eigne Rechtsentscheidung stützte, als er nachher seine Arbeiter in der gleichen Art ungesetzlicherweise ausbeutete. Die allmächtigen Fabrikbesitzer hatten das Ohr der Regierung. Alle berühmten Professoren der Nationalökonomie waren prinzipiell gegen jede staatliche Einmischung in die volkswirtschaftlichen Verhältnisse. Dennoch kam nach vielem Ringen — ohne Mithilfe der nationalökonomischen Wissenschaft und selbst gegen ihren Rat — im Jahre 1833 das erste einigermassen wirksame englische Fabrikgesetz zum Schutz der Textilarbeiter zu Stande. Bald wussten die Fabrikanten auch diese Rechtsbestimmungen zu umgehen. Weitere ergänzende Gesetze wurden deshalb erforderlich. Auch auf die anderen Industriezweige kamen nach und nach die gleichen öffentlichen Arbeiterschutzbestimmungen zur Ausdehnung, nachdem überall fast die gleichen schreienden Misstände aufgedekt worden waren. Vorher aber wurden immer wieder nach der englischen Parlamentssitte besondere öffentliche Enquêten veranstaltet, in deren umfangreichen Berichten sich all diese Vorkommnisse gesammelt und niedergelegt finden. In den Materialien dieser amtlichen englischen Erhebungen bis 1866 ruht die empirische Unterlage des „Marxismus“, wobei Karl Marx der Meinung war, Buchseite 131 dass eben diese englischen Arbeitsverhältnisse bei den anderen Kulturvölkern Europas nach entsprechender Zeit in der gleichen Weise auftreten würden. „England wirft für Deutschland seine Schatten voraus“ (Marx). —

Der sogenannte „utopistische“ Sozialismus vor Marx und Engels hat in ähnlichen Fällen der Ausbeutung und Verelendung — wie sie vorstehend als die Lage der englischen Fabrikarbeiter seit Ausgang des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts geschildert wurden — seine Aufgabe hauptsächlich darin gefunden, Pläne für eine durchgehende Neugestaltung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu entwerfen, welche eventuell geeignet wären, solche Missstände künftig auszuschliessen. Vom Standpunkt der Methode lag hier das „Utopische“ hauptsächlich darin, dass man sich ohne jegliche Rücksicht auf das historisch Gewordene, wie auf den historischen Werdeprozess überhaupt, dem konstruktiven Ausmalen der einmal gefassten Reformideen widmete. Was dagegen dem Marx-Engels’schen Sozialismus den Charakter einer „wissenschaftlichen“ Leistung verleiht, ist nicht etwa die Summe und Schönheit ihrer abstrakten Gedankenbilder an sich, sondern lediglich der Umstand, dass Marx bemüht war: die dieser Ausbeutung der englischen Fabrikarbeiter zu Grunde liegenden ökonomischen Gesetze abzuleiten, um dann im Sinne der historisch – volkswirtschaftlichen Entwicklungstendenz die Antwort auf die Frage zu finden, wie diese Missstände durchgreifend beseitigt werden könnten? Der Marx-Engels’sche Gedankengang ist dabei etwa der folgende:

Woher stammt der Reichtum der englischen Fabrikunternehmer? Bei Freihandel ist nicht anzunehmen, dass Buchseite 132 er sich aus dem Wareaustausch ableiten lässt, weil die Konkurrenz des freien Marktes hier ausserordentliche Gewinne ausschliesst. Dieser industrielle Reichtum muss sich vielmehr auf die Thatsache zurückführen, dass seit Entstehung des Privateigentums und seit der Ansammlung von Kapital auch die menschliche Arbeitskraft zur „Ware“ geworden ist, die auf dem Markte gehandelt wird. Ist dies zutreffend, so gilt offenbar auch für die menschliche Arbeitskraft das Gesetz des Tauschwertes, wonach jede Ware auf dem Markte bezahlt wird nach der Summe der zu ihrer Reproduktion erforderlichen Arbeit m.a.W. der auf dem freien Markte bezahlte Arbeitslohn ist gleich jener Warenmenge, welche zur Erhaltung und Erzeugung der menschlichen Arbeitskraft benötigt wird.

Nun ist aber auch bei der Ware „menschliche Arbeit“ der Tauschwert vom Gebrauchswert verschieden, insofern die lebendige Arbeitskraft wesentlich mehr Arbeit leisten kann, als zur Reproduktion erforderlich ist. Wenn z. B. nur die Arbeit von einem halben Tage nötig wäre, um den Arbeiter 24 Stunden zu erhalten, so hindert das den Arbeiter keineswegs, dennoch einen ganzen Tag zu arbeiten. Und weil die menschliche Arbeitskraft diese Fähigkeit hat, mehr Arbeit zu leisten, als sie verbraucht, spricht Karl Marx von einer „Mehrarbeitsleistung des Arbeiters“. Und der Wert dieser Mehrarbeit ist der Marx’sche „Mehrwert“.

Diese theoretische Konstruktion auf den Lohnvertrag angewendet, giebt folgendes Resultat: Der Fabrikarbeiter verkauft dem Kapitalisten seine Arbeitskraft für eine gewisse tägliche Geldleistung (Lohn). Nach der Arbeit von wenigen Stunden ist der Wert des Lohnes reproduziert. Aber der Arbeitsvertrag bindet den Arbeiter, noch eine Reihe von Stunden weiter zu arbeiten, um seinen Arbeitstag voll zu machen. Und der Wert, den er in diesen zusätzlichen Buchseite 133 Stunden produziert, ist der „Mehrwert“, der dem Kapitalisten nichts kostet, trotzdem aber in seine Tasche fliesst. Diese Art der Aneignung unbezahlter Arbeit ist die eigentliche Quelle des Reichtums der englischen Fabrikunternehmer. Sie ist, um mit Karl Marx zu reden, „das Fundamentalprinzip der kapitalistischen Produktionsweise, das von der Ausbeutung der Arbeiter unzertrennlich ist.“ Und weil diese Mehrwertaneignung es ist, welche den Kapitalisten an den Produktionsprozess fesselt, werden seine Handlungen immer darauf gerichtet sein, diese Mehrwertaneignung thunlichst zu vergrössern. Hierzu bietet der kapitalistische Produktionsprozess eine ganze Serie von Mitteln. Die Mehrwertaneignung des Kapitalisten wird nämlich um so grösser:

  1. je länger der Arbeitstag ist,
  2. je mehr Arbeiter beschäftigt werden,
  3. je mehr die Produktivität der Arbeiter gesteigert wird durch:
    1. Arbeitsteilung,
    2. neue und bessere Maschinen,
  4. je niedriger die Arbeitslöhne bei gleicher Leistung: Beschäftigung der Frauen und Kinder statt der Männer  u.s.w.  u.s.w.

Diese so auf dem Prinzip der Ausbeutung der Arbeiter sich aufbauende kapitalistische Produktion trägt den Keim der Auflösung in sich. Die sicheren Anzeichen dafür sind die Krisen. Schon der Anfang der kapitalistischen Produktion charakterisiert sich durch die Auflösung der bis dahin bestehenden lokalen Ordnung der Produktion (Zunft). Jetzt sind die Produzenten ganz selbständig und vereinzelt. An die Stelle der früheren Organisation ist die „Anarchie der Produktion“ getreten. Dafür besitzen wir eine desto straffere gesellschaftliche Organisation in den einzelnen Produktions-Etablissements. Die älteren Produktionsarten, Buchseite 134 wie Hausindustrie und Gewerbe, wurden der Reihe nach zerstört. Dann kamen Lokalkämpfe der Konkurrenten und dann nationale und internationale Kämpfe derselben. Immer wird dabei der unterliegende Kapitalist schonungslos beseitigt und ins Proletariat hinab gestossen. Durch all diese Kämpfe aber werden die Arbeiter bald in grösserer, bald in kleinerer Zahl beschäftigungslos. Dazu kommt innerhalb der einzelnen Betriebe bald ein Heranziehen grösserer Arbeitermassen, bald ein Ueberflüssigwerden derselben durch Aufstellung neuer arbeitersparender Maschinen. Dazu kommen endlich infolge der planlosen anarchischen Produktion Stockungen im Absatz der Produkte (Handelskrisen), wodurch abermals Arbeitermassen auf den Markt geworfen werden.

So wird die für die kapitalistische Produktion so wichtige „Reservearmee“ geschaffen, erhalten und fortwährend vermehrt, um damit erst den Arbeiter in ein dem Kapitalisten vollkommen ergebenes Objekt der Ausbeutung zu verwandeln. Die Arbeiterklasse aber sinkt immer tiefer, der Mittelstand verschwindet, die kapitalistische Produktion konzentriert sich in immer grössere Unternehmungen, deren Interessen über den nationalen Markt hinauswachsen, und dem Weltmarkt den internationalen Charakter des kapitalistischen Ringens aufdrücken.

Soviel von der Karl Marx’schen „ökonomischen Gesetzmässigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses“. Wohin aber wird diese Entwickelung führen, und wo findet sich ein Weg zu Gunsten der armen ausgebeuteten Fabrikarbeiter? Zur Beantwortung dieser Frage hat sich Karl Marx eine besondere Geschichtsauffassung konstruiert, die den Namen „materialistische Geschichtsauffassung“ trägt, und die sich zu seiner kapitalistischen Produktions– Buchseite 135 Theorie verhält, wie der allgemeine zum speziellen Teil. Dieselbe lässt sich im Sinne von Karl Marx wie folgt entwickeln:

Schon Ludwig Feuerbach, Saint-Simon, Louis Blanc und Andere hatten die Anschauung vertreten, dass nicht die Ideen die Geschichte beherrschen, sondern dass die Ideen von den Menschen nach Massgabe der Zeitverhältnisse gebildet werden und dass also nicht die Ideen, sondern die realen Verhältnisse das Grundlegende seien im Entwickelungsverlaufe der Geschichte. Karl Marx ging hier noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem er den Satz aufstellte: die materiellen Produktivkräfte — also der technische Produktionsprozess — beherrschen die Volksgeschichte. Heute ist die Maschine im Begriff die ganze Ordnung der menschlichen Gesellschaft von Grund aus umzugestalten, und in ganz analoger Weise haben die früheren technischen Fortschritte die geschichtliche Entwicklung regiert. Die sozialen Veränderungen aber, welche damit bezeichnet werden, spielen sich seit Auflösung des uralten Gemeinbesitzes an Grund und Boden immer in einem Gegensatz zwischen der ökonomisch beherrschten und der ökonomisch herrschenden Klasse ab. Sobald neue Produktivkräfte sich entwickelt haben, wird die alte Form der Klassenherrschaft immer unerträglicher, der Klassengegensatz wird zum Klassenkampf und damit ist die soziale Krisis da.

Nun sind aber zwei Dinge möglich: entweder kommt es zur Sprengung der gegenwärtigen Gesellschaft und Ueberführung in eine höhere Gesellschaftsform — oder die beiden kämpfenden Parteien gehen gemeinsam zu Grunde. Die treibende ökonomische Produktivkraft verursacht also nicht nur die Leiden und Uebel der Zeit, sie trägt auch das Heilmittel der Krisis und damit den rechten Weg der fortschrittlichen Entwickelung in sich. Es ist deshalb nach Buchseite 136 Karl Marx unrichtig, mit den „utopistischen“ Sozialisten aus der erkannten Mehrwertsaneignung und aus der zutreffenden Kritik der kapitalistischen Produktionsweise eine prinzipielle Reform der Gesellschaft sofort in Angriff zu nehmen. Man muss vielmehr die in der Natur der Dinge liegende geschichtliche Notwendigkeit sich ausleben lassen. Die Expropriation der Massen durch die kapitalistischen Expropriateure mit der fortschreitenden Verelendung der grossen Volksmehrheit muss zu Ende gekostet werden, um dann erst durch die Expropriation der Expropriateure einfach und klar den vierten Stand, die Lohnarbeiterklasse nämlich, zu befreien und damit den gesellschaftlichen Klassenkampf für immer zu beenden. Die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter wird also nach dieser historischen Gesamtauffassung dadurch beseitigt, dass mit Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln die Arbeiter wieder ihr volles Arbeitsprodukt als natürlichen Arbeitslohn erhalten. Bis dahin empfehlen sich: Organisation der Arbeiter und Arbeiterklassenkampf vor allem zu Gunsten weiterer Lohnerhöhung und Abkürzung der Arbeitszeit.

Ein wissenschaftliches System, welches — wie der Marxismus — von dem Grundsatz ausgeht, dass nicht die Ideen die Geschichte beherrschen, sondern dass die Menschen nach Massgabe ihrer Zeitverhältnisse die Ideen bilden, will und muss vor allem mit jenen historischen Ereignissen betrachtet sein, aus denen heraus seine Urheber dasselbe abgeleitet haben. Und in diesem Zusammenhange wird jede Kritik zugeben müssen, dass die Gewinne der englischen Fabrikanten in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sich in der That recht häufig aus jenem Einkommen zusammengesetzt haben, welches Karl Marx als Buchseite 137 Mehrwert bezeichnet — dass dabei für eine gewisse Epoche der englischen Geschichte bedingungslos von einer fortschreitenden Verelendung der Lohnarbeitermasse gesprochen werden muss — dass dem parallel eine Vernichtung der kleinen und mittleren Unternehmungen durch den Grossbetrieb ging — dass der mittelalterlichen Zunftordnung gegenüber in all dem sich zunächst eine wachsende Anarchie im Produktionsprozesse überall enthüllte —- und dass es den Eindruck machte, als ob diese Erscheinungen mit dem Eintreten der Maschine in die Produktionstechnik in unzertrennlichem Zusammenhange ständen.

Hätten sich Karl Marx und Engels darauf beschränkt, innerhalb dieser engeren Grenzen ihre Ausführungen zu halten, so würden ihre Gegner wenig Berechtigtes einzuwenden haben. Aber Marx und Engels traten mit dem Anspruche hervor, ihr „Mehrwert“ sei die letzte Quelle aller Formen des arbeitslosen Einkommens, welche es bis heute in der Gestalt von Unternehmergewinn, Zins, Grundrente, Handelsprofit u. s. w. gäbe, und ihre Theorien seien die einzig wahren Sätze der Nationalökonomie als Wissenschaft für alle Zeiten und Völker. Indem sie das alles behaupteten, haben sie allerdings den Boden der Berechtigung ihren Lehren entzogen, wie das heute unschwer nachgewiesen werden kann.

Zunächst geht der Marxismus von der unrichtigen Annahme aus, dass alle Kulturvölker dem Entwickelungsbeispiele Englands folgen würden, und dass es deshalb genüge, die englischen Verhältnisse genau zu studieren, um auch für alle übrigen Völker im Voraus die rechten nationalökonomischen Theorien aufstellen zu können. Die heute in Mitteleuropa erwachte Agrar- und Mittelstandsbewegung bezeugt, dass diese Völker es entschieden ablehnen, die Bahnen Englands weiter zu beschreiten. Je mehr sich diese Ideen klären, desto schärfer Buchseite 138 wird diese Ablehnung hervortreten. England wirft deshalb nicht für Deutschland seine Schatten voraus, sondern die Schatten Englands sind für Deutschland ein genügender Grund, um englische Zustände zu vermeiden. Allgemeine volkswirtschaftliche Theorien, welche aus den heutigen englischen Verhältnissen abgeleitet werden, kommen deshalb für Deutschland z. B. wahrscheinlich niemals in Frage.

Der Marxismus kennt und berücksichtigt ferner unter den Arbeitern nur die Lohnarbeiter und vernachlässigt vollständig die selbständigen Arbeiter, also den Mittelstand im engeren Sinne. Der Marxismus kennt nur die locatio conductio operarum, aber nicht die locatio conductio operis. Er kennt nur das, was die Griechen érgon nicht aber das, was sie apotélesma nannten. Er kennt nur das „Werken“, nicht aber die „planvolle Ausführung eines Werkes“. Er hat sich damit gewissermassen an den „Ausrufer“ gehalten und den „Redner“ ganz ausser Acht gelassen. Der Marxismus kennt ferner all jene Arbeitsberufe nicht, welche sich dauernd an die Gesamtheit anschliessen, deshalb unzweifelhaft volkswirtschaftlich produktiv sind und doch nicht direkt mit dem Produktions- oder Verteilungsprozess der Güter in Verbindung stehen. Wer so weite und wichtige Gebiete der Arbeit unbeachtet lässt, kann unmöglich eine befriedigende Nationalökonomie der Arbeit schreiben.

Weiter beschränkt sich der Marxismus in recht unhistorischer Weise auf das Produktionskapital und lässt das Handels- und Leihkapital, wie insbesondere auch das Bank- und Börsenkapital vollkommen ausser Acht. Die unmittelbare Folge ist, dass Karl Marx ganz übersieht, wie häufig auch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sich die Gewinne der englischen Fabrikanten noch aus ganz anderen Beträgen zusammensetzten, als aus jenen, welche den Lohnarbeitern „abgeschunden“ wurden. Aus Buchseite 139 dem gleichen Grunde ist auch sein Beweis von der fortschreitenden Konzentration des Kapitals nicht geglückt. Wo nämlich heute diese fortschreitende Konzentration in dem Produktionsprozess scheinbar weniger hervortritt, handelt es sich vielfach um die verschleiernde Thätigkeit des Bank- und Börsenkapitals. Hier ist heute die fortschreitende Konzentration des Kapitals weitaus am intensivsten. Die „Deutsche Bank“ in Berlin wurde bekanntlich im Jahre 1870 mit 15 Millionen Mark Kapital gegründet, das bis heute auf 150 Millionen Mark erhöht wurde und im ganzen ein Syndikat von mindestens 3 Milliarden Mark beherrscht. Da nach Dr. v. Siemens das Vermögen des deutschen Volkes auf 150 Milliarden zu schätzen ist, würde bei einer fortdauernden Entwickelung der grossen deutschen Privatbanken nach Art der „Deutschen Bank“ dieses ganze Vermögen von 150 Milliarden Mark nach etwa 10 Jahren dem Herrschaftsbereich dieser deutschen Privatbanken angehören. Bei der nur zu oft masslosen Inanspruchnahme des Kredits vollzieht sich hier mit Hülfe des Bank- und Börsenkapitals in einer anscheinend planvollen Weise eine nationale wie internationale Verkettung der Privatunternehmungen, die in unserem Kriegszeitalter uns eines Tages einer Krisis entgegen zu führen droht, wie sie kaum in der Geschichte der Völker schon erlebt wurde. Der Marxismus kennt von all diesen seit den 60 er Jahren hauptsächlich eingetretenen, tief einschneidenden volkswirtschaftlichen Veränderungen nichts. Sollte es trotzdem möglich sein, in seinem Lehrgebäude ein modernes System der Volkswirtschaft zu erblicken?

Der Marxismus ist von der englischen Fabrik ausgegangen und in ihr stecken geblieben. Die so hochinteressanten und volkswirtschaftlich äusserst wichtigen Gegensätze zwischen den Verhältnissen der Industrie und der Landwirtschaft sind Buchseite 140 einem Marx und Engels unbekannt. Die Fortschritte in der Produktionstechnik der Industrie zielen in der Regel auf den immer grösseren Betrieb. Die Fortschritte in der Produktionstechnik der Landwirtschaft zielen vom grösseren auf den mittleren Betrieb. Die Riesenfarmen in Dakota und Californien mit 40'000 Acres sind zu Grunde gegangen und haben Farmen mittlerer Grösse weichen müssen. Wenn wir von Dakota im fernen Westen von Nordamerika über Minnesota, Wisconsin, Illinois, Indiana, Ohio und Pennsylvanien nach Connecticut am atlantischen Ocean ostwärts schreiten, so finden wir in diesem Heimatlande der landwirtschaftlichen Maschinen folgende, der älteren Kultur und dem intensiveren Betriebe direkt proportionale Abnahme der Grösse der Durchschnittsfarmen: 218, 145, 134, 124, 105, 99, 93, 80 Acres. Während der extensive Grossbetrieb in Ländern mit junger oder niedriger Kultur nur das 7. bis 8. Korn und oft nur das 4. bis 5. Korn der Aussaat im Getreide liefert, kennt die moderne intensive Landwirtschaft auf deutschen Rittergütern und Bauernhöfen Weizenernten, welche das 30- bis 40fache Korn der Aussaat ergeben. Die grosskapitalistisch organisierte extensive Viehzucht auf den russischen und ungarischen Steppen, wie in den Prärien und Pampas von Amerika mit Herden von 20, 30 und 40'000 Stück bringt es nur auf eine Milchproduktion von 400 bis 500 Litern per Jahr und Kuh, während die Tiere erst im 6., 7. und 8. Jahre schlachtreif werden bei einem Lebendgewicht von 350 bis 500 kg per Kuh und 500 bis 800 kg per Stier und Ochse und einem Ausfall des Schlachtgewichts bis zu 50% des Lebendgewichts. Die moderne intensive Viehzucht kann und darf erfahrungsgemäss ihre Herde über 50 und 80 Stück gar nicht ausdehnen, wenn sie die wirklich besten Leistungen erreichen will. Diese Leistungen aber übersteigen dann die Produktionsleistungen der grosskapitalistischen BeBuchseite 141triebsform um mindestens das 5- bis 6fache beim Fleisch und um mehr als das 10fache bei der Milchproduktion. Die Erfahrungen der einen grossen Hälfte der Volkswirtschaft, der Landwirtschaft nämlich, verhalten sich also der Marx’schen Theorie gegenüber durchaus ablehnend.

Die von Marx aus einer ganz bestimmten Epoche der englischen Geschichte abgelesene Theorie der Verelendung der Arbeitermassen wurde nach der bahnbrechenden Beweisführung von Julius Wolf in seinem „Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung“ (Stuttgart 1892) auch von den Führern der Sozialdemokratie in Deutschland als heute nicht mehr zutreffend abgelehnt. Aber auch das noch so sehr beliebte Marx’sche Dogma von dem Klassenkampf ist unhaltbar.

Zunächst war es eine durchaus unzuverlässig geprägte Phrase, die französische Revolution als „Emancipationskampf des dritten Standes“ zu bezeichnen. Die eindringendere Geschichtsbetrachtung weiss heute, dass es sich in jenen Vorgängen um wesentlich andere Aufgaben handelte. Das davon abgeleitete Schlagwort von der „Emanzipation des vierten Standes“, welches die grosse soziale Aufgabe der Gegenwart und der nächsten Zukunft bezeichnen will, hat den Irrtum seines Vorbildes um so viel mehr vergrössert, als der Begriff der Lohnarbeit zu klein ist, um sich mit dem volkswirtschaftlichen Begriff der Arbeit zu decken. Weiter lehrt uns die Geschichte eines jeden Volkes, dass es unter normalen, gesunden volkswirtschaftlichen Verhältnissen keinen Klassenkampf giebt. Die Zeit der Klassenkämpfe ist die Zeit der sozialen Krankheiten und Schmerzen. So wenig aber gesagt werden darf, dass das Leben des Menschen nur mit Schmerzen ausgefüllt sei, weil jeder einmal krank wird und Schmerzen haben kann, ebensowenig kann man von der Geschichte sagen, dass sie nur die Geschichte der Klassenkämpfe sei. Es ist ferner eine Buchseite 142 Lehre der Geschichte, dass nur jene Klassenkämpfe zu Gunsten der Unterdrückten und damit im Sinne einer aufsteigenden Entwickelung gelöst wurden, in denen die „unbeteiligten Dritten“ (in Wissenschaft und Litteratur) auf Seiten der leidenden Klasse sich gestellt haben. So wird diese Bewegung eine ethische im eigentlichen Sinne des Wortes und es ist dann nicht mehr nur der Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, sondern ein Kampf der Gesamtheit gegen die Unterdrücker. Karl Marx selbst nimmt diesen Standpunkt ein, indem er davon spricht, dass nach der Befreiung der Proletarier der Klassenkampf für alle Zukunft beendet sei. Damit wird entweder gesagt, dass die Lösung der Arbeiterfrage mit der Erlösung der Menschheit identisch sei, was utopisch wäre — oder Marx hat eigentlich nur zutreffend sagen wollen: unter gesunden volkswirtschaftlichen Verhältnissen giebt es keinen Klassenkampf. Dann aber kann auch der Klassenkampf kein durchlaufendes Prinzip der Geschichte sein.

Wir bewegen uns damit bereits auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung, mit welcher wir uns jetzt speziell noch beschäftigen wollen.

Die vielgerühmte materialistische Geschichtsauffassung ist bis heute immer noch nicht an einer grossen zusammenhängenden Geschichtsdarstellung erprobt und erwiesen worden. Ihre Anhänger würden deshalb gut daran thun, diesen wesentlichen Mangel ihrer Beweisführung endlich einmal nachzuholen. Bis dahin ist man mit Stammler berechtigt, darauf hinzuweisen, dass das Bedürfnis des Sozialismus nach politischem Handeln, das die Entwickelung der Dinge sich keineswegs selbst überlassen will, im scharfen Widerspruch steht mit dem Prinzip der mechanischen Notwendigkeit, das die materialistische Geschichtsauffassung in die historische Bewegung einzuführen bemüht ist.

Buchseite 143 Auch die „materiellen Produktivkräfte“ haben die Eigentümlichkeit, sich nicht aus sich selbst zu verändern, wenn sie nicht durch die geistige und körperliche Arbeit des Menschen verändert und weiter gebildet werden. Die Maschine ist eben nicht nur das Produkt der äusseren Verhältnisse, sondern eben so sehr auch das Produkt des menschlichen Erfindungsgeistes.

Der volkswirtschaftliche Körper wird bekanntlich als ein ethischer Organismus betrachtet, für den es gesunde und kranke Verhältnisse, gute und schlechte Entwickelungstendenzen giebt. Wie sollte der rein mechanische Faktor der materiellen Produktivkräfte ohne Kopf und Herz in der Lage sein, in diesen fortwährend uns begegnenden Eventualitäten in der Geschichte den rechten Weg zu wählen?

Jede geschichtliche Disposition, welche allen Thatsachen des Geschehenen gerecht werden will, kann den Menschen und sein verantwortliches Handeln nicht entbehren, wobei freilich die Bedeutung des Einzelnen, selbst im hervorragendsten Falle, gegenüber der Bedeutung der äusseren Verhältnisse nicht überschätzt werden darf. Das hat vielleicht niemand klarer und treffender ausgesprochen als der Fürstreichskanzler von Bismarck in seiner Rede vom 1. April 1896, als er von sich selbst sagte: „Ich bin eben in einer politisch günstigen Zeit in Thätigkeit getreten, als ich die Masse flüssig und zum Gusse fertig fand. Ich habe gethan, was ich konnte, ohne Menschenfurcht und Selbstsucht, dass der Guss rascher und sicher erfolgt ist. Der Staatsmann kann nie selbst etwas schaffen, er kann nur abwarten und lauschen, bis er den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört, dann vorspringen und den Zipfel des Mantels fassen — das ist alles!“ Aber gerade dieses Handeln des Buchseite 144 Einzelnen ist es, welches die geschichtliche Entwickelung erst zu einer ethischen macht. Wenn der Staatsmann, welcher den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört, aus irgend welchen Gründen nicht zugreift und den Zipfel seines Mantels fasst, oder wenn gar die Wahrnehmungsorgane des Staatsmannes so wenig entwickelt sind, dass er das Hallen von Gottes Schritt durch die Ereignisse gar nicht bemerkt, dann geht die Zeit zum neuen glücklichen Gusse leicht vorbei und keine Ewigkeit bringt die gleiche Gunst des Augenblickes wieder, das betreffende Volk und seine Kultur rechtzeitig vor dem Untergange zu retten (Kairos).

Schliesslich bietet ja auch die bisher zur Darstellung gelangte Entwickelung der nationalökonomischen Wissenschaft einen guten Einblick in die Natur und das Wesen der historischen Gestaltung. Als im Mittelalter die äusseren Verhältnisse sich der Ausbreitung der Geldwirtschaft neben der Naturalwirtschaft günstig zeigten, da stellten klug denkende Männer all jene Mittel und Wege zusammen, durch welche der Staat diese Weiterentwickelung wesentlich zu fördern in der Lage war. Als dann mit dem Reichtum, dem Massenverkehr, der besseren Verkehrs- und Produktionstechnik die Zeit gekommen war, dem spekulativen Privatkapital die Oberleitung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse zu überlassen, da zogen Adam Smith und seine Schüler die entsprechenden theoretischen Konsequenzen für Gesetzgebung und Politik, praktische Staatsmänner verwirklichten diese Ideen, und erst jetzt konnten sich die Wunder des kapitalistischen Zeitalters zeigen. Inzwischen wurde in immer weiteren Kreisen beobachtet, dass der ehrlichen Arbeit die volkswirtschaftliche Oberleitung durch das spekulative Privatkapital auf die Dauer so teuer zu stehen komme, dass die glückliche Weiterentwickelung der Gesamtheit damit in Frage gezogen Buchseite 145 werde. Seitdem ringen die Ideen nach einer besseren Form der volkswirtschaftlichen Organisation. Wird sie gefunden und durchgeführt, so werden die modernen Kulturvölker bald einen weiteren und wesentlichen Fortschritt verzeichnen. Wird sie nicht gefunden und bleiben wir bei der heutigen kapitalistischen Ordnung der Verhältnisse, dann werden auch unsere Kulturvölker am Kapitalismus zu Grunde gehen, wie bisher alle Völker an dieser Krankheit zu Grunde gegangen sind. So zeigt sich im Entwicklungsverlaufe der Geschichte die innigste Wechselbeziehung zwischen den Ideen und Handlungen der Menschen und den äusseren ökonomischen Verhältnissen; beide bedingen und stützen einander fortwährend. Es ist deshalb eine unhaltbare Einseitigkeit, wenn Engels sagt: die Ideen seien bloss Kleider, die getragen werden, aber nicht selbst tragen.

So bewähren sich also die Ideen des Marxismus vor einer eindringenden Kritik recht wenig. Dennoch wäre es durchaus unzutreffend, all dieser gewiss schwer wiegenden Beanstandungen halber das Lehrgebäude des Sozialismus kurzweg als einen „wüsten Trümmerhaufen“ zu bezeichnen. Trotzdem auch wir einen Anbau nach dem anderen bei näherer Untersuchung zusammengebrochen finden, bleibt doch noch ein stattlicher Rest des ganzen Gebäudes auf festem Fundamente stehen, der zur Hälfte allerdings schon aus früheren Zeiten stammt, zur anderen Hälfte aber in der That von Marx und Engels gebaut wurde. Und dieser dauernde Kern des sozialistischen Systems lässt sich etwa in folgenden Sätzen zusammenfassen:

1. Die beiden nationalökonomischen Lehrsysteme, welche auf die meisten europäischen Völker ihren vollen Einfluss ausüben konnten, sind das Merkantilsystem und das Freihandelssystem. Das Endziel dieser beiden Lehrmeinungen ist der Reichtum und zwar zunächst der Geldreichtum und dann der Reichtum an wirtschaftlichen Gütern überhaupt. Buchseite 146 Seit dem Anfang dieser Art von Politik zeigt sich eine immer mächtiger anwachsende Reaktion, deren wahre Natur niemals mit Neid gegen den Reichen, materielle Not und allgemeine Unzufriedenheit erschöpfend bezeichnet werden kann. Friedrich Paulsen hat hier richtig gesehen, wenn er in seiner „Ethik“ hinzufügt: „Das beleidigte Gerechtigkeitsgefühl hat zur heutigen Ausbreitung der Sozialdemokratie beigetragen.“ Simonde de Sismondi gebrauchte diesen Erscheinungen gegenüber den bei ihm sprichwörtlich gewordenen Ausruf: „Mein Gott, ist denn der Reichtum alles und der Mensch rein gar nichts ?“

In diesem Zusammenhange bedeutet der Sozialismus den Uebergang aus der Nationalökonomie des Reichtums zur Nationalökonomie der menschlichen Arbeit — „Arbeit“ in jenem vollen Sinne des Wortes, in welchem „arbeiten“ „der Gesamtheit dienen“ heisst. Will man diesen Gegensatz durchaus im Rahmen der Güterwelt bezeichnen, so würde man zu sagen haben, dass es sich um den Uebergang aus einer Nationalökonomie des Reichtums als Besitz in eine Nationalökonomie des Reichtums als jährliches Arbeitseinkommen handelt — auch hier „Arbeit“ im vorbezeichneten vollen Sinne des Wortes verstanden.

2. Dieser Uebergang vollzieht sich nur in Formen, welche den „Kapitalismus“ beseitigen. Zu diesen Formen gehört nicht die Aufhebung des Privateigentums, was von einer Reihe von Sozialisten ausdrücklich bestätigt wird. Die „Beseitigung des Kapitalismus“ bedeutet im Grunde nur die Beseitigung des Wuchers jeglicher Art, welcher die redliche Arbeit in ihrem Einkommen kürzt. Hierzu hat der Marxismus folgende zwei hochwichtige Sätze der Methode gefügt:

Buchseite 147 3. Die ökonomische Erkrankung eines wesentlichen Gliedes der Volkswirtschaft muss nicht als eine Krankheit dieses Gliedes an sich, sondern stets als eine Erkrankung des gesamten Volkskörpers betrachtet werden, welche vor allem in dieser ihrer ganzen Gesetzmässigkeit erkannt sein will.

4. Die dann zu ergreifenden Reformen aber, welche nicht auf eine blosse momentane Linderung, sondern auf eine vollkommene Heilung des Uebels von innen heraus gerichtet sein müssen, erschliessen sich in ihren leitenden Prinzipien nur für eine Betrachtung, welche den grossen historischen Entwicklungstendenzen mit vollem Verständnis folgt.

Als die englische Freihandelslehre begann, auf dem europäischen Kontinent zur allgemeinen Herrschaft zu gelangen und sonst nur noch die Eventualität offen geblieben war, sich dem Sozialismus anzuschliessen, da waren es deutsche Nationalökonomen, welche der Erkenntnis der Wahrheit einen neuen selbständigen Weg öffneten. Friedrich List („Das nationale System der politischen Oekonomie“ 1841, 7. Auflage 1883) bekämpfte erfolgreich das Dogma von der internationalen Arbeitsteilung, welches auf dem besten Wege war, die Alleinherrschaft Englands auf industriellem Gebiete zu begründen. List lehrte, wie jede grössere Nation in der Lage sei, ihren „industriellen Arm“ neben dem agrarischen ebenso wie England zur harmonischen Entwickelung zu bringen und auf welche Weise in Zukunft eine bessere Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse den grossen Völkern möglich wäre. Rodbertus, Schäffle und Adolph Wagner haben die Lehren des Freihandels wie des Sozialismus einer gleicheindringenden Analyse unterzogen, die Irrtümer auf beiden Seiten aufgedeckt und die Wissenschaft durch neue Theorien und begriffliche Unterscheidungen und durch neue praktisch wertvolle Vorschläge bereichert. Was wir heute durch die Verstaatlichung der Eisenbahnen und die Arbeiter-Versicherungsgesetze gewonnen haben, führt sich zuletzt auf die wissenschaftlichen Arbeiten dieser Männer zurück. Keine Nationalökonomie der Zukunft wird Adolph Wagner’s „Grundlegung der politischen Oekonomie“ (3. Auflage 1892) und Schäffle’s „Kapitalismus und Sozialismus“ (1. Auflage 1870) entbehren können. Besonders anregend wirkten auch die Arbeiten des ideenreichen Lorenz von Stein.

Buchseite 149 Während es so klar geworden war, dass die Theorien des Freihandels wie des Sozialismus dem praktisch-politischen Bedürfnis unserer Zeit nicht genügten, hatten Roscher, Hildebrand und Knies bereits begonnen, die historisch – empirische Betrachtungsweise in die nationalökonomische Litteratur wieder einzuführen, die in Schmoller’s Monographien ihren, der Methode nach vollkommensten Ausdruck findet. Seitdem ist jene lange Reihe von Spezialforschungen erschienen, welche sich mit der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, mit dem Zunftwesen, dem Kleingewerbe, dem Bevölkerungswesen, dem Geld- und Bankwesen, den Arbeiterverhältnissen, der Handelspolitik, der Entstehung der heutigen Grundbesitzverteilung u.s.w. beschäftigen.

Dieser schon fast unübersehbaren Speziallitteratur gegenüber machte sich bald das Bedürfnis nach Zusammenfassung dieser Materialienfülle immer entschiedener geltend. Ihm trugen in höchst dankenswerter Weise Rechnung: Schönberg’s „Handbuch der politischen Oekonomie“ früher drei, jetzt fünf Bände, 4. Auflage 1895, das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ von Conrad, Elster, Lexis und Löning, 2. Auflage sieben Bände 1901 und Elster’s „Wörterbuch der Volkswirtschaft“ zwei Bände 1898. All diese Sammelwerke sind durch das Zusammenarbeiten einer grossen Zahl von Spezialgelehrten entstanden, wobei jeder Einzelne seine freie wissenschaftliche Ueberzeugung ohne Rücksicht auf die Anschauung seines Nachbarn zum Ausdruck brachte. Wesentlich ergänzt wird deshalb diese Litteratur durch Spezialzusammenstellungen einzelner Forscher wie von Böhm-Bawerk über „Kapital und Kapitalzins“ 2 Bände 1884/89; Georg Adler, „Geschichte des Sozialismus und Kommunismus“ 1899, und August Oncken, „Geschichte der Nationalökonomie“ 1902. Georg von Mayr ist fortlaufend erfolgreich Buchseite 150 bemüht, das überreiche statistische Material übersichtlich zu gruppieren.

Ein System aber, welches bestrebt wäre, unter Benutzung all dieser Forschungen die Summe der ökonomischen Konsequenzen aus den heutigen Zeitverhältnissen zu ziehen, um so der wirtschaftspolitischen Praxis in ähnlicher Weise vorzuarbeiten, wie das insbesondere Adam Smith und seine Schule für ihre Zeit gethan haben — giebt es heute nicht. Deshalb besteht noch zwischen Theorie und Praxis in der Volkswirtschaft eine höchst bedauerliche Spannung. Die Praxis kommt aus einer nervösen Unruhe mit Novellen auf Novellen nicht heraus. Die Theorie hüllt sich bei vielen wichtigen Fragen in tiefes Schweigen, oder sie ist voller Irrtümer und trägt dann nur zur Verschärfung der politischen Gegensätze bei, statt sie zu mildern und zu versöhnen. Dazu hier folgende Belege:

1. Die seit Jahrzehnten andauernde überwiegende Beschäftigung mit der Lohnarbeiterfrage und mit dem Sozialismus hat die grosse Mehrzahl unserer heutigen Nationalökonomen so sehr in den Gedanken einer notwendigen Zufriedenstellung der Lohnarbeiter versenkt, dass man mit äusserster Zähigkeit auch noch die allgemeine Wittwen- und Waisenversorgung der Arbeiter mit staatlicher Arbeitslosen – Versicherung anstrebt. Schon der Fürstreichskanzler von Bismarck hat in der Kronratssitzung vom 24. Januar 1890 betont, dass das ein durchaus falscher Weg der sozialen Reform wäre. Julius Wolf hat sich das Verdienst erworben, die Bedenken gegen diese Bemühungen zusammen zu stellen. Wer die Bedeutung der annona und der collegia in der römischen Geschichte kennt, den muss bei solchen wirtschaftspolitischen Bestrebungen Entsetzen Buchseite 151 erfassen. Denn die heutige Nationalökonomie ist hier auf dem besten Wege, die Zukunft des deutschen Volkes verderben zu helfen.

2. Das so schlecht begründete Dogma vom Klassenkampf lässt die unseligen Lohnkämpfe der Arbeiter wissenschaftlich als einen natürlichen Zustand erscheinen, und deshalb waren so viele deutsche Nationalökonomen voll Eifer bei den Gegnern des sog. Arbeitswilligengesetzes. — Man kann gewiss verschiedener Meinung sein darüber, ob eine Handlungsweise bei einem Arbeiter mit Zuchthaus bestraft werden soll, welche von den offiziellen Vertretern der Nationalökonomie als durchaus korrekt und notwendig gelehrt wird. Soviel ist aber gewiss, dass aus dieser Spannung zwischen Theorie und Praxis hervorgeht, wie wenig genügend die nationalökonomische Theorie von der Bildung des Arbeitslohnes ist.

3. Fast überall begegnen wir den bedenklichsten Forderungen einer grosskapitalistischen Proletarierpolitik. Der industrielle Export kommt ins Stocken. Sofort machen sich Bestrebungen geltend zum Abschluss von noch günstigeren Handelsverträgen auf Kosten der heimischen Landwirtschaft, damit noch mehr Arbeiter in der Exportindustrie Verwendung finden, von hier aus eine weitere Besserung der Verhältnisse der Fabrikarbeiter bewirkt wird, die Proletarierbevölkerung noch stärker zunimmt und unsere heimischen volkswirtschaftlichen Verhältnisse noch mehr von dem Wohlverhalten des Auslandes abhängig werden. — Gerade die eifrigsten Vertreter dieser Richtung behaupten, die englische Geschichte besonders genau zu kennen. Und doch gewinnt man den Eindruck, als ob sie die Geschichte Englands während der napoleonischen Kriege niemals gelesen hätten. Und obgleich die neuesten Spezialuntersuchungen die Richtigkeit der alten Malthus’schen Lehre immer Buchseite 152 wieder bestätigen, in dem Abschnitt „Handelspolitik“ darf diese Lehre anscheinend deshalb nicht verwandt werden, weil sie zu dem Spezialabschnitt „Bevölkerungslehre“ gehören soll.

4. Die heutigen Nationalökonomen geben, mit wenigen hervorragenden Ausnahmen, den alten Mittelstand in Stadt und Land auf. Er soll in der modernen Zeit sich nicht halten können. Das schade indess auch wenig. An seine Stelle trete ein neuer Mittelstand, die besseren Angestellten in den grossen Unternehmungen u.s.w. Der Mittelstand wird so zu einem Einkommensteuerbegriff. Marcus Antistius Labeo und Aristoteles waren bekanntlich anderer Meinung. Für sie bestand das Wesen des Mittelstandes in der persönlichen Unabhängigkeit und in seiner Selbstverantwortlichkeit jedem Dritten gegenüber. Zwei Deutsche gehörten vor einigen Jahren als bessere Fabrikangestellte zu diesem neuen Mittelstande und waren in ihren Mussestunden eifrige Agitatoren des radikalen Sozialismus. Inzwischen ist der Eine nach Basel, der Andere nach Zürich gekommen. Dort ist es ihnen gelungen, sich als Gewerbetreibende zu verselbständigen und so in den alten Mittelstand einzutreten. Und siehe da — sofort hatten sie ihr monarchisches Herz entdeckt und wurden im Auslande geschickte Arrangeure der Festkommerse zu Kaisers Geburstag. Sollten nicht auch hier Labeo und Aristoteles der richtigen Anschauung sein?

5. Die deutschen Landwirte klagen über ungenügende Preise für ihre Produkte. Sie wollen Preise, welche die landesüblichen Produktionskosten decken. Das sind nach Quesnay, Adam Smith, Malthus, Ricardo, Marx und Engels „normale“ Preise. Eine ganze Reihe unserer heutigen Nationalökonomen aber stellt sich hier auf folgenden Standpunkt: Diese Forderung der Landwirte ist eine Forderung privater Interessen. Würde sie erfüllt werden, so würde Buchseite 153 die übrige Bevölkerung, im Vergleich zu den heutigen Preisen, so und so viel Millionen Mark zu zahlen haben. Das ist zu vermeiden, oder doch in der Form eines Kompromisses auszugleichen. Nach meinem Verständnis gehören diese Art von Berechnungen zu den niedrigen Künsten der Wahlmanöver. Die Wissenschaft sollte wissen, dass alle Klagen und Forderungen von Interessenten zunächst nur eine symptomatische Bedeutung besitzen, in welche sich die Wissenschaft bei neuen Erscheinungen derart zu vertiefen hat, dass sie die hier sich äussernde Natur der Krankheit, von welcher der Gesamtkörper der Volkswirtschaft befallen ist, erkennt und daraus dann mit Hülfe der gesamtheitlichen Entwickelungstendenz die rechten Reformen zur völligen Heilung des Uebels ableitet. In dieser Weise haben Adam Smith und Karl Marx für ihre Zeitverhältnisse ihre Aufgabe erfasst. Weil die gleiche Aufgabe für unsere Zeitverhältnisse noch nicht gelöst ist, neigt unsere Wissenschaft bei ihrer mehr referierenden Methode folgender Auffassung zu: Forderungen im Interesse von Handel und Verkehr sind im Adam Smith’schen Sinne Forderungen von allgemeinem Interesse. Forderungen im Interesse der Lohnarbeiter sind im Karl Marx’schen Sinne Forderungen von sozialem Interesse. Forderungen im Interesse der Landwirtschaft und des alten Mittelstandes aber sind bis jetzt noch Forderungen von nur privatem Interesse.

6. Bevor Minister Buchenberger mit seiner unvergleichlichen Arbeitskraft in dem ausgezeichneten „Handbuch der politischen Oekonomie“ von Adolph Wagner jene Massnahmen übersichtlich geordnet hatte, welche der Staat zur Pflege der heimischen Landwirtschaft heute anwendet, bestanden unsere Universitätsvorlesungen über Buchseite 154 Agrarpolitik zum wesentlichen Teile aus einem Referate über die sogenannte Bauernbefreiung und die sogenannten Feldsysteme. Bei dem Uebergange aus der wilden Feldgraswirtschaft zur Zweifelder- und Dreifelderwirtschaft u.s.w. sollen die Germanen höchst wichtige Kulturabschnitte passiert haben. Vom Standpunkt meiner praktischen landwirtschaftlichen Erfahrung denke ich mir die Entwickelung dieser Dinge folgendermassen: So lange die Germanen auf der Völkerwanderung ihres Wohnsitzes noch nicht sicher waren, vertrauten sie ihren kostbaren Getreidesamen erst im Frühjahre der Mutter Erde an. Sie bauten nur Sommergetreide und hatten also eine Einfelderwirtschaft. Das übrige Ackerland war für Viehweide frei. Als sie sich dann in ihren neuen Wohnsitzen einigermassen behaupten konnten, begannen sie auch einen Teil ihrer Getreidefelder schon im Herbst, einen anderen im Frühjahr zu bestellen, der grösseren Sicherheit des Ertrags halber. Sie kamen so selbstverständlich zur sogenannten Zweifelderwirtschaft. Und als die Bevölkerung so zugenommen hatte, dass notwendigerweise eine gewisse Ordnung in der Gemeindeflur eingehalten werden musste und man deshalb diese in drei gleiche Teile teilte, von denen der eine für Winterung, der andere für Sommerung, der dritte für Viehweide bestimmt war, da war man bei der sogenannten Dreifelderwirtschaft angelangt. Ich bin meinem Freunde Professor Detter in Prag dafür dankbar, dass er mich nachträglich auf die Abhandlung des Wiener Philologen Rudolf Much aufmerksam gemacht hat, welcher die Frage: „Waren die Germanen Wanderhirten?“ in der „Zeitschrift für deutsches Altertum“ (Berlin 1892 S. 97 ff. ) behandelt. Hier ist die moderne philologische Forschung zu genau derselben Anschauung gelangt wie ich. Aber — und das ist hier die naheliegende Frage — welche praktische Bedeutung hat denn solch kleiner VorBuchseite 155gang aus der landwirtschaftlichen Technik der alten Germanen für die moderne Agrarpolitik? Und spielt nicht auch die Bauernbefreiung notwendigerweise eine untergeordnete Rolle in jenen Erwägungen, welche die heute herrschenden agrarischen Missstände zum Ausgangspunkte nehmen müssen?

7. Der Bericht der deutschen Börsenenquêtekommission von 1893 enthält eine wissenschaftliche Einleitung von Gustav Schmoller, in welcher die Sparkraft des deutschen Volkes auf 2 bis 2 1⁄2 Milliarden Mark jährlich berechnet wird. Damit rechtfertigt sich dann vollständig die Grösse der Emissionen durch die deutschen Fondbörsen. Der Frankfurter Bankier Cäsar Strauss hat in der „Kreuzzeitung“ vom 27. und 28. Februar 1895 eingehend nachgewiesen, dass den deutschen Börsen jährlich nur 450 bis 470 Millionen Mark als effektive Sparanlage zur Verfügung stehen. Derselbe Fachmann in Fragen des Geld-, Börsen- und Aktienwesens hatte schon im Jahre 1892 in seiner Schrift „Unser Depositengeldersystem und seine Gefahren“ dargelegt, dass die Emissionen der deutschen Börsen leider die Sparkraft des deutschen Volkes ganz wesentlich überragen und dass deshalb die deutschen Emissionsbanken zur Unterbringung ihrer gewaltigen Ueberemissionen in einer höchst bedenklichen Weise den Wechselkredit in der Form des sogenannten „Gefälligkeitswechsel“ anspannen. Wesentlich aus diesem Grunde hat dann die Bank von England selbst die Wechsel der „Deutschen Bank in Berlin“ zu kaufen abgelehnt. Und wesentlich deshalb finden die Gründungs- und Emissionsepochen stets in einer herben allgemeinen Krisis ihren bedauerlichen Abschluss. Die grosse deutsche Börsenenquête von 1893 ist leider gerade an dieser Kernfrage unseres modernen Bank- und BörsenBuchseite 156wesens fast stillschweigend vorübergegangen. Und in der deutschen wissenschaftlichen Litteratur kann man heute immer noch, unter Berufung auf Schmoller, lesen: „Die jährliche Sparkraft des deutschen Volkes erreicht 2 bis 2 1⁄2 Milliarden Mark.“

8. In eben diesen „wissenschaftlichen Anlagen“ hat auch eine Abhandlung von Professor Dr. Gustav Cohn Aufnahme gefunden, in welcher ausgeführt wird, dass die Preisnotierungen der Getreideterminbörsen deshalb so grosse Bedeutung hätten, weil sie Landwirte, Händler und Müller über den wahrscheinlichen Verlauf der Preise in der nächsten Zukunft zuverlässig orientieren. In der Wochenschrift „Getreidemarkt“ hatte ich an der Hand der täglichen Marktereignisse wiederholt Gelegenheit, zu zeigen, wie in Zeiten intensiver Spekulation die Spekulanten an den Getreideterminbörsen in ihrem eigenen Interesse gezwungen sind, das Signal der voraussichtlichen Preisbewegung in den Börsenkursen in bewusster Weise falsch einzustellen. Wenn die Baissepartei den Markt beherrscht und die Preise dauernd fallen, dann werden die späteren Termine immer höher notiert, damit die weniger Unterrichteten möglichst viel Ware behalten und so das weitere Herabdrücken der Preise wesentlich erleichtert wird. Wenn die Haussepartei den Markt beherrscht und die Preise fortgesetzt steigen, werden die späteren Termine umgekehrt immer niedriger notiert, damit die schlecht Orientierten ihre Ware verkaufen und dann bei möglichst geringen Warenvorräten die Preise desto leichter weiter gesteigert werden können.

U.s.w.   u.s.w.

Innerhalb des Kreises der studierenden Jugend hat dieser Zustand unserer nationalökonomischen Wissenschaft folgende Wirkungen: Gerade die Intelligenteren fühlen bald heraus, dass die herrschenden Lehren sie nicht befriedigen Buchseite 157 können. Dass ihnen das Freihandelssystem kaum genügt, findet in den Zuständen der Gegenwart und der Vergangenheit seine Erklärung. Also wendet man sich — weil nichts anderes übrig bleibtdem Studium des Sozialismus zu. Professor Werner Sombart, der erklärte Lieblingsschüler Schmoller’s hat diese eigentümliche heutige Lage an unseren Universitäten in folgenden treffenden Sätzen gezeichnet; „Mögen noch so viele Lehren aus dem Engels-Marx’schen System sich als unhaltbar erweisen, mag die ganze Fassung fehlerhaft sein: an Tiefe der Beurteilung der Wesenheit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, an Kühnheit in der Conception der sozialen Entwickelungstendenzen wird man nur wenige Systeme zur Seite stellen können.“

„Systeme? Haben wir denn andere? Dass der Marxismus diesen straffen, geschlossenen, einheitlichen Gedankenaufbau darstellt: das möchte ich gerade als seine grösste Bedeutung bezeichnen und dadurch wird er auch auf die Entwickelung der Sozialwissenschaft den dauernsten Einfluss ausüben: dass er uns zwingt zur eigenen Sammlung; dass er uns, wenn unser Geist zu irrlichtelieren beginnt, in die spanischen Stiefel einheitlicher Gedankenentwickelung zwängt. In unserer Zeit der Thatsachenvergötterung, des rückgradlosen Ecclecticismus auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft dient uns der Marxismus als mächtige Orientierungs- und Warnungssäule.“ („Zukunft“ 1895 S. 70. )

Je nach Neigung und Veranlagung wird dann von den Studierenden der Eine Sozialist, der Andere Pessimist. „Es ist alles verloren — so heist es dann — Bauernstand, Landwirtschaft, Mittelstand, nichts kann gerettet werden. Die Hauptsache bleibt, dass wir wenigstens die StaatsBuchseite 158gewalt möglichst stärken, damit sie, wenn es zum ersten grossen Anprall kommt, noch einmal tüchtig dreinschlagen kann, um damit den Uebergang zum sozialistischen Staate wenigstens so lange als möglich hinauszuschieben !“ — Wer wollte in Abrede stellen, dass das heute leider die herrschende Auffassung unserer sogenannten gebildeten Volkskreise ist?  —  —  —

Für unsere Wissenschaft aber folgt daraus die ernste Pflicht, so bald als möglich ein neues nationalökonomisches System zu schaffen. Die einfache Zusammenfassung des bis heute produzierten Materials giebt noch kein System, wie ja auch ein noch so grosser Baumaterialhaufen noch kein Haus ist. Wie der Hausbau von den Bedürfnissen der lebenden Menschen ausgeht und darnach sein Material zusammenfügt, so muss auch ein neues nationalökonomisches System in dem wirtschaftspolitischen Bedürfnis der Gegenwart seinen Schwerpunkt finden, um darnach das Material der Spezialforschungen zusammen zu stellen. Die Missstände im einzelnen sind dabei niemals als Forderungen einer „Interessenpolitik“ aufzufassen, und die Beseitigung der Missstände ist nicht als die Aufgabe eines „Interessenkampfes“ zu betrachten. Alle Klagen der Einzelnen wollen vielmehr als Symptome einer spezifischen Erkrankung der Gesamtheit verstanden sein und das Reformprogramm zur völligen Beseitigung des Uebels will aus den grossen Entwickelungstendenzen der Volksgeschichte auf ihrem Wege aus der Vergangenheit in die Zukunft abgelesen werden. Bei dieser schwierigen Untersuchung bietet die Geschichte jener Völker, welche früher waren, gross geworden sind und dann zu Grunde gingen, die allerwichtigsten Anhaltspunkte zur Auffindung der Wahrheit. Es liegen Buchseite 159 genug Völkerleichen auf dem Secirtisch der Geschichte, um die wissenschaftliche Erkenntnis unserer eigenen ökonomischen Lage und der Zukunft, welcher wir damit entgegengehen, zu ermöglichen.

Die Bewältigung dieser damit bezeichneten Aufgabe geht über die Arbeitskraft eines Einzelnen weit hinaus. Ich habe deshalb nach und nach 48 Mitarbeiter gewonnen, welche vor allem die Materiallieferanten für den Systembau waren und dann die Ueberprüfung der fertigen Konstruktion an der Hand der Quellen zu übernehmen geneigt waren. Ein in der bisher üblichen Weise selbständiges Arbeiten des einzelnen Mitarbeiters war schon darum nicht möglich, weil jeder weitere Abschnitt neue Anregungen für die vorhergehenden Abschnitte lieferte. So wurde mancher Teil mehr als zehnmal total umgearbeitet. Gleichzeitig waren die Umarbeitungen bemüht, die Ausführungen selbst auf den kleinsten Raum zu beschränken. Es sollte dem Leser vor allem die Uebersicht über das Ganze erhalten bleiben. Ursprüngliche Manuscripte von 300 und 400 Seiten sind so nach und nach auf 60 bis 80 Seiten und weniger zusammengerückt. Die Fertigstellung des Ganzen hat sich damit freilich verzögert. Ich glaubte indes im Interesse der Sache diesen Vorwurf ertragen zu sollen. Dafür bin ich auch heute in der Lage, bei der Drucklegung der ersten Zeile zu wissen, wie die letzte Zeile des Systems lauten wird.

Aber — selbst all diese Anforderungen genügen noch nicht für die Schaffung eines neuen Systems. Es ist vielmehr endlich notwendig, den rechten konstruktiven Ausgangspunkt zu finden. Die bisherigen nationalökonomischen Systeme hatten verschiedene Ausgangspunkte. Das Merkantilsystem ging vom Geldreichtum aus, das physiokratische vom Buchseite 160 Grund und Boden, Adam Smith vom Güterreichtum, Karl Marx vom Lohnarbeiter. Welches wird unser Ausgangspunkt sein?

Ich entscheide mich für das Getreide, um hier zunächst diese Wahl zu begründen, bevor wir uns den Studien über die ökonomischen Entwickelungsgesetze der Völker zuwenden, um dann abschliessend das Wesen der sozialen Krankheitserscheinungen der Gegenwart zu ermitteln und das Reformprogramm mit seinen ganz bestimmten Grundbegriffen und Grundprinzipien abzuleiten.


*) 1 Quarter englischen Weizen zu 496 Pfund englisch und 1 £ zu 20,40 Mk. gerechnet.



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