Wie zur Zeit des Perikles in Athen und in den Tagen
des niedergehenden republikanischen Senates in Rom
(siehe oben S.
65 bis 101) so sind auch in der Gegenwart die Ziele
der praktischen Politik nicht darauf
gerichtet, das volkswirtschaftliche Uebel von Grund aus
zu heilen. Unsere Vertreter der Wissenschaft behaupten
sogar: das sei ganz unmöglich! So
begnügen sich denn Praxis und Wissenschaft, an den
Krankheitssymptomen Linderungsmittel zu versuchen.
Die schönen historischen Beispiele
einer „vollständigen Heilung mit
Prophylaxis“ will man offenbar garnicht kennen.
Zur Zeit der volkswirtschaftlichen Krisen werden
Lohnarbeiter in grösserer Zahl
beschäftigungslos. Die wirkliche Beseitigung
dieses Uebels hat offenbar die Beseitigung der
eigentlichen Ursache, nämlich das Aufhören der
periodischen Krisen zur Voraussetzung. Damit verschwindet
dann die periodische „Arbeitslosigkeit“ von
selbst. Aber die offizielle Nationalökonomie wagt es
nicht, den Kapitalismus in der Gesellschaft mit seinem
ewigen Wechsel von Ueberspekulation
und Krisis, von Hausse und Baisse anzutasten. Also
lässt man die eigentliche Krankheitsursache bestehen
und beschränkt sich darauf, das Symptom der
„Arbeitslosigkeit“ zu lindern durch eine
„Arbeitslosenversicherung.“
Der herrschende Kapitalismus vernichtet immer mehr die
mittleren und kleinen selbständigen Existenzen. Aber
aus dieser krankhaften Erscheinung folgert man nicht die
Frage: wie ist also der Kapitalismus zu beseitigen? Das
allgemeine Spezialisieren unserer Zeit erblickt in diesen
Veränderungen wieder eine ganz selbständige
sogenannte „Mittelstandsfrage“,
welche durch Innungen, Handwerkskammern, Aenderung des
Submissionswesens, der Konkursordnung, der
Kreditorganisation, durch Bestimmungen gegen den
unlauteren Wettbewerb, durch Spezialgesetze gegen
Warenhäuser, Konsumvereine u.s.w. zu lösen versucht wird.
Die Uebervorteilung der Lohnarbeiter
durch die Unternehmer soll eine Reihe von
Arbeiterschutzgesetzen verhindern helfen. Dazu hat man
den industriellen Arbeitern das Koalitionsrecht mit dem
Recht auf Streiks gegeben, um bessere Löhne
erkämpfen zu können. Aber was ist mit diesen
Linderungsmitteln bei fortdauernder Herrschaft des
Kapitalismus erreicht? Eine wachsende Ausbreitung des
Klassenkampfes der Arbeiterbataillone, eine organisierte
Vergewaltigung von „Arbeitswilligen“,
eine schrittweise Erweiterung der
Streiks zu Bürgerkriegen und eine
Gewerkschaftspolitik, welche den Tagesinteressen der
Arbeiter nachläuft und deshalb die dauernden
Interessen ihrer Genossen vielfach zu schädigen
droht. Auf die landwirtschaftlichen Arbeiterkreise hat
sich das Streikrecht in der milderen Form des
Kontraktbruches übertragen. Um die vielfältigen
Formen des Wuchers ausserhalb des Lohnwuchers, durch
welche der Ertrag der deutschen Arbeit
jährlich um viele Milliarden
gekürzt wird, kümmert sich in diesem
Zusammenhange unsere Vorliebe für Spezialfragen
nicht.
Der herrschende praktisch–politische Zug
unserer Zeit liebt für jeden Schmerz am
Volkskörper sein Spezialmittelchen
anzuwenden: Gegen die fortschreitende
Entvölkerung des platten Landes sollen
Wohlfahrtseinrichtungen, erleichterte Sesshaftmachung der
Arbeiter und andere armenrechtliche Bestimmungen helfen.
Der Neigung der Volksmassen zu
übermässigem Genuss begegnen
anti-alkoholische Vereinigungen und Sparkassen aller Art.
Die Ausbreitung der Spekulationssucht wird
durch Lotteriegesetze, durch einschränkende
Bestimmungen über Beteiligung am Börsenspiel,
an Spiel und Wette u.s.w. gehemmt.
Der rasch zunehmenden Verschuldung der
Städte, welche mit ihrer rapiden
Bevölkerungszunahme bei anhaltender Abwanderung vom
Lande in direktem Zusammenhange steht, suchen periodische
Ministerialerlasse an die Stadtverwaltungen zur
tunlichsten Sparsamkeit zu begegnen. Die fortdauernde
Besetzung frei werdender deutscher
Ländereien bemüht sich im Osten eine
Ansiedlungskommission mit einem Millionenfonds und einem
besonderen Enteignungsrecht gegen Ausländer
aufzuhalten. Der zunehmenden Zuchtlosigkeit der
heranwachsenden Jugend will man durch zwangsweise
Fürsorgeerziehung bereits verwahrloster Kinder,
durch Spezialgerichtshöfe für jugendliche
Verbrecher, durch Arbeiterkolonien auf dem Lande begegnen
u. dgl. m.
Der rechte Blick für den organischen
Zusammenhang der volkswirtschaftlichen Dinge scheint
verloren zu sein. Wenn die Warenpreise sehr
niedrig sind, klagen die Produzenten und fordern Hilfe
vom Staate, die Konsumenten sind mit den billigen
Preisen sehr zufrieden. Wenn die
Warenpreise sehr hoch sind, klagen die Konsumenten und
verlangen staatliche Intervention, während jetzt die
Produzenten zufrieden sind. Dass der
aussergewöhnliche Tiefstand der Preise nur die
eine Seite der kapitalistischen
Preisschwankungen darstellt, welcher
notwendigerweise eine entsprechende
Entwicklung nach oben folgen muss, wird
ebensowenig beachtet wie die weiteren Schlussfolgerungen:
dass das herrschende kapitalistische System für
allen Wucher verantwortlich bleibt und die Interessen der
Produzenten wie Konsumenten sich nur auf der stetigen
mittleren Preislinie ehrlich vereinen lassen.
Die heutige Organisation der Banken und Börsen
hat auch aus dem Zinsfuss ein Spekulationsobjekt gemacht.
Die Zinshöhe senkt sich nicht mehr mit der
zunehmenden Wohlhabenheit der Bevölkerung, sondern
wird durch den alles beherrschenden Konjunkturenwechsel
bedingt. Je mehr zurzeit der Hochkonjunktur neue
Börsenwerte auf den Markt geworfen werden, je mehr
Gründungen und Spekulationen der verschiedensten Art
eingeleitet sind, deren Fortführung den Kredit in
ganz besonderem Maasse beansprucht, desto höher
steigt der Zinsfuss. Der schliessliche Zusammenbruch des
ganzen Kartenhauses der Ueberspekulation lässt den
Zinsfuss noch höher gehen, während das dann
sich einfindende Misstrauen die Spekulation wesentlich
einschränkt und damit den Zinsfuss verbilligt. Die
Zinshöhe beherrscht auch den Kurs der Staatsrenten.
Teures Geld bedingt niedrige, billiges Geld hohe Kurse.
Als jüngst bei teurem Geldstande die Staatsrenten
sehr billig notierten, hat man alles Mögliche, wie:
den Aufschwung der Industrie, die Heiraten der reichen
Amerikanerinnen, die Prosperität der Landwirtschaft,
den Mangel an Kapital, nur nicht die heutige Bank- und
Börsenorganisation mit dem kapitalistischen Wechsel
der Konjunkturen ver
antwortlich
gemacht. Die Abhilfe aber sucht man
irrtümlicherweise in der tunlichsten Vermehrung
jener Geldbeträge, welche den Börsen und Banken
zur Verfügung gestellt werden. Also: die
ungezügelte spekulative Bereicherungssucht der
Menschen hat bedenkliche Folgeerscheinungen in der
Bewegung des Zinsfusses und der Rentenkurse gezeitigt.
Daraus wird in unseren Tagen nicht gefolgert, dass die
Spekulationssucht der Menschen gezügelt werden
müsse! Man entscheidet sich vielmehr für den
aussichtslosen Versuch, dem Bereicherungshunger der
Spekulanten vielleicht doch noch genügend Geldmittel
zur Verfügung stellen zu können.
Die Vernichtung der mittleren und kleinen
selbständigen Existenzen und die fast unglaublich
rasche Zunahme des allgemeinen Luxus erschwert in den
bürgerlichen Kreisen immer mehr die
Hausstandsgründung. Deshalb verspätet sich
für Viele das Heiraten. Die Zahl der Unverheirateten
nimmt entsprechend zu. Daneben reibt die wesentlich
verschärfte und vergiftete Konkurrenz die
Männer rascher auf. All diese Gründe lassen
eine wachsende Zahl von Frauen und Mädchen zur
ehrlichen Bestreitung ihres Unterhalts nach einer
passenden Arbeitsgelegenheit suchen. Eine mehr
oberflächliche Betrachtung bleibt an der weit
grösseren Zahl der Frauen und Mädchen in der
Gesamtbevölkerung haften. Aber hervorragende
Statistiker, wie J.E.
Wappäus u.A. haben
längst nachgewiesen, dass in den Altersklassen gegen
das 17. und 18. Lebensjahr innerhalb grösserer
Gebiete das Gleichgewicht zwischen
„Männlein“ und „Weiblein“
hergestellt zu sein pflegt und ungefähr bis zum 30.
Lebensjahre anhält. Trotzdem glaubt unsere Zeit die
„Frauenfrage“ lösen zu
können durch Vermehrung der Frauenberufe, durch
bessere Mädchenschulen, durch Zulassung der Frauen
zum Universitätsstudium, durch Beteiligung der
Frauen am politischen Leben usw. Man scheint mithin
der Meinung sich zuzuneigen, dass
jene krankhaften Erscheinungen, welche eine stetig
wachsende Zahl von Mädchen und Frauen dem
Mutterberufe entfremdet, dadurch gelindert werden, dass
man die Lebensexistenz der Frau ausserhalb des
Mutterberufs tunlichst erleichtert. Logisch ist das eine
Weiterentwickelung in der Richtung der Krankheit, die
bald zu neuen Komplikationen und zu noch ernsteren Krisen
führen muss.
Der Spekulationsgeist, welcher heute unsere
Volkswirtschaft beherrscht, und auf allen Gebieten
bestrebt ist, volkswirtschaftlichen Arbeitsertrag von dem
Konto „Arbeitserfolg“ ohne Gegenleistung auf
das Konto „Kapitalgewinn“ zu übertragen,
beherrscht heute auch den Grundmarkt. Frühere
Kalkulationen haben ergeben, dass wir diesen objektiven
Raub am volkswirtschaftlichen Arbeitserfolg, welcher sich
unter dem Titel „Grundrente“
versteckt, auf über 2 Milliarden Mark pro Jahr
veranschlagen dürfen. Nun ist eine Bewegung
entstanden, die seltsamerweise nur diese
spezielle Art von Wucher zu beseitigen
verspricht, die lange Reihe der anderen Wucherformen aber
unbehelligt lässt. Und wie glaubt man diesen
Grundstückswucher aufheben zu können? Indem man
3 bis 5% vom falschen
Wertzuwachs als Steuer zugunsten der Gemeinde- oder der
Staatskasse einzieht. Im verrotteten Kalifenstaate zu
Bagdad hatte die Polizei mit den zunftmässig
organisierten Räubern und Spitzbuben auf eine
gewisse prozentuale Teilnahme an dem Raubgewinn sich
geeinigt. Die Geschichte betrachtet diese Vereinbarung
als ein Zeichen schamloser Korruption. Heute soll eine
ganz analoge Gesetzgebung einen wesentlichen sozialen
Fortschritt bedeuten. Während aber die
Kalifenpolizei sich mit den Zahlungen immer nur an die
Räuberzunft gehalten hat, halten sich diese neuen
Sozialpolitiker an den jeweiligen Grundeigentümer.
Ob dieser Grundeigentümer beim Kauf selbst
ausgewuchert wurde oder
nicht? ob
er es versteht, die neue Steuer auf die Pächter oder
Mieter abzuwälzen oder nicht? bleibt
unberücksichtigt. Diese Spezialsteuergesetzgebung
verspricht den Bodenwucher zu beseitigen, lässt aber
in Wirklichkeit alles beim Alten. Nur der Wucherer
— oder auch der Bewucherte werden mit 3 bis
5% des Wucherbetrages als Steuer
belastet.
All diese Irrungen sind so leicht ersichtlich, dass es
in diesem Zusammenhange notwendig erscheint, nach einer
Erklärung dafür zu suchen: wie solche
offenkundige Irrtümer zur fast allgemeinen
Anerkennung gelangen konnten? Da liegt es nun nahe, auf
den Entwickelungszustand der Nationalökonomie als
Wissenschaft hin zu weisen, wie das im Band I, S. 15
bis 42 und S. 148 bis
160 bereits geschehen ist. Auch die
Gesetzgebung hat, im scharfen Gegensatze zu einer
organischen Auffassung, die streng getrennte Organisation
der Berufe in Handelskammern, Landwirtschaftskammern,
Handwerkskammern, Arbeitskammern usw. bevorzugt. Sie hat
damit scheinbar den sozialistischen Theorien von den
Klassengegensätzen Recht gegeben. Und je härter
in der kapitalistischen Gesellschaft die Interessen
aufeinander stossen, desto deutlicher scheint das
praktische Leben diese Auffassung zu bestätigen.
Vielleicht hat in Preussen zu dieser einseitigen Richtung
auch der bekannte „Ressort –
Partikularismus“ der Geheimräte beigetragen.
Endlich ist hier gewiss der so ungemein einschmeichelnde
Charakter der kapitalistischen Weltanschauung in Betracht
zu ziehen. Wer möchte nicht möglichst bald
möglichst reich werden? Von den Spitzen der
Gesellschaft bis hinab in die Reihen der Lohnarbeiter
findet sich die Neigung zu diesem Lebensgrundsatze
ausgeprägt. Warum sollten die Mittel zu diesem
Zwecke nicht gleich allgemein beliebt sein? So ist denn
für die prinzipielle Geneigtheit zur Fragestellung:
wie kann der Kapitalismus aus der Gesellschaft beseitigt
werden?
recht
wenig Raum geblieben. Die weitaus wichtigste
Erklärung scheint trotzdem auf anderem Gebiete zu
liegen, nämlich in dem Wesen des Kapitalismus
als einer Entwickelungsnotwendigkeit.
Die Zeit der reinen oder doch ganz überwiegenden
Naturalwirtschaft bleibt einer gesunden fortschreitenden
Entwicklung so lange verschlossen, bis sie die Ausbildung
und Erweiterung der Geldwirtschaft in ihr Programm
aufgenommen hat. Deshalb ist den Zeiten der
Naturalwirtschaft ein so hervorstechender Geldhunger
eigen, der zu verheerenden volkswirtschaftlichen Krisen
führen musste, wo dem einbrechenden Kapitalismus in
der Form des Handels- und Leihkapitals nicht rechtzeitig
wirksame Hemmungen entgegengetreten sind. In der
naturalwirtschaftlich – lehensstaatlichen Periode
der germanischen Völker hat die römische Kirche
diese doppelte Aufgabe: die Ausbreitung der
Geldwirtschaft zu fördern und gleichzeitig jedes
einseitige Ueberwuchern der Geldinteressen tunlichst zu
verhüten, trefflich zu lösen verstanden. Als
die Kirche dann selbst einer extremen politischen
Richtung zuneigte und die Idee einer päpstlichen
Universalmonarchie verfochten hat, kam es zu jenen
bekannten Konflikten zwischen den Staaten und der Kirche,
welche die Geschichte unter dem Namen
„Reformation“ zusammenzufassen pflegt. Der
seitdem sich auslösende moderne Staatsbegriff hat
bereits eine ansehnliche Stufe der Geldwirtschaft zur
Voraussetzung. Auf dieser Basis baut der fürstliche
Absolutismus weiter. Die Macht des absoluten Herrn
gründete sich vor allem auf eine wohlgefüllte
Staatskasse. Seine eigensten Interessen führten
deshalb zu einer tunlichsten Begünstigung von Handel
und Gewerbe, zur Vermehrung des Geldvorrates und der
Geldwirtschaft im Lande. Wo dann diese
volkswirtschaftliche Oberleitung allzu einseitig dem
Luxus und den Launen des allerhöchsten Herrn diente,
kam es zur
politischen Revolution und darnach zum Verfassungsstaat.
Von jetzt ab konnte sich die Geldwirtschaft in Handel und
Industrie, in Banken und Börsen am freiesten
entfalten und nie vorher erreichte Erfolge erzielen. Wie
sollte nach solchen Erfahrungen der Geldwirtschaft und
dem wirtschaftlichen Egoismus etwas volkswirtschaftlich
Krankhaftes anhaften können?
Offenbar beginnt die krankhafte volkswirtschaftliche
Entwicklung dort, wo die Harmonie der Gegensätze
gestört zu werden droht. Die Entwicklung der
Städte neben dem platten Lande ist zu einem
gedeihlichen volkswirtschaftlichen Leben
unerlässlich. Wo aber diese Städte zu
bedenklichen Hypertrophien ausarten und das Land dauernd
entvölkern, dort haben wir es mit einer krankhaften
Erscheinung zu tun. Die Ausbreitung des Handels und der
Industrie neben der Landwirtschaft kann dem
volkswirtschaftlichen Ganzen nur förderlich sein.
Wenn aber der nationale Handel sich die Welt erobern will
und deshalb die Heimat in unabsehbare Konflikte
hineintreibt, weil eine gewisse Gruppe von Personen nicht
reich genug werden kann, und wenn die heimische Industrie
den Schwerpunkt ihrer Produktion nicht im heimischen
Konsum, sondern im Export, selbst auf Kosten der
heimischen Landwirtschaft sucht, dann sind das allerdings
durchaus krankhafte Entwicklungstendenzen, die noch jedes
Volk ausnahmslos ins Verderben geführt haben. Dem
Handel muss Raum gegeben sein, den Verkehr mit Waren und
Werten mit einem Minimum von Zeit und Kostenaufwand den
wechselnden Bedürfnissen anzupassen. Wo aber der
Handel aus einem dienenden Gliede zum Herrn der
Volkswirtschaft sich aufgeschwungen hat, wo schon die
Hälfte des Volksvermögens und mehr in
Börsenwerte verwandelt ist, wo die dem nationalen
und internationalen Ausgleich dienenden Einrichtungen des
Handels von den geldwirtschaftlichen Kon
zentrationsbestrebungen völlig
oder fast völlig beherrscht werden, dort wird es
notwendig, durch neue bessere volkswirtschaftliche
Organisationen die privatwirtschaftlichen Monopole zu
brechen. Die Reichen neben den Wenigerbemittelten, die
Herren neben den Hilfsarbeitern, der grössere Luxus
neben den bescheidenen Bedürfnissen sind für
jeden kulturellen Fortschritt unentbehrlich. Sobald aber
die Zahl der Reichen immer kleiner, die Zahl der
Vermögenslosen immer grösser wird, sobald die
Herrschaftsbedürfnisse der Herren immer maasslosere
Dimensionen annehmen, sodass auf dem naturgemäss
immer beschränkten nationalen Wirtschaftsgebiete die
Zahl der selbständigen Existenzen rasch
zurückgeht, und die Volksmassen ihr Leben lang zu
einem unselbständigen
Abhängigkeitsverhältnis verurteilt bleiben,
sobald der Luxus der Reichsten keinerlei Maass halten
mehr kennt, und die Verschuldung des Volkes etwa doppelt
so rasch anwächst als die Vermögenszunahme,
dann ist die Vernunft der früheren Zeit allerdings
Unsinn geworden.
Also: die fortschreitende Entwickelung
eines Volkes kann — wie es scheint — bis zu
einer gewissen Höhe die kapitalistischen
Erwerbsarten nicht entbehren. Das moderne Volk muss
— wie es scheint — die Schule des
Kapitalismus einmal durchmachen, um zu lernen, in welchem
Maasse die produktiven Kräfte gut ausgenutzt werden
können, um sich daran zu gewöhnen, alle
verfügbaren Mittel bei einer vertrauenswürdigen
Stelle niederzulegen um sie hier mit Hilfe des Kredits
der Allgemeinheit zugänglich zu machen, und um die
grossartigen Organisationsformen alle kennen zu lernen,
die wir den modernen kapitalistischen Grossbetrieben
allein verdanken. Wenn aber mit Hilfe des
Kapitalismus eine gewisse Entwickelungshöhe der
materiellen Kultur erreicht ist, und die Nachteile des
kapitalistischen Einflusses beginnen, die Summe seiner
volkswirtschaftlichen
Vorteile
ganz unverhältnismässig zu überragen,
dann muss das kapitalistische System als
etwas durchaus krankhaftes bezeichnet werden, dessen
reinliche Beseitigung im Interesse einer besseren
Fortentwickelung des Ganzen tunlichst zu beschleunigen
ist. Weil jedoch dieser kritische Zeitpunkt erst in
unseren Tagen erreicht wurde, bleibt auch die herrschende
politische Praxis, welche jede prinzipiell klare
Beseitigung der ökonomischen Misstände
vermieden hat, historisch durchaus verständlich.
Auch für die volkswirtschaftliche Therapie gilt
der alte Satz des Mediziners: natura sanat, medicus
curat. Die Sozialpolitik und die soziale Gesetzgebung
können den krank gewordenen Volkskörper nicht
heilen, wenn ihn die soziale Lebenskraft nicht heilt.
Politik und Gesetzgebung können nur die vorhandenen
Hindernisse wegräumen, welche der naturgemässen
Heilung im Wege stehen und sie können und
müssen für die Zukunft Vorbeugungsmassregeln
treffen, welche die Wiederkehr der gleichen Hemmungen und
der gleichen Erkrankung hindern! Diese soziale
Lebenskraft aber heisst menschliche Arbeit.
Das wird schon bei dem Einzelnen erkennbar.
„Arbeit ist des Blutes Balsam, Arbeit ist
der Tugend Quell!“ sagt
Schiller. „Tätig zu sein,
ist des Menschen erste Bestimmung“,
„Nur rastlos betätigt sich der
Mann!“ sind Aussprüche von
Goethe.
|
„Arbeit ist die Mission der Menschen auf
Erden“
(Thomas Carlyle).
|
„Die Handlung, die Wirksamkeit allein bieten dem
Menschen einen würdigen Zweck des Lebens“
(Helmholtz). 
„Wer lustigen Mut zur Arbeit trägt Und
rasch die Arme stets bewegt, Sich durch die Welt
noch immer schlägt“ (L.
Tieck).
|
„Arbeit, edle Himmelsgabe, Zu der Menschen
Heil erkoren, Nie bleibt ohne Trost und Labe, Wer
sich Deinem Dienst geschworen“
(Friedrich v. Bodenstedt).
|
„Nur wer arbeitet, wird sehr alt. Eine
erspriessliche Tätigkeit macht allein das Leben
lebenswert“ (Preyer).
„Im allgemeinen haben die Menschen ein
Bedürfnis nach Arbeit; Arbeitsscheu ist der
Krankheit gleich zu achten oder wenigstens ein
Vorläufer davon“ (Sperling).
Gesundheit und Wohlergehen nicht nur des Einzelnen,
sondern auch des ganzen Volkskörpers verdanken wir
der Arbeit.
Was heisst „arbeiten“? Die
mehr oberflächliche Betrachtungsweise sieht in der
Arbeit nur die Tätigkeit des Einzelnen. So geht die
Freihandelslehre von dem privatwirtschaftlichen Erwerbe
aus. So lässt die sozialistische Theorie die
Arbeiter mit den schwieligen Fäusten die Waren
produzieren. Wenn dann das Produkt ihrer Arbeit nicht
auch ihr Arbeitslohn ist, so sind die geltenden Gesetze
und Herrschaftsverhältnisse daran Schuld. Jeder mehr
eindringlichen Betrachtung erscheint die Arbeit und ihr
Erfolg als ein ungemein komplizierter Prozess, der in
erster Linie nicht von der Tätigkeit des Einzelnen,
sondern von der Tätigkeit der sozialen
Arbeitsgemeinschaft getragen wird.
Ein Arbeiter steht in einer Fabrik an einer Drehbank,
um einen Stahlwellenblock auf das rechte Maass genau
abzudrehen. Ist das schliesslich fertige Produkt wirklich
nur das Produkt seiner Arbeit?
Die Drehbank, mit deren Hilfe allein er diese Leistung
fertigen kann, ist ein
Instrument, dessen Entstehung schliesslich die
Arbeitsgemeinschaft der ganzen Menschheit durch
Jahrtausende zur Voraussetzung hat. Das Gleiche gilt
für die Anfertigung des rohen Stahlblocks, der aus
anderen Werkstätten geliefert wurde. Die fertige
Welle wandert wieder in andere Arbeitsräume, wo sie
in den Mechanismus einer Maschine eingefügt wird. Im
technischen Büro wurden die Maasse genau ermittelt,
nach denen der Arbeiter seine Drehbank einstellte. Und
diese Tätigkeit selbst hat der Arbeiter erst von
Dritten erlernen müssen. Wie klein und bescheiden
ist mithin die Arbeit des Einzelnen im Vergleiche zu den
Leistungen der sozialen Arbeitsgemeinschaft.
Der Landwirt, welcher im Schweisse seines Angesichts
seine Scholle bebaut, benützt Geräte und wendet
eine Kultur- und Erntemethode an, an welcher nicht minder
die Jahrtausende menschlicher Geschichte beteiligt sind.
Und die eventuellen Verbesserungen, welche er in der
Pflege des Bodens, oder im Anbau bestimmter Ackerpflanzen
entdeckt, werden von seinen Berufsgenossen aufgenommen
und weiter geübt, während die Früchte
seiner Arbeit anderen Menschen das tägliche Brot
liefern.
Der Forstwirt, welcher in seinen Wäldern eine 60,
80 oder 120 jährige Umtriebszeit eingeführt
findet, erntet dort, wo seine Vorfahren gesät und wo
er sät, können seine Nachfolger erst ernten.
Emanuel Geibel hat diesen Vorgang mit den Worten
besungen:
„Drum im Forst auf meinem Stand Ist
mir’s oft, als böt’ ich linde
Meinem Ahnherrn diese Hand, Jene meinem
Kindeskinde.“
|
Aber mit der Arbeitsgemeinschaft der Ahnenreihe ist
auch die forstliche Arbeit der Idee noch nicht
erschöpft. Der Bau der Eisenbahnen und der
Verkehrswege aller Art, der Holzbedarf des Marktes, die
Ausbreitung der Organisation
des
Handels, ja sogar der Wechsel der Konjunktur bestimmen
die Holzpreise wie die Bringungskosten und entscheiden
dadurch wieder über die Dauer der Umtriebszeiten. Im
Kampfe gegen Forstschädlinge aller Art helfen die
Fortschritte der Naturwissenschaften und selbst der
technischen Wissenschaften mit. Kurz: In jeder Arbeit
begegnet uns die Gemeinschaft des Volkes und schliesslich
der Menschheit als ganz überwiegend herrschender
Faktor. Die Verursachung des Einzelnen ist dabei in
Wahrheit so unbedeutend, dass selbst ein Fürst
Bismarck von sich sagen konnte: „Als ich
jung war, glaubte ich, man könne nichts wissen. Als
Mann lernte ich, dass man auch nichts machen könne.
Als ich kam, waren die Dinge so reif geworden, dass beim
ersten Schlag der Gerte das Tor sich öffnete.“
Diese Gemeinschaft im Arbeitsprozess ist nicht nur eine
solche der Materie, sondern auch eine solche des Geistes.
Arbeit in diesem objektiven Sinne ist deshalb der
fortschreitende gewaltige Vereinigungsprozess von Materie
und Geist, bei welchem der Arbeiter das anwesende,
lebende Bindeglied ist zwischen den von einer
Jahrtausende alten Arbeitsgemeinschaft vorbereiteten
Stoffen und Kräften. Im Anschluss an solche
Ideen hat Thomas Carlyle den Ausspruch
getan: „Es ist ein hoher, feierlicher, fast
schauerlicher Gedanke für jeden einzelnen Menschen,
dass sein irdischer Einfluss, der einen Anfang gehabt
hat, niemals, und wäre er der Allergeringste unter
uns, durch alle Jahrtausende hindurch eine Ende nehmen
wird. Was von ihm geschehen ist, ist geschehen, hat sich
schon mit dem grenzenlosen, ewig lebenden, ewig
tätigen Universum verschmolzen und wirkt hier zum
Guten oder zum Schlimmen, öffentlich oder heimlich
durch alle Zeiten hindurch.“ Arbeiten im
subjektiven Sinne heisst, an die volkswirtschaftliche
Gemeinschaft in irgend welcher
Weise sich
dienend anschliessen, sei es als Hilfsarbeiter,
sei es als selbständiger Unternehmer, sei es als
Lehrer, der die Jugend bildet, sei es als Priester,
welcher die ethischen Kräfte des Volkes stärkt,
sei es als Soldat, Richter oder Verwaltungsbeamter zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Selbst
der König ist ein Arbeiter in diesem
volkswirtschaftlichen Sinne. Die Devise des heutigen
Königs von England lautet mit Recht: „Ich
dien“!
Wer diesen gewaltigen Einfluss der sozialen
Arbeitsgemeinschaft bei der Arbeitsleistung eines jeden
Einzelnen erkennt, kann mindestens in der
volkswirtschaftlichen Gesellschaft keine Fremden, sondern
nur Freunde sehen. Die grosse gegenseitige
Abhängigkeit ist für jede andere Auffassung
eine viel zu weitgehende. Um trotz dieser, im Grunde
gemeinschaftlichen Struktur des Volkslebens die Lust und
Liebe zur Arbeit in jedem Einzelnen tunlichst zu wecken
und im Interesse eines energievolleren Fortschrittes auch
wach zu halten, war eine proportionale Ausbreitung der
Geldwirtschaft ganz unentbehrlich. Erst die ausgebildete
Geldwirtschaft gestattet eine ungemein reichhaltige
Differenzierung selbständiger Berufe. Erst damit
wird es möglich, den verschiedensten
Arbeitsneigungen der Menschen Raum zu geben. Die
grössere Freudigkeit und innere Befriedigung bei der
Arbeit aber erhöht die Arbeitsenergie und
eröffnet dem Fortschritt immer neue Wege. Nur so
wird das sozial ungemein wichtige Gefühl der
Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der
Menschen innerhalb der Gemeinschaft erzogen, erhalten und
erweitert.
Dieses Bild ändert sich sehr wesentlich, sobald
der gesunde Egoismus der Menschen in einer grösseren
Zahl von Fällen in unersättliche Raffbegierde
ausartet. Für solche Leute gilt immer der Grundsatz:
„Möglichst billig einkaufen und möglichst
teuer verkaufen.“ Solche Unternehmer schämen
sich nie, so viel zu nehmen, als sie
kriegen können. Der böse
Spekulationsgeist, welcher nur darauf ausgeht, durch
Vorverträge möglichst viel Arbeitsertrag
Anderer ohne Gegenleistung in private Kapitalgewinne zu
verwandeln, bemächtigt sich nach und nach der
Bevölkerung. Die Kreditgewährung, welche sich
mehr und mehr in den Händen der grossen Privatbanken
monopolartig konzentriert, fördert gerne diese Art
von Erwerb bis zur haltlosen Ueberspannung. Denn die
darauffolgende Krisis bietet den Reichsten die beste
Gelegenheit, die kleineren, schwächeren
„Mitläufer“ in der Spekulation der Reihe
nach abzuschlachten. Das Vermögen kommt in immer
weniger Hände. Die Zahl der Wenigerbemittelten nimmt
rasch zu. Für sie gibt es nur abhängige
Stellen, in denen sie sich abquälen müssen und
gequält werden. Von Arbeitslust und
Arbeitsfreudigkeit ist nicht viel mehr zu spüren.
Die Arbeit wird eine „Last“, die mit einem
ausgeprägten „Unlustgefühl“
verbunden ist. Hass und Neid verbreiten sich im Volke.
Viel Zeit wird nur damit verbracht, den lieben Nachbarn
zu ruinieren, dem Geschäftsfreunde Kunden abspenstig
zu machen, den Amtsbruder von seinem Platze zu
verdrängen. In erbittertem, vergiftetem
Konkurrenzkampfe ruinieren sich die Menschen gegenseitig
Vermögen und Gesundheit. Die Zahl der mit den
bestehenden Verhältnissen Unzufriedenen wächst
rasch mit all den oben angeführten sozialen
Krankheitserscheinungen. Die Friedensstörungen
werden tägliche Ereignisse, bis die Flamme des
Bürgerkrieges auflodert und die blutige
Expropriation der Expropriateure beginnt.
Diese therapeutische Betrachtung in Anlehnung an den
Grundbegriff „Arbeit“ im objektiven und
subjektiven Sinne deckt sich vollkommen mit den
Resultaten der vorausgeschickten Diagnose
(oben S. 240
— 317). Wir waren dort
nachzuweisen in der Lage, dass alle pathologischen
Symptome im Völkerleben der Gegenwart sich
einheitlich
auf den
herrschenden „Kapitalismus in der
Gesellschaft“ zurückführen und mithin
nicht als hunderte von verschiedenen Einzelkrankheiten,
sondern nur als Symptome der einen Krankheit
„Kapitalismus“ zu betrachten und zu behandeln
sind. In diesem Zusammenhange wurde (S. 302) unter
„Kapital“ eine Gütermenge erkannt,
welche der Gewinnsucht dient. „Kapitalisten“
waren als Wucherer im weitesten Sinne des Wortes zu
definieren. Und mit dem Worte „Wucher“
bezeichneten wir „jede vertragsmässige
Aneignung eines offenkundigen Mehrwertes.“ Die
wesentlichen Schlussfolgerungen der sozialen Therapie
werden deshalb lauten müssen:
Wenn alle krankhaften
Erscheinungen im Völkerleben der Gegenwart sich
gleichartig auf den „Kapitalismus in der
Gesellschaft“ zurück führen und
wenn das Wesen dieses
Kapitalismus in der vertragsmässigen Aneignung von
offenkundigem Mehrwert liegt,
dann kann die wirkliche
Heilung unserer volkswirtschaftlichen Missstände nur
durch eine reinliche Beseitigung dieser
vertragsmässigen Mehrwertaneignung erreicht
werden.
Mord, Raub, Diebstahl, Erpressung, Betrug,
Unterschlagung und Untreue sind für jedermann
erkennbare offensichtliche Verbrechen gegen die
Gemeinschaft. Aber das Verbrechen des Wuchers, der in so
einschmeichelnden Formen den „vertragsmässigen
Erwerb“ zu pflegen versteht, ist unserer ganz
überwiegend formalen Rechtsordnung
— die im Wesentlichen aus der internationalen
kapitalistischen Rechtsschule hervorgegangen ist —
in der Hauptsache entgangen. Deshalb muss die wirkliche
soziale Reform in eine materielle Prüfung des
Inhaltes aller Verträge eintreten. Die
allein zuverlässige Richtschnur
bietet hierbei der Wert und zwar der
volkswirtschaftliche Wert, der Wert der sozialen
Arbeitsgemeinschaft. Tauschwert, Gebrauchswert,
Affektionswert und ähnliche Begriffe gehören
der individualistischen Ideenwelt an. Der wahre Wert der
sozialen Arbeitsgemeinschaft ist der
„Aequivalenzwert“. Unter
Freunden, unter Brüdern,
aus denen allein sich die Volkswirtschaft zusammensetzen
soll und darf, ist nur jener Vertrag gerecht und billig,
in welchem Leistung und Gegenleistung gegenseitig
entsprechen, sachlich buchmässig gleich sind. Nur
dann bleibt das Konto „Arbeitserfolg“
unberaubt. Nur dann herrscht Friede, der heute so
tausendfach gebrochen wird.
Auch diese Auffassung ist nicht neu, Sie ist so alt
wie die Weltgeschichte. In der mosaischen
Gesetzgebung finden sich folgende Bestimmungen über
den Wert der Grundstücke: Der landwirtschaftliche
Grundbesitz ist ein durch die 50jährige Jobelperiode
bestimmt begrenzter Rentenfonds. Sein Wert und damit auch
sein Verkaufspreis bestimmt sich nach dem Werte, der bis
zum nächsten Jobeljahr dem Boden abzugewinnenden
Jahreserträge plus Ersatz der vom letzten Besitzer
ausgeführten Meliorationen. Dieser Grundwertbegriff
steht also auf eigenen sachlichen Füssen. Jede
gesetzliche zulässige Handänderung hat sich im
Preise nach diesem Grundwert zu richten.
Uebervorteilungen sind ausgeschlossen.
Aristoteles hat gelehrt, dass Zuviel und
Zuwenig unter die Kategorien des Lasters falle. Der
Ungerechte verletze das Gesetz der Gleichheit. Das
Gerechte sei ein Gleiches, ein Proportionales, ein
Verhältnismässiges. Mehr erhalten als man
vorher besessen, heisse gewinnen; weniger haben, als man
vorher besass, heisse Schaden leiden. Jeder solle das
Seine erhalten. Das Gerechte sei deshalb ein Mittleres
zwischen Gewinn und Verlust. Mit diesen Gedanken ist der
grosse Stagirite zum Vater der Aequivalenztheorie
geworden. Marcus
Antistius
Labeo hat in seiner Lehre von der Spezifikation
das Eigentum am Arbeitsertrage dem selbständigen
Arbeiter auch für den Fall zugewiesen, dass er einen
fremden Stoff mit verarbeitet hat. Die römischen
Kaiser Diocletian und Maximian haben dem
Verkäufer von Grundstücken ein gesetzliches
Rücktrittsrecht gewährt, sobald er weniger als
die Hälfte des Verkehrswertes empfangen hatte. Die
Praxis hat dann dieses Rücktrittsrecht wegen
Verletzung um die Hälfte auf alle gegenseitigen
Verträge ausgedehnt. Auch der Prophet
Muhammed hat sich in seinen Rechtsbestimmungen
energisch gegen den Wucher gewendet. Jeder Geldgewinn aus
dem Moment der Zeit war verboten. Bei
„Kostgeschäften“ war jeder Gewinn
zwischen Kaufs- und Verkaufspreis zugunsten der Geldgeber
als Wucher untersagt. Ebenso waren Preistreibereien
streng verboten. Gründergewinne blieben
ausgeschlossen. Wer in eine Kommanditgesellschaft oder in
Gesellschaften und Genossenschaften mit beschränkter
und unbeschränkter Haftpflicht unbare Einlagen
machte, konnte das nur nach dem genau nachgewiesenen
Selbstkostenpreise tun. Der grosse Kirchenvater
Aurelius Augustinus erzählt eine kleine
Geschichte von einem Schauspieler. Dieser versprach
während einer Theatervorstellung seinen
Zuhörern, ihnen bei der nächsten Vorstellung
sagen zu wollen, was ihrer aller Wunsch und Wille sei.
Als nun, von Neugier getrieben, am festgesetzten Tage
eine grössere Zuhörerzahl als sonst erschienen
war und die Menge aufmerksam und gespannt lauschte, sagte
der Mime: „Ihr wollt alle billig kaufen und teuer
verkaufen“. Man fühlte allgemein, dass der
Mime das Richtige getroffen und obwohl er ihnen eine
Alltagsweisheit gesagt hatte, war die Sache doch so
unerwartet gekommen, dass alle ihm Beifall spendeten.
Augustinus fährt fort: „An sich selbst oder an
anderen hatte jener Mime die Tendenz: möglichst
billig zu kaufen und möglichst teuer
zu verkaufen, beobachtet und glaubte
nun, dieselbe allen Menschen zuschreiben zu dürfen.
In Wahrheit aber ist eine derartige Handlungsweise
lasterhaft.“ Um ein gerechtes,
wirklich christliches Beispiel anzuführen,
erzählt Augustinus dann weiter, dass einem seiner
Bekannten einmal ein Buch zum Kauf angeboten wurde, und
als er bemerkte, dass der Verkäufer aus Unkenntnis
des Wertes nur eine Kleinigkeit verlangte, bezahlte er
unaufgefordert einen bedeutend höheren aber
„gerechten Preis“. In den
Kapitularien Karls des Grossen wird alles
das als „Wucher“ und
„Uebermass“ als „turpe
lucrum“ (Schmutzgewinn) verboten, was mehr
empfangen wird, als gegeben war. Wer 1 Scheffel Getreide
gab, um dafür später 1 1⁄2 Scheffel Getreide zu empfangen,
war nach diesen Gesetzen ein Wucherer. Diese Gesetzgebung
Karls des Grossen verweist in ihren Motiven bereits auf
eine Dekretale des Papstes Leos des Grossen
(457—474) sowie auf Pönitentialien- und
Kanonsammlungen. Unter den Kirchenvätern wird
namentlich auf Hieronymus und
Kassiodor Bezug genommen. Eine Reihe von
Kirchenkonzilien und Synoden schliessen sich in der
Folgezeit dieser Lehre vom Wucher und von dem
Aequivalenzwerte ausdrücklich an. Die grosse
Wuchergesetzgebung des Papstes Alexander
III. (1159—1181) baut sich auf den gleichen
Grundsätzen auf. Thomas von Aquin
(1225—1274) hat dann diese Lehrsätze im
Anschluss an Aristoteles systematisiert. Und noch heute
wird diese Forderung der Aequivalenz in der neuen
katholischen Literatur durch Carl von Vogelsang,
Carl Scheimpflug, Victor Brants, Albert M. Weiss, Franz
Schaub, de Girard, Carl Lessel, F. X. Hoermann, V.
Cathrein, H. Pesch, Franz Walter, Eugen Jaeger
u.a. vertreten. Selbst Carl
Marx anerkennt den Austausch von Aequivalenten
nach Massgabe des gesellschaftlichen Kostenwertes
als das Normale. Aus der
Gesetzgebung der Gegenwart, wie aus
der ökonomischen Praxis sind folgende hierher
gehörende Einzelfälle zu erwähnen.
Das deutsche Bankgesetz vom 14. März
1875 bestimmt in seinem § 41, Abs. 2, dass
das Reich sich das Recht vorbehält, die
Grundstücke der Reichsbank gegen Erstattung des
Buchwertes zu erwerben. Bei der
deutsch–ostafrikanischen Bank, welche am 6.
Januar 1905 ins Leben gerufen wurde, hat der
Reichskanzler sich das Recht vorbehalten, zuerst
am 31. Dezember 1934, alsdann von 10 zu 10 Jahren, die
deutsch-ostafrikanische Bank aufzuheben und die
Grundstücke derselben gegen Erstattung des
Buchwertes zu erwerben oder die
sämtlichen Anteile der Gesellschaft zum
Nennwerte für den deutsch-ostafrikanischen
Landesfiskus zu übernehmen. Bei den
konzessionierten Privatbahnen dürfen in
der Regel auf das Baukonto keine fiktiven Posten,
sondern nur reelle Kosten, welche sich fruchtbar und
nützlich erwiesen haben, verbucht werden. Bei
den privaten, industriellen Unternehmungen, welche
Familieneigentum geblieben, ist es Sitte, das Objekt nach
dem Buchwerte mit Abschreibungen, welche der
Höhe der Abnutzung und des Risikos entsprechen, dem
das Unternehmen ausgesetzt ist, zu vererben. Der
Buchwert nach den reellen Kosten, welche sich
fruchtbar und nützlich erwiesen haben, mit
Abschreibungen, welche der tatsächlichen Abnutzung
oder dem bestehenden Risiko entsprechen, deckt sich
aber genau mit dem Aequivalenzwertbegriff. Hierher
gehört schliesslich auch aus den politischen
Bestrebungen der Gegenwart der Antrag Kanitz in der
Formulierung des Bundes der Landwirte, welcher
Getreidepreise in solcher Höhe fordert, dass die
heimischen mittleren Produktionskosten, die etwa dem
40jährigen Durchschnittspreise entsprechen, gedeckt
werden.
Ein altes lateinisches Sprichwort sagt: „Omne
perfectum simplex“ — Alles Fertige ist
einfach. So war es auch immer in der
Nationalökonomie. Der fertige
Merkantilismus konnte alle seine
Vorschläge auf die einfache Formel reduzieren:
möglichst viel Geld im Lande ansammeln! Seit Adam
Smith haben die Freihändler ihre ganze
Politik in den Satz zusammengefasst: lasst den gesunden
Egoismus gewähren! Für den ganz unfertigen
Zustand unserer heutigen politischen Wissenschaft ist
nichts so charakteristisch, wie die unübersehbare
Fülle von Einzelforderungen mit einer Material- und
Paragraphenmasse, die kein Mensch gleichmässig
beherrschen kann. Unsere systematische Untersuchung hat
hier in ihren Resultaten wieder auf die uralte
Aequivalenztheorie zurückgeführt.
Wir können deshalb unser ganzes politisches Programm
dahin zusammenfassen, dass wir sagen: Beseitigt die
Wucherfreiheit, die sich hinter dem Satze versteckt:
„Möglichst billig einkaufen und möglichst
teuer verkaufen“, durch Wiedereinführung des
gesellschaftlichen Kostenwertes, auch Aequivalenzwert
genannt. Die Einfachheit neben dem imposanten
Alter dieses Programms ist ebenso sehr ein Zeichen
für das „Fertige“, wie unsere moderne
nationalökonomische Handbücherliteratur den
Stempel des „Unfertigen“ an sich trägt.
All unsere praktischen Einzelforderungen müssen sich
als logische Konsequenzen dieser grundlegenden Auffassung
darstellen.
a)
Für alle Verträge, bei welchen Leistung und
Gegenleistung nicht entsprechen (nicht
verhältnismässig gleich sind), ist die Klage
auf Herausgabe des Mehrwertes zulässig.
Das neue Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch kennt in
seinen 2385 Paragraphen die Aequivalenztheorie nicht
mehr. Sogar die alte römische Einrede wegen
Uebervorteilung um die Hälfte hat man fallen lassen.
Statt dessen begnügte man sich in den §§
138, 817 und 826 mit dem Begriff, „gegen die guten
Sitten verstossen“. Der Richter hat über die
„guten Sitten“ im Geschäftsleben keine
eigene Meinung. Er hört deshalb den gerichtlichen
Sachverständigen, der mitten in der wucherischen
Geschäftspraxis lebt und dessen Auffassung über
„gute Sitten“ mit den in Wahrheit
„schlechten Sitten“ identisch ist. Deshalb
herrscht bei uns weitgehendste Wucherfreiheit. Bei
Börsen- und Wechselgeschäften gilt der Schein
mit seinem Wortlaut. Aber auch bei allen anderen
ordentlichen Geschäften pflegt das Gericht in eine
Prüfung des materiellen Inhalts der Verträge
nicht einzutreten. So hat z.B nach
Zeitungsnachrichten vom 9. November 1907 die
„Darmstädter Bank“ im April
1904 einem Kaufmann in Stuttgart ein Darlehen von 590'000
Mark gegen 6% Zinsen und
1 1⁄2% Provision
gewährt. Ausserdem musste dieser Kaufmann der Bank
das Optionsrecht auf 2 Millionen Mark Aktien eines in
seinem Besitz befindlichen und als Aktiengesellschaft zu
gründenden Elektrizitätswerkes einräumen,
zu einem Kurse, der sich um nicht weniger als 350'000
Mark unter dem Buchwerte halten sollte. Im
Frühjahr 1905 wollte der Kaufmann von dem
Geschäft zurücktreten, womit die Bank nur unter
der Bedingung einverstanden war, dass er das Darlehen
nebst Zinsen und Provision zurück
zahlte und ausserdem der Bank eine
Abstandssumme von 350'000 Mark gewährte, auch sollte
ihr das Optionsrecht auf 1 Million Aktien verbleiben. Der
Kaufmann zahlte die verlangte Summe, forderte aber
später die 350'000 Mark im Prozesswege zurück,
weil angeblich seine Notlage ausgebeutet worden sei. Die
Bank bestreitet dies mit Entschiedenheit und
erklärt, dass von einer wirklichen Notlage nicht die
Rede gewesen sei. Die Sachverständigen werden
bezeugen müssen, dass solche Geschäfte heut
ziemlich allgemein üblich sind.
Peter Rosegger erzählt im
Februarheft (1907) seines „Heimgarten“, dass
ein Bauer in Steiermark ein stattliches fettes Ochsenpaar
hatte. Ein Händler kam und schloss mit dem Bauern
das Kaufgeschäft nur mit Nennung der Gesamtsumme
„500“. Die steierischen Bauern meinen in
diesem Falle ausnahmslos „Gulden“. Der
Händler aber berief sich auf die gesetzlich
eingeführte „Kronenwähnung“. Das
Gericht hat im Sinne der Auffassung des Händlers
entschieden. Nach unserer Auffassung soll niemand
wesentlich zu teuer verkaufen, es soll aber auch keinem
zugemutet werden, wesentlich unter den Produktionskosten
seine Erzeugnisse abzugeben. Die mittleren Preise, welche
sich mit den gesellschaftlichen Selbstkosten decken,
sollen gelten. Erst dann ruht der Geschäftsverkehr
auf einer gerechten Grundlage.
Wie wird nun diese Aequivalenz von Leistungen und
Gegenleistungen gefunden? Bei Geldleistungen bietet der
landesübliche Zinsfuss einen Maassstab, bei Waren
und Immobilien im Verkehr „unter
Brüdern“ der Kostenpreis. Nun sind aber die
Selbstkosten sehr verschieden. Die Umwandelungskosten
für 1 Tonne normales Brotgetreide in Mehl und Kleie
schwanken bei den verschiedenen Mühlen in
Deutschland: von 5 bis 18 Mk. Auch die
landwirtschaftlichen Produktionskosten für eine
Tonne Weizen oder
Roggen,
die Baukosten für einen Prunkstall oder einen
einfachen Stall stellen sich pro Stück Grossvieh
recht verschieden hoch. Das Gleiche gilt für den
Kostenunterschied der Wohngebäude usw. Hier bieten
offenbar die mittleren oder gesellschaftlichen
Herstellungskosten die allgemeine Richtschnur,
wobei für besondere Qualitäten besondere
Gruppen zu unterscheiden sind. Zu jeder ordentlichen
Kostenrechnung gehören ferner Abschreibungen nach
Massgabe der erfahrungsgemässen Abnutzung und des
bekannten Risikos. Der Wert ist eben kein
individualistischer Begriff. Unter Wert verstehen wir
vielmehr den geld- und gütermässigen
Ausdruck für die Beziehungen eines Objektes zur
volkswirtschaftlichen Gemeinschaft. Für alle
Gegenstände des allgemeinen Bedarfs ist an diesen
Grundsätzen festzuhalten. Gegenstände von einer
gewissen Seltenheit, welche nur dem Luxusbedarf begegnen,
mögen auch ferner der individualistischen
Preisbildung vorbehalten bleiben.
b) Zur allgemeinen Ermittelung
des gesellschaftlichen Kostenwertes muss auch allgemein
der Buchführungszwang mit Deklarationspflicht an die
zuständige Stelle eingeführt werden.
Nach den geltenden Gesetzen sind nur Kaufleute und
Erwerbsgesellschaften zu einer ordentlichen
Buchführung verpflichtet. Der Deklarationszwang gilt
bereits für Steuerzwecke und für die
Eintragungen ins Handelsregister. Aber die allgemeinere
Ermittelung des Kostenwertes hat auch den allgemeinen
Buchführungszwang zur unerlässlichen
Voraussetzung. „Unter Brüdern und
Freunden“ haben wirtschaftliche
Heimlichkeitskrämereien keine Be
rechtigung mehr. Nur der
„feindliche Bruder“ hütet
„Geheimnisse“. Beide sollen nicht mehr
geduldet werden. Professor Howard in Leipzig
hat den allgemeinen Buchführungszwang für die
Landwirte schon seit 1882 gefordert und vertreten. Auch
die einfache Buchführung hat für das Volk eine
grosse erzieherische Bedeutung. Ziffermässige
Eintragungen der Einnahmen und Ausgaben führen den
Menschen zu einer planmässigen Ordnung seiner
Lebensweise und damit zu einer wesentlich höheren
Stufe der Kultur und Zivilisation. Aber auch für das
ganze politische Leben ist der allgemeine
Buchführungszwang von weitgehendster Bedeutung.
Unsere amtliche Statistik arbeitet noch viel zu viel mit
Schätzungen. Und zwischen den oft höchst
ungenauen und lückenhaften statistischen Angaben
tobt der politische Tageskampf der Meinungen hin und her.
Wirklich zuverlässige Resultate haben zur
Voraussetzung, dass die ersten Anschreibungen unmittelbar
neben den Einzelerscheinungen einsetzen. Werden solche
Anschreibungen allgemein gemacht, dann kann unsere heute
noch recht unvollkommene und lückenhafte amtliche
Statistik sich zu einer systematisch geordneten
volkswirtschaftlichen Buchführung fortbilden,
welche für alle wichtigeren politischen Fragen eine
einfache, klare, ziffermässige Antwort bereit hat.
Es sind Zölle erhöht oder ermässigt
worden. Die Wirkungen dieser Maassnahmen auf die
Lohnarbeiter, die Landwirte, die industriellen
Unternehmer waren diese und diese. Die Bewegung der
Schulden des Volkes im letzten Jahre war, nach
Verwendungszwecken geordnet, so und so. Die Zahl der
selbständigen wirtschaftlichen Existenzen hat im
letzten Jahre um so und so viel zu- oder abgenommen. Aus
dem Konto „Arbeitserfolg“ sind im
verflossenen Jahre a Milliarden Mark auf das Konto
„Kapitalgewinn“ übertragen worden usw.
So wie in vergangenen Zeiten durch einen Spruch in Rom
die Streitigkeiten erledigt wurden,
so würden künftig durch die
Veröffentlichungen des zentralstatistischen Amtes
alle politischen Parteireibereien ihre Erledigung finden.
Endlich werden erst vom Standpunkt dieser
volkswirtschaftlichen Buchführung aus eine Reihe von
alten Buchführungsstreitigkeiten über
Abschreibung, Bewertung, Konteneinteilung usw. zutreffend
entschieden werden können.
c) Die allgemeine Organisation der
Märkte auf der Basis des gesellschaftlichen
Kostenwertes hat die Syndikatsbildung auf der ganzen
Linie zur Voraussetzung.
Als die liberale Epoche das Volk aus den alten
Gebundenheiten befreite, musste der Egoismus „die
Leitung des Unternehmungsgeistes der Nation“
übernehmen. Niemand wusste eine bessere mehr
zweckdienliche Organisation der Volkswirtschaft
anzugeben. Das Volk sollte zu einem vernünftigen
Gebrauch grösserer Freiheiten erzogen werden. Die
geldwirtschaftlichen Gesichtspunkte, die man auch als
„kaufmännischen Geist“ bezeichnet,
sollten sich allgemein durchsetzen. Das Volk sollte
reicher werden bei gleichzeitiger Eingliederung in den
erwachenden weltwirtschaftlichen Verkehr. Die
industrielle Produktion mit der Handels- und
Verkehrsorganisation hatten früher ungeahnte
gewaltige Probleme zu meistern. Zu alledem war der
Kapitalismus sicher am besten geeignet. Die Nachteile,
welche damit in Kauf genommen wurden, sind wohl auch bis
in die letzte Zeit von den Vorteilen aufgewogen worden.
Diese Bilanz zwischen Vorteilen und Nachteilen hat sich
neuerdings sehr zu Ungunsten des letzteren Kontos
verschoben. Der Unterschied zwischen den Reichen
und den Armen wird ein zu
auffallender. Der masslose Luxus der Reichen, die nicht
wissen, was sie mit ihrem Einkommen anfangen sollen,
wirkt vergiftend und zersetzend auf alle Volkskreise ein.
Die Wirtschaftsorganisation der Reichsten nimmt mehr und
mehr den Charakter von privaten Monopolen an, die in der
Ausraubung anderer keine gerechten Grenzen mehr kennen
und die Selbständigkeit der Bevölkerung
sichtlich mindern. Die Formen der freien Konkurrenz
werden immer raffinierter, immer rücksichtsloser,
immer „amerikanischer“. Der freie Wettbewerb
nimmt die unwirtschaftlichsten Formen an und führt
bald zu einer Verschleuderung der Waren weit unter dem
Kostenwerte, bald zu einer bedenklichen Preissteigerung
weit über diese Grenze hinaus. Die Isoliertheorie
der Einzelnen hat die Masse des Proletariats geboren und
gestattet den Stärkeren, den Rücksichtsloseren,
den „Männern ohne Scham und Gewissen“,
die Schwächeren fort und fort
„abzuschlachten“. Die Bildung der Tagespreise
liegt in der Hand von wenigen Spekulanten. Kurz, die
planlose, führerlose Wirtschaft von 60 Millionen
Menschen kann nur als ein heilloses
Durcheinander bezeichnet werden, das
national wie international zu unhaltbaren
Verhältnissen führen musste.
Nun ist es das Zeichen der organischen Notwendigkeit
der kapitalistischen Entwicklungsepoche, dass sie
Organisationsformen gezeitigt hat, welche der neuen Zeit
die rechten Entwicklungswege weisen. Eine
dieser grundlegenden Vereinigungsformen ist das
Syndikat. Das Syndikat beseitigt die
planlose freie Konkurrenz durch eine plannlässige
Ordnung für alle angeschlossenen Einzelwirtschaften.
Das Syndikat trennt den Kaufmann und Spekulanten wieder
vom Produzenten und Techniker und gestattet dem
Warenerzeuger ein ruhigeres Leben, während
gleichzeitig die Organisation des Verkaufs alle masslose
Kreditgewährung, alle unsinnigen Ueberangebote
ausschaltet und alle
ungesunde
Spekulation verschwinden lässt, zu Gunsten einer
möglichst stetigen mittleren Preispolitik. Diese,
den modernen Zeitverhältnissen auf den Leib
geschnittenen Organisationsgrundsätze deuten die
rechten Wege zur Lösung des alten Problems der
Gewerbeordnung an. Die Innung der Zukunft heisst
„Syndikat“. Der Syndikatsgedanke sollte
deshalb auf der ganzen Linie des Erwerbslebens zur
Anerkennung und Durchführung kommen. Den Produzenten
sind die Entstehungskosten ihrer Erzeugnisse bekannt. Sie
können deshalb am leichtesten den gesellschaftlichen
Kostenwert einführen, indem sie den Verkaufspreis
ihrer Erzeugnisse nach diesem Masstabe normieren.
Geschieht dies erst allgemein, dann bewegt sich der
Güterverkehr nach den Grundsätzen des
Aequivalenzwertes und der Gerechtigkeit. Die Zeit der
vertragsmässigen Aneigung von Mehrwert ist dann
vorbei. Für eine „Reform der
Warenbörse“ unter irgend welchem Titel bleibt
hier kein Raum. Die Börsen sind ihrer ganzen
Einrichtung nach Institute, welche auf dem durchaus
wucherischen Grundsatze: „möglichst billig
einkaufen und möglichst teuer verkaufen“
aufgebaut sind. Daran ist für jede wahrhafte
Sozialreform nichts zu bessern. Unsere Warenbörsen
müssen durch wesentlich vollkommenere Einrichtungen
auf der ganzen Linie ersetzt werden. Und diese
vollkommeneren Einrichtungen heissen
„Verkaufsbüros der
Syndikate.“
d) Zum rechten Ausbau der
Syndikate auf der ganzen Linie des Erwerbslebens ist ein
Syndikatsgesetz ebenso notwendig, wie für die
verschiedenen Formen der Genossenschaften
Genossenschaftsgesetze nötig waren.
Die allgemeine Gewerbefreiheit hat sich heute aus
einer Wohltat in eine Plage gewandelt. Auf jeder Seite
der modernen Gesetzgebung, die im wesentlichen eine
Verlegenheitsgesetzgebung ist, begegnet uns das moderne
Problem einer „Organisation der
Gesellschaft“. Die herrschende individualistische
Organisation des Volkes neigt sichtlich dem Anarchismus
zu. Schon Fürst Bismarck wollte deshalb gelegentlich
der sozialen Arbeitergesetze das Volk in
Berufsständen zusammenfassen. Seine
diesbezüglichen Vorschläge wurden abgelehnt.
Die Zeit für berufsständige Organisationen
gehört der halb naturalwirtschaftlichen, halb
geldwirtschaftlichen Epoche an. Bei hoch entwickelter
Geldwirtschaft vereinigen Viele die verschiedensten
Berufsstände in ihrer Person. Der naturgemässe
Verband ist jetzt der Zweckverband der Personen, der
für verschiedene Zwecke ein verschiedener ist. Der
Zweck der Syndikate lautet: planmässige
Zusammenfassung der gleichartigen Einzelwirtschaften und
Bestimmung der Verkaufspreise nach Massgabe des
gesellschaftlichen Kostenwertes. Das Syndikat
erscheint deshalb als die geeignetste Grundform einer
modernen Organisation der Gesellschaft.
Die heutigen Syndikate sind noch wesentlich vom
Individualismus durchsetzt. In Zeiten der Not haben sich
die Einzelwirtschaften zu einem planmässigen
Zusammenschluss verstanden. Sobald bessere Zeiten kommen,
lockert sich auch schon der Zusammenhalt. Und wenn die
wenigen Jahre der Bindung erst
vorbei sind, strebt wieder ein jeder nach seinen eigenen
Wegen. Deshalb glückt die Erneuerung der Syndikate
so häufig nicht mehr. Selbst dort, wo sie
glückt, zeigt sich nur zu oft der habgierige
Egoismus in den hässlichsten Formen. Die
Verhandlungen über den Kontingentierungsvertrag
werden zum Signal für die Grossen, die Schwachen
rasch zu verschlingen. Oder die „Anderen“
sollen die Kosten der Syndikatsorganisation tragen. Als
„Aussenstehender“ bleibt es rentabler, die
Vorteile einer besseren Marktorganisation
ohne Gegenleistung zu geniessen u.s.w. Eine Zeit, in welcher die höchsten
Gerichte sich immer noch bemühen, die
Syndikatsverträge als „vereinbar mit der
geltenden Gewerbefreiheit“ zu bezeichnen, mag
solche ethische Konflikte als „dazu
gehörig“ betrachten. Sobald man aber erkannt
hat, dass die Unzulänglichkeit unserer heutigen
„Gewerbeordnung“ durch noch so viele Novellen
nicht mehr verdeckt werden kann, und dass es sich also
darum handelt, eine organische neuzeitliche
Gewerbeordnung im Ganzen zu schaffen, für
welche das Syndikat zur grundlegenden Organisation wird,
sobald wird auch die neue bessere Gewerbeordnung ein
Syndikatsgesetz werden, dem folgende Bestimmungen nicht
fehlen dürfen:
α) |
Das Syndikat wird als wichtiges Organ der
Gesellschaft auf ewige Zeiten gegründet. |
β) |
Der Syndikatspreis ist immer gleich dem
gesellschaftlichen Kostenwert. Wo die
Gestehungskosten des Einzelbetriebes wesentlich
billiger sind, wird vom Syndikat ein entsprechender
Betrag bei der Abrechnung zurückbehalten und aus
diesem Fonds dort zugelegt, wo Einzelbetriebe unter
weniger günstigen Verhältnissen höhere
Unkosten haben. Die Bestimmungen des verflossenen
deutschen Kakes-Syndikats und der heute bestehenden
Vereinigung der Spritfabriken sind Beispiele dieser
Art.  |
γ) |
Der Kontingentierungsvertrag hat von dem
bestehenden volkswirtschaftlichen Bedarf auszugehen.
Die Produktion soll sich dem Bedarf anpassen. Daneben
sind Vorräte zu halten, gross genug, um eine
möglichst stetige mittlere Preispolitik zu
sichern. Das Kontingent des Einzelnen bestimmt sich
nach seiner bisherigen Teilnahme an der Deckung des
volkswirtschaftlichen Bedarfs. |
δ) |
Die Neuverteilung der Bedarfsveränderung
soll nach folgendem Grundsatze geschehen: Der
Grossbetrieb ist bis heute in der Regel bereits genug
entwickelt. Von jetzt ab soll für eine
möglichste Ausbreitung mittlerer und kleiner
selbständiger Existenzen Sorge getragen werden.
Nur wo die bereits bestehende
Produktionsfähigkeit in einem
unökonomischen Missverhältnis zum
überwiesenen Kontingent steht, soll sie weiter
berücksichtigt werden. Eine Verschmelzung bisher
bestehender Einzelbetriebe ist nur in besonderen
Ausnahmefällen zulässig. |
ε) |
Die direkte Zugehörigkeit zum
Syndikat hat mindestens eine gewisse mittlere
Betriebsgrösse zur Voraussetzung. Kleinere
Betriebe sollten sich zu Genossenschaften
zusammenschliessen und als solche
indirekten Anschluss an das Syndikat
suchen. Sobald die einfache Mehrheit der direkt
syndikatsfähigen Betriebe der Gründung
eines Syndikates zustimmt, ist die Minderheit
gezwungen, sich diesem Syndikate anzuschliessen. Die
Effektivhändler werden, soweit es die rationelle
Organisation von Bezug und Absatz gestattet, in das
Syndikat aufgenommen. |
e) Um die Gründung von
Syndikaten auf der ganzen Linie des Erwerbslebens
vorzubereiten, die bestehenden Syndikate fortlaufend zu
kontrollieren und die harmonische Fortentwickelung aller
Berufsstände zu überwachen, wird in Parallele
zum Reichsgericht ein Reichsvolkswirtschaftsrat
geschaffen.
Unsere Zeit ist darüber nicht mehr im Zweifel,
dass der einseitige wirtschaftliche Individualismus sich
überlebt hat. Aber die Folgerungen, welche man
daraus ableitet, enden zumeist auf
„Verstaatlichung“. Man glaubte sogar schon,
das Entwickelungsgesetz einer stetigen Ausdehnung der
Staatsgewalt daraus ableiten zu können. Auf
umfassenderen historischen Studien ruht diese Anschauung
nicht. Namentlich die Geschichte von Athen und Rom mahnt
wahrlich dringend genug vor einer Ueberlastung des
Staates. Und sind nicht die gleichen warnenden Anzeichen
in der Gegenwart schon deutlich genug sichtbar?
Insbesondere Albert Schaeffle, der gewiss
kein unnötig ängstlicher Mann war, hat mit
aller Entschiedenheit bei der rasch wachsenden Zahl von
Funktionen im öffentlichen Leben „eine
Trennung des Staates und der Volkswirtschaft“
gefordert. Wir möchten hier statt des Ausdrucks
Volkswirtschaft die Bezeichnung
„volkswirtschaftliche Gesellschaft“
wählen. Doch: was ist die Gesellschaft neben dem
Staate? gibt es überhaupt eine solche? Selbst
Gebildete bestreiten die Möglichkeit dieser
Trennung, so sehr hat man sich heute an die falsche
Vorstellung von der „Allmacht des Staates“
gewöhnt. Der Irrtum ist leicht aufzuklären.
Syndikate, Genossenschaften aller Art,
Aktiengesellschaften, Gesellschaften m.b.H. usw.
sind Organisations
formen der
volkswirtschaftlichen Gesellschaft neben dem
Staate. Wir sehen sogar die Macht dieser einzelnen
Gesellschaften so anwachsen, dass sie den Staat zu
beherrschen drohen, den Staat zu ihrer Dienstleistung
einspannen. In all diesen Fällen führt der
maasslose Egoismus diese gesellschaftlichen Gebilde. Das
ist ein ganz widernatürlicher Zustand. Die
Tätigkeit dieser Gesellschaften baut sich erst recht
auf der Tatsache der grossen gewaltigen sozialen
Arbeitsgemeinschaft auf. Ihre Werte sollten erst recht
nur nach dem Maasstabe der gesellschaftlichen Kostenwerte
gemessen werden und als äquivalente Werte im
Güterverkehr sich bewegen. Für diese
Gesellschaften aller Art gilt in erhöhtem Maasse,
dass die ganze Volkswirtschaft eine Wirtschaft
„unter Brüdern und Freunden“ ist und
darum auch sein soll! Die bloss formalen Prüfungen
der Registerrichter können nicht genügen. Die
Einheit der volkswirtschaftlichen
Gesellschaft braucht für die vielen tausenden
von lokalen gesellschaftlichen Bildungen eine
zusammenfassende Zentrale, welche die
soziale Harmonie und Gerechtigkeit ihrer Handlungen und
Unterlassungen fortdauernd kontrolliert und die
Interessen des echten Fortschrittes tunlichst zu
fördern sucht. Diese Zentrale soll den Titel:
„Reichsvolkswirtschaftsrat“
führen. Er hat dafür zu sorgen, dass die vielen
Millionen von Einzelwirtschaften — welche alle nach
den mehr oder weniger zufälligen Anregungen, die bei
ihnen sich einfinden, handeln, und die deshalb bei einem
furchtbaren Durcheinander die grössten Summen
unnütz verbrauchen und immer wieder in
verhängnisvolle Krisen hineintreiben — endlich
nach einem vernunftgemässen volkswirtschaftlichen
Plane arbeiten. Zu diesem Zwecke wird die Zentrale die
Einzelnen in Gruppen organisch zusammenfassen
müssen. Dazu dienen die Syndikatsformen mit den
Formen der Genossenschaft usw. Bei all diesen
Neugründungen ist die Zweckmässigkeit im
Einzelnen wie im Rahmen des Ganzen
zu prüfen, der Gründungsvorgang nach
Maassgabe des Aequivalenzwertes zu
überwachen. Bei den vorhandenen gesellschaftlichen
Bildungen ist in gleicher Weise Einrichtung und
Geschäftsführung zu kontrollieren und jede im
Interesse des Ganzen nötige Abänderung
durchzusetzen. In einem Kataster der selbständigen
Unternehmer ist die tunlichste Vermehrung
unabhängiger mittlerer und kleiner Existenzen
nachzuweisen. Der Reichsvolkswirtschaftsrat vereinigt in
sich alle Registerämter, alle Revisionsstellen und
alle richterlichen Kompetenzen auf diesen Gebieten.
Grosse Aufgaben können nur gelöst werden, wenn
Initiative, Kontrolle und Kompetenz einander
entsprechen.
Aber auch die Qualifikation der Mitglieder dieser
Zentrale und ihre Stellung muss eine hervorragende sein.
Schon der rühmlichst bekannte österreichische
Gesetzesverfasser und ehemalige Präsident des
höchsten Gerichtshofes in Oesterreich Dr. Emil
Steinbach, hat in seinem ausgezeichneten Vortrage
über den „Staat und die modernen
Privatmonopole“ (1903) darauf
hingewiesen, dass der so notwendigen Kontrollstelle
für die Syndikate die Garantien eines hohen
Gerichtshofes übertragen werden müssten. Die
Spitzen der staatlichen Behörden seien für eine
Uebernahme dieser Aufgaben ganz ungeeignet. Selbst in
grossen volkreichen Staaten dürfte es nicht leicht
werden, die nötige Zahl von Personen aufzufinden,
welche bei ausreichendem Wissen genügende Erfahrung
und Objektivität in sich vereinen. Daneben spielt
ihre ökonomische Unabhängigkeit eine bedeutsame
Rolle. Als Leiter und Organisatoren des
Unternehmergeistes der Nation sind offenbar nur
wirtschaftlich hervorragend erfahrene Personen geeignet.
Bürokratische Schablonen und Charaktere sind hier
ganz unverwendbar. Um die rechten Mitglieder des
Reichsvolkswirtschaftsrates zu ernennen, ist den obersten
Spitzen
der
Behörden eine zu dünne Schicht der
Bevölkerung persönlich bekannt. Noch weniger
kann die Wahl durch die Massen ein besseres Resultat
versprechen. Und am allerwenigsten darf der formale
Nachweis durch Schulenbesuch und Examen hierbei eine
Rolle spielen. Die Besitzer der glänzendsten
Schulzeugnisse erweisen sich häufig in der Praxis
als wenig brauchbare Menschen. Und eine lange Reihe der
hervorragendsten Leiter moderner Grossbetriebe in allen
Ländern hat nur die einfache Volksschule besucht,
alle weiteren Kenntnisse aber ohne Mitwirkung von Lehrern
sich angeeignet. Die Schule bleibt als Bildungsmittel
für die Volksmasse ganz unentbehrlich. Selten
begabte Menschen bewahren ihre Eigenart besser bei
Selbststudium. Nur die in der grossen Praxis
bewährte Begabung und Befähigung kann für
ein so wichtiges und so schweres Amt wie das eines
Reichsvolkswirtschaftsrates als Ausweis
genügen. Wer diesen Ausweis erbringen kann,
soll berechtigt sein, beim Reichskanzler für den
Reichsvolkswirtschaftsrat sich zu melden. Aus diesen
Meldungen haben dann die Ernennungen durch den
Landesfürsten zu erfolgen.
Solche erfahrene Männer aus der grossen
geschäftlichen Praxis sollen den Hauptstock, etwa
3⁄5 aller Mitglieder bilden.
Dazu kämen 1⁄5
hervorragende Juristen, welche auf dem Gebiet der
wirtschaftlichen Gesellschaftsbildungen eine reiche
Praxis hinter sich haben. Und endlich 1⁄5 Träger neuer
Ideen. Die entwicklungsgeschichtlich vielleicht
bedeutsamste Funktion, welche der wirtschaftliche
Individualismus übernommen und in vortrefflicher
Weise erfüllt hat, ist die Freiheit, neue Ideen
aufzufinden und geltend zu machen. Speziell auf
technischem Gebiete hat die Patentgesetzgebung diese
Entfaltung schlummernder Kräfte in zielbewusster
Weise gefördert. Wenn jetzt die Zeit einer sozialen
Organisation der Volkswirtschaft ein
setzen muss, um bestehende schwere
wirtschaftliche Schäden zu beseitigen, so wäre
es ein ungeheurer Fehler, die Gasse für neue Ideen
nicht offen zu halten bezw. nicht noch zu erweitern. Denn
je kräftiger die neuen Organisationen gestaltet
werden, desto grösser ist die Gefahr einer
Stagnation in der Entwicklung, einer Ueberwucherung der
„persönlichen
Beziehungen“ mit all ihren unheilvollen
Begleiterscheinungen. Die Grossunternehmungen sind schon
heute bestrebt, alle neuen Erfindungen ihrer Angestellten
durch Verträge sich anzueignen, weil ihr Material
und ihre Einrichtungen bei diesen Erfindungen
benützt worden wären. Damit geht die
Erfindungsfreudigkeit der Erfinder zurück. Nach
Analogie der römischen Spezifikation sollten nur
solche Verträge gültig sein, welche dem
Erfinder die Erfindung lassen und aus seinen
späteren Einnahmen die Rückerstattung der aus
dem Bestand der Gesellschaft verwendeten Materialien
fordern. Es handelt sich aber nicht nur um neue
technische, sondern auch um neue
volkswirtschaftliche Ideen. Wenn höhere
Staatsbeamte wiederholt auffordern: wer etwas besseres
vorzuschlagen wisse, möge sich melden! so kann das
kaum genügen, um die neuen Ideen hervorzuzaubern.
Heute werden neue volkswirtschaftliche Ideen
totgeschwiegen, oder ohne Quellenangabe abgeschrieben und
verwendet. Die Geschichte zeigt noch trübere
Beispiele. Die Wenigen, die was davon erkannt, hat man
von je gekreuzigt und verbrannt. Der Staat sollte in
seinem eigenen wohlverstandenen Interesse dafür
sorgen, dass die Träger neuer volkswirtschaftlicher
Ideen zur weiteren Verbesserung unserer sozialen
Verhältnisse nicht mehr mit den Ihrigen verhungern
müssen. Man gewähre endlich
nationalökonomischen Erfindungen den gleichen Schutz
wie den Erfindungen auf technischem Gebiete und die
Erfahrung wird bald zeigen, dass unsere
Volkswirtschaft daraus den gleichen
gewaltigen Vorteil zieht, wie ihn unsere deutsche
Industrie nach Werner von Siemens aus dem
besseren Schutz der technischen Erfindungen gezogen hat.
Man errichte bei dem Reichspatentamt eine Abteilung
für neue volkswirtschaftliche Ideen. Wer einen
neuen volkswirtschaftlichen Vorschlag zur Verbesserung
unserer volkswirtschaftlichen Verhältnisse macht und
mit einer klaren entwicklungsgeschichtlichen
Begründung beim Reichspatentamt einreicht,
erhält darauf ein gebührenfreies Patent.
Idee und Begründung werden dann mit dem Namen des
Verfassers amtlich veröffentlicht. Sobald diese Idee
dann in der Praxis verwirklicht wird, erhält der
Patentinhaber oder seine Erben ein entsprechendes Honorar
aus der Reichskasse. Aus der Reihe der Erfinder neuer
technischer und neuer ökonomischer Ideen werden im
allgemeinen nach Maassgabe der Bedeutung der erworbenen
Patente zu gleichen Teilen etwa je 1⁄10, zusammen also 1⁄5 der Mitglieder des
Reichsvolkswirtschaftsrates ernannt. Sie bilden in dieser
Körperschaft gewissermaassen den Sauerteig. Sie
haben vor allem dahin zu
wirken, dass auf technischem wie ökonomischem
Gebiete die Losung des Fortschrittes in Geltung bleibt.
Im Interesse ihrer ökonomischen Unabhängigkeit,
wie im Interesse einer besseren Auswahl von Bewerbern
müssen den Mitgliedern des
Reichsvolkswirtschaftsrates preussische
Ministergehälter bezahlt werden. Die reinliche
Ausscheidung der Mitglieder dieser Zentrale aus ihren
früheren geschäftlichen Beziehungen ist eine
selbstverständliche Bedingung für ihre
Ernennung.
Schliesslich darf nicht unerwähnt bleiben, dass
den Mitgliedern dieses Reichsvolkswirtschaftsrates ein
erhöhter strafrechtlicher Schutz gewährt werden
muss. Diese Körperschaft hat in ganz besonderem
Maasse den Kampf gegen den Egoismus und die Habsucht zu
führen. Nach der
heute
beliebten Praxis rächt sich dafür „die
Bestie in Menschengestalt“ durch Beleidigungen und
Verleumdungen aller Art, wobei die geltenden Gesetze ganz
unzureichenden Schutz bieten.
f) Zur sozialen Erziehung des
Volkes ist eine so weitgehende Dezentralisation der
staatlichen Organe erforderlich, dass der letzte
disponierende Beamte jeden Einzelnen seines Bezirkes als
Person zu kennen, zu beobachten und zu behandeln in der
Lage ist.
Die beiden Sätze: „Möglichst billig
einkaufen, möglichst teuer verkaufen!“ und
„der Güterverkehr nach dem
Aequivalenzwerte!“ bedeuten zwei ganz verschiedene
sittliche Welten mit ganz verschiedenen Organisationen
der Gesellschaft und des Staates.
Die möglichst weitgehende Wucherfreiheit nach der
Seite des Einkaufs, wie nach der Seite des Verkaufs,
wünscht möglichst wenig durch irgend welche
Organisationen behindert zu werden, um den
„Geschäften“ ungestört nachgehen zu
können. Höchstens kapitalistische Syndikate
sind zulässig, welche das Verdienen noch mehr
erleichtern. Im Volke gibt es nur freie, das heisst
unorganisierte Einzelindividuen, die tun und lassen
können, was ihnen beliebt. Sobald der Bursche, das
Mädchen aus der Schule entlassen sind, sind sie auch
selbständig. Die Familie ist, namentlich in dem
Gedränge der Städte, aber auch auf dem Lande
schon, in der Auflösung begriffen. In der Masse kann
ein jeder als unbekannt untertauchen und verschwinden.
Unter solchen Voraussetzungen wird es dem einseitigen
Egoismus am leichtesten, sich in jeder Weise auszuleben.
Eine ober
flächliche seichte
Aufklärung hat den Einfluss der Religion wesentlich
gemindert. Die alten guten Sitten werden über Bord
geworfen. Ueberall begegnen uns die Raubtiere in
Menschengestalt. Unter dem Titel der freien Konkurrenz
macht sich die gewissenloseste Raffbegierde breit, der
kein Mittel zu schlecht ist, andere zu schädigen, um
für sich zu gewinnen. Die Gemeinschaft des Volkes
löst sich in verschiedene Klassen auf, die
gegenseitig bis aufs Messer sich bekämpfen. Das
öffentliche Leben wird vergiftet und verdirbt den
Charakter. Werner Sombart warnte
öffentlich alle edlen Menschen vor einer Teilnahme
an der Politik. Die allgemeinen Wahlen, wie die
Lohnkämpfe spielen sich unter den Formen kleiner
Bürgerkriege ab. Presse und Literatur, Theater und
Kunst laufen dem Geldgewinn nach und umschmeicheln mit
Sensationen aller Art die niederen Leidenschaften des
entartenden Volkes. Die Zahl der selbständigen
wirtschaftlich unabhängigen Existenzen schwindet
dahin. Die Verwaltung der grossen Vermögensmassen
ruht in den Händen von wenigen Personen. Der Luxus
wird immer raffinierter, die Gründung eines
Familienstandes immer schwieriger, das Heer der Dirnen
immer grösser. Die Erziehung des Volkes wendet sich
mehr und mehr von der Arbeit und der Sparsamkeit ab, der
Genussucht, Spekulationssucht und Schuldenmacherei zu.
Der Staat aber greift in diese böse Entwickelung nur
soweit ein, als er gerade muss. Der Mammon wird von ihm
noch am meisten geschützt. Ein Tischler aus Halle,
der einem Zweipfennigstück das Aussehen eines
Zehnpfennigstückes gegeben hatte, wurde zu vier
Monaten Gefängnis verurteilt. „Die gesunden
Knochen sind“, wie schon Fürst
Bismarck gesagt, „viel niedriger
veranschlagt“. Im deutschen
Strafgesetzbuch wird zwar der Versuch der
Sachbeschädigung bestraft, nicht aber der der
Freiheitsberaubung, der Verführung, des Ehebruchs
oder der Verleumdung. Die Straf
verschärfung des Rückfalles
ist bei Vermögensdelikten wie Diebstahl, Betrug,
Hehlerei, Raub, weit besser gesichert als bei jenen
gemeinen Handlungen, welche gegen Ehre, Leben und
Freiheit der Personen gerichtet sind. Nach dem gleichen
Maassstabe wird die Beihülfe vom Gesetz behandelt.
Obendrein hat sich eine geradezu perverse
Rücksichtnahme auf die Angeklagten ausgebreitet.
Chronische Alkoholisten pflegt man selbst nach schweren
Vergehen freizusprechen. Die sensationslüsterne
Presse macht die gemeinsten Verbrecher zu
Berühmtheiten des Tages und unserer Zeit. Den
privaten Ankläger hat man fast schutzlos gelassen.
Bei alledem nehmen die Prozesse und Klagen unter der
Bevölkerung bedenklich zu. Der Polizeigewalt gelingt
es kaum, ihren Kampf gegen die Verbrecher immer siegreich
zu führen. Die Richter klagen über zu starke
Ueberbürdung. Und ein wachsendes Heer von Menschen
lebt von dem Streit und Kampf ihrer Nachbarn unter sich.
Das ist der friedlose Zustand unserer heutigen
Gesellschaft mit Wucherfreiheit.
Die prinzipielle Forderung einer Ordnung des
Güterverkehrs nach dem Aequivalenzwerte kennt keine
Individuen, die nirgends eingegliedert sind. Ueberall
finden sich Organisationen der verschiedensten Art,
welche den Einzelnen in die gute Bahn einer sozialen
Entwickelung zum besseren Menschen zu geleiten bestrebt
sind. Heute kommt das Kind in die Schule. Dann ist es nur
zu oft sich selbst überlassen. Der Junge wird
eventuell noch zum Militärdienste geholt. Dann ist
auch er frei und den schlechten Einwirkungen
überlassen. Das muss anders werden. Nachdem die
Familie nur zu häufig für erzieherische
Aufgaben versagt, muss die Organisation des Staates mit
den Organisationen der Gesellschaft dem Einzelnen nahe
bleiben von der Wiege bis zur Bahre. Erst nach einem
solchen Ausbau der gesellschaftlichen und staatlichen
Beziehungen
gibt es
keine Volksmassen mehr, in denen man als unerkannt
verschwindet. In jeder Lage des Lebens steht dann dem
strebsamen Armen die rechte Hülfe zur Seite, damit
künftig nicht mehr Goethes
Harfenspieler seinen bitteren Vorwurf erhebe:
„Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst Ihr ihn der Pein,
Denn jede Schuld rächt sich auf Erden!“
|
Diese positive Ordnung des menschlichen Lebens kann
die ungeheure Bedeutung der Religion nicht entbehren,
denn sie weiss mit Leibniz, dass alle
einseitige Aufklärung nur dem Aberglauben in die
Hände arbeitet und dass mit dem Aufhören der
Gottesfurcht die Entfesselung aller Leidenschaften
beginnt. Die alten guten Sitten finden sich wieder ein.
Statt der freien planlosen Konkurrenz herrscht die
planvolle geordnete Wirtschaft. In einer Volkswirtschaft
unter Brüdern und Freunden gibt es keine
Klassenkämpfe mehr. Das öffentliche Leben wird
wieder von Idealen beherrscht, die die besseren edleren
Charaktere zur Mitarbeit heranziehen. Presse und
Literatur, Theater und Kunst haben sich bedingungslos dem
höheren Grundsatze einer besseren sozialen Erziehung
des Volkes unterzuordnen. Die Zahl der
selbständigen, wirtschaftlich unabhängigen
Existenzen wird wieder wachsen, der Luxus maassvoller
werden, die Gründung eines Familienstandes
erleichtert sein, bei allgemeiner Erziehung des Volkes
zur Arbeit und zur Sparsamkeit. Der Staat, der vor allem
den allgemeinen Frieden unter seiner Bevölkerung zu
erstreben hat, muss Verbrechen und Vergehen gegen die
Person strenger und nicht milder bestrafen
als solche gegen das Eigentum. Das weitaus Wichtigste
aller Rechtspflege ist das Vorbeugen und sofortige
Schlichten des Streites, wie es der Oberlandesgerichtsrat
E. Burlage in seiner Broschüre
über die „Friedensvereine“ (1907) so
trefflich nachgewiesen
hat. Nur,
dass die friedliche Schlichtung von Streitfällen
weit leichter gelingen wird, wenn der ordentliche Richter
den Vorsitz im Friedensverein führt. Wer aber den
sozialen Frieden wiederholt gebrochen hat, soll als
„friedloser Mensch“ nach irgend einer Insel
unseres kolonialen Besitzes verbannt werden. Nur so
lässt sich eine wirksame Entlastung der höheren
Instanzen und ein wesentlicher Fortschritt in unserem
ganzen Rechtsleben sicher erwarten.
Die gleichen Konsequenzen in der Richtung der
Dezentralisation ergeben sich aus unserer bisherigen
sozialen Gesetzgebung. Eine gewaltige Arbeitslast
sozialpolitischer Maassnahmen ist den bestehenden
Lokalbehörden aufgebürdet worden, aber diese
können sie auf die Dauer in wünschenswerter
Weise nicht bewältigen. Die unteren Organe
müssten befähigt sein, die Anträge
gewissenhaft zu prüfen, die Einziehung der
Beiträge, die Auszahlung von Renten und die
Ueberwachung des Heilverfahrens ordnungsmässig und
pünktlich zu erledigen. Weitere, hier
vorausgeschickte Reformvorschläge zeigen die
gleichen Konsequenzen. Die so notwendige Ueberwachung und
Kontrolle der Syndikate auf der ganzen Linie des
Erwerbslebens, und die Weiterbildung der amtlichen
Statistik als volkswirtschaftliche Buchführung auf
Grund von Einzelanschreibungen an Ort und Stelle, haben
gleich sehr eine Dezentralisation der Staatsbehörden
in solchem Maasse zur Voraussetzung, dass der letzte
Beamte auf dem Lande für vielleicht 1000, in der
Stadt für 500 Personen bestimmt ist. Hierzu
wären nur Beamte in schon reiferem Alter mit einer
ausgeprägt praktischen Bildung geeignet. Nach
Analogie der Organisation in der
Bombay-Präsidentschaft sollten das Richteramt, das
Amt der Steuerbehörde, die Katasterbehörde mit
dem Strassen- und Flussbauamt wie die politische
Verwaltung in diesem „Friedensrichter“
gleichmässig auslaufen. Mit dem lokalen Geistlichen,
Bürgermeister oder Genossenschafts
vorsteher und Syndikatsvertreter
zusammen, würde er ein Schöffengericht bilden
können, dessen Zuständigkeit sich nach dem
Wohnort des Geschädigten bestimmt und dessen
Urteilsfindung in weitem Maasse Billigkeitsgründen
zugänglich bleibt. Jedermann kann sich bei dem
Friedensrichter Rat und Auskunft holen. Durch seine engen
Beziehungen zu den gesellschaftlichen Organen der
verschiedensten Art stehen eine Menge Hilfswege zur
Verfügung. Von dieser Stelle aus wird der
Entwickelungsgang und die Führung eines jeden
Einzelnen von Kindheit auf beobachtet und aufgezeichnet,
um nach seinem Inhalte einem jeden Interessenten
zugänglich zu werden. Wenn die ganze Volkswirtschaft
eine Wirtschaft unter Brüdern und Freunden ist, dann
muss einem jeden auch die Möglichkeit geboten sein,
sich über seinen Nachbarn ebenso genau zu
unterrichten, wie er über seinen Bruder informiert
ist. Die Privatdetektive und Auskunfteien aller Art
können heute diesem schon bestehendem
Informationsbedürfnis nur in höchst
unvollkommener Weise dienen, was nur den unehrlichen
Leuten sichtlich zum Vorteile gereicht.
g)
Die Regelung des Güterverkehrs nach dem Kostenwerte
(Aequivalenzwerte) wie die Sicherung einer harmonischen
Entwicklung aller Glieder des Volkskörpers hat die
Beseitigung des Privatkredites mit der Privatversicherung
und die Vereinigung aller Geldinstitute zu einem
nationalen Syndikat der deutschen Banken zur
unerlässlichen Voraussetzung.
Im vereinigten preussischen Landtage (1847) hat
bekanntlich David Hansemann, der
Gründer der Diskonto-Gesellschaft, den Ausspruch
getan: „In Geldsachen hört die
Gemütlichkeit auf!“ Der ehemalige
Grossbankdirektor
und
jetzige Professor Riesser zitiert in seinem
ausgezeichneten Werke über
Konzentrationsbestrebungen der Deutschen Grossbanken
Max Wirth mit dem Satze: „Die Menschen
wollen ebenso rasch als möglich reich werden. Das
ist nichts neues, es ist überall und in allen
Ländern ebenso gewesen.“ Der Geist der Geld-
und Bankgeschäfte wird von einem mit Klugheit
gepaarten robusten Gewissen getragen. Die Frankfurter
Zeitung vom 18. Februar 1908 hat eine Art Lebenslauf des
berühmt gewordenen nordamerikanischen Bankiers
Charles W. Morse gebracht. Als ihn sein
Vater als Buchhalter anstellte, suchte er sofort einen
Stellvertreter, der nur ein Drittel seines Gehalts bekam,
während er seinen geschäftlichen Interessen
nachging. Als weiteres Beispiel seiner
Geschäftspraxis folgendes: Von der National-Bank
of North-Amerika liess er sich nach
den ersten Tagen seiner Präsidentschaft, entgegen
den gesetzlichen Bestimmungen, 500'000 Dollar leihen. Mit
diesem Gelde gründete er den New Yorker Eis-Trust.
Dann liess er fünf der berühmtesten
Finanzgrössen an der New Yorker Börse je
100'000 Dollars am Kurse dieser Aktien gewinnen, ohne
dass diese Herren einen Pfennig zu riskieren hatten. Das
geschah, um sich „Freunde“ zu erwerben. Dann
überliess er eben diesen neuen Freunden weitere
„Eisaktien“ für über fünf
Millionen Dollars gegen bar. Bald darauf
waren diese Aktien fast wertlos geworden. Die
„neuen Freunde“ haben also das Mehrfache
ihres anfänglichen Gewinnes wieder verloren. Die von
der National-Bank of North-America gesetzwidrig
entliehene halbe Million Dollars aber sind nicht
zurückgezahlt worden. Vom Börsenstandpunkte aus
wird das als die „Grosstat eines
Finanzgenies“ bewundert. Dieser Mann beherrschte im
Oktober 1907 in Nordamerika 12 Banken, 3
Versicherungsgesellschaften, 17
Küstenschiffahrtsunternehmen und eine Reihe von
Telegraphen-, Grundbesitz- und anderen
Gesellschaften mit einem nominellen
Gesamtvermögen von über 500 Millionen Mark.
Wenn wir heute im Interesse einer besseren, sittlich
höher stehenden sozialen Fortentwicklung diese
gewissenlose Raffbegierde des Egoismus bändigen und
zurückweisen müssen, dann genügt es
offenbar nicht, nur die Verhältnisse zwischen
Lohnarbeiter und Unternehmer zu reformieren. Es bedarf
einer durchgreifenden Reform auf der ganzen Linie des
Erwerbslebens und damit in Sonderheit auch auf der des
Geld- und Kreditverkehrs. Die führenden Männer
der Bankwelt selbst können sich über eine
solche Notwendigkeit am wenigsten im Unklaren sein.
Riesser erzählt in seinem wiederholt
genannten Werke sehr hübsch: Es hätten sich um
die Mitte des verflossenen Jahrhunderts an verschiedenen
Punkten in Europa in den Händen von Privatbankiers,
insbesondere des Hauses Rothschild, enorme
Kapitalien angesammelt. Sie beherrschten durch das
Massenverhältnis ihres Kapitals alle Geschäfte.
Sie (die Rothschilds) stellten ihre Bedingungen, wie die
Besitzer eines Monopols. Nirgends war abzusehen, welche
Schranken dieser Tendenz gesetzt wären. Dieses
Monopol liess sich nur brechen, wenn man dem grossen
Kapital ein noch grösseres entgegenzusetzen hatte,
und dieses grössere war nur durch Assoziation vieler
kleiner Kapitale herbeizuschaffen. So wurde in Frankreich
der Crédit mobilier, in Deutschland der
Schaaffhausensche Bankverein, die Diskontogesellschaft,
die Darmstädter Bank, die Mitteldeutsche Kreditbank
und die Berliner Handelsgesellschaft damals ins Leben
gerufen. In unseren Tagen haben sich die
Grossbanken mit den grossen Privatbankiers
in Deutschland zu fünf grossen Bankgruppen
zusammengeschlossen. Durch diese Vereinigung der
Kreditgeber ist auch die Syndikatsbildung in der
Industrie mächtig gefördert worden. Die
Stellung der Beamten in diesen Konzerns musste sich schon
deshalb
gegen
früher wesentlich verschlechtern, weil einmal
entlassene Beamte jetzt nur noch schwer eine andere
Stellung finden. Was aber die Leiter der Grossbanken
betrifft, so klagt Riesser selbst darüber, dass es
immer schwerer werde, geeignete Persönlichkeiten zu
finden. Der selbständige Mittelstand, aus dessen
Kreisen die tüchtigsten Kräfte hervorgegangen
sind, verschwindet in der Bankwelt mehr und mehr und der
„Neue Mittelstand“ mit seinem halb
sklavischen Beamtenverhältnis bringt keine
Männer mit eigener grosszügiger Initiative
hervor. Inzwischen nähert sich, auch nach Riesser,
die Konzentration der Banken einem tatsächlichen
Monopol. Schon sind die Börsen mit ihrer Kursbildung
ganz in der Gewalt der Banken, die „in sich“
wieder zu Börsen geworden sind. Wie um die Mitte des
verflossenen Jahrhunderts die Rothschilds ihre
Bedingungen monopolartig stellten, so trifft das jetzt
wieder für die moderne Vereinigung der Grossbanken
zu. Für alle Grossunternehmungen erscheint die
Abhängigkeit von der nur ganz kleinen Zahl von
Kreditgebern unhaltbar. „Ein Staat im Staate wird
und kann niemals geduldet werden!“ (Riesser). Dies
um so weniger, als die Geldmacht unserer Grossbanken so
sehr auf der Sammlung fremder Gelder (Depositengelder,
Kontokorrentbeträge, Versicherungsgelder usw.)
beruht, dass längst schon der Ausspruch wahr
geworden ist: „Les affaires, c’est
l’argent des autres!“ — auf deutsch:
„Bankgeschäfte sind im wesentlichen
Dispositionen über Gelder, welche anderen Leuten
gehören!“ Also wird wohl die Zeit reif
dazu sein, die gesamte Organisation unseres Kredit- und
Geldverkehrs einschliesslich des Versicherungsverkehrs in
neue Bahnen überzuleiten.
Im Sinne dieser allgemeinen Schlussfolgerung macht
Riesser selbst schon klare Andeutungen. Auf
Seite 173 (2. Auflage) ermahnt er die Grossbanken zum
„Maasshalten“.
„Denn öffentliche, nicht etwa nur private
Interessen“ seien hier im Spiele. „Nicht ohne
Bedeutung ist es, dass man schon von den Angestellten der
Banken als von Bankbeamten spricht, denn sie
sind angestellt im Dienste von Unternehmungen, die nach
ihren Aufgaben und nach ihrer Entwickelung nicht einen
rein privatwirtschaftlichen Charakter haben, und die
immer mehr aus der Sphäre der rein privatrechtlichen
Regelung herauswachsen.“ Auf Seite 130 zeigt dann
Riesser an einer Reihe von Beispielen, dass die
politischen Vorpostengefechte der Staaten, denen
eventuell die grösseren Schlachten der Volksheere
folgen, heute auf finanziellem Gebiete von den
Grossbanken geschlagen werden! Solch vitale
Vorgänge, die unter Umständen über Sein
und Nichtsein des Staates entscheiden, können
unmöglich noch länger in der Hand des
Privatkredits und der Privatbanken ruhen, die können
unmöglich für immer in der Hand des
allmächtigen Bankdirektors liegen und seinem selbst
beliebten „Maasshalten“ überlassen bleiben.
Im scharfen Gegensatze zu der entschlossenen
Konzentrationsbewegung der grossen Kreditbanken für
Handel, Industrie und öffentliche
Körperschaften zeigen die landwirtschaftlichen
Kreditinstitute ein recht weitgehendes
Isolierungsstreben. Die deutsche
Landwirtschaftsgesellschaft hat sich das Verdienst
erworben, durch das Direktorium der Preussenkasse die
Kreditanstalten, welche zur Befriedigung des
ländlichen Meliorations- und Baukredites vorhanden
sind, neuerdings (1907) zusammenstellen zu lassen. Dieses
Verzeichnis zählt für Meliorationskredit 110,
für Baukredit 129 von einander unabhängige
Anstalten. Und immer noch lebt das Bestreben weiter, mit
Hilfe des Staates oder der Provinzen neue
Spezialkassen zu errichten. Dazu kommen in
Deutschland für 1907: 15,602 Kreditgenossenschaften,
2,821 Sparkassen mit 6033 Filialen, 23,127 Krankenkassen,
452 private und halböffentliche
Versicherungsanstalten aller Art mit
ihrer weit grösseren Anzahl von Kassen, die Kassen
des Staates und der Kommunen usw. In mittleren
Städten, deren Verhältnisse sich leichter
überschauen lassen, konnten wir in verschiedenen
Fällen mit Einrechnung der Privatbankiers auf je 800
Einwohner schon eine Kasse zählen, für welche
es in den seltensten Fällen eine
Geldausgleichsstelle gab. Jede Kasse hielt ihre
entsprechend grossen, baren Geldbestände in der Hand
ihres Kassierers. Diese längst veraltete
Kassenorganisation ist auch einer der
Gründe für die bedauerliche Tatsache, dass ein
so unverhältnismässig grosser Teil des
vorhandenen Bargeldes im Verkehr zurückgehalten
wird. Hier ist eine moderne, zeitgemässe
Weiterbildung der Organisationsformen bitter
nötig.
Dazu kommen die ungeheuren Missbräuche, welche
mit dem Privatkredit aller Art getrieben werden.
Zunächst die allgemeine Neigung zur masslosen
Verschuldung. Der Grosskaufmann A. van
Gülpen-Emmerich, berichtet aus seiner
Erfahrung, dass ein Hausknecht, der sich etwa 1000 Mark
ersparte und ein Ladengeschäft beginnt, wenn er
fleissig und solide ist, bei richtiger Verteilung auf
verschiedene Lieferanten, mit einem Kredit von 20 bis
30'000 Mark arbeiten kann. Ein tüchtiger
Ladenbesitzer mit einem Hause im Werte von 10 bis 20'000
Mark verfügt heute schon über einen Kredit von
100 bis 200'000 Mark. Für einen gewandten
Hunderttausendmarkmann geht auf den grossen
Handelsplätzen der Kredit schon in die Millionen und
die geschäftliche Auskunft für solche Leute
lautet in der Regel: „Gut für jeden
Betrag!“ Auch bei den Konsumkäufen hat die
Inanspruchnahme des Kredits eine recht ungesunde
Ausdehnung erlangt. Aus der nordamerikanischen
Eisenbahngesetzgebung haben wir oben den Satz kennen
gelernt, dass eine Verschuldung um etwa das 37 fache des
eigenen Vermögens als normal zu
betrachten ist. In den beiden aus
jüngster Zeit bekannt gewordenen Fällen einer
Beteiligung junger Bankbeamten in Berlin und
Nürnberg an Börsenspekulationen wurden mit
einem eigenen Vermögen von 6 bis 10'000 Mark bei
einem Jahreseinkommen von 2600 bis 4000 Mark
Spekulationsgeschäfte bis zur nominellen Höhe
von 5 Millionen Mark ausgeführt und schliesslich
Geldverluste von 235'000 bis über 600'000 Mark
erreicht. Beim Grundbesitz der verschiedensten Art ist
die Entwicklungstendenz ersichtlich, die Grundstücke
bis zum vollen „Beleihungswerte“ zu belasten,
und diesen „Beleihungswert“ immer höher
anzusetzen. Bedarf unter solchen Umständen die
rasche Zunahme der allgemeinen Verschuldung des Volkes
bei steigendem Zinsfuss noch einer besonderen
Erklärung? Die schlecht geordnete Kreditwirtschaft
des Mittelstandes trägt neben den gewaltigen
Geldmitteln, welche den konkurrierenden
Grossunternehmungen zur Verfügung gestellt wurden,
einen wesentlichen Teil der Verantwortung für die
fortschreitende Vernichtung des alten selbständigen
Mittelstandes. Ohne die Leichtigkeit, mit welcher heute
allgemein Kredit für Spekulationszwecke zu erhalten
ist, könnten die Grundrenten-, Gründer- und
Kursgewinne aller Art gar nicht liquid werden. Das
Abhängigkeitsverhältnis, in welches die
Schulden die Einzelunternehmer gebracht haben, war in der
grossen Mehrzahl der Fälle Träger der
Syndikatsbewegung. Die maasslose nationale wie
internationale Kreditgewährung ist vor allem Schuld
daran, dass die Warenpreise fortwährend bedenklichen
Schwankungen unterworfen sind und bald ein rascher
wirtschaftlicher Aufschwung das Volk noch mehr zur
Teilnahme an der allgemeinen Spekulation und Genussucht
verführt, bald in den Zeiten der nachfolgenden
Krisis die mittleren Vermögen scharenweise
abgeschlachtet und durch die einsetzende Arbeitslosigkeit
die Zahl der Unzufriedenen und Verbitterten
vermehrt werden. Der
Privatkredit ist die Seele des herrschenden
Kapitalismus. Wer diese Krankheit ehrlich
beseitigen will, kann den Privatkredit unmöglich
beibehalten.
Mit dem Worte „Kredit“ wird dasjenige
Vertragsverhältnis bezeichnet, das am
häufigsten und leichtesten zur Einleitung
wucherischer Beziehungen benutzt wird. Eine Kontrolle im
Einzelnen ist hier unmöglich. Die Prophylaxis ist
auch hier der wichtigste Teil der Politik. Durch diesen
Wucher wird der Zinsfuss und der gesamte Geldmarkt in
sehr bedenklicher Weise beeinflusst. Also muss eine
Kreditform ausgeschlossen werden, welche dem Wucher
zuneigt. Das ist der Privatkredit. Und jener Kreditform,
welche dem Wucher prinzipiell abgeneigt ist, muss allein
der staatliche Rechtsschutz zur Verfügung stehen:
das ist der körperschaftliche
Kredit.
Was die Gegenwart benötigt, das ist eine
gesellschaftliche Organisation des Geldverkehrs, des
Kredits und der Verwaltung der Geldwerte des Volkes.
Schon heute haben wir in den Sparkassen, in den
Kreditgenossenschaften der Raiffeisenschen Art, in der
preussischen Zentralgenossenschaftskasse, in den
öffentlichen Meliorationskassen Geldinstitute,
welche in erster Linie nicht Gewinnzwecke, sondern
gemeinnützige Zwecke erstreben. Es ist unvereinbar
mit dem Begriff der sozialen Arbeitsgemeinschaft,
unverträglich mit der Auffassung einer Wirtschaft
unter Brüdern oder Freunden, dass Unternehmungen mit
gewaltigen fremden Geldmitteln gefördert werden,
welche in bewusster Weise darauf abzielen, die
Mitmenschen rücksichtslos auszuplündern, nur um
an diesem Raubgewinn einen möglichst hohen Anteil an
Zinsen oder Dividenden oder Tantiémen zu erhalten.
Wenn der Wucher im Sinne einer vertragsmässigen
Aneignung von offenkundigem Mehrwert gesetzlich bei hohen
Strafen verboten werden soll, dann kann es unmöglich
gestattet sein, solche wucherische
Unternehmungen im In- und Auslande nur der
Gewinnteilnahme halber mit Kredit reichlich zu
unterstützen. Es kann nicht
genügen, nur die juristische Sicherheit
einer Kreditgewährung zu prüfen. Schon die
Raiffeisenschen Kreditvereine, ebenso wie die
Kulturrentenanstalten haben an die Stelle der bloss
juristischen Sicherstellung die Kontrolle der rationellen
Verwendung des geliehenen Geldes gesetzt, und die
Preussische Zentralgenossenschaftskasse hat durch die
Verpflichtung ihrer Schuldner, ausschliesslich mit ihr
Kreditgeschäfte zu machen, wenigstens eine Kontrolle
der Kreditbeanspruchung vorgesehen. Der Kreditgeber eines
Wucherers macht sich zum Mitschuldigen an diesem
Verbrechen. Aufgabe des künftigen Kreditrechtes
bleibt es deshalb, die Begünstigung des Wuchers
jeder Art durch den Kredit zu verhüten. Als
Albert Schaeffle an die Lösung des
Problems herantrat, den Missbrauch des Hypothekenkredits
zur spekulativen Grundpreissteigerung zu beseitigen und
die Wohltat dieser Kreditform nur für
volkswirtschaftlich günstige Zwecke zu sichern,
blieb ihm nichts anderes übrig, als für die
„Inkorporation des
Hypothekarkredits“ einzutreten und damit die
Individualhypothek faktisch aufzuheben. Wir gehen hier
von der Ueberzeugung aus, dass es selbst für die
Landwirte nicht genügt, nur den
Grundstückswucher zu beseitigen. Ein wirklich
gedeihliches Aufblühen der Volkswirtschaft hat die
Beseitigung des Wuchers auf der ganzen Linie des
Erwerbslebens zur Voraussetzung. Die so notwendige
soziale Erziehung besserer Menschen mit grösserer
Opferfreudigkeit muss das wirtschaftliche Emporkommen des
sittlich höher stehenden Wirtschafters fördern,
statt — wie heute fast überwiegend — den
gewalttätigeren, skrupelloseren Erwerber in erster
Linie reich zu machen. Zu diesem Zwecke muss
aller Kredit, dem die staatlichen
Rechtsmittel zugebilligt werden, auf seine
volkswirtschaftlich
rationelle
Verwendungsart kontrolliert sein. Das kann nur bei dem
Kredit der Genossenschaften, Landschaften, Sparkassen und
dergl. gesichert erscheinen. Also ist dem Kredit, den
Private gewährt haben, der Rechtsschutz künftig
zu verweigern.
Gleichzeitig ist Sorge zu tragen, dass stets
genügend Geldmittel vorhanden sind, um den
volkswirtschaftlich berechtigten Kredit zu billigen
Bedingungen befriedigen zu können. Dazu gehört
vor allem eine genügend grosse Geldmenge in der
rechten metallischen Zusammensetzung. Als Schreiber
dieses seine Studienreisen in Indien machte und seine
Diener, die etwa 20 Pfennige pro Tag als Lohn erhielten,
zum ersten Male auszahlte, gab er ihnen diesen Betrag in
Silber. Da antworteten die Indier: „Nein,
gnädiger Herr, das ist Dein Geld, gib Du uns unser
Geld!“ Sie wollten in Kupfermünzen ausgezahlt
sein. Ihre täglichen Lebensbedürfnisse waren so
gering im Werte, dass sie nur mit Kupfergeld beglichen
werden konnten. Ihre ganze Art der Geldaufbewahrung war
nur für Kupfer zugeschnitten. Als dann die Reise
durch Australien folgte, lernte ich dort einen
Arbeiterstand kennen, der pro Tag bis 20 Mark verdiente.
Wenn diese Arbeiter am Sonntage ihren Vergnügungen
nachgingen, hatten sie mehrere Goldstückchen in der
Tasche. Im Kriegsfalle stellt Deutschland ein
Viermillionenheer auf, dessen Soldaten 44 und 56 Pfennig
Löhnung pro Tag erhalten, das sind 4,40 und 5,60
Mark pro Dekade. Solche Beträge lassen sich
nur in Silber zahlen. Bei der Masse des
Volkes kommt im täglichen Verkehr in Deutschland
noch das Silber als Hauptmünze in Verwendung.
Deshalb kann die „reine“ Goldwährung den
Zahlungsbedürfnissen des deutschen Volkes
unmöglich entsprechen. Es muss daneben eine
erhöhte Summe von Silbergeld verwendet werden. Aber
auch mit der veralteten
Vielheit von Kassenführungen ist zu brechen. Der
Kassen
verkehr sollte durch ganz Deutschland
eine einheitliche planmässige Organisation erfahren
in der Weise, dass sich die staatlichen wie privaten
Gelder und Zahlungen sammeln und die entbehrlichen
Ueberschüsse nach zentralen Kassen abgeführt
werden. So wird die unbenutzt liegende Geldmenge auf das
notwendige Minimum beschränkt und dem Verkehrs- und
Kreditbedürfnis aller Art zu mässigen
Bedingungen gedient werden können.
Zu den grossen Aufgaben des
Reichsvolkswirtschaftsrates würde es gehören,
den Plan für diese zweckmässigste Organisation
des deutschen Kassenverkehrs auszuarbeiten. Zu diesem
Zwecke wären alle Geldinstitute und Kassen
zusammenzufassen. Wo ein praktisches Bedürfnis
für neue Kassen besteht, sind solche einzurichten.
Wo zu viel Kassen eingerichtet sind, wäre ihre Zahl
entsprechend zu beschränken. Einer Wirtschaft unter
Brüdern können überflüssige
Einrichtungen nicht entsprechen. Diese Kassenorganisation
wäre die geeignete Stelle, um die Verwaltung des
mobilen Volksvermögens zu übernehmen. Hier
werden die Depositen angenommen und verzinst, hier werden
Wertpapiere zum Kostenwerte gekauft und verkauft, hier
können Geldstiftungen jeder Art unter einfachen
Formen errichtet werden, hier finden
Zahlungsaufträge jeder Art ihre Erledigung, hier
sichert sich das Volk gegen jene Millionenverluste, die
durch Nichteinlösung gekündigter Wertpapiere
und Nichtabhebung entfallener Lostreffer ihm, zu Gunsten
unserer heutigen Banken, erwachsen, hier erfolgen
Einzahlungen und Auszahlungen auf Grund der
Versicherungsverträge aller Art u.s.w. An diese Kassenorganisation lehnen sich
die Kredit- und Versicherungsorganisationen der
verschiedensten Art an, weil für sie jede eigene
Kassenführung jetzt entbehrlich wird. Alle Kredit-
und Versicherungsbedingungen müssen einer genauen
Durchsicht unterzogen werden, ob wirklich allerwärts
Uebervorteilungen jeder Art nach dem
Grundsatze des Kostenwertes vermieden sind. Die
Konkurrenz der verschiedenen Anstalten unter sich wird
beendet. Es folgt eine billige gegenseitige Abgrenzung
des Arbeitsgebietes. Wo sich hierbei Bedürfnisse
zeigen, denen noch keine Organisation dient, sind solche
ins Leben zu rufen. Bei einer Statistik als
volkswirtschaftliche Buchführung, bei allgemeiner
Einführung des Aequivalenzwertes und bei einer
weitgehenden Dezentralisation des staatlichen
Beamtenkörpers bietet die Durchführung all
dieser Forderungen unter Anleitung und Kontrolle des
Reichsvolkswirtschaftsrates keine besonderen
Schwierigkeiten.
Auch in dieser neuzeitlichen wucherfreien Ordnung des
Geld- und Kreditverkehrs bleibt für unsere
bisherigen Effektenbörsen, die nur dem Grundsatze
huldigen: „Möglichst billig einkaufen und
möglichst teuer verkaufen!“ kein Raum.
h) Von den landwirtschaftlichen
Verhältnissen insbesondere.
Das ganze agrarische Programm im engeren Sinne
lässt sich in die einfache Formel bringen:
Volkswirtschaftliche Regelung des Verkehrs mit den
landwirtschaftlichen Grundstücken, wie des Verkehrs
mit den landwirtschaftlichen Produkten nach dem
gesellschaftlichen Kostenwerte. Wenn ein
Getreideverkaufssyndikat der deutschen Landwirte gebildet
ist, das in organischer Verbindung steht mit einem Ein-
und Verkaufssyndikat der deutschen Müller, das
wieder Anschluss gefunden hat an eine
Mehleinkaufsorganisation der deutschen Bäcker,
dann ist es möglich, die gleichen
mittleren Preise, welche den gesellschaftlichen
Produktionskosten entsprechen,
das ganze
Jahr hindurch ohne Schwankungen festzuhalten. Der Bund
der Landwirte hat 1894 die 40jährigen
Durchschnittspreise für Getreide gefordert und damit
das Preisproblem in der besten Weise formuliert. Auch die
heutige Preisbildung unter der Herrschaft des
spekulativen Kapitals kann nicht umhin, in längeren
Zeiträumen die Produktionskosten zu respektieren.
Aber es entspricht dem Wesen der Spekulation, um diesen
Schwerpunkt mit möglichst grossen Schwankungen zu
oscillieren und dabei der Reihe nach bald die
Produzenten, bald die Konsumenten schwer zu
schädigen. Es ist doch wohl weit mehr im Interesse
aller Beteiligten — mit einziger Ausnahme der
Spekulanten — gelegen, die Preisbewegung, ohne
Schwankungen, auf der mittleren Linie zu halten. Die
absolute Höhe dieses Normalpreises wird in den
verschiedenen Gegenden Deutschlands eine verschiedene
sein, wie das schon durch die heutigen mittleren Preise
zum Ausdruck kommt. Der Westen und Süden hat
höhere natürliche Getreidepreise als der Osten
u.s.w. Die geschichtliche
Entwicklung und die tatsächlich höheren bezw.
niedrigeren Produktionskosten bieten dafür
genügende Erklärung. Aus ganz den gleichen
Gründen können die Preise in der
Aufeinanderfolge der Jahre nicht immer die gleichen sein.
Mit fortschreitender Kultur müssen sie langsam zwar
aber stetig mitsteigen, wie das bei normaler Entwicklung
bisher der Fall war. Unsere Kurve für 500 Jahre
Weizenpreise in Strassburg im ersten Bande dieses Werkes
bringt das genügend klar zur Anschauung. Das
vertikale Getreide- und Mehlsyndikat wird Jahr für
Jahr die gleichen normalen Preise in diesem Sinne ohne
jede Schwankung für den Konsumenten durchhalten
können. Denn einer solchen Organisation ist es
leicht, die erforderlichen Reserven in Waren und barem
Gelde anzusammeln, welche für den eventuellen Zukauf
vom Auslande die Schwankungen der Weltmarktspreise
nach auf- und abwärts zu
Gunsten der mittleren Linie ausgleichen. Ebenso kann eine
solche Syndikatsorganisation, bei gleichzeitig
allgemeiner Einführung des Kosten- oder
Aequivalenzwertes, auch die Spannung zwischen Getreide-
und Brotpreisen bestimmen und hierdurch eine Spezialart
von Brotverteuerung endlich aufheben, die mit den
Terminkäufen und Verkäufen der Müller und
Bäcker in ursächlichem Zusammenhange steht.
Nach Einführung dieser Syndikatsorganisation
werden die Getreidezölle als Schutzmittel gegen zu
niedrige ausländische Getreidepreise
überflüssig. Denn dann gibt es
ausserhalb des Syndikats keine Käufer mehr für
ausländische Getreideofferten, weil ausserhalb des
Syndikates keine Getreide- und Mehlkontingente existieren
können. Was so für das Brot gilt, das
behält auch Geltung für das Fleisch. Hier
bewirken die Preisschwankungen der Spekulation in ganz
der gleichen Weise ein starkes Schwanken der
Produktionsziffern. Ein Herabgehen der
Schweinefleischpreise z.B. kann die
jungen Ferkel fast unverkäuflich machen. Das wirkt
dann erfahrungsgemäss auf die Schweinehaltung in der
Weise zurück, dass wir heute etwa alle zwei Jahre
Teuerungspreise für Schweine haben. Sobald hier
durch ein Syndikat der Produzenten mit den
Schlächtern unter Anschluss der soliden Händler
die Preise an die gesellschaftlichen Gestehungskosten auf
mittlerer Linie angepasst werden, sind natürlich
auch die Ferkelpreise derart zu regeln, dass die
Fleischproduktion dem Bedarf des Konsums entspricht.
Wesentliche Schwankungen im Konsum sind künftig
deshalb nicht mehr zu erwarten, weil durch die anderen,
organisch sich anschliessenden Massnahmen der unheilvolle
Wechsel zwischen Ueberspekulation und Krisis endlich
verschwindet. Auch hier werden vom Syndikate alle
unberechtigten und deshalb wucherhaften Spannungen
zwischen den Vieh- und Fleischpreisen im
Detailhandel fernzuhalten sein. Das
Gleiche gilt für alle wichtigen
landwirtschaftlichen Produkte. Ein tadelloses
Funktionieren solch gewaltiger Syndikatsorganisationen
hat wieder zur Voraussetzung, dass überall ein
einsichtsvoller staatlicher Beamter an Ort und Stelle das
Material der Statistik hinsichtlich seiner
Zuverlässigkeit kontrolliert, die
Bevölkerungsmasse zur pünktlichen Einhaltung
der von der Zentrale aufgegebenen Ablieferungstermine
erzieht, Streitigkeiten sofort schlichtet und den Geist
des brüderlichen Zusammenwirkens zu erhalten
versteht.
Wie auf diese Weise der Kostenwert die Preise der
landwirtschaftlichen Produkte bestimmt, so muss auch der
Kostenwert den Preis der landwirtschaftlichen Besitzungen
bestimmen. Der allgemeine Buchführungszwang mit
ordentlichen Abschreibungen, welche der
tatsächlichen Abnützung entsprechen, wird die
rechte Ermittelung dieser Wertgrösse auch allgemein
ermöglichen. Damit findet die sogenannte
Erbrechtfrage ihre einheitliche und allgemeine
Erledigung. Es wird überflüssig sein, durch
Höferecht, Anerbenrecht und Fideikommissrecht dem
Uebernehmenden einen besonderen „Vorzug“
einzuräumen, nachdem jede spekulative Preisbildung
für landwirtschaftliche Grundstücke endlich
ausgeschlossen bleibt. Die landwirtschaftliche
Schuldentlastungsfrage kann allgemein kaum eine
wirksamere Förderung erfahren als durch
Syndikatspreise für alle landwirtschaftlichen
Produkte, welche die Kosten decken, durch eine
Organisation des Geld- und Kreditverkehrs, welche jede
Zinsfusssteigerung durch übermässige
Spekulation ausschliesst und durch Uebergabspreise
für Grund und Boden, welche den sachlichen
Herstellungskosten entsprechen. Wie steht es mit der
Regelung des freihändigen Verkehrs auf dieser Basis?
Das Prinzip des Kostenwertes gestattet keine spekulative
Preisbildung. Wo aber freie Konkurrenz der Käufer
zugelassen wird, wird auch die spekulative Preis
steigerung zugelassen. Heute besteht
die Gefahr eines Aufkaufs des bäuerlichen
Grundbesitzes durch reich gewordene Kapitalisten als
Luxusbesitz. Der Bauer und sein landwirtschaftlicher
Besitz sollen kein Spielzeug für die Riesen des
Reichtums sein! Aber auch die heute sich breit machende
Güterschlächterei, ob sie nun von Privaten oder
von Banken betrieben wird, ist ein Krebsschaden für
unsere landwirtschaftlichen Verhältnisse. Die echt
agrarische Gesetzgebung aller Völker und Zeiten hat
die Veräusserung des landwirtschaftlichen
Grundbesitzes ausdrücklich aufgehoben. Der gleiche
Rechtsgrundsatz ist auch heute wieder geboten. Wer seinen
Besitz veräussern will, übergibt ihn der
nationalen Kassenorganisation, welche bar, ohne Abzug und
Provision, den nachweisbaren Sachwert bezahlt. Die
fortlaufenden Aufzeichnungen des lokalen
Friedensrichters, unter Mitwirkung des geltenden
Buchführungs- und Deklarationszwanges, welche auch
zur Evidenthaltung des Steuerkatasters dienen, machen den
Kostenwert der betreffenden Besitzung jederzeit
ersichtlich. Der Eigentumsnachfolger erwirbt das
Grundstück zu dem gleichen Kostenpreise, ohne
Aufschlag irgend welcher Art. Der Zuschlag wird dem neuen
Bewerber von dem lokalen Friedensrichter im Einvernehmen
mit dem Vorsitzenden der lokalen Kreditorganisation und
unter Kontrolle des Reichsvolkswirtschaftsrates erteilt.
Für den Grundstücksverkehr gelten hierbei die
grösseren Gesichtspunkte der gesamtheitlichen
Interessen. Wo ausländische Bewerber mit
inländischen Kaufliebhabern in Konkurrenz treten,
wird der Inländer natürlich bevorzugt.
Bewerber, welche dem deutschen Volke und dem deutschen
Staate nicht freundlich gesinnt sind, bleiben stets von
deutschen Grunderwerbungen ausgeschlossen. Wo mehrere
deutsche Bewerber in Konkurrenz treten, entscheiden die
Grundsätze der besseren sozialen
Grundbesitzverteilung, der geringeren Besitzschulden und
die soziale Qualifikation des
Bewerbers.
Zwischen mehreren Kauflustigen mit gleicher Qualifikation
entscheidet das Loos. Die Gelegenheit dieser
Handänderung durch Vermittelung der sozialen
Gemeinschaft soll auch dazu dienen, eine bessere
Arrondierung der Besitzungen herbeizuführen. Der
Gefahr einer Umgehung dieser Bestimmungen durch Schenkung
und Testierfreiheit muss durch entsprechende
Einschränkungen für den Grundbesitzverkehr
begegnet werden.
Im Interesse der Allgemeinheit liegt bekanntlich eine
gesunde Mischung von Gross-, Mittel- und
Kleingrundbesitz. Der grössere Besitz geht in der
rationellen Kulturtechnik voraus und liefert die edleren
Saaten, die besseren Zuchtprodukte. Der mittlere und
Kleinbesitz liefert die besten landwirtschaftlichen
Arbeiter, ohne welche der Grossbetrieb nicht bestehen
kann. Der Wald ist nur in den Händen des
grösseren Besitzes gesichert usw. Diese
Grundbesitzverteilungspolitik sollte einheitlich
gehandhabt werden und deshalb dem
Reichsvolkswirtschaftsrat unterstellt werden. Die rechte
Ausführung und Anpassung im Einzelfalle garantiert
die dezentralisierte Staatsbehörde mit den lokalen
Organisationen des Kredits und der Syndikate. Wo heute
der Grossgrundbesitz überwiegt, sollten — nach
den trefflichen Vorschlägen des Geheimrat
Kapp und Freiherrn von
Wangenheim-Klein-Spiegel — durch Abtrennung
von Gutsteilen aneinandergrenzender Grossgüter
solche Zwischenflächen gewonnen werden, welche sich
als Ansiedlung für eine selbständige,
leistungsfähige Dorfgemeinde eignen. Wenn so der
soziale Grundmarkt einheitlich durch Deutschland Angebot
und Nachfrage ausgleicht, kann es unmöglich an Land
und Landwirten zur Bildung von neuen Dorfgemeinden
fehlen.
i) Von den
Verhältnissen der Lohnarbeiter insbesondere.
Auch hier ist vor allem der tiefgehende prinzipielle
Unterschied zwischen der Auffassung unter dem
herrschenden kapitalistischen System und den Konsequenzen
gesunder, normaler volkswirtschaftlicher
Verhältnisse festzuhalten.
Der Kapitalismus handelt seit
Jahrtausenden nach dem Grundsatze: Teile und herrsche!
Trenne und beute aus! So hat man den Begriff des
Arbeiters auf den des Lohnarbeiters
zurückgekürzt, dem vorgeblich der Unternehmer
und das Kapital gegenüberstehen. Der Arbeitslohn
bestimmt sich im Wesentlichen nach Angebot und Nachfrage.
Schon Adam Smith und nach ihm Karl Marx haben den
Mittelstand, welcher Arbeit und Kapital in seiner Person
vereinigt, aufgegeben und damit die Brücke zur
naturgemässen Lohnbildung hinter sich abgebrochen.
Der Arbeiter ist „nur Arbeiter“ sein Leben
lang, welcher mit Massen von Arbeitsgenossen
zusammenarbeitet und zusammenlebt. So wird der Arbeiter
zum Proletarier, zum vierten, letzten Stande. Fleissig
und strebsam zu sein, lohnt sich für ihn nicht. Sein
Streben hat kein erreichbares,
höheres Ziel. Sein Fleiss bewirkt nur, dass die
Gewinne der Kapitalisten noch grösser werden. Sein
Einkommen ist ein Spielball der kapitalistischen
Konjunkturen. Die Not ist die Peitsche, die ihn
täglich zur Arbeit treibt. Die Arbeit selbst weckt
in ihm ein dauerndes Unlustgefühl. Wenn seine
Arbeitskraft ausgepresst ist, wird er vom Kapital auf die
Strasse gestossen. Da bleibt zur Besserung der
Lebensstellung und Lebenshaltung nur der Klassenkampf
übrig, zunächst in der Form der
gewerkschaftlichen Organisation zur Führung der
Kämpfe um höheren Lohn
durch den Kontraktbruch, durch Streiks, Boykott,
Bekämpfung der Arbeitswilligen, Abwehr der
Zuwanderung, Schädigung der Nichtorganisierten usw.
Dazu die Kämpfe um kürzere Arbeitszeit,
angenehmere Arbeitsbedingungen, um wachsenden politischen
Einfluss als Arbeiterstand usw. Während der
grössere Fleiss mit der längeren Arbeitszeit
und der Genügsamkeit die Arbeiterinteressen eher
schädigt als fördert, begünstigt die
geringere Arbeitsleistung, die kürzere Arbeitszeit,
die ausgeprägte Unzufriedenheit bei einer
möglichsten Steigerung des Genusslebens die Position
des Arbeiters. Um im Klassenkampf das Klassenbewusstsein
des Arbeiters zu heben, wird ihm eingeredet, dass der
Lohnarbeiter allein alle Güter erzeugt habe, dass
deshalb der Arbeiter berechtigt sei, noch weit
grössere Leistungen zu seinen Gunsten von der
Gesamtheit zu fordern. Wenn dabei das Gefühl der
Selbstverantwortlickeit dem Einzelnen verloren gehen
muss, so wird darauf keine Rücksicht genommen. Wo
diese neue Ideenwelt auf dem Lande Eingang findet,
verbindet sich diese Proletarierphilosophie mit den
goldenen Träumen der Kapitalisten. Neben dem
Wanderredner der Proletarier erscheint der Agent einer
durch Börsengründungen neuerstandenen
Industrie, um viele Tausende von Arbeitern zu werben.
Goldene Berge werden versprochen. Vereinzelte
Glücksbeispiele locken! Die modernen
Verkehrseinrichtungen machen eine Wohnsitzänderung
so leicht. Kein zuverlässiger unparteiischer Berater
erhebt seine warnende Stimme. Die moderne
volkswirtschaftliche Organisation wurde auf dem Lande
vernachlässigt. So setzt denn mit jeder neuen
aufsteigenden Konjunktur auch die unheilvolle
Bevölkerungsflucht vom Lande nach der Stadt und nach
der Industrie von neuem wieder ein. Die Erziehung des
Volkes zur Spekulation und zur Genussucht bleibt die
Parole.
Wie lauten im Gegensatze
hierzu die Grundzüge einer organischen Auffassung
der Arbeiterfrage? Die
naturwissenschaftlich-politische Auffassung beginnt mit
einer Betrachtung des Ganzen in den Wechselbeziehungen
seiner verschiedenen Glieder, und erkennt heute sofort,
dass die naturgemässe Verteilung des
volkswirtschaftlichen Produktionserfolges krankhaften
Störungen unterliegt, welche auf den herrschenden
Kapitalismus zurückzuführen sind. Dieser
Kapitalismus eignet sich heute in Deutschland
jährlich rund 9 Milliarden „Mehrwert“
an, welche dem volkswirtschaftlichen Arbeitsertrage
entzogen werden. Die nächstliegende Aufgabe einer
rationellen Behandlung der sozialen Arbeiterfrage besteht
mithin darin: diese heute entwickelungsgeschichtlich
nicht mehr gerechtfertigte Beraubung des
volkswirtschaftlichen Arbeitsertrages durch den
Kapitalismus aufzuheben und deren Wiederkehr zu
verhindern. Eine solche Maassnahme muss sofort zur Folge
haben, dass die deutschen Arbeiter der verschiedensten
Art jährlich um 9 Milliarden Mark mehr einnehmen.
Wir haben im Vorhergehenden nachgewiesen, dass diese
grosse Reform durch allgemeine Einführung des
Aequivalenz- oder Kostenwertes mit den daraus sich
ergebenden Konsequenzen erreicht wird. Arbeiter im
subjektiven Sinne ist nach den ebenfalls schon
vorausgeschickten Ausführungen ein Jeder, der sich
dienend an die Gesamtheit anschliesst. Dabei sind wieder
selbständige Arbeiter und Hilfsarbeiter
zu unterscheiden. Nur bei dem selbständigen
Arbeiter, welcher im Wesentlichen Eigentümer seiner
Produktionsmittel ist, kann die Frage nach dem gerechten
Arbeitslohn leicht klar und ziffermässig beantwortet
werden. Er ist gleich dem Werte seines fertigen Produkts
— unter der wichtigen Voraussetzung, dass die
Preisfestsetzung dieses Produktes nicht dem spekulativen
Privatkapital überlassen wird und dem Kostenwerte
entspricht. Hier ist im Vorher
gehenden
deshalb für die Produkte der Landwirtschaft wie der
Gewerbe und der Industrie eine Syndikatsorganisation,
ohne Börsen, auf der ganzen Linie gefordert worden.
Auch für das Gebiet der Submissionen muss der
Kostenwert zur Geltung kommen. Bei den vorgesehenen
vielfachen Organisationen kann es nie an
Sachverständigen fehlen, welche den Kostenwert zu
schätzen wissen. Hierher gehören weiter alle
jene fürsorglichen Massregeln, welche auch bei
Handänderungen der Produktionsmittel den Kostenwert
zur Geltung bringen. In diesem Zusammenhange ist es aber
auch wichtig, die Konsequenzen dieser Ideen eines
naturgemässen Arbeitsrechtes auf künstlerischem
und geistigem Gebiete weiter zu denken. Hier fehlt heute
selbst amtlichen und halbamtlichen Stellen das
Bewusstsein, dass sie einen ganz gewöhnlichen
Diebstahl begehen, wenn sie sich die von Anderen mit viel
Mühe und Kosten gewonnenen Ideen kurzerhand, sogar
ohne Quellenangabe, aneignen. Solch schreiende
Lücken des geltenden Rechtes müssen
ausgefüllt werden, um das Raubrecht der
Stärkeren und Reicheren zu beseitigen. Das Recht des
Arbeiters auf sein Produkt muss als vornehmster
Eigentumsanspruch ausnahmslos gelten. In diesem
Zusammenhange ist schon darauf hingewiesen worden, dass
es sich um eine Erweiterung der patentrechtlichen
Bestimmungen und um Bereitstellung öffentlicher
Mittel zur angemessenen Ablösung neuer Ideen von
allgemeinerem Interesse handelt. Nur auf diesem Wege der
vollen und nicht bloss formalen Anerkennung des
Urheberrechtes kann das heute so vielfach schwer
beleidigte Gerechtigkeitsempfinden des Volkes wieder
allgemeiner versöhnt werden.
Nicht so einfach ist die Frage nach dem
naturgemässen Lohn des Hülfsarbeiters zu
beantworten. Im allgemeinen wird man sagen können,
dass diese Lohnhöhe ebenso wie die Höhe der
durchschnittlichen Getreidepreise ein Ausdruck
für die Höhe der
materiellen Kultur eines Volkes sind. Nach oben wird der
Lohn der Hülfsarbeiter begrenzt durch den
Arbeitsertrag der selbständigen Arbeit. Denn es kann
niemand seiner Arbeitshülfe mehr zahlen, als er
selbst verdient. Dass aber innerhalb dieser Grenze die
berechtigte Höhe erreicht werde, bleibt wesentlich
von der Leichtigkeit des Aufsteigens der
Hülfsarbeiter in selbständige Positionen und
von der Tüchtigkeit der sozialen Erziehung der
heranwachsenden Arbeiter zur Arbeitsamkeit und
Sparsamkeit abhängig. Unter naturgemässen
Verhältnissen ist deshalb der Lohn der
Hülfsarbeiter aufs Engste mit dem Arbeitserfolg des
selbständigen Mittelstandes verknüpft. Diese
Erkenntnis musste sich in Ländern mit junger Kultur
am leichtesten bemerkbar machen. Wakefield,
der bekannte Kolonisator von Australien, hat die
verhältnismässig hohen Arbeitslöhne in
Australien auf die billigen Landpreise und auf die
Leichtigkeit, mit der Grundbesitz erworben werden konnte,
zurückgeführt. Der Nordamerikaner Henry
George setzte in seinem Lohngesetz die
Lohnhöhe der Arbeiter mit dem Verdienst der Farmer
an der Grenze der Produktion in direkte Beziehung. Zu
einer sehr ähnlichen Formulierung des
Arbeitslohngesetzes kam schon Joh. Heinrich von
Thünen zu Anfang des letzten Jahrhunderts.
Rodbertus spricht von einem
„verhältnismässig mit steigenden
Arbeitslohne.“ In der neueren Geschichte der
australischen Lohnarbeiterverhältnisse spielt die
Gesetzgebung für die australischen Goldfelder eine
hervorragende Rolle. Als hier die Goldaluvien entdeckt
wurden, bestimmte ein Spezialgesetz, dass jedermann gegen
Zahlung einer kleinen Einschreibegebühr das Recht
der Ausbeutung eines bestimmten Loses von einer
mässigen Länge und Breite erwerben konnte. Aber
niemand konnte mehr als ein Los besitzen. Der Erfolg
dieser klugen Gesetzgebung war, dass der Arbeitsertrag
auf diesen Goldfeldern als Lohnregulator durch die
ganze australische Volkswirtschaft
wirkte. Wäre damals die Gesetzgebung in Australien
von kapitalistischen Anschauungen beherrscht gewesen, so
hätte man die Ausbeutung der Goldfelder einem
Konsortium von Grossbanken übertragen. Dieses
hätte möglichst billige Arbeitskräfte
herangezogen, um möglichst grosse Gewinne für
sich zu erübrigen. Der tiefgehende soziale
Unterschied dieser beiden Auffassungen ist
einleuchtend.
Eine organische Betrachtung des Lohnproblems der
Hülfsarbeiter muss deshalb mit der wichtigen
Vorfrage beginnen: Ist die Funktion des
Arbeitsertrags der selbständigen Arbeiter als
volkswirtschaftlicher Lohnregulator gut gesichert?
Bei der überragenden Abhängigkeit des
ökonomischen Erfolges eines jeden Einzelunternehmers
von der Mitwirkung der gesamtheitlichen Verhältnisse
kann unsere Volkswirtschaft mit einer reich gedeckten
Tafel verglichen werden, die gross genug ist, um das
ganze Volk zu sättigen. Nur zwei Bedingungen
müssen dabei eingehalten werden: Wenn jemand an
dieser grossen Tafel sich gut gesättigt hat, dann
muss er aufstehen, um einem anderen, der noch hungrig
ist, Platz zu machen. Und jeder neue Gast sollte ein
entsprechendes gesellschaftliches Kleid tragen und eine
entsprechende soziale Erziehung sich angeeignet haben, um
auch zu der Tafelgesellschaft zu passen. Nach beiden
Richtungen wird heute viel gesündigt. Eine wachsende
Zahl von Menschen hat an der volkswirtschaftlichen Tafel
sich längst gut satt gegessen und denkt doch nicht
daran, aufzustehen, um Andere an den Tafelfreuden
teilnehmen zu lassen. Hinter den Sesseln dieser
Platzhalter sammeln sich immer mehr Leute, deren
Unzufriedenheit mit der Zeit natürlich wächst.
Solch’ böse Gäste sind unsere
Grosskapitalisten, unsere Besitzer von Monopolen der
verschiedensten Art, unsere Grossunternehmer, die ihre
Betriebe
immer mehr
erweitern und immer neue Unternehmungen aufsaugen
u.s.w. Die ungehörig
gekleideten neuen Gäste mit schlechten Manieren sind
jene Arbeitermassen, die das Gift der modernen
Arbeiterverhetzung in sich aufgenommen haben. Gespart
wird nichts. Der ganze Lohn muss verjubelt werden. Wenn
sie nichts mehr haben, hat nach ihrer Auffassung die
Gesamtheit für sie zu sorgen. Die Arbeit selbst ist
für sie eine Last, eine Quälerei.
Aufsässig, unbotmässig, unzuverlässig,
streitsüchtig ist ihr Benehmen und maasslos sind
ihre Forderungen.
Diesen beiden Hauptrichtungen der herrschenden
Missstände auf dem Gebiete der Lohnbildung sind
unsere bisherigen Reformvorschläge bereits begegnet.
Gegen die Aufsaugung der selbständigen
Arbeitsgelegenheiten durch die Kapitalisten wendet sich
der Kataster der selbständigen Unternehmungen,
welches als Regel und ohne ein offensichtliches soziales
Bedürfnis das Aufsaugen und Verschmelzen
selbständiger Arbeitsgelegenheiten nicht gestattet.
Aufgabe der besonderen Bestimmungen des Syndikatsgesetzes
ist es, die Grossbetriebe auf der ganzen Linie des
Erwerbslebens als Regel nur mit ihrer bisherigen
Produktion zu kontingentieren und den Zuwachs am
volkswirtschaftlichen Bedarf für den
zweckmässigeren Ausbau der mittleren und kleinen
Betriebe, wie für die Gründung von neuen
mittleren und kleinen Betrieben zu reservieren. Die
einheitliche Organisation der inneren Kolonisation und
des Grundstückmarktes schafft neue lebensfähige
Bauerngemeinden und verhütet die Aufsaugung des
Grundbesitzes für Luxuszwecke der Reichen. Eine
moderne Umbildung der Heimarbeiterverhältnisse kann
auch auf diesem Gebiete neue Gelegenheiten zur
Verselbständigung schaffen. Mit diesen organischen
Grundsätzen einer besseren Regulierung des
Arbeitslohnes bleibt der heute so beliebte Ruf nach
„Verstaatlichung“ allerdings unvereinbar.
Vielfach muss sogar
die
Forderung nach „Entstaatlichung“ erhoben
werden. Der Geheime Kommerzienrat Kirdorf
hat einmal gesagt: „Sucht die Arbeitsgelegenheit
möglichst zu vermehren, dann ist die soziale Frage
gelöst“. Wir möchten diese Formulierung
dahin abändern, dass wir sagen: „Sucht
die selbständige Arbeitsgelegenheit tunlichst zu
erweitern, und die Lohnfrage wird zur Hälfte
gelöst sein“. Die andere Hälfte
betrifft nämlich die bessere soziale Erziehung der
Volksmassen und die Beseitigung des Proletariats. Zur
Lösung dieser grossen Aufgaben wurde bereits eine
Reform in der Organisation der staatlichen Behörden
in der Weise vorgeschlagen, dass jedermann von seinem
zuständigen
„Friedensrichter“
persönlich gekannt und beobachtet wird. Hier findet
jedermann Auskunft über die geltenden Gesetze, wie
über die bestehenden Einrichtungen aller Art. Durch
dieses Organ wird die Entwickelung eines jeden Einzelnen
von der Wiege bis zur Bahre verfolgt und aufgezeichnet.
Es gibt also dann keine Volksmassen mehr, die nur als
Nummern in Betracht kommen. Interessenverletzungen irgend
welcher Art werden rasch abgestellt, unter
sorgfältiger Berücksichtigung der begleitenden
Umstände Strafen verhängt, aber auch die
bessere menschenwürdige Lebensführung belohnt
und durch beides erzieherisch auf das Volk eingewirkt.
Wer bis zu seinem 40. Lebensjahre treu, fleissig
und ehrlich gearbeitet und von seinem Lohneinkommen sich
einen entsprechenden Betrag erspart hat, soll Gelegenheit
zu einer für ihn geeigneten Verselbständigung
erhalten und hierbei innerhalb billiger Grenzen
Unterstützung finden. Wer aber bis zu seinem
40. Lebensjahre als Lohnarbeiter wiederholt zu ernsten
Klagen Anlass gegeben, wer untreu, unehrlich in der
Arbeit war und unmässig lebte, hat diesen seinen
Anspruch auf Verselbständigung verloren.
Dann
sind die
Jahre der Lohnarbeit für den tüchtigen Menschen
nur ein Durchgangsstadium wie die Schuljahre. Das ist die
weitaus beste Beschränkung der Arbeitszeit. Für
einen jungen kräftigen Arbeiter ist der nur
achtstündige Arbeitstag eine höhere
Faulenzerei. Wo aber ungesunde Arbeitsgelegenheiten
gegeben sind, dort kürze man die Arbeitsschicht auf
halbe Tage, um den zweiten halben Tag in besserer Luft
desto energischer auszunützen.
Im Rahmen dieser organischen Auffassung ist auch die
Stellung eines Lohnarbeiters die eines Quasi-Beamten.
Börsenneugründungen von Grossindustrieen mit
hunderten von Millionen, die in kurzer Zeit ein ganzes
Arbeiterheer durch höhere Lohngebote zusammenrufen,
um zur Zeit der nachfolgenden Krisis vielleicht die
Hälfte wieder zu entlassen, kommen künftig
nicht mehr vor. Alle Glieder des volkswirtschaftlichen
Körpers entwickeln sich dann harmonisch in stetigen
geordneten Verhältnissen weiter. Der
Reichsvolkswirtschaftsrat und die gesellschaftliche
Organisation des Kredits mit der allgemeinen
Einführung des Kostenwertes wachen darüber.
Also werden künftig auch die Arbeitsgelegenheiten
stetige, geregelte Formen annehmen müssen. Der
Arbeitslohn folgt der Entwickelung der allgemeinen
Kulturverhältnisse. Eine umfassende Statistik mit
weitgehendster Dezentralisation der Behörden sorgt
für einen gerechten Ausgleich zwischen Arbeitserfolg
und Arbeitslohn allerwärts — auch in die
Reihen der staatlichen und Privatbeamten hinein. Streiks,
Aussperrungen, Kontraktverletzungen und alle
ähnlichen Begleiterscheinungen des kapitalistischen
Lohnverhältnisses haben dann jede
sachliche Berechtigung verloren und sind deshalb in jedem
Falle als schwere Verletzungen des sozialen Friedens
streng zu bestrafen. Wo Arbeitskräfte
überflüssig werden, finden sie anderwärts
Unterkunft und Verwendung. Wo neue grosse Aufgaben zu
lösen sind, werden Arbeiter in genügender Zahl
zuge
zogen. Unter der Oberleitung des
Reichsvolkswirtschaftsrates wird sich das alles nach Art
der Versetzung von Beamten abspielen. Auch die
Verselbständigung der Lohnarbeiter im 40.
Lebensjahre kann diese zentrale Ausgleichsstelle nicht
entbehren. Ein Proletariat im kapitalistischen Sinne gibt
es dann im deutschen Volke nicht mehr.
k) Von der Finanzwirtschaft
insbesondere.
Man versteht heute unter den Aufgaben der
Steuerpolitik gemeinhin die Bedarfsdeckung des Staates,
der Provinzen, der Gemeinde. Die Theorie hat die
Finanzwirtschaft von der praktischen Politik scharf
getrennt. Also obliegt es dem neuen Staatssekretär
des Reichsschatzamtes, entsprechend mehr Steuern aus dem
deutschen Volke herauszuholen. Auf die Dauer hat das
seine wachsenden Schwierigkeiten. Aber der herrschende
Begriff der Steuer kann keine anderen Anregungen bieten.
Bei der Steuerzahlung steht die Einzelwirtschaft der
Zwangswirtschaft gegenüber. Der Einzelne zahlt seine
Steuern als Versicherung für Rechtsschutz, oder als
Gegenleistung für das, was Staat, Provinz und
Gemeinde ihrerseits für die Einzelwirtschaft getan
haben. Immer bleibt der „Zwang“ das
wesentliche Merkmal der Steuer. Der Staatsbedarf
muss gedeckt werden. Denn der Einzelne ist
dem Staate schlechthin Untertan. Das alles sind reichlich
individualistische Ideen, gemischt mit Sätzen,
welche dem staatlichen Absolutismus angehören.
Beides sind überlebte Zeiten. Im Zusammenhange mit
den gegenwärtig sich losringenden Zeitbegriffen
haben wir oben, Seite 319
ff., den grundlegenden Begriff der sozialen
Arbeitsgemeinschaft kennen gelernt. Die
naturgemässen Folgerungen aus diesem Begriff
bedeuten auch neue Theorien für die
Finanzwirtschaft.
Wenn es wahr ist, dass der Einzelne
für sich allein nichts zu verdienen vermag, dass
vielmehr alles, was er verdient und erreicht, der
gewaltigen Arbeitsgemeinschaft des Volkes und
schliesslich der ganzen Menschheit zu verdanken ist, dann
ist auch der Einzelne keine selbständig
wirtschaftende Persönlichkeit, sondern — wie
die Philosophen sagen — nur ein
„Abgesplittertes vom Ganzen“. In jeder
sogenannten Privatwirtschaft ist die Gesamtheit als
„stiller Teilhaber“ beteiligt. Der Einzelne
vereinnahmt zunächst das Ganze des Ertrages, um dann
erst den „Anteil der Gesamtheit“ als
„Steuer“ abzuführen. Die Steuer ist so
der „gütermässige Ausdruck für
das Teilhaberverhältnis der Gesamtheit in der
Einzelwirtschaft.“
Aus diesem Steuerbegriff ergeben sich ganz
bestimmte praktische Konsequenzen schon für
die Steuerveranlagung unter den heutigen
Wirtschaftsverhältnissen. Wenn bei jedem
Wirtschaftserfolge die Tätigkeit des Einzelnen und
die Mitwirkung der Gesamtheit sich verbinden, und wenn
die Steuer der gütermässige Ausdruck ist
für dieses Teilhaberverhältnis der Gesamtheit
in jeder Einzelwirtschaft, dann sollte gerechterweise die
zu zahlende allgemeine Einkommensteuer in
ihrer Höhe der Ausdruck sein für den Anteil,
welchen die Tätigkeit des Einzelnen und die
Verursachung der Gesamtheit an dem
Gesamtwirtschaftserfolge genommen haben. Wo jahrelange
mühsamste Arbeit und grosse
Vermögensaufwendungen nötig gewesen sind, dort
wird selbst bei einem schliesslich sehr grossen Einkommen
die Steuerveranlagung auf die vorausgegangenen Mühen
und Kosten, auch soweit sie nicht in Schulden zum
Ausdruck kommen, in vollem Umfange Rücksicht zu
nehmen haben. Wo aber die fetten Gewinne dem Einzelnen
gewissermassen im Schlafe zufallen, dort entspricht eine
Steuerforderung
bis
mindestens 50% des
Reineinkommens den tatsächlichen
Verhältnissen. Wo umgekehrt der Staat und die
staatliche Politik, statt die Interessen der Einzelnen zu
fördern, sie in bewusster Weise geschädigt
haben und deshalb das Einkommen dieser Personen
wesentlich zurückgegangen ist, dort sollte
gerechterweise der Staat auf eine Steuererhebung
verzichten und sich an die Brust schlagen mit dem Rufe:
„Mea culpa!“ — mein Verschulden!
Wenn heute nach geltendem Rechte die
gleiche Besteuerung der gleich grossen
Einkommen bei tiefgehendster Ungleichheit
der Mitwirkung der Gesamtheit Anwendung findet, so muss
das als eine schreiende Ungerechtigkeit bezeichnet
werden. Jede billige Forderung der Teilhaberzahlung kann
den Massstab der tatsächlichen Mitwirkung gar nicht
entbehren. Dieses Verhältnis richtig zu beurteilen,
mag in einzelnen Fällen seine Schwierigkeit haben.
Aber man sollte doch nicht glauben, schwierige
Rechtsentscheidungen durch schreiende Ungerechtigkeiten
umgehen zu können. Das richtige Gefühl des
Volkes hat inzwischen, ohne Mitwirkung der
Finanzwissenschaft, Tantièmen- und
Dividendensteuern gefordert. Dagegen mag sich
einwenden lassen, dass die Tantième in vielen
Fällen nur eine andere Form der Arbeitslohnzahlung
ist, welche das Selbstinteresse des Arbeiters tunlichst
wach erhalten will. Dividenden werden in ungünstigen
Zeiten oft aus dem Vermögen oder aus aufgenommenen
Schulden gedeckt. In wieder anderen Fällen sind die
Dividenden nur ein Rest des Reingewinnes, der in der
Hauptsache in starken Abschreibungen und Reserven aller
Art versteckt wurde. Aber die Vertreter dieser
Steuerforderung gehen von der ganz zutreffenden
Anschauung aus: dass die Tantièmen und Dividenden
in vielen Fällen für die Einzelnen
als ein fast müheloses Einkommen bezeichnet werden
müssen, das ganz überwiegend auf die
Verursachung durch
die
soziale Gesamtheit sich zurückführt. Nach dem
allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl des Volkes
müssen solche Einkommen wesentlich höher
besteuert werden, als Einnahmen, welche von ihrem Eigner
mit vieler Mühe und Sorge erzielt wurden. Dieser
Grundsatz ist unangreifbar. Bedenklich ist nur die
Anlehnung dieser Steuervorschläge an juristische
Zwischenbegriffe. Es ist notwendig, auch hier bis zur
ökonomischen Quelle des Reineinkommens vorzudringen
und unsere Einkommensteuergesetzgebung auf
neuer Grundlage aufzubauen. Wenn es sich
z.B darum handelt, die
„Internationale Bohrgesellschaft in Erkelenz“
im Jahre 1907 zu besteuern, welche mit einem
Vermögen von 1 Million Mk. einen Reingewinn von 18
Millionen Mk. erzielte, so wird nach Zubilligung
ökonomisch berechtigter Abschreibungen usw. eine
Steuerforderung von mindestens 8 Millionen Mark wohl
berechtigt erscheinen. In Wirklichkeit zahlte diese
Gesellschaft nur etwa 500'000 Mark an Staatssteuern. Wenn
man über diese Wegnahme von etwa der Hälfte des
Nettoeinkommens klagt, so möge man sich erinnern,
dass der preussische Staat auch den Hochschulprofessoren
mit grösserem Zulaufe die Hälfte aller
Kollegiengelder über 3000 bezw. 4500 Mark pro Jahr
weggenommen hat. Man ging dabei von der Annahme aus, dass
die Professoren doch wesentlich die Einrichtungen des
Staates bei ihren Vorlesungen benutzen. Für die
„Internationale Bohrgesellschaft in Erkelenz“
gilt das in nicht minderem Masse. Wenn das Kohlensyndikat
für 1907 bis 20 und 25%
Dividende an seine Aktionäre verteilen konnte, so
wird es niemals dem Gerechtigkeitsgefühl des Volkes
entsprechen, dass diese Einkommen vielleicht mit
4% im Durchschnitt zur
Staatssteuer herangezogen wurden. Hier müsste die
Steuereinnahme um viele Millionen höher sein. Wenn
umgekehrt die „Trebertrocknung“ noch in den
letzten Jahren ihres Bestehens auf ihre fetten
rechnerischen Ueber
schüsse Steuern zahlte, so
wäre es allgemein wohl besser gewesen, der Staat
hätte rechtzeitig den ganzen Schwindel nicht
geduldet. Die gleichen Grundsätze finden auch auf
die Erbschaftssteuer entsprechende Anwendung.
Durch eine solche Abänderung der
Einkommensteuergesetze lassen sich in Deutschland die
Staatseinnahmen um einige hundert Millionen erhöhen.
Die eigentliche Aufgabe einer gross angelegten
Steuerreform wird aber damit noch lange nicht
gelöst. Nach dem zweiten Vierteljahrsheft zur
Statistik des Deutschen Reiches (1907) betragen die
Roheinnahmen des Reiches und der deutschen Bundesstaaten
nach den Voranschlägen von 1906: 7'176'590'000 Mk.
Davon gehen allein für ordentliche und
ausserordentliche Ausgaben auf die Erwerbseinkünfte
von Reich und Bundesstaaten ab: 2'901'208'000 Mk., so
dass netto nur rund 4 Milliarden Einnahmen verbleiben. Da
die Schulden des Reiches und der deutschen Bundesstaaten
von rund 3 Milliarden im Jahre 1874 auf rund 16
Milliarden im Jahre 1906 angewachsen sind, besteht hier
ein offensichtliches Missverhältnis zwischen den
Staatseinnahmen und dem Staatsbedarf. Eine
Bevölkerung von 60 Millionen Menschen auf so hoher
materieller Kultur wie das heutige Deutschland muss in
der Lage sein, ihren Staatsbedarf reichlich zu decken und
ihre Schulden abzutragen. Ist dies eine Reihe von Jahren
hindurch nicht möglich, so zeigt das auf tiefgehende
organische Störungen im Volkskörper. Nach dem
Vorausgeschickten kann die Beantwortung dieser Vermutung
kaum zweifelhaft sein. Die deutsche Volkswirtschaft
leidet unter dem parasitären Schlinggewächs
„Kapitalismus“, das jährlich den
ehrlichen Arbeitserfolg der Bevölkerung um rund 9
Milliarden Mark kürzt. Das beeinträchtigt in
offensichtlicher Weise auch die Steuerkraft des deutschen
Volkes. Will also der Reichsschatzsekretär wirklich
in durchgreifender Weise die Reichsfinanzen sanieren, so
erweitern
sich seine
Aufgaben zu Aufgaben der gesamten deutschen Ministerien
und schliesslich des ganzen deutschen Volkes. Die
bisherige isolierte Behandlung der Finanzwissenschaft
wird ganz unhaltbar. Auch für die Finanzpolitik
lautet die grundlegende Frage: wie beseitigen wir den
herrschenden Kapitalismus aus der Gesellschaft? Die
Steuerkraft des Volkes ruht in der Steuerkraft der
Massen. Von den Steuerleistungen einer kleinen Zahl sehr
reicher Leute konnte noch keine Staatsgemeinschaft
gedeihen. Also hebe man die
Zahlungsfähigkeit der Volksmassen durch
Beseitigung des die Volkskräfte zerstörenden
Kapitalismus und durch eine bessere soziale Erziehung der
Menschen. An einer reichlichen Deckung des
öffentlichen Bedarfs kann es dann nicht
mehr fehlen. Diese Mehreinnahmen mögen zunächst
zur Abtragung der öffentlichen Schulden Verwendung
finden. Im weiteren aber sollte man mit einer Reihe
längst nicht mehr zeitgemässer Steuern endlich
aufräumen, wie die auf ganz irrigen Theorien
aufgebauten Grundsteuern, die Salzsteuer, die
Gebühren für Grundeigentumsübertragungen
und Hypothekeneinschreibungen, Zuckersteuer, Besteuerung
der Staatsbeamtengehälter usw.
Schliesslich noch zwei Bemerkungen. In der
Finanzwissenschaft im kapitalistischen Zeitalter
bezeichnet das Kapitel
„Steuerüberwälzung“ einen alten,
nie zu lösenden Uebelstand. So oft man die
Kapitalisten durch irgend eine Steuer zu fassen suchte,
wussten sie auch schon wieder Mittel und Wege, die neue
Steuer auf andere Schultern zu überwälzen.
Siehe Warenhaussteuer, Börsensteuer,
Grundrentensteuer usw. Erst die allgemeine
Einführung des Aequivalenzwertes wird die
Verhältnisse so ordnen, dass der Kapitalismus
endlich verschwindet, und der gesetzlich gewollte
Steuerträger durch keinerlei Manipulationen sich
dieser Last entziehen kann. Weiter wird die neue Politik
sich darüber im Klaren sein müssen, dass der
Uebergang
aus der
heutigen Zeit in die neue Zeit Kosten verursacht. Als der
ökonomische Liberalismus die Führung in der
Politik übernahm, wurden die Kosten des Ueberganges
aus der feudalen in die liberale Periode zumeist auf die
Schultern des Adels, vielfach aber auch auf die Schultern
der Bauern überwälzt. Im ersteren Falle war die
Politik der Ausdruck revolutionärer Strömungen,
in letzterem Falle konnte man sich auf die künftig
nicht mehr geltende kapitalistische Theorie von der
Grundsteuer als Reallast berufen. Heute noch haben
deshalb deutsche Bauern Reallasten zu tragen, welche auf
ihren Besitzungen haften geblieben sind. Für die
neue Zeit, welche den Kostenwert oder Aequivalenzwert zur
allgemeinen Einführung bringt, kann es nicht
zweifelhaft sein, dass solche Uebergangskosten zu
den allgemeinen Unkosten der Gesamtheit
gehören. Diese Auffassung wird weiter
gestützt durch den Grundsatz, dass im Rechtsstaate
wohl erworbene Rechte stets anerkannt werden müssen.
In dem heute geltenden Rechtssystem sind Spekulationen
der verschiedensten Art ausdrücklich gebilligt und
deshalb im guten Glauben ausgeführt worden.
Spekulationspreise der Wertpapiere, welche als bezahlte
Kostenwerte nachgewiesen werden können, müssen
in der Uebergangszeit gelten.
Grundstücksspekulationen, welche mit entsprechendem
Zinsverlust auf Grund des geltenden Rechtes
ausgeführt oder eingeleitet wurden, sollten nach
einer billigen Schätzung anerkannt werden. Einmal
gewordene Betriebseinrichtungen sind zu respektieren,
wenn sie auch von jetzt ab sich den gesamtheitlichen
Interessen unterordnen und einfügen müssen usw.
Soweit dann im Interesse eines gerechten Arbeitsertrages
von diesen Preisen nach Massgabe des sachlichen
Buchwertes mehr oder minder wesentliche
„Abschreibungen“ gemacht werden,
sind dieselben in irgend welcher Form auf das Konto der
Gesamtheit zu übernehmen und aus den erhöhten
Steuer
erträgen der Zukunft in geeignet
erscheinender Weise abzutragen. Wenn der ehemalige
Reichskanzler, Graf Caprivi, den Landwirten, welche ihre
Grundstücke zu teuer gekauft oder übernommen
hatten, zurief: sie sollten doch
„abschreiben“!, so war das
ein kapitalistischer Gedanke, der an dem ewigen Auf und
Nieder von Ueberspekulation und Krisis festhalten wollte.
Wenn es heute notwendig geworden ist, diese Krisen mit
den vorausgehenden Ueberspekulationen zu beseitigen im
Sinne einer prinzipiellen gesetzlichen Einführung
des Kostenwertes, dann muss die deshalb logisch
notwendige Abschreibung an den Grundpreisen als
Uebergangsmassnahme dem jeweiligen Grundbesitzer
vergütet werden, soweit sie zur Ablösung der
Grundschulden Verwendung findet.
l) Von der internationalen
Politik insbesondere.
Die internationale kapitalistische Politik der
Staaten war zu allen Zeiten von der Habgier der
Menschen getragen. Nachdem im Inlande die Raffbegierde
der Spekulanten den Arbeitsertrag des Volkes
vertragsmässig unterbunden hat, und gleichzeitig die
Ueberproduktion in gewerblich industriellen Produkten den
Absatz im Auslande sucht, verlegt die Politik den
Schwerpunkt der weiteren Entwicklung auf den Welthandel.
Die landwirtschaftlichen Interessen werden diesem
Bestreben geopfert. Die Brotversorgung des Inlandes wird
mehr und mehr vom Auslande abhängig. Die Ausfuhr
industrieller Produkte bringt als Rückfracht vom
Auslande Getreide und Fleisch mit weiteren Rohprodukten
für die Industrie. Die Vorpostengefechte im Kampfe
um die Weltherrschaft beginnen. Die Gelddarlehen der
heimischen Banken leisten hierbei wichtige Dienste. Die
Klassengegensätze zwischen den kapitalistischen
Mehrwertsräubern und den
geschädigten Volksmassen verschärfen sich. Bei
den wachsenden politischen Schwierigkeiten in der Heimat
dienen kriegerische Konflikte mit dem Auslande als
Ableiter. Die Ausgaben für Heer und Marine wachsen,
bis schliesslich die Entscheidungsschlachten um die
Weltherrschaft mit den Konkurrenten geschlagen werden,
welche für die unterliegenden Staaten noch immer von
der grossen sozialen Revolution begleitet wurden. Die
oben vorausgeschickten vergleichenden
entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen haben dieses
Bild auf jeder Seite bestätigt.
Den Gegensatz zur internationalen
grosskapitalistischen Politik bezeichnet die
internationale agrarische Politik. Das Wort
„Agrarier“ bedeutet einen Politiker, welcher
nicht von der Habgier, sondern von dem Grundsatze:
„Jedem das Seine!“ ausgeht und die politische
Entwicklung in dem heimischen Acker verankert sehen will.
Diese Politik ist vor allem auf Beseitigung der
kapitalistischen Missstände in der Heimat gerichtet.
Nach ihrer Auffassung gibt es für
Klassengegensätze im Volke keinen Raum. Wo sie
bestehen, muss es gelingen, sie wieder zu beseitigen. Sie
ist keineswegs Gegnerin des internationalen Verkehrs.
Aber der Schwerpunkt aller Politik sollte in der Heimat
ruhen. Die Erzeugung der wichtigsten Produkte des
täglichen Volksbedarfs muss im eigenen
Lande mit Beihülfe der kolonialen Besitzungen
tunlichst gesichert sein. Auch für die Industrie
liegt das weitaus wichtigste Absatzgebiet im eigenen
Lande. Der schweizerische Bauernsekretär Dr.
Ernst Laur hat eine Zusammenstellung
veröffentlicht, wonach der Geldlohn auf dem Lande in
der Schweiz binnen 46 Jahren um das Fünffache
gestiegen ist, trotzdem in der Schweiz das
Kapitalistenrecht noch uneingeschränkt besteht. Wir
schätzen den Einfluss einer Beseitigung des
Kapitalismus auf den
Arbeitsertrag des deutschen Volkes auf jährlich 9
Milliarden oder 150 Mark pro Kopf und Jahr. Rechnen wir
hinzu den Einfluss der endlichen Befreiung der Arbeit aus
den kapitalistischen Fesseln auf die Erhöhung der
allgemeinen Arbeitsfreudigkeit und den Einfluss der
besseren sozialen Erziehung des Volkes auf seine
Sparsamkeit, Mässigkeit und wirtschaftliche
Tüchtigkeit, so bedeutet das eine gewaltige
Steigerung des jährlichen deutschen Arbeitsertrages.
Der Gesamtnettoeigenhandel Deutschlands in Fabrikaten
erreichte 1906 nur rund 2 1⁄2 Milliarden Mark. Wie zutreffend
hat deshalb Dr. Georg von Siemens diese
Situation bezeichnet, wenn er — nach einer
Mitteilung des Kolonialdirektors Dernburg im
„Berliner Tageblatt“ vom Juni 1907 —
sagte: „Die deutsche Industrie wird für sich
selbst ein viel Grösseres leisten, wenn sie es
fertig bringt, an jedes deutsche Bauernfenster eine
Gardine und in jede deutsche Bauernstube einen Teppich zu
bringen, als wenn sie durch Poussieren des
Ausfuhrgeschäftes die deutsche Industrie dauernd von
der Kaufkraft und dem Wohlwollen des Auslandes
abhängig macht!“ Dazu kommen die
unschätzbaren Vorteile einer brüderlichen
Ordnung der heimischen Volkswirtschaft. Auf der Familie,
der Gemeinde, der Provinz und dem Staate ruhen die
Segnungen des Friedens. Jede Versuchung, die
Schwierigkeiten der inneren Politik durch Kriege mit dem
Auslande abzulenken, bleibt ausgeschlossen. Wohl aber
würde jeder Angriff von aussen ein geschlossen
einiges Volk finden und schon deshalb wahrscheinlich
unterbleiben. Für den, zum harmonischen Volksleben
nötigen auswärtigen Handel gilt jetzt nicht
mehr der kategorische Imperativ: „Mehr Absatz um
jeden Preis!“ Es genügen die einfachen
gerechten Grundsätze einer Politik der offenen
Türe! Für Deutschland bleibt bald keine andere
Politik zur Wahl übrig. Denn der unheilvolle
Kapitalismus zehrt die Lebenskraft des Volkes
auf. Schon stehen wir nicht weit vor
dem Verlust des jährlichen
Bevölkerungszuwachses. Und aus Mangel an
einheimischen Arbeitskräften beherbergt Deutschland
bereits ein landfremdes Proletariat von rund einer
Million.
Wie könnte die Anerkennung dieser Grundsätze
einer agrarischen internationalen Politik in der Welt
tunlichst beschleunigt werden? Zunächst müsste
in irgend einem Lande ein konsequent durchgeführtes
Beispiel zum Guten gegeben werden. Erklärungen im
Sinne der friedlichen Politik der „offenen
Türe“ genügen wenig, so lange im Lande
selbst die schärfsten revolutionären
Klassengegensätze bestehen, so lange das spekulative
Privatkapital weiter fast alles beherrscht, im Auslande
nach eigenem Ermessen die politischen Vorpostengefechte
einleitet und in seiner Raffbegierde zu immer neuen
Reibungen in der auswärtigen Politik führen
muss. Man betrachtet notwendigerweise die ehrlichsten
Friedensversicherungen mit Misstrauen, so lange die
eigentliche Triebfeder zu den weitaus meisten Kriegen,
die Habgier im Volke uneingeschränkt weiter wirken
kann. Man beseitige diesen gefährlichen Kapitalismus
in der Gesellschaft, man richte die Heimatpolitik im
Sinne einer Wirtschaftspolitik unter Brüdern ein
durch Anerkennung des Aequivalenzwertes auch in den
Kolonien und selbst für Geschäfte im Auslande,
welche nationalen Schutz beanspruchen; und kein denkender
Mensch kann zweifeln, dass ein solches Land die Periode
der Eroberungskriege tatsächlich abgeschlossen hat.
Damit ist auch nicht im Entferntesten einem voreiligen
Abrüstungsplane das Wort geredet. So lange noch
mächtige Grossstaaten durchaus von kapitalistischen
Anschauungen beherrscht werden, wäre jede
Abrüstung auch der friedlichsten Staaten dem
Selbstmorde gleichzuachten. Die Abrüstungsfrage kann
eine Frage der praktischen Politik erst werden, wenn der
Kapitalismus international der friedlichen Heimatpolitik
hat weichen müssen.
Ausgangspunkt der
internationalen Friedenspolitik muss also
eine echte friedliche Heimatpolitik sein.
Die ungleich bessere fortschrittliche Entwickelung dieses
Volkes wird der wirksamste Apostel dieser Ideen sein. Das
Institut der Austauschprofessoren wird die Ausbreitung
dieser Umwandlungen fördern. Die grossen
internationalen Agrarkongresse unter
Mélines Führung erleichtern
einer grösseren Zahl von Landwirten und Politikern
den mündlichen Austausch über diese Fragen. Und
eine besondere Aufgabe fällt hier der
Welt-Agrar-Kammer in Rom zu. Zunächst
mag sie damit beginnen, Berichte über bestehende
organisatorische Einrichtungen innerhalb der
verschiedenen Länder zu sammeln, die staatliche
Statistik der landwirtschaftlichen Produkte für
Anbau, Saatenstand, Ernte, Bewegung und Vorräte
über die ganze Erde möglichst gleichförmig
zu gestalten, sodass dem Welthandel eine bessere
Weltstatistik sich praktisch anschliesst. Auch die
Statistik der internationalen Arbeiterbewegung hat man
bekanntlich in das Programm aufgenommen. Dann aber sollte
die Weltagrarkammer beginnen — wie das von
Vertretern des Bundes der Landwirte schon auf dem
internationalen Agrarkongress in Budapest (1896)
gefordert wurde — mit den grossen Irrtümern
der kapitalistischen Preispolitik aufzuräumen durch
den Nachweis, dass alle einseitigen Export- und
Importtarifverbilligungen, alle
Exportprämiengewährungen, alle Schuttabladungen
der Syndikate (Dumpingsystem) im Auslande, alle
übermässigen Schuldaufnahmen junger
Kulturländer nur sehr vorübergehende Vorteile
gewähren, um dann auch dem eigenen Lande schweren
Schaden zu bringen. Auch innerhalb der Weltwirtschaft
kann nur die brüderliche Auffassung nach dem
Grundsatze des Aequivalenzwertes allen Beteiligten zum
Besten gereichen. Die Welt-Agrar-Kammer verfügt
über die erforderlichen internationalen amtlichen
Beziehungen, um aus allen Ländern zu diesen Fragen
das beste Material
zu sammeln
und zutreffend zu verarbeiten. Der günstige Erfolg
dieser Aufklärungsarbeit kann nicht ausbleiben. Die
Welt-Agrar-Kammer würde auf diesem Wege das
weltwirtschaftliche Ergänzungsinstitut der
nationalen Transport-Tarifkommissionen werden und
könnte so erfolgreich den alten Gedanken der
gleichen Einheitssätze für Fern- und
Lokalverkehr und der Beseitigung aller
Exportbegünstigungen zur Durchführung bringen
helfen. Neue Beziehungen zu den übrig gebliebenen
Bestandteilen des ehemaligen Weltschiffahrtstrustes
könnten die weltwirtschaftliche Transportfrage nach
dem Kostenwerte auch auf dem Wasserwege lösen
helfen. Die weiteren Fortschritte einer besseren Ordnung
des internationalen Verkehrs werden naturgemäss
Schritt halten mit dem friedlichen Ausbau der
Heimatpolitik der Nationen. Eine wesentliche
Verbesserung des internationalen
Zahlungsverkehrs im Sinne des von
Schraut’schen Vorschlages z.B. kann erst auf der Basis einer nationalen
Reform der heutigen Kreditwirtschaft sicher aufgebaut
werden. Erst mit all diesen Massnahmen fallen die
Voraussetzungen, auf welchen die verschiedenen
Kampfesmittel der Völker, wie
Tarifermässigungen, Exportbegünstigungen,
Kreditgewährungen, Schutzzölle, Gewehre und
Kanonen, Festungen und Kriegsschiffe aufgebaut sind.
Es war ein langer, mühsamer Weg, reich an
Enttäuschungen, Anfeindungen und Verleumdungen aller
Art, aber auch reich an hochherzigen Unterstützungen
und Förderungen, wie an produktiver Schaffensfreude,
der mich zu diesem Schlusse geführt hat.
Eine besondere theoretische Volkswirtschaftslehre,
welche notwendigerweise eine „Philosophie des
Begriffes Volkswirtschaftslehre“ sein müsste,
bringe ich nicht. Denn die Nationalökonomie ist
heute immer noch eine „praktische
Wissenschaft“, die in erster Linie praktisch
politischen Zwecken dienen muss. Immer noch
sind weite Gebiete dieses Faches empirisch nicht
erwiesen. Hier muss deshalb heute die Formulierung vieler
Thesen zur Formulierung von Hypothesen werden. Ich
erinnere nur an die Lehre vom Zins, an die Lehre von der
Lohnbildung, an die Proletarier- und
Bevölkerungsfrage u.s.w. Was
sich heute theoretische Nationalökonomie nennt, wird
denn auch auf ungefähr allen Punkten von Anderen
lebhaft bestritten. Das kann nicht anders sein. Für
eine brauchbare Philosophie wird diese praktische
Wissenschaft erst reif, wenn sie auf dem Wege des
Wechsels zwischen empirisch-analytischer Untersuchung und
synthetischer Zusammenfassung schliesslich eine
„exakte“ Wissenschaft geworden ist (Vergl.
Band I,
Einleitung S. 3—14).
Ebensowenig konnten hier alle
Details bis zur fertigen juristischen Formulierung
ausgearbeitet werden. Ein „System der politischen
Oekonomie“ muss notwendigerweise ein Globus der
politischen Fragen sein. Bei der heutigen fast
unübersehbaren Fülle von Monographien tut die
Zusammenfassung zu einem organischen Ganzen am meisten
not. Bei der heute herrschenden Vorliebe, überall
Spezialfragen zu wittern und sie als solche zu behandeln,
ist der vereinigende Beweis am dringendsten erforderlich,
dass es auf wirtschaftlichem Gebiete gar keine
eigentlichen Spezialfragen gibt. Es gibt nur ein
spezielles Material. Aber jede Schlussfolgerung daraus
darf schon nicht vergessen, dass ein Mensch
kein Mensch ist! Es gibt keine
volkswirtschaftlichen Fragen, die nur die
Arbeiter, nur die Landwirte,
nur die Industrie, nur den
Handel oder die Bankwelt angehen. An jeder
volkswirtschaftlichen Frage sind alle Menschen
interessiert vom letzten Bettler bis zur Majestät.
Ein solcher Beweis kann mit Aussicht auf Erfolg nur
geführt werden, wenn die Beweisführung sich in
solcher Kürze hält, dass der Durchschnittsleser
am Ende ungefähr noch weiss, was er am Anfang
gelesen hat. Deshalb namentlich sind aus den
ursprünglich geplanten zehn Bänden nur drei
Bände geworden. Der logische Aufbau dieses Systems
bietet ausserdem den Vorteil, die Antwort auf eventuell
nicht behandelte Fragen leicht aus dem Zusammenhange
erschliessen zu können.
Wohl aber mag in diesem Schlussworte der Nachweis am
Platze sein, wie die hier vertretenen systematischen
Anschauungen nach und nach geworden sind:
Im Herbst 1882 schickte ich meine
nationalökonomische Erstlingsarbeit dem ehemaligen
österreichischen Minister Albert
Schaeffle mit der Bitte, sie zu beurteilen. Auf
Schaeffles Anregung folgten dann zwei weitere
Abhandlungen nach, die alle in der „Tübinger
Zeitschrift für die gesamte
Staatswissenschaft“ (1883) erschienen sind.
Schaeffle nennt diese Erstlingsarbeiten auf Seite 11,
Note 2, seiner „Inkorporation des
Hypothekarkredites“ (1883) „grossgedacht und
weitblickend.“ In diesen Abhandlungen war bereits
„der Buchwert oder
Sachverhalt als wahrer
Wert“ vertreten, ferner die Theorien:
dass die Lohnfrage in erster Linie als Wert des
Arbeitsprodukts des selbständigen
Mittelstandes zu behandeln sei — dass
dieser Arbeitslohn dann als volkswirtschaftlicher
Lohnregulator für die Hilfsarbeiter funktionieren
müsse und zwar durch Organisation des Aufsteigens
der besseren Lohnarbeiter in eine selbständige
Position — dass es an der Zeit wäre, den
Individualkredit der Landwirte im Interesse einer
rationellen Beseitigung des Wuchers durch eine
gesellschaftliche Organisation des Kredits zu ersetzen
— und dass die moderne Ordnung des Marktes mit
landwirtschaftlichen Grundstücken einheitlich durch
ganz Deutschland erfolgen müsse. Ich hatte
damit zumeist Gedanken Ausdruck gegeben, welche Schaeffle
in seiner Studierstube etwa gleichzeitig formuliert
hatte. Seine „Inkorporation des
Hypothekarkredits“ (1883 erschienen) schlug die
Aufhebung der Individualhypothek vor und enthält
folgende charakteristische Sätze: „Der Staat
könnte entweder durch die Aufsichtsbehörden
oder durch die Landes- und
Reichskorporationsausschüsse selbst fortlaufende
öffentliche Nachweisungen der Pacht-
und Eigentumsbewegungen des ganzen
Reiches besorgen lassen, womit der wahre Landmarkt
geschaffen wäre“ (S. 35). — „Nicht
der Ertrag von Arbeit und Kapital am Rande des isolierten
Staates (von Thünen), noch der Ertrag des
Rodungslandes am Rande der Zivilisation in
Kolonialländern ist als die naturgemässe
Vergeltung produktiver Arbeit und produktiver
Kapitalnutzung anzusehen, sondern
der wirkliche Ertrag dieser beiden auf jedem einzelnen
Gute ist die naturgemässe Vergeltung der produktiven
Arbeit und Kapitalnutzung gerade auf diesem Gute“
(S. 71) usw.
Es war mir sofort klar, dass diese neuen
nationalökonomischen Lehrsätze erst dann ihre
eigentliche Bedeutung enthüllen könnten, wenn
sie systematisch zu Ende gedacht würden. Deshalb
habe ich schon 1885 an Schäffle die erste
Disposition zu meinem „System“ einschicken
können, die ich im wesentlichen bis heute
beibehalten habe. Zunächst aber handelte es
sich darum, durch eine lange Reihe von Monographien,
zumeist auf der Basis einer Augenscheinnahme an Ort und
Stelle, die vielen Vorstudien zu diesem Systeme
auszuführen. 1885 erschien mein zweites Buch
„Ueber das natürliche Wertverhältnis des
landwirtschaftlichen Grundbesitzes“. Meine
praktischen Vorschläge habe ich in dem Bericht an
die 26. Wanderversammlung bayerischer Landwirte über
„Die Lösung der landwirtschaftlichen
Kreditfrage im System der agrarischen Reform“
(1886) an die Bedürfnisse der Praxis besser
anzupassen versucht. Inzwischen war ich immer noch der
Meinung, dass der Rückgang der Getreidepreise etwas
Vorübergehendes sei, wie der Wandel guter und
schlechter Jahre. Je mehr gleichzeitig die praktische
Agrarpolitik sich auf das Thema
„Getreideschutzzölle“ beschränkte,
desto energischer war ich bemüht, im Einklang mit
meiner praktischen Erfahrung als Landwirt die zu hohen
Grundpreise mit den zu hohen Grundschulden als die
eigentliche Ursache der landwirtschaftlichen Notlage zu
erweisen. So namentlich in einer Reihe von
Spezialabhandlungen, welche 1882 bis 1886 in der
Zeitschrift des landwirtschaftlichen Vereins für
Bayern erschienen sind. Im Jahre 1887 konnte ich zum
ersten Male in einer von der landwirtschaftlichen
Hochschule in München preisgekrönten Abhandlung
die Ueberwälzung
der
Zölle auf das Ausland nachweisen. Diese, der
herrschenden wissenschaftlichen Theorie entgegenstehende,
Tatsache liess die Preisbildung der landwirtschaftlichen
Produkte als ein selbständiges Problem neben der
Preisbildung und Verschuldung der landwirtschaftlichen
Grundstücke erscheinen. Die Bearbeitung des Themas:
„Handel und Verkehr mit landwirtschaftlichen
Produkten in den letzten hundert Jahren in Bayern“
in einer offiziellen Denkschrift eröffnete mir den
historischen Werdegang. Um auch die Gegenwart
überschauen zu können, plante ich eine
Studienreise durch die wichtigsten
Getreideproduktionsländer der Erde. Schaeffles
Gutachten an den Reichskanzler Fürst
Bismarck, sagte: dass ich für diese Aufgabe
der „bestvorbereitete deutsche
Nationalökonom“ sei. Nicht weniger
günstig lautete das Gutachten des Professor
von Helferich in München für den
Bayerischen Landwirtschaftsrat. Besondere Bedeutung
schien Fürst Bismarck dem Umstande
beizulegen, dass ich als Agrarier „nicht
viel“ von den Schutzzöllen gehalten habe. Gut!
Ich sollte bessere praktische Vorschläge als die
Zölle von meinen Reisen zurückbringen. Auf
einer mehrjährigen Tour (1888, 1889 bis 1890 im
Frühjahr) habe ich dann eine gewaltige Summe von
Eindrücken und Materialien gesammelt, aber es war
unmöglich, daraus sofort ein neues
positives Programm zu extrahieren. Die
nächsten Schlussfolgerungen waren
negativer Art. Als Fürst
Bismarck aus dem Reichskanzleramte ausgeschieden
war, gab ich im Juni 1890 ein sehr entschiedenes
Gutachten an das Auswärtige Amt ab dahingehend, dass
die geplante Getreidezollermässigung in hohem Masse
bedenklich sei, weil weitere
Preisrückschläge für Getreide sehr
wahrscheinlich bevorstehen. In einer anderen
Untersuchung (1891) erbrachte ich den Nachweis, dass
statt eines Rückganges eine wesentliche
Zunahme der inter
nationalen
Goldproduktion sicher zu erwarten sei. In weiteren
Abhandlungen musste ich der damals allgemeiner
behaupteten Ueberproduktion in landwirtschaftlichen
Produkten entgegentreten usw. Als ich dann im Herbst 1894
als „wissenschaftlicher Berater“ in die
Getreidehandelskommission des Bundes der
Landwirte berufen wurde, vertrat ich folgende
Thesen:
- Eine Ueberproduktion in Getreide gibt es
nicht.
- Die Notlage der Landwirte ist eine internationale,
Grenzzölle sind deshalb kaum geeignet, die Ursache
des herrschenden Uebels zu beseitigen.
- Die Getreidepreise sind deshalb so ruinös,
weil die Bildung der Preise in der Hand des
internationalen Kapitalismus ruht.
- Die Landwirte sollten darnach trachten, die
Preisbildung ihrer Produkte selbst in die Hand zu
nehmen.
- Es wäre von grösster allgemeiner
Bedeutung, dass sich die Landwirte international
über diese Sätze verständigen und
aussprechen könnten.
- Als nächstes praktisches Ziel wäre die
Abschaffung des Börsenterminspiels in Getreide ins
Auge zu fassen.
Es ist bekannt, dass im Sommer 1896 das
gesetzliche Verbot des Börsenterminspiels in
Getreide im Deutschen Reichstage mit 200 gegen 33 Stimmen
beschlossen wurde. Inzwischen war von mir —
mit Zustimmung des Vorstandes des Bundes der
Landwirte — dem preussischen Finanzminister,
Dr. von Miquel, ein Memorandum über die
mögliche Verbilligung des landwirtschaftlichen
Personalkredits am 1. Februar 1895 überreicht
worden, worauf bereits am 1. Oktober 1895 die
„Preussenkasse“ ihre segensreiche
Tätigkeit begann. (Siehe: Ein Dokument zur
Entstehungsgeschichte der Preussenkasse in
Klapper’s Agrarzeitung vom 31. Juli 1904). Im
Sommer 1895 erhielt ich vom Bundesvorstande
den Auftrag und
die
Vollmacht, mit den landwirtschaftlichen Organisationen in
Oesterreich und Ungarn, dann mit anderen Ländern,
über den Inhalt meiner vorstehenden sechs Thesen zu
verhandeln. Das Resultat war die besondere Vorbereitung
des „Internationalen
Méline’schen Agrarkongresses vom September
1896 in Budapest“, auf welchem die
aufgestellten Thesen begeisterte Zustimmung erfahren
haben. Die gleichzeitig angestrebte Gründung eines
„Internationalen landwirtschaftlichen
Organes“, das speziell der Preisbildung der
landwirtschaftlichen Produkte gewidmet sein sollte,
gelang noch nicht. Berlin war als
Sammelpunkt der internationalen landwirtschaftlichen
Vereinigung noch zu wenig beliebt. „Die
Wirtschaftspolitik des Vaterunser“ (1895) brachte
mich auf Wege, welche zu meiner Ueberraschung mich
erkennen liessen, dass mein Buch– oder
Sachwert des landwirtschaftlichen
Grundbesitzes mit der uralten Lehre von der
Aequivalenztheorie identisch ist. Das
Leiter-Corner-Jahr 1897/98 mit seinen
wesentlich höheren Getreidepreisen, hat endlich
international mit der falschen
Getreideüberproduktionstheorie aufgeräumt.
Meine Berufung nach Freiburg in der Schweiz
bot Gelegenheit, von diesem neutralen Boden aus eine
internationale Vereinigung der Agrarier zu versuchen. Die
Regierung des Kanton Freiburg (Schweiz) und
insbesondere Staatsrat Python, haben mir
dabei die weitgehendste Unterstützung zugewendet.
Ich konnte eine Getreidepreiswarte mit
fünf Assistenten in Freiburg (Schweiz) einrichten,
„Monatliche Nachrichten zur besseren
Regulierung der Getreidepreise“ (1906) in
deutscher, französischer und englischer Sprache
erscheinen lassen und von Russland bis nach Nordamerika
und Indien verteilen. Im Juni 1900 kam, unter
wesentlicher Teilnahme des Vorsitzenden
des Bundes der Landwirte Dr. Roesicke, in Paris
die Gründung der
„Internationalen landwirtschaftlichen
Vereinigung für Stand und Bildung der
Getreidepreise“ unter dem
Präsidium des Prinzen Georg zu
Schönaich–Carolath, zustande. Aus der
deutschen Ausgabe der „Monatlichen
Nachrichten“ wurde vom 8. Oktober 1901 ab die in
Berlin erschienene Wochenschrift
„Getreidemarkt“, deren
Bürokosten im Betrage von etwa 40'000 Mark pro Jahr
hauptsächlich vom Bund der Landwirte
bestritten wurden. Ohne diese Hilfsmittel und die dadurch
erst mögliche, jahrelange tägliche Beobachtung
der wichtigsten Weltmärkte der Erde
wäre das Zuendeführen dieses
„Systems“ nicht möglich geworden. Aus
dem hier gesammelten Beobachtungsmaterial habe ich im
Auftrage der „Internationalen landwirtschaftlichen
Vereinigung“ 1904 die „Lehre von der
Preisbildung für Getreide“ verfasst,
die inzwischen auch in ungarischer, französischer,
italienischer und russischer Uebersetzung erschienen ist.
Im Herbst 1904 kam der Nordamerikaner David
Lubin auf seiner Reise nach Italien durch
Paris, wo ihm durch Herrn Dr. H.
Hailer von meinen internationalen
landwirtschaftlichen Bestrebungen erzählt wurde. Die
bereits ausgearbeiteten Vorschläge einer
Welt-Getreidestatistik gesellten sich so zu seinem Plane
einer internationalen Anregung zur besseren Organisation
der Landwirtschaft. Am 24. Januar 1895
richtete der König von Italien seine
bekannte „Initiative über Anregung des David
Lubin“ an den italienischen
Ministerpräsidenten, um die Gründung der
Welt-Agrar-Kammer in Rom in die Wege zu leiten.
Die offizielle italienische Denkschrift, welche von der
Leitung des, zur Gründung eines staatlichen
Institutes einberufenen Kongresses in Rom (28. Mai 1905)
veröffentlicht wurde, hat diese meine wesentliche
Mitarbeit in vollem Umfange ausdrücklich
anerkannt.
Inzwischen hatte eine bedeutsame
persönliche Konferenz mit Minister
Buchenberger in Karlsruhe im Jahre 1901
stattgefunden. Mit diesem hervorragenden Staatsmanne
stand ich seit 1883 in lebhaftem Briefwechsel und
Schriftenaustausch. Buchenberger hat von mir in der
Sitzung des Deutschen Reichstages vom 28.
Oktober 1902 wörtlich erklärt:
„Ein Nationalökonom, den Sie (zur rechten
Seite des Hauses gewendet) zu den Ihrigen zählen,
der seit Jahren für Ihre Interessen tätig ist,
so viel ich weiss, auch im Interesse des Bundes der
Landwirte tätig war, der das Studium der
Getreideproduktion so zu sagen zu seinem Lebensberufe
gemacht hat — hat vor längerer Zeit eine
Schrift veröffentlicht, in der er
auseinanderzusetzen sich bemühte, wie
gefährlich der Optimismus der landwirtschaftlichen
Bevölkerung sei, zu meinen, dass die agrarischen
Leiden der Gegenwart gewissermassen aus dem
einen Punkte des landwirtschaftlichen
Zollschutzes sich heilen liessen“! — In
meinen, von Freiburg in der Schweiz aus herausgegebenen
internationalen „Monatlichen Nachrichten zur
Regulierung der Getreidepreise“ habe ich im Jahre
1900 auf die „drohende kleinasiatische
Konkurrenz“ für den Getreidemarkt
hingewiesen und betont, dass dieselbe die Weizenpreise in
Mitteleuropa auf 59 Mark pro 1000 Kilo herabdrücken
könnte, wenn diese Entwicklung nach
Analogie der „argentinischen Konkurrenz“
geleitet würde und dass dieser furchtbaren Gefahr
gegenüber entweder durch entsprechend
hohe Getreidezölle oder besser durch
eine Aenderung in dem Entwicklungsverlaufe der
kleinasiatischen Konkurrenz begegnet werden
müsse. Die zuständigen Stellen
haben den letzteren Weg gewählt, wie ich hier in
Parenthese bemerken will. Mit diesem Minister
Buchenberger hatte ich im Sommer 1901 eine längere
persönliche Aussprache über mein politisches
System.
Der
Minister machte mich darauf aufmerksam, dass ein
durchgreifendes Agrarprogramm für
sich allein nicht bestehen könne, ebenso wie
es für Fachleute ausgeschlossen sei, die eine
Hälfte des menschlichen Körpers einer
gründlichen Kur zu unterziehen, ohne die andere
Hälfte zu berücksichtigen. Schon die
Schuldentlastung der landwirtschaftlichen Grundbesitzer
sei bedenklich, so lange jederzeit eine neue Preiskrisis
der landwirtschaftlichen Produkte eintreten könne,
der unsere Zölle nicht gewachsen wären, oder
der Zinsfuss bedeutenden Schwankungen unterliege, oder
die börsenmässige Neugründung grosser
Industrieen plötzlich wesentlich erhöhte
Ansprüche an den heimischen Arbeitermarkt stellte.
Ich gab zu, dass es deshalb notwendig sei, mein
Agrarprogramm als „Reformprogramm für
das ganze Volk“ zu Ende zu denken und zwar
in Verbindung mit der Entwicklungsgeschichte aller
bedeutsameren Kulturvölker. Buchenberger war
daraufhin der Meinung, dass damit der Plan meines Systems
zu gross würde, um durch die Arbeitsleistung eines
Menschenlebens beendet zu werden. Nun ist es dennoch
gelungen, zu Ende zu kommen, nachdem das Jahr 1906 noch
dem Studium der Mühlensyndikate
gewidmet worden ist. Aber diejenigen beiden deutschen
Nationalökonomen, Schäffle und
Buchenberger, welche auf den Werdegang
dieses „Systems“ den weitgehendsten
persönlichen Einfluss ausgeübt haben, deckt
leider schon die kühle Erde.
Und nun noch ein Wort an die praktischen
Politiker, denen ich in erster Linie diesen
letzten Band unterbreite. Seit Ende der 70er Jahre ist
unsere Gesetzgebung eine Verlegenheitsgesetzgebung. Mit
immer neuen Novellen und immer zahlreicheren
Spezialgesetzen versuchen die fortwährend
wechselnden Majoritäten in den Parlamenten den immer
dringenderen Reformbedürfnissen gerecht zu werden,
ohne Rechenschaft darüber,
wo diese
Massen von Spezialgesetzen enden werden. Unsere heutige
Politik gleicht darin sehr den Restaurationsarbeiten am
Glockenturm der Markuskirche in Venedig. Jahrhunderte
hindurch hat sich hier die zuständige Bauverwaltung
damit begnügt, alle neu entstandenen Risse und
Abbröcklungen mit Mörtel zuzustreichen, ohne an
eine gründliche Untersuchung der Fundamente
heranzutreten, bis eines Tages der ganze Turm
umgestürzt ist. Das Leben der Staaten und
Völker erträgt erfahrungsgemäss keine
Jahrhunderte lange Vernachlässigung der Fundamente,
wenn die Wände erst einmal anfangen, rissig und
brüchig zu werden. Athen hat im Jahre
477 v. Chr. den attischen Seebund gegründet und
damit den Gipfel seiner Macht erreicht. Nur 73 Jahre
später, nämlich im Jahre 404 v. Chr., musste es
auf Gnade und Ungnade sich seinen Feinden ergeben.
Rom hat im Jahre 168 v. Chr. die Eroberung
der Mittelmeerländer vollendet. Nur 35 Jahre
später (133 v. Chr.) beginnen schon die gracchischen
Unruhen und 80 Jahre später (88 v. Chr.) die grossen
Bürgerkriege. Portugal hat 1498 den
Seeweg nach Ostindien gefunden und damit seine stolze
Machtentfaltung als „Königin dreier
Erdteile“ eingeleitet. Und schon 22 Jahre
später wurden jene ungeheueren Korruptionen in
seiner Kolonialverwaltung festgestellt, welche den
Zusammenbruch dieser Weltherrschaft nicht nur begleitet,
sondern direkt verursacht haben. Also wenige Jahrzehnte
können im Volksleben nie wieder gut zu machenden
Schaden anrichten. Seit etwa drei Jahrzehnten tastet
unsere Zeit nach neuen wirtschaftspolitischen Prinzipien.
Es dürfte deshalb gewiss nicht verfrüht sein,
diese neuen zeitgemässen Grundsätze mit
Bewusstsein in die gesetzgeberische Praxis
einzuführen. Man hat die praktische Politik die
„Kunst des heute Möglichen“ genannt und
damit ihre täglichen Aufgaben richtig umgrenzt.
Sache der Politik als Wissenschaft ist es, Bau und
Leben
der kommenden Staats- und
Gesellschaftsordnung systematisch zu ergründen und
darzustellen. Von diesem Wollen wurde der
Werdegang dieses Buches geleitet. Es bietet den
praktischen Politikern vor allem neue, gut
fundierte prinzipielle Gesichtspunkte, welche als
Richtschnur der politischen Tagesarbeit sofort dienen
können. Dieser Band bietet ferner den Nachweis
des organischen Zusammenhanges der verschiedensten
Einzelfragen. Die immer eilige Praxis lässt
diesen Zusammenhang leicht ausser Acht und
vernachlässigt damit das Wesentliche des Begriffes
„volkswirtschaftliches Leben“.
Auch dieser Nachweis ist hier niedergelegt worden.
Wenn aber endlich die Zeit der
volkswirtschaftlichen Spezialfragen und des
volkswirtschaftlichen Spezialistentumes überwunden
sein wird und die praktisch-politische Tagesarbeit dann
im Rahmen eines, von der Mehrheit gebilligten
Zukunftsplanes sich abspielt, dann hoffe
ich, dass in den deutschen Parlamenten sich
möglichst Viele der Worte eines
Schiller erinnern: „Das ist kein
Mann, der, wo das Grössere zu gewinnen ist, am
Kleinen sich genügen lässt!“
Berlin, im Februar 1908.