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Zur Methodenlehre der politischen Oekonomie. |
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Litteratur: die nationalökonomischen Bücher, Schriften und Abhandlungen, welche sich mit der Methodenlehre beschäftigen, sind ausserordentlich zahlreich. Zur Orientierung besonders wertvoll ist Adolph Wagner „Grundlegung der politischen Oekonomie“, 3. Auflage, erster Band, § 4 und § 54 ff. Vergleiche ferner Gustav Schmoller in Conrad’s Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Artikel „Volkswirtschaft, Volkswirtschaftspolitik und Methode“ und Karl Menger „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Oekonomie im besonderen“, 1883. Leider nur zerstreute methodologische Bemerkungen enthält Karl Bücher, „Die Entstehung der Volkswirtschaft“, 1893. Vergleiche ferner Albert Schäffle „Bau und Leben des sozialen Körpers“, 2. Auflage, zwei Bände, 1896; Lorenz von Stein, „Die Gesellschaftslehre“, Band 2 des Systems der Staatswissenschaft, 1856; E. von Philippovich, „Ueber Aufgaben und Methode der politischen Oekonomie“, 1886; J. Conrad, „Grundriss zum Studium der politischen Oekonomie“, 1900; J. St. Mill, „System der deductiven und inductiven Logik“, deutsch von Scheel, zwei Bände, 1862; G. Cohn, „Die heutige National-Oekonomie in England und Amerika“, Jahrbuch für Gesetzgebung und Verwaltung, 1899, Heft 1 und 3. Endlich O. Lorenz, „Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben“, 1886 und K. Lamprecht, „Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft“, Berlin 1896.
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Wenn die politische Oekonomie oder wie man sie auch zu nennen pflegt: die Nationalökonomie oder die Volkswirtschaftslehre — eine in der Hauptsache zum Abschluss gekommene, also eine „exacte“ Wissenschaft bereits geworden wäre, wie das z. B. die mathematische Physik heute ist, dann müssten vor Allem drei Erfordernisse erfüllt sein: erstens müsste eine jede wissenschaftliche Untersuchung nach dem gleichen Ausgangspunkte zu dem gleichen Endresultat kommen, zweitens müsste es möglich sein, von der Definition dieser Wissenschaft und von wenigen Vorstellungen ausgehend in rein logischer — also in rein deduktiver — Weise zu den allgemeinen Lehrsätzen der politischen Oekonomie zu gelangen und drittens müssten die konkreten Fragen der wirtschaftspolitischen Praxis eine ganz bestimmte, — und bei Anwendung derselben in der Praxis vollkommen befriedigende — Antwort in der politischen Oekonomie als Wissenschaft finden, oder — um mit Justus von Liebig zu reden — Wissenschaft und Praxis müssten sich darstellen als zwei Seiten einer und derselben Sache. Genügt die heutige wissenschaftliche Litteratur der politischen Oekonomie diesen drei Anforderungen? Bei Untersuchung der gleichen Frage kommen die verschiedenen Nationalökonomen zu ganz verschiedenen, oft gerade entgegengesetzten Endresultaten. Was dem Einen der wichtigste Ausspruch der Wissenschaft ist, hält der Andere für einen vollkommenen Irrtum. Kein Lehrsatz, keine Anschauung, keine Definition ist in der Nationalökonomie heute fesstehend. Und wenn z. B. Prof. Schmoller in seiner Berliner Recktoratsrede vom 15. Oktober 1897 wenigstens die Beurteilung des Schutzzolles in der Wissenschaft als eine rein praktische Frage, „feststehend“ bezeichnen zu können glaubte, so dürfte der über die letzte deutsche Zollvorlage auch in der wissenschaftlichen Litteratur ausgebrochene Streit bezeugen, dass diese Behauptung eine nicht ganz zutreffende ist. Von der rein deduktiven Begründung und Entwicklung der allgemeinen nationalökonomischen Lehrsätze sind wir heute so weit entfernt, dass Schmoller in seiner soeben genannten Rektoratsrede diese Lehrsätze selbst in die niedrigere Kategorie der „schwankenden Theorien“ verweisen konnte, mit denen man sich naturgemäss nicht mehr und nicht länger befasst, als im Interesse der historisch - dogmatischen Vollständigkeit erforderlich ist. Statt dessen sind nach Schmoller nur die Resultate der ermittelnden und beschreibenden Nationalökonomie, also die Resultate nicht der deduktiv logischen, sondern der induktiv historischen Methode in den hehren Stand der „feststehenden Wissenschaft“ einzureihen. Die Fragen der wirtschaftspolitischen Praxis rechnet die historische Schule der Nationalökonomie überhaupt nicht zu den wissenschaftlichen Aufgaben. So sagt z. B. Wilhelm Roscher in seinem System der Volkswirtschaft, Band 1, § 22: „Die Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich mit dem was ist und gewesen ist, aber nicht mit dem was sein soll“. Und Gustav Schmoller sagt u. a. in der Vorrede zu der von der Berliner Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Naudé’schen Darstellung der „Getreidepolitik der europäischen Staaten“: „Geschrieben ist diese Darstellung nur im wissenschaftlichen lnteresse und die Wissenschaft hat nicht die Aufgabe, unmittelbar auf die Entscheidungen des Tages einzuwirken. Das ist Sache des Staatsmannes.“ Wo dennoch die Vertreter dieser Wissenschaft zu den praktischen Fragen des Tages Stellung nehmen, da geschieht das nur zu häufig in einer Weise, welche die Praktiker zu den Ausdrücken höchster Entrüstung reizt. So wird z. B. die Bestimmung des § 50, Absatz 3 des Deutschen Börsengesetzes vom 22. Juni 1896, welche den Börsenterminhandel in Getreide- und Mühlenfabrikaten verbietet und im Reichstage mit 200 gegen 39 Stimmen angenommen wurde, von den Professoren Gustav Cohn, Max Weber u. a. als: „der Ausfluss irre geleiteter Masseninstincte“ bezeichnet. — Von den Bodenzinsen, welche einem grossen Teil der bayerischen Bauern als eine ebenso unerwünschte wie ungerechte Belastung erscheinen, was durch ein inzwischen gegebenes Bodenzinsablösungsgesetz vollkommen anerkannt wurde, sagt Lujo Brentano in seiner „Agrarpolitik“, auf Seite 143: „Es zeigt sich der ganze Mangel an Verständnis, der die heutige bayerische Bauernagitation auszeichnet, wenn sie heute stürmisch die Abschaffung der noch bestehenden Bodenzinse verlangt.“ — Auf die Klagen der Landwirte über den andauernden Rükgang der Getreidepreise antwortet bekanntlich Lujo Brentano und seine Schule: „Deutschland hat aufgehört, ein Agrikulturstaat zu sein und muss nach dem Vorbilde Englands den Uebergang zum Industriestaat vollziehen. Und wenn auch bei der allgemeineren Nachfolge der Kulturstaaten auf dieser Entwicklungsbahn später einmal ein Mangel an Brotgetreide zu erwarten wäre, so liegt in dieser Entwicklung um deswillen kein besonderes Bedenken, weil die chemisch - technische Herstellung der menschlichen Nahrungsmittel mit einem Ueberflüssigwerden der landwirtschaftlichen Getreideproduktion dann sicher zu erwarten ist.“ *) — Auf die Bestrebungen der deutschen landwirtschaftlichen Grundbesitzer, ihre immer mehr gefährdete ökonomische Position durch zweckdienliche gesetzgeberische Massregeln zu schützen, antworten die Professoren Max Weber und Schulze - Gävernitz: „Das Land der Masse!“ — Anstatt den Gewerbetreibenden in ihrem harten Konkurrenzkampf gegen das Grosskapital und die Warenhäuser mit der rechten erlösenden ldee zu Hülfe zu kommen, wird in historischen Spezialuntersuchungen nachgewiesen, dass der selbständige gewerbliche Mittelstand nicht immer die gewerbliche Unternehmerform war, also auch nicht immer bleiben müsse. — Trotzdem eine lange Reihe von wenig erfreulichen Erscheinungen lehrt, dass man zum Teil in der sogenannten sozialen Gesetzgebung zu Gunsten der Arbeiter wahrscheinlich schon weiter gegangen ist, als es die Interessen der Gesamtheit und die Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Land bei dem Stande der übrigen Reformgesetzgebung wünschenswert erscheinen lassen, verlangt die grosse Mehrheit der Vertreter der Wissenschaft, dass an dem zu Anfang der 80er Jahre aufgestellten Sozialprogramm unbedingt festgehalten werden müsse. Kurz: Es besteht heute eine tiefe Kluft zwischen Praxis und Wissenschaft in der politischen Oekonomie. Aus all diesen Gründen wird gesagt werden müssen, dass die Nationalökonomie heute leider noch in keiner Weise in ihrer Entwicklung zum Abschluss gekommen ist, dass sie sich noch mitten im Werden und mitten in der Gährung befindet und deshalb den Anspruch auf „Exactheit“ nicht erheben kann. Thatsächlich wird dieser Anspruch auf „Exactheit“ auch von keiner Seite erhoben. Viel eher bemüht man sich zu beweisen, dass die Nationalökonomie überhaupt keine exacte Wissenschaft werden könne. lst das richtig? — lm täglichen Leben nennt man eine Aeusserung wahr, wenn sie mit dem Vorgange, auf welchen sie sich bezieht, übereinstimmt. Und man wird sich um so rascher von der Wahrheitsliebe einer bestimmten Persönlichkeit überzeugen können, je häufiger sich dessen Aeusserungen auf Vorgänge beziehen, die man selbst zu beobachten in der Lage war. Genau so spricht man auch in den Naturwissenschaften von einer wissenschaftlichen Wahrheit, wenn der betreffende Satz Vorstellungen in uns wachruft, die sich mit dem diesbezüglichen Vorgange decken. Die Philosophie hat aus diesen Erwägungen bekanntlich das Problem der Identität zwischen dem subjektiven Empfinden und dem objektiven Sein als Prüfstein für exactes Wissen in den Vordergrund gestellt. Nun: Gerade dieser Identitätsnachweis ist auf dem Gebiete der politischen Oekonomie besonders leicht, denn hier handelt es sich ja um jene materiellen Dinge, welche wir „Güter“ nennen und die dadurch entstehen, dass sie die menschliche Hand erfasst, die dann auf der menschlichen Hand im Verkehre sich bewegen und schliesslich vom Menschen verbraucht werden. Diese unsere Wissenschaft beschäftigt sich also mit objektiven Vorgängen, welche von Anfang bis zu Ende innerhalb der subjektiven Gefühls- und Empfindungs - Sphäre des Menschen liegen. Hier fällt der objektive Vorgang mit dem subjektiven Empfinden zusammen. Man sollte deshalb erwarten, dass es nur einer Anwendung der wissenschaftlichen Methode bedarf, um hier sofort zur exacten wissenschaftlichen Wahrheit zu gelangen. Nachdem wir aber heute so gut wie gar keine feststehende nationalökonomische Wahrheit besitzen, muss die Vermutung gerechtfertigt erscheinen: die Methode, welche heute in der politischen Oekonomie zur Anwendung komme, sei nicht die richtige. Bevor wir uns jedoch mit der Prüfung dieser Methode selbst beschäftigen, wird es zweckmässig sein, zunächst die andere Frage zu beantworten: Welches ist die rechte wissenschaftliche Methode, die anscheinend der heutigen Nationalökonomie fehlt? Diese Frage ist längst dahin beantwortet: die wissenschaftliche Methode besteht aus einer gegenseitigen Ergänzung und Wechselbeziehung der empirisch-analytischen Ermittlung und der synthetisch-logischen Zusammenfassung. Weil es jedoch wichtig ist, mit diesen allgemeinen Worten eine ganz bestimmte klare Vorstellung zu verbinden, soll hier die wissenschaftliche Methode an dem Entwicklungsbeispiel einer exacten Wissenschaft, nämlich der physikalischen Astronomie kurz dargelegt werden. Auch diese Wissenschaft begann mit Beobachtungen. Und zwar wurden die ersten, welche auf uns überkommen sind, in Babylon angestellt. Dies aus einem naheliegenden Grunde. Der babylonische Himmel ist an 300 Tagen im Jahre vollkommen wolkenlos. Die Sternbilder zeigen sich also hier dem menschlichen Auge in besonderer Klarheit. Und die Aufzeichnung der wichtigsten Vorgänge in der Bewegung der Sterne hat in Babylon so früh schon begonnen, dass zur Zeit Alexander des Grossen 832 Mondfinsternisse und 273 Sonnenfinsternisse zusammengestellt waren. Daraus wurde dann der älteste astronomische Lehrsatz abgeleitet, welcher lautet: Die Wiederholung des Cyclus der Verfinsterung des Mondes erfolgt nach 19 Jahren. Zweihundert Jahre nach Alexander dem Grossen lebte der Alexandriner Hipparch, welcher auf Grund eines noch reicheren Beobachtungsmaterials die babylonische Theorie der neunzehnjährigen Mondperioden durch seine Theorie von der Kreisbewegung von Sonne und Mond nicht unwesentlich verbesserte. Dann kam wieder eine Periode neuer Beobachtungen, die nach Erfindung des Linsenfernrohrs wesentlich zuverlässiger angestellt werden konnten. Auch fand sich in Tycho de Brahe ein Mann, der 25 Jahre lang mit ebenso grosser Sorgfalt wie Ausdauer der Beobachtung des Mars sich widmete. Und das so gesammelte empirisch-analytische Material wurde dann von dem hierzu besonders begabten Kepler (1571 - 1630) zu einem vollkommen zutreffenden Bewegungsgesetz der Sterne verarbeitet. Kepler ging dabei von der Hipparch’schen Kreistheorie aus und fand, dass die rechnerische Anwendung derselben gegenüber den durchaus zuverlässigen Beobachtungen von Tycho de Brahe so grosse Differenzen ergab, dass sie unmöglich richtig sein könne. Deshalb versuchte er es mit einer anderen Theorie und wählte hierzu die Ellipse. Und siehe da, die auf Grund der Ellipsentheorie angestellten Berechnungen deckten sich genau mit den Tycho de Brahe’schen Beobachtungsresultaten. Die berühmten drei Kepler’schen Gesetze waren gefunden. Endlich kam der theoretisch besonders begabte Newton (1642 - 1717) und fasste diese drei Kepler’schen Gesetze zusammen in seinem berühmten Gesetze von der Anziehung zweier Massen. Damit war die Entwicklung der physikalischen Astronomie in der Hauptsache zum Abschluss gekommen, sie war eine „exacte“ Wissenschaft geworden. Und dass dem so ist, das wird in der Weise bewiesen, dass in Anwendung des Newton’schen Gesetzes rein rechnerisch, also rein logisch-deduktiv, die Bewegungen der bekannten Sterne bis auf die Sekunde genau beliebig im Voraus berechnet werden können. Ergeben sich aber hierbei Differenzen, so sind dieselben nicht als Ungenauigkeiten der Theorie, sondern als Störungen in der Bewegung der Sterne zu behandeln, welche sich auf das Vorhandensein von noch unbekannten Himmelskörpern zurückführen. Und werden nach dem Newton’schen Gesetze diese so ermittelten Störungen berechnet, so kann wieder genau ermittelt werden, an welcher bestimmten Stelle zu einer bestimmten Zeit der noch unbekannte Himmelskörper sich finden muss. Auf solche Weise wurde z. B. im September 1846 der Planet Neptun aufgefunden, der von Leverrier berechnet und von Galle noch am Abend jenes Tages zuerst gesehen wurde, an welchem ihm Leverrier die Resultate seiner Berechnung brieflich mitgeteilt hat. Was folgt nun aus dieser Entwicklungsgeschichte der physikalischen Astronomie für die wissenschaftliche Methode im Allgemeinen? 1) Vor allem zeigt sich die „Exactheit“ einer Wissenschaft nicht als ein Geschenk, das ihr an der Wiege zu Teil wurde. Die Exactheit muss vielmehr auf dem Wege mühsamer Arbeit errungen werden. Erst nach einer gewissen Zeit und nach einem gewissen Wechsel der Theorien kommt die Wissenschaft in der Hauptsache zum Abschluss. Umgekehrt: wenn eine Wissenschaft ihren Abschluss heute noch nicht erreicht hat, so beweist das nicht, dass sie denselben überhaupt nicht erreichen könne. 2) Weder die einseitig beobachtende, beschreibende, induktive Methode, noch die einseitig logische, synthetische, deduktive Methode erreichen dieses Entwicklungsziel der Exactheit. Hierzu ist ein lebendiges Zusammenwirken von Induktion und Deduktion, von Analyse und Synthese erforderlich. Es beginnen die primitivsten Beobachtungen der Bewegungen der Himmelskörper. Nach einer längeren Reihe derselben erfolgt ihre erste logisch-gesetzmässige Zusammenfassung durch die Theorie der 19jährigen Mondperioden. Weitere Beobachtungen lehren, dass diese erste Theorie ungenau ist. Sie wird deshalb verbessert durch die Hipparch - Theorie der Kreisbewegung. Dann folgen noch bessere und weit sorgfältigere Beobachtungen, welche beweisen, dass auch die Kreistheorie den Thatsachen gegenüber Differenzen zeigt, welche sie als unzutreffend erscheinen lassen. Sie wird deshalb durch die drei Kepler’schen Gesetze abgelöst, die endlich in das eine absolut vollkommene Newton’sche Gravitationsgesetz ausklingen. Und 3) Auf diesem Entwicklungswege zur Exactheit war die jeweils ermittelte Differenz zwischen der subjectiven Vorstellung und dem objektiven Vorgange die Triebfeder zur immer besseren Formulierung des Grundgedankens der subjektiven Vorstellungen (Theorie), bis endlich diese subjektiven Vorstellungen mit den objektiven Beobachtungsresultaten als vollkommen identisch bezeichnet werden konnten und damit die Wissenschaft eine „exacte“ geworden war. Diese vorausgegangenen Theorien waren gewiss ungenau, aber man hat sie deshalb nicht verachtet, sondern verbessert. Und sie waren eben deshalb in ihrer Aufeinanderfolge fortschreitende Annäherungswerte an die volle Wahrheit. Also ist keine von ihnen als direkt wertlos, oder als vollkommen irrig zu bezeichnen. Wie verhält sich nun zu dieser methodologischen Entwickelung der exacten physikalischen Astronomie die bisherige Entwickelung unserer heutigen Nationalökonomie? Zunächst wurden auch hier Beobachtungen angestellt und gesammelt und zwar von den sogenannten politischen Arithmetikern, deren Arbeiten den Grundsätzen des Merkantilystems als Unterlage dienten. Dann kamen die Encyclopädisten und Polyhistoren, aus deren Material in Frankreich die physiokratische Schule, in England die Adam Smith’sche Schule hervorgewachsen ist. Dann kamen die englischen parlamentarischen Erhebungen über die Lage der Industriearbeiter, mit deren Material Karl Marx das socialistische System construirt hat. Und heute befinden wir uns wiederum in einer Periode historisch-statistischer Untersuchungen und Erhebungen, zunächst gewiss ein durchaus zeitgemässes Beginnen. Denn nachdem man erkannt hatte, dass sowohl die socialistischen wie auch die Adam Smith’schen Theorien mit der Wirklichkeit zu wenig übereinstimmen und also ungenau sind, musste die Wissenschaft zunächst wieder einmal in eine Periode noch umfassenderer und noch sorgfältigerer Erhebungen eintreten, um so den Boden vorzubereiten für den abermaligen Fortschritt der Theorie in der Richtung zur Exactheit. Aber gerade dieser Zielpunkt scheint von der heute herrschenden historischen Schule der Nationalökonomie kaum noch erstrebt zu werden. Trotz Adolph Wagner, Schäffle, Bücher und Menger ist die Freude an historischen Spezialuntersuchungen noch eine so allgemeine, dass Schmoller, ohne viel Widerspruch zu finden, die Resultate dieser historischen Forschungen in feierlicher Rektoratsrede als die allein „feststehende“ Wissenschaft verherrlichen konnte. Es ist das um so mehr überraschend, als seit Jahrtausenden bekannt ist, dass alle Spezialerhebungen und Spezialuntersuchungen nur wissenschaftliches Baumaterial liefern, das man immerhin als „feststehend“ bezeichnen mag, wenn es gut und zuverlässig gewonnen wurde, das man aber gleichzeitig mit Bücher auch als „totes“ Material bezeichnen muss, so lange es die Theorie nicht erfasst und verarbeitet hat. Wenn also Schmoller in eben dieser Rektoratsrede gleichzeitig die Lehrsätze der Wissenschaft als „schwankende“ Theorien abthun zu können glaubte, so übersieht er damit etwas, was man sonst nicht zu übersehen pflegt, nämlich dass ein noch so grosser Haufen Baumaterial von der denkbar besten Qualität immer noch keine Vorstellung von einem fertigen Gebäude giebt, das allein den Bedürfnissen der Menschen voll entspricht. **) Auch dieser unfertige Entwicklungszustand der Nationalökonomie, welcher u. E. die eigentliche Ursache der heute hier leider bestehenden tiefen Kluft zwischen Praxis und Wissenschaft ist, hat natürlich seine ganz bestimmte theoretische Rechtfertigung erhalten. Die Nationalökonomie soll sich vorgeblich mit den politischen Tagesfragen nicht zu befassen haben. Die echte Forscherarbeit gehöre der „reinen“ Wissenschaft an, die für sich „Selbstzweck“ sei. Die Entscheidung über die politischen Tagesfragen stehe in der Hand der Staatsmänner und Politiker, welche die Wissenschaft dabei nur durch historische Spezialuntersuchungen unterstützen könne und dergleichen mehr. Es wird wichtig sein, diesen Behauptungen in ganz bestimmter Weise entgegenzutreten. Gewiss hat kein Geringerer als Gauss den Ausspruch gethan: dass sich der Mathematiker gerade dann am freiesten und behaglichsten fühle, wenn er ganz ungehindert vom Gedanken an irgendwelche praktische Verwertung seinen logischen Schlussreihen und Darstellungsmöglichkeiten nachgehen könne. Aber bei diesem Ausspruche und seiner Anwendung darf doch nicht vergessen werden, dass es sich in der Mathematik um „exacte“ Wissenschaften handelt, die in der Hauptsache ihre Entwickelung zum Abschluss gebracht haben und also auf alle aus der Praxis an sie zu stellenden Fragen eine vollkommen befriedigende Antwort geben, die von einer beliebigen Anzahl von Fachleuten stets genau gleichlautend sein wird. Wenn dieses Ziel erst in der Nationalökonomie erreicht ist, dann mögen ihre Vertreter immerhin, unbekümmert um die Praxis, der „reinen“ Wissenschaft als „Selbstzweck“ nachgehen. Wenn aber die politische Oekonomie von diesem Endziel heute nur noch zu weit entfernt ist, dann möge man sich aus der Geschichte erinnern, dass auch die Anfänge der mathematischen Wissenschaften in dem praktischen Bedürfnis des Tages gelegen waren. Die Arithmetik als Zahlenrechnen war selbstverständlich eine ursprünglich rein praktische Uebung, wie noch bei Euclid die Lehre von der Commensurabilität bezeugt. Ebenso nahm die Geometrie in Babylon und besonders in Aegypten aus den Bedürfnissen der Feldmessung ihren Ursprung. Die ersten überlieferten geometrischen Lehrsätze, vielleicht aus dem dritten Jahrhundert vor Christo, versuchen den Inhalt eines Dreiecks durch seine Seiten darzustellen. Ferner möge man sich bei anderen Wissenschaften umsehen, in welcher Weise man den Satz von der „reinen“ Wissenschaft als „Selbstzweck“ beurteilt. Justus von Liebig ***) verhöhnt geradezu jene agrikulturchemischen Untersuchungen, die sich „Selbstzweck“ sind und bestimmt den wissenschaftlichen Wert solcher Arbeiten ausschliesslich nach der Grösse des Nutzens, welchen dieselben der praktischen Landwirtschaft bringen. Der Philologe Professor Hermann Paul, sagt in seiner in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Festrede vom 15. November 1900: „Man hört es zwar oft genug emphatisch aussprechen, dass die Wissenschaft nur um ihrer selbst willen da sei und sich nicht darum zu kümmern habe, welchen Nutzen sie bringt. Aber leicht versteckt sich hinter solcher vornehmen Haltung das Unvermögen einer unfruchtbaren Gelehrsamkeit oder aber eitle Lust an dem zwecklosen Spiel des eigenen Scharfsinns, die beide gleich weit entfernt von wahrer Wissenschaftlichkeit sind. Gewiss wäre es für diese der Tod, wenn der Forscher bei jedem einzelnen Problem, das sich ihm aufdrängt, erst überlegen wollte, bevor er es in Angriff nimmt, ob die Lösung desselben noch einen anderen als rein theoretischen Wert habe. Aber wenn eine Wissenschaft als Ganzes auf die Dauer nichts hervorbringt, was befruchtend auf andere Wissenschaften oder auf das Leben der Nation und der Menschheit wirkt, so scheint mir das ein untrügliches Zeichen dafür, dass entweder der Gegenstand, mit dem man sich beschäftigt, die Mühe nicht lohnt oder dass ihr Betrieb ein verkehrter ist.“ Es gilt auch hier das Wort Christi: „An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen!“ Und der Physiker Heinrich Hertz, den kein Geringerer als Helmholtz den „bevorzugten Liebling des Genius“ genannt hat, beginnt sein berühmtes Lehrbuch über „die Prinzipien der Mechanik“ mit dem Satze: „Es ist die nächstliegende und in gewissem Sinne auch wichtigste Aufgabe aller bewussten (wissenschaftlichen) Erkenntnis, dass sie uns befähigt, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um unser Handeln in der Gegenwart danach einrichten zu können.“ So scheint es denn, als ob alle Wissenschaften zunächst und vor allem dazu berufen seien, dem praktischen Bedürfnis der Menschen und der Menschheit zu dienen. Wie könnte es der Nationalökonomie, die man so häufig mit ganz besonderer Betonung als sogenannte „praktische“ Wissenschaft bezeichnet hat, gestattet sein, sich in die Traumkammer der reinen Wissenschaft zurückzuziehen und die immer lauter klagenden Bedürfnisse der Praxis einfach zu überhören? — Was diese Wissenschaft mit ihren rein historischen Spezialuntersuchungen der Praxis in der Wirtschaftspolitik zu bieten vermag, hat für diese zunächst nur geringe Bedeutung. Das klingt in markantester Weise aus dem oben wiedergegebenen Wortlaut der Reise-Instruktion hervor, die Schreiber dieses im Jahre 1887 vom Reichskanzler Fürst Bismarck erhalten hat. Wenn aber ein Fürst Bismarck mit „nur historisch interessanten Untersuchungen“ wenig anzufangen wusste, welcher andere Praktikus könnte ihn darin zu überbieten versuchen? Und schliesslich lehrt uns ja doch auch die Geschichte aller Zeiten, dass nicht der Historiker und Materialsammler, sondern der Theoretiker dem grossen Praktiker in bösen wie in guten Tagen, im Grossen wie im Kleinen, vorausgeht. Zuerst waren die Jean Jacques Rousseau, die d’Alembert, die Diderot und dann kamen die Robespierre, die Marat und die Danton. Zuerst waren die Adam Smith und die David Ricardo und dann kamen die Richard Cobden und Robert Peel. Zuerst war Albrecht Thaer und Justus von Liebig und dann erst kamen die modernen vom Wissen geführten landwirtschaftlichen Praktiker. All unsere modernen komplizierten Maschinen und unsere grossen Neubauten werden in ihrer Ausführung erst dann in Angriff genommen, wenn vorher mit Hülfe der technischen Wissenschaften der Plan hierzu auf dem Papier bis ins Kleinste genau ausgearbeitet worden. ln jedem wahrhaft geordneten land- und forstwirtschaftlichen Betriebe wird die tägliche Arbeit verrichtet nach Massgabe eines generellen Wirtschaftsplanes, der mit Hülfe der Wissenschaft oft auf viele Jahre im voraus entworfen und festgelegt wurde. Wohin immer wir also unser Auge wenden, überall kommt bei jeder grösseren Leistung zuerst die Idee und dann die That. Und wesentlich deshalb konnte bekanntlich gesagt werden: „Die Wissenschaft ist die Magd, die mit der Fackel der Praxis vorausleuchtet.“ Wie kommt die Nationalökonomie als sogenannte „praktische“ Wissenschaft dazu, diesen hochwichtigen Dienst der wirtschaftspolitischen Praxis heute zu versagen? — Wird aber die National-Oekonomie als Wissenschaft endlich beginnen, dieser ihrer eigensten Aufgabe gerecht zu werden, so wird sie auch vor allem von der methodologischen Ueberzeugung ausgehen müssen: dass ihre Beziehungen zur wirtschaftspolitischen Praxis des Tages garnicht innig genug sein können. Statt auf die politischen Forderungen der Praktiker mit jener selbstgefälligen Ueberlegenheit herabzuschauen, welche die Professoren Lujo Brentano, Gustav Cohn, Max Weber, Schulze-Gävernitz und Andere auszeichnet, sollte man — wie das Justus von Liebig wieder so schön gesagt hat — wissen, dass die Erfahrungen und Aeusserungen der Praktiker „das Erz sind und bleiben müssen, aus welchem die Wissenschaft das edle Metall von dem tauben Gestein zu scheiden hat“. Wenn, wie heute, die wirtschaftliche Entwickelung mit ihren gesetzgeberischen und organisatorischen Bedürfnissen der Wissenschaft mehr oder minder weit vorausgeeilt ist, wird die Formulierung der Anträge auf Seiten der Praktiker gewiss nicht selten mit den noch gewohnten wissenschaftlichen Sätzen im Widerspruch stehen. ln diesem Falle ist es Aufgabe der Wissenschaft, sich mit so viel Liebe und Ausdauer in die Empfindungen und Anschauungen der Praxis zu vertiefen, dass sie den Punkt findet, von dem aus eine neue Theorie sich mit den Thatsachen der Praxis wieder vereinigt. Und erhalten die dann möglichen wissenschaftlichen Konsequenzen den Beifall der Praxis, so ist das die erste empirisch-analytische Bestätigung des neuen wissenschaftlichen Lehrsatzes. Wird endlich diese Theorie von den Staatsmännern und Politikern aufgenommen und erfolgreich durchgeführt, so liegt darin eine fortlaufende Neubestätigung ihrer Richtigkeit. Theorie und Praxis verhalten sich zu einander, wie Synthese und Analyse. Die Praxis bietet in ihren Beobachtungen, Zuständen und Vorschlägen die wichtigste Unterlage für die Auffindung der rechten neuen Synthese, die dann wissenschaftlich weiter vertieft werden muss. Und die Aufnahme, welche diese Theorie mit ihren Konsequenzen in der Praxis findet, bietet zunächst den auch wissenschaftlich einzig zulässigen Massstab für die Korrektheit derselben. Nur so lässt sich die ideale Liebig’sche Forderung der Einheit von Theorie und Praxis realisieren. Und eigentlich wiederholen wir ja damit nur einen in der Entwickelungsgeschichte der nationalökonomischen Theorieen längst anerkannten Satz, den der Finanzminister, Dr. von Miquel, so präzis in die Worte gekleidet hat: „Die nationalökonomischen Schulsysteme sind entstanden aus der Summe der Konsequenzen der jeweiligen Zeitverhältnisse.“ So ist die Lehre des Merkantilismus entstanden aus der Summe der Konsequenzen jener Zeitverhältnisse, wie sie nach Ausgang des Mittelalters in den verschiedenen europäischen Staaten hervorgetreten sind. So ist das physiokratische System abgelesen aus den Zeitverhältnissen Frankreichs vor der französischen Revolution. So ist das Adam Smith’sche System die Summe jener Reflexionen, die hauptsächlich in England zu Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts angestellt werden konnten. So hat Karl Marx weit überwiegend seine Theorien aus der Lage der englischen Lohnarbeiter bis ins sechste Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts abgeleitet. Und so wird auch den wirtschaftspolitischen Bedürfnissen der Gegenwart nur wieder eine Nationalökonomie genügen können, die aus den Zuständen, Anschauungen und Empfindungen unserer Tage die weitaus wichtigsten Anregungen geschöpft hat. Diese neuzeitliche Verschmelzung von Theorie und Praxis in der Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik ist indes nicht nur eine unabweisbare Forderung der wissenschaftlichen Methodenlehre, sie tritt der eindringenderen Beobachtung auch als tiefernstes Bedürfnis unserer wirtschaftspolitischen Verhältnisse selbst entgegen. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass die Organismen von Krankheiten befallen werden, die bei einem gewissen anfänglichen Entwickelungsstadium zwar oft schwer zu erkennen sind, deren unheilvolles Wesen aber darin besteht, dass das Entwickelungsende auf eine Zerstörung und Vernichtung des Organismus abzielt. Gegen diese Krankheiten kämpft im Organismus das immanente Prinzip des Lebens oder, wie man es auch zu nennen pflegt, die Heilkraft der Natur. In der Mehrzahl der Fälle vermag diese Heilkraft der Natur allein die Krankheit zu besiegen. ln vielen Fällen dagegen ist eine Mitwirkung des Arztes notwendig, die vernünftigerweise darauf abzielt, der heilenden Naturkraft die im Wege stehenden Hindernisse wegzuräumen. Hierbei spielt jedoch noch ein anderes Moment eine durchaus entscheidende Rolle, und das ist — die Zeit. Beginnt die ärztliche Hülfe erst dann einzusetzen, wenn die Heikraft der Natur bereits längere Zeit mit der Krankheit gerungen und die Kraftreserven des Organismus dabei zum grossen Teil verbraucht hat, dann kommt leicht alle menschliche Kunst zu spät, und nichts vermag die Vernichtung des betreffenden Organismus abzuwenden. Deshalb liegt in jedem ernsteren Erkrankungsfalle so viel daran, mit der Hülfe noch zur rechten Zeit und nicht zu spät zu kommen. Was hier von dem Organismus im Allgemeinen gesagt ist, das gilt auch vom volkswirtschaftlichen Organismus im Besonderen. Auch der volkswirtschaftliche Organismus wird von Krankheiten befallen, welche die Heilkraft der Natur von selbst besiegt. Aber auch hier kommen ernstere Erkrankungen vor, bei denen die Mithülfe des Staatsmannes und der gesetzgebenden Faktoren ganz unentbehrlich ist, wenn nicht die Kultur des Volkes und sein Staatsleben zu Grunde gehen sollen. Auch auf volkswirtschaftlichem Gebiete sind die Krankheiten gerade zu Anfang oft schwer zu erkennen, aber Ieicht zu heilen. Auch hier kann die Gesetzgebung die verarmenden Unternehmungen nicht wohlhabend machen, wenn die Unternehmer die Wohlhabenheit sich nicht selbst erwerben. Die Gesetzgebung kann nur die Hindernisse hinwegräumen, welche der Thatkraft der Einzelnen im Wege stehen. Und endlich kommt auch hier alles darauf an, dass die rechte Hülfe nicht zu spät kommt. Wie steht es nun aber heute in dieser Hinsicht mit unserem volkswirtschaftlichen Körper? Wir wissen unzweifelhaft, dass er krank ist. Wir wissen auch, dass er in recht bedenklicher Weise erkrankt ist und also ernste Hülfe Not thut, wenn die Krankheit nicht die Herrschaft gewinnen und das Ganze vernichten soll. Aber welche Krankheit ist es, die hier geheilt werden soll? Und welche Hindernisse der natürlichen Heilkraft, nämlich der individuellen Thatkraft, sind hier zu beseitigen? — Eine bestimmte klare Antwort auf diese Fragen giebt es heute nicht. Der Nationalökonomie als Wissenschaft muss der schwere Vorwurf gemacht werden, noch nicht einmal diese Vorfragen beantwortet zu haben. Entsprechend der dadurch bedingten Ratlosigkeit im Ganzen hat man die Erkrankung des sozialen Körpers in eine fast unübersehbare Zahl von Spezialkrankheiten aufgelöst. Das diese Auffassung besonders vollständig wiedergebende „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ von Professor J. Conrad, behandelt über 240 selbständige Spezialkrankheiten am Volkskörper, die mit besonderer Vorliebe solchen Spezialisten überlassen werden, welche sich um die anderen Spezialkrankheiten möglichst wenig kümmern. lm ganzen werden nach dem gleichen Conrad’schen „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ 700 bis 900 Heilmittel dem sozialen Körper verschrieben. Bei alledem giebt es keine verbindenden einheitlichen Prinzipien, weder zwischen der Auffassung der einzelnen Spezialkrankheiten, noch zwischen den in Vorschlag gebrachten Mitteln zur Abhülfe, trotzdem von allen Seiten zugegeben wird, dass der soziale Körper als ein einheitlicher Organismus aufgefasst werden muss. Die Gesetzgebung hat vorerst den allerkleinsten Teil dieser Heilmittel angewendet. Und welche heilende Wirkung haben dieselben gehabt? Wir sind im Jahre 1879 zur Schutzzoll-Politik übergegangen, die in den Jahren 1885 und 1887 verschärft wurde, um im Jahre 1891/93 von einer Zollermässigung abgelöst zu werden. Aber unsere Getreidepreise machen heute noch weniger als im Jahre 1879 den Eindruck, dass sie „gesund“ geworden wären. Das Zuckersteuer-Gesetz ist seit dem Jahre 1869 sieben mal abgeändert worden. Die Zuckerpreise sind heute niedriger denn je zuvor, und die Rübenzucker-Industrie geht der ernstesten Krisis entgegen. Die Gewerbeordnung hat man seit dem Jahre 1869 sogar zweiunddreissigmal durch Gesetze und Bundesratsbeschlüsse abgeändert und die gewerblichen Betriebe scheinen im gleichen Masse die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verlieren. Wir haben seit dem Jahre 1880 eine Sozialpolitik im Sinne einer Proletarierpolitik, die ungezählte Millionen verschlingt — aber das Uebel, welches man damit zu beseitigen hoffte, wächst immer mehr. Die Zahl der unzufriedenen Proletarier und der Sozialdemokraten wird von Jahr zu Jahr grösser. Dabei ist unsere Gesetzgebung von einer ausgesprochenen Aengstlichkeit und Zaghaftigkeit. So hat man z. B. dem Börsen-Terminhandel gegenüber zunächst das Mittel der Spieleinrede vorgeschoben. Dann hat man zur Einschränkung der Termingeschäfte die Börsensteuer in verschiedenen Steigerungen zur Anwendung gebracht. Dann sollte die Eintragung der Terminspekulanten in ein Terminregister die Uebelstände beseitigen. Und man war eigentlich recht unangenehm überrascht, als über Initiative des Reichstages dieser langsame Etappengang schon 1896 mit dem direkten Verbot des Börsen-Terminhandels für Getreide und Mühlenfabrikate beschlossen wurde. Unsere Gesetzgebung seit Ausgang der 70er Jahre muss deshalb leider als eine Verlegenheits-Gesetzgebung bezeichnet werden. Das hat auch kein Geringerer als Fürst Bismarck selbst gesagt, indem er öffentlich erklärte: „Ich weiss, dass die in Vorschlag gebrachte Zollerhöhung die Frage der Erhaltung des Bauernstandes nicht löst, aber ich habe bis jetzt noch niemanden gefunden, der mir ein besseres Mittel hätte nennen können.“ So treibt denn der Gesetzgebungs-Apparat von Gesetz zu Gesetz und von Novelle zu Novelle. Die grossen, einheitlichen, klärenden Principien der Wissenschaft fehlen. Der Streit der Meinungen verläuft sich mit den in Vorschlag gebrachten Mitteln in kleine und kleinste Details. Statt der Principien werden die Personen mit wachsender Gehässigkeit bekämpft. Der alte Zusammenhang der grossen politischen Parteien bricht auseinander. Und der beste Wille kann die wachsende Unzufriedenheit nicht bannen. Das ist das Bild einer Praxis, die unter der sich häufenden Kompliziertheit ihrer Aufgaben fast erdrückt wird und deren Wissenschaft ihre eigentliche und höhere Mission fast vergessen zu haben scheint. Denn die Wissenschaft der politischen Oekonomie geht heute der Praxis nicht allein nicht mehr voraus, sie wird geradezu von den Entschliessungen der Praxis überrascht und kommt dann zu den seltsamsten wissenschaftlichen Ausreden. So z. B. durch das Verbot des Börsen-Terminhandels in Getreide und Mühlenfabrikaten vom 22. Juni 1896. Damals war noch nicht einmal eine wissenschaftliche Definition für Terminbörse und Börsen-Terminhandel fertig! Und so behauptete man denn geschwind: diese beiden Begriffe könnten wissenschaftlich überhaupt nicht definiert werden. Also: Gott, Seele, Jenseits, Vierte Dimension, Quadratur des Cirkels, alles kann man wissenschaftlich definieren. Aber Terminbörse und Börsen-Terminhandel kann man nicht definieren, trotzdem man beides ganz genau kennt und beliebig oft vor Augen haben kann. Für die zaghaften Zick-Zack-Versuche der gesetzgeberischen Praxis mit den kleinen Mitteln, wozu die Politik heute verurteilt ist, weil der vorauseilende Aufklärungsdienst der Wissenschaft unterlassen wurde, hat man das sogenannte „staatsmännische Princip der Concessionen nach allen Seiten“ auch von sogenannter wissenschaftlicher Seite aus kolportiert. Früher war das alles anders. Mit dem Buche, das Adam Smith im Jahre 1776 über den „Reichtum der Nationen“ veröffentlicht hat, waren die Elemente für die wichtigsten Definitionen und Motive der Gesetzgebung gegeben bis Mitte der 70er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Das wird schon an der äusseren Erscheinung der Gesetzesvorlagen selbst ersichtlich. Als am 16. Juni 1873 der Gesetzentwurf betreffend die Aufhebung der Zölle auf Roheisen, Rohstahl u.s.w. dem Reichstage vorgelegt wurde, da war die begleitende Denkschrift 2 ¼ Seiten gross. Warum eine gesetzliche Forderung eingehender begründen, die mit den seit fast einem Jahrhundert anerkannten Grundsätzen der Wissenschaft übereinstimmte! Hier lag, wie man pathetisch erklärte, die Beweislast auf der gegnerischen Seite. Die Vorlage selbst wurde dann auch nach kurzen Verhandlungen mit überwältigender Majorität angenommen. Als aber im April 1879 unvorbereitet von der Wissenschaft die Zollvorlage zu Gunsten der nationalen Produktion dem deutschen Reichstage zuging, da wurde diese Vorlage mit einer Denkschrift von 246 Druckseiten begleitet, während die heute den Reichstag beschäftigende Zollvorlage sogar einen Motiven-Bericht mit Beilagen im Umfange von 861 Seiten mitbrachte! Und trotzdem — oder wohl richtiger gesagt: eben deshalb — wird das politische Leben von der Heftigkeit des Kampfes um diese Vorlage in einer Weise erschüttert, dass niemand es wagen dürfte, heute schon alle Folgen, welche sich hier anschliessen, zu überschauen. — Es ist also doch wohl geradezu im Lebensinteresse der Gesamtheit gelegen, dass die in historischen Spezialuntersuchungen heute noch zu sehr befangene nationalökonomische Wissenschaft sich endlich jener tiefernsten Pflichten erinnert, welche sie den praktisch-politischen Aufgaben der Gegenwart gegenüber zu erfüllen hat und dass sie ihre heute noch längst nicht zeitgemässe Vorliebe für die „reine“ Wissenschaft endlich aufgiebt, um der wirtschaftspolitischen Praxis als „Magd mit der Fackel“ vorauszueilen. Die Leitsätze aber, welche daraus für die Methodenlehre der politischen Oekonomie sich ableiten lassen, sind folgende: 1. Die politische Oekonomie als Wissenschaft ist heute in ihrer Entwickelung noch in keiner Weise zum Abschluss gekommen, sie befindet sich vielmehr noch mitten im Werden und mitten in der Gährung. 2. Der Weg zur Exaktheit ist auch dieser Wissenschaft nicht verschlossen — dies um so weniger, als ihr Gebiet innerhalb der subjektiven Gefühls- und Empfindungssphäre des Menschen liegt und es also nur einer Anwendung der rechten wissenschaftlichen Methode bedarf, um zu exakten wissenschaftlichen Resultaten zu gelangen. 3. Die heute herrschende Methode der historischen Schule der Nationalökonomie war für ihre Zeit gewiss durchaus berechtigt und notwendig. Auf die Dauer aber ist sie ungenügend, weil sie kein wissenschaftliches Gebäude, sondern nur wissenschaftliches Baumaterial liefert, das für die politische und staatsmännische Praxis so lange ein totes Material bleibt, als es nicht zu einem einheitlichen organischen Ganzen wissenschaftlich zusammengefügt worden ist. 4. Die deshalb notwendige Verschmelzung von praktischem Bedürfnis und theoretischer Erkenntnis muss vor allem von der Ueberzeugung ausgehen, dass es die nächstliegende und wichtigste Aufgabe aller bewussten menschlichen Erkenntnis ist, künftige Erfahrungen vorauszusehen um unser Handeln in der Gegenwart danach einrichten zu können. (Hertz.) Dieser klärende Blick in die Zukunft rückt den Schwerpunkt der nationalökonomischen Denkarbeit in die Wirtschaftspolitik. Gewiss wird man dabei die Resultate der historischen Spezialuntersuchungen nicht entbehren können. Denn die Völker, welche gelebt haben, gross wurden und dann zu Grunde gingen, müssen uns vor allem lehren, was uns in der nächsten und ferneren Zukunft bevorsteht. Und der Entwickelungslauf unserer eigenen Geschichte muss uns den Punkt genauer kennen lernen, auf dem wir heute selber stehen. Weil aber das alles unter dem Gesichtswinkel der praktischen Wirtschaftspolitik zusammengefasst werden muss, um so die rechten Massregeln zu ergreifen, ehe es zu spät ist, setzen wir damit an die Stelle der historisch - chronologischen die historisch - kairologische ****) Methode. 5. Die Darstellung des Entwicklungsverlaufs der einzelnen Völker muss dabei nach logisch deduktiver Methode erfolgen. Nur auf solche Weise tritt uns das „Warum“ der Entwickelung möglichst klar und scharf entgegen. Nur auf solche Weise wird das wirtschaftspolitische Urteil den Schein vom Sein trennen lernen. Dass dabei alle wichtigeren empirisch-analytisch ermittelten Thatsachen sorgsam berücksichtigt werden wollen, ist selbstverständlich. Nach unserer Erfahrung ist es bei dieser Darstellung aber auch unerlässlich, möglichst viele Völkerindividuen zu bearbeiten. Die Geschichte der Völker ist bekanntlich eine gewaltige Tragödie. Das historisch geübtere Auge wird deshalb immer erkennen lernen, wie jedem Volke sein Schicksal gewissermassen in die Wiege gelegt wurde. Nur deshalb wird es nach einer genügenden Aufklärung der Verhältnisse möglich, als einfach logische Konsequenzen der Anfänge die Volksgeschichte zwanglos zur Darstellung zu bringen. Weil aber die konventionelle Spezial-Geschichtsschreibung nur zu häufig diesen logischen Entwicklungskern bis zur Unkentlichkeit maskirt hat, muss die vergleichende Geschichtsdarstellung das Urteil schärfen und uns der Wahrheit näher bringen, damit wir erkennen lernen: Mensch bleibt Mensch — ob er nun im Einzelnen den Kaftan oder das Himation, die Toga oder den Wams mit Strumpfhosen trug. 6. Die heutige Nationalökonomie ist aus dem bekannten Ueberschuss an Material zu ihrer Vierteilung gekommen: Allgemeine oder theoretische Nationalökonomie — Wirtschaftspolitik — Finanzwissenschaft — Statistik. Eine neue Nationalökonomie, welche ihren Schwerpunkt in die Wirtschaftspolitik verlegen muss, muss auch zur alten, in allen Wissenschaften wiederkehrenden Zweiteilung zurückkommen, allgemeiner theoretischer Teil und spezieller praktischer Teil. Die grosse Hauptaufgabe des theoretischen Teils ist die Darstellung der Einheit nach Grundbegriffen und Grundprincipien. Der allgemeine Teil ist deshalb gewissermassen der Globus der Nationalökonomie, der vor allem übersichtlich sein muss. Alle überflüssigen Details müssen hier fortbleiben, denn man sollte am Ende doch noch einigermassen wissen, was man zu Anfang gelesen und gelernt hat. Die Fülle der Materialien muss in die Bände des speziellen Teils verwiesen werden. 7. Die so dringend notwendige Verschmelzung von Theorie und Praxis muss nicht zuletzt auch für die Lehrmethode gelten. Das Seminar sollte deshalb für die Nationalökonomie sein, was das Laboratorium für die Chemie ist. Es genügt keineswegs im Seminar nationalökonomische Stilübungen zu pflegen oder gar nur Repetitorien abzuhalten. Das grosse, gewaltige wirtschaftliche Leben des Tages muss hier in das Studierzimmer hereingenommen werden. Hierzu eignen sich nach unserer Erfahrung in hervorragendem Masse zwei Dinge: die Analyse der Konkursfälle und die Beobachtung der täglichen Preisbildungen für die Massenprodukte mit Uebungen zur Bildung einer Preismeinung in der sogenannten „Preiswarte“. Wenn in den Seminarien der verschiedenen deutschen Universitäten fortlaufend eine grosse Zahl von Vergantungen der Bauern, der Gewerbetreibenden, der Händler, Banken und Aktien-Gesellschaften als genaue Geschichte der Individual-Wirtschaften analysiert werden, wie Schreiber dieses in dem unter seiner Leitung gestandenen Seminar an der Universität Zürich *****) es eingerichtet hatte, und wenn gleichzeitig in wohlausgestatteten „Preiswarten“ die tägliche Preisbildung z. B. für Getreide, Geld, Kohle, Eisen, Baumwolle und Wolle so verfolgt wird, dass die Leitung mit Sicherheit in der Lage ist, die bevorstehende Preisbewegung vorauszusagen, wie Schreiber dieses in seiner „Preiswarte“ an der Universität Freiburg (Schweiz) es zuerst mit Erfolg versucht hat, dann werden nicht nur die absolvirten Studenten praktisch brauchbare Hülfskräfte sein, es wird auch der Gesetzgebung des Staates das denkbar zuverlässigste Material zu den Motiven-Berichten geliefert. DieVerschmelzung von Theorie und Praxis erweist sich also auch nach dieser Richtung als durchaus fruchtbar. 8. Endlich darf kein Versuch der Auffindung eines neuen und besseren Systems der Nationalökonomie vergessen, dass das neue System stets auf den Schultern der bisherigen Systeme stehen wird. Es muss deshalb gerade für den Anfang von besonderer Wichtigkeit sein, aus der Entstehungsgeschichte der bisherigen Systeme zu lernen, wie ein neues System aus den gegebenen Verhältnissen herauszuwachsen pflegt. Und weil die Theorien der bisherigen Systeme in ihrer Aufeinanderfolge wachsende Annäherungswerte zur Wahrheit darstellen, wird es Aufgabe einer richtigen Kritik derselben sein, zu unterscheiden, was in diesen Lehren das Vergängliche und das Dauernde ist, um das Letztere in den zu schaffenden Neubau herüberzunehmen. Wir gehen aus diesen Gründen in unseren weiteren Ausführungen zunächst über zur „Entstehungsgeschichte und Kritik der bisherigen nationalökonomischen Schulsysteme“. *) Vergl. Lujo Brentano, Agrarpolitik, Band I S. 58 ff. und die im Brentano’schen Seminar in München entstandene Arbeit von Dr. Robert Drill, Soll Deutschland seinen ganzen Getreidebedarf selbst produzieren ? 1895. **) Schmoller vertritt diese extremere Auffassung seit 1897. In seiner zuerst 1894 erschienenen Abhandlung „Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und Methode“ wird die Entwicklungsnotwendigkeit, das Material der historischen Spezialuntersuchungen zu einem neuen theoretischen System zusammen zu fassen, noch ausdrücklich anerkannt. Und in seiner 1884 zuerst erschienenen Abhandlung über „Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung“ wird sogar bahnbrechend für die merkantilistischen Theorien nachgewiesen, wie dieselben in durchaus naturgemässer und vernünftiger Weise dem praktisch-politischen Bedürfnis ihrer Zeit entlehnt und angepasst wurden. Es muss in diesem Zusammenhange überraschen, dass Schmoller nicht zu dem Schlusse gekommen ist: wie das Merkantilsystem, so sind auch alle andern nationalökonomischen Lehrsysteme als die Summe der Consequenzen der jeweiligen Zeit verhältnisse entstanden. Nachdem nun das wirtschaftspolitische Bedürfnis der Gegenwart durch keines dieser bisherigen theoretischen Systeme befriedigt wird, muss es die erste Aufgabe der heutigen Nationalökonomen sein, die praktisch-politischen Forderungen der Neuzeit zu einem neuen nationalökonomischen System zu vertiefen. Denn die Nationalökonomie als „praktische Wissenschaft“ muss sich offenbar zuerst und zuletzt dem praktischen Bedürfnis des Tages unterordnen. Sie kann unmöglich das Recht haben, mit dem pflichtgemässen Ausbau eines neuen Systems solange sorglos zu warten, bis auch nach dem Empfinden der „reinen“ Wissenschaft mehr als genügend Material zusammengetragen ist, um einen solchen Ausbau endlich zu wagen. Noch weit weniger freilich kann es der Nationalökonomie zustehen, in einer solchen Zeit die politische Praxis nach den veralteten Theorien „meistern“ zu wollen! — ***) Justus von Liebig, Ueber Theorie und Praxis in der Landwirtschaft, Braunschweig 1856, S. 128. ****) Nach Ernst Curtius ist Kairós (Καιρος) der Genius des „entscheidenden Augenblickes“, „der günstigen Gelegenheit“. Seine berühmteste plastische Darstellung hat Kairos in einer Erz - Statue des Hofkünstlers Aexander des Grossen, Lysippos erhalten, nach welcher die nebenstehende Figur gezeichnet ist. Wie dieser Meister den „Kairos“ aufgefasst hat, das spricht in den Hauptzügen ein uns erhaltenes Epigramm eines gewissen Poseidippos aus, ein Frag- und Antwortspiel zwischen dem Beschauer und dem Bildwerk selbst. Nach einer freien Uebersetzung von Prof. Dr. Rud. Meyer-Kraemer lautet dieses Epigramm:
*****) Vergl. als erste Publikation dieser Art Dr. Schneebeli, die Konkursstatistik als Mittel zur Erkennung der Ursachen des Notstandes in der Landwirtschaft, Zürich 1897. |
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