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a) Alles scheint verkäufliche Ware zu werden.Am 31. Mai 1808 wurden zum ersten Male amtlich im Berliner Kurszettel 21 öffentliche Fonds notiert. Ultimo 1870 zählte der Berliner Börsenkurszettel 358, Ultimo 1899: 1273 Effekten, deren Zahl heute (Ende November 1907) auf 2670 gestiegen ist. Alfred Neymark, welcher seit Jahren für das internationale statistische Institut die internationale Statistik der beweglichen Werte zu vervollkommnen bemüht ist, hat die Summe der Werte, welche an den Fondsbörsen von Europa zum Handel zugelassen waren,
Von diesen 570 Milliarden für 1905 sollen 345 Milliarden inländische, 255 Milliarden ausländische Werte gezählt worden sein. Neymark hat zwar für jedes Land besondere sachverständige Berichterstatter gewonnen, aber die mitgeteilten Ziffern umschliessen offenbar noch so grosse Irrtümer, dass sie für Kalkulationen der praktischen Politik nicht verwendbar erscheinen.
Davon entfielen in Prozenten an den Geldbedarf von: 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 ====================================================== Staaten, Provinzen, Städte 22,58 19,38 22,10 40,44 52,19 26,84 16,05 39,97 Kreditanstalten 9,20 13,39 13,37 11,85 7,04 3,60 7,26 9,29 Eisenbahn und Industrie 61,08 51,67 58,97 47,71 40,77 30,89 28,94 38,05 Konvertierungen 7,14 15,56 5,56 — — 38,67 47,75 12,69 Speziell in Deutschland waren nach Riesser’s „Entwicklungsgeschichte der deutschen Grossbanken“ von 1883 bis Ende 1904 Börsenwerte im Effektivbetrage von 32 Milliarden Mark emittiert worden. Der „Deutsche Oekonomist“ schätzte am 15. Juli 1905 den Gesamtbetrag der Börsenpapiere in Deutschland auf 45 Milliarden Mark, wovon etwa 15 Milliarden, also ein Drittel, als ausländische Werte bezeichnet werden. Richard Calwer fand im August 1906 an der
Berliner Börse allein Wertpapiere im Gesamtbetrage
von über 80 Milliarden Mark. Riesser gibt in seiner
„Entwicklungsgeschichte der deutschen
Grossbanken“ (2. Auflage 1906) unter Benutzung der
Denkschrift des Reichsmarineamts vom Dezember 1905 an,
dass unsere deutsche ausländische Kapitalsanlage auf
mindestens 24 bis 25 Milliarden zu schätzen sei, und
dass Deutschland etwa 75 Milliarden Börsenwerte
besitze. Der ausgezeichnete Statistiker G.
Evert hat in seiner Spezialabhandlung über
das „Volks Nach dem zuverlässigsten statistischen Material,
das G. Evert verwendet hat, darf
heute die Vermögenszunahme in
Deutschland auf etwa 2 Milliarden Mark pro Jahr
geschätzt werden. Da von diesen 2 Milliarden
für Meliorationen aller Art, verbesserte
Lebenshaltung, Erhöhung des Betriebskapitals,
Spareinlagen usw., mindestens die Hälfte Verwendung
findet, kann die jährliche Sparkraft des deutschen
Volkes heute kaum für mehr als 1
Milliarde Mark neue Börsenwerte aufnahmefähig
sein. Der inzwischen verstorbene Frankfurter Bankier
Caesar Straus, eine ganz hervorragende
Autorität in allen praktischen Börsenfragen,
hat in der „Kreuzzeitung“ vom 1889 : 1741 Mill. Mk., 1897 : 1944 Mill., Mk., 1890 : 1520 " " 1898 : 2407 " " 1891 : 1217 " " 1899 : 2612 " " 1892 : 1016 " " 1900 : 1777 " " 1893 : 1266 " " 1901 : 1631 " " 1894 : 1420 " " 1902 : 2110 " " 1895 : 1375 " " 1903 : 1665 " " 1896 : 1896 " " 1904 : 1995 " " also in diesen 16 Jahren die Gesamtsumme von 27,592 Millionen. Die aus dem Vermögenszuwachs des deutschen Volkes resultierende Nachfrage nach neuen Börsenwerten in dieser Zeit kann aber kaum die Hälfte dieses Betrages erreicht haben. Die andere Hälfte muss also wohl, mit Hülfe des Börsenkredits und der Börsenspekulation, durch Umwandlung eines entsprechend grossen Teiles des deutschen Volksvermögens in Börsenwerte untergebracht worden sein. Nach den angeführten Mitteilungen von G. Evert wurde für 1896 das Volksvermögen in Grossbritannien und Irland auf 236 Milliarden Mark angegeben. Neymark schätzt für 1900 die englischen Börsenwerte auf 172 Milliarden Mark. Etwa 7⁄10 des englischen Volksvermögens waren mithin um diese Zeit schon in den Strudel der Börsenspekulation hineingeraten. Die Entwicklung Deutschlands scheint auf dem besten Wege, diesem englischen Beispiele rasch zu folgen.
b) Die
Hauptwege der stetigen Ausbreitung des
|
vor 1851 | 1,6 %, |
von 1852 bis 1870 | 7,5 %, |
von 1871 bis 1890 | 36,5 %, |
von 1891 bis 1900 | 35,4 %, |
von 1901 bis 1906 | 18,1 %. |
Dazu kamen bis 1905 mindestens 8000
neue Gesellschaften m.b.H. mit
einem Kapital von 2 Milliarden Mark. Weit grösser
war die Zahl der neu gegründeten
Aktiengesellschaften in England,
nämlich:
1895 | : | 3820, |
1896 | : | 4668, |
1897 | : | 5157, |
1898 | : | 5071, |
um 1904 immer noch die Zahl von 3769
zu erreichen. Dem Kapitalbedarf zur Zeit der
Gründung dieser
Gesellschaften folgt erfahrungsgemäss sehr bald die
Ausgabe neuer Aktien, die Aufnahme von Schulden in der
üblichen Form der Ausgabe von Obligationen, die
Aufnahme von Schulden bei den Banken als Konto-Korrent
und Akzeptschulden. Unter Einrechnung dieser Summen mit
den angesammelten Reserven darf die
„Umwandlung des deutschen Volksvermögens
in „Börsenwerte“ durch die
Aktiengesellschaften und die
Gesellschaften m.b.H. von 1871
bis 1905 gewiss auf 20 Milliarden Mark veranschlagt
werden.
β) Zunehmende
Verschuldung der Staaten. Gerade bei der
Schuldaufnahme zeigt sich der Kapitalismus in seiner
einschmeichelnden servilen Art. Wo die Verhältnisse
eines Staates für eine grössere Anleihe reif
geworden sind, finden sich auch die Scharen der
Kreditvermittler ein, um ihre guten Dienste anzubieten.
Wo exotische Staaten sich vielleicht weniger rasch zum
Schuldenmachen entschliessen können, pflegen
Bestechungskünste der verschiedensten Form diese
Hindernisse bald zu beseitigen. Der unselige Zug der
Zeit, über die ganze Erde die höchst
entwickelten Staaten nachzuahmen und das Kulturniveau
zwischen den mitteleuropäischen Staaten einerseits
und China, Sibirien, Venezuela, ja Abessinien,
andererseits international, tunlichst rasch, ohne alle
Rücksicht auf historische Kontinuität,
auszugleichen, hat die Zunahme der Staatsschulden
zweifelsohne sehr begünstigt. Mit dieser hiermit in
Wechselbeziehung stehenden ausserordentlichen Steigerung
des internationalen Verkehrs hat unverkennbar die
Möglichkeit kriegerischer Konflikte zugenommen, was
noch mehr Staatsschulden bedeutete. Das Resultat war fast
allgemein ein von Jahr zu Jahr fortschreitendes Anwachsen
der Schuldziffern der Staaten:
Die Staatsschulden waren in Millionen Mark | |||
---|---|---|---|
Länder | 1874 | 1890 | 1905 |
Deutsches Reich u. Bundesstaaten | 3150 | 8214 | 15205 |
Frankreich | 18126 | 25633 | 24672 |
England | 15690 | 14110 | 16277 |
Russland | 6700 | 14386 | 15263 |
Oesterreich–Ungarn | 7290 | 7754 | 8001 |
Nordamerikanische Union | 7303 | 6533 | 3745 |
Man pflegt zwar hier darauf hinzuweisen, dass speziell die deutschen Staaten immer noch beträchtlich höhere Einnahmen aus den Erträgen ihrer Domänen, Forsten, Eisenbahnen, Lotterien, Bankbetrieben u.s.w. ziehen, als die Bruttobeträge der Verzinsung ihrer Schulden fordern. Bei der sichtlich herrschenden fortschreitenden Verschuldung aber kann dieser Vorzug der deutschen Staaten wahrscheinlich nur noch eine bestimmte Zeit dauern. Jedenfalls haben die Anleihen der deutschen Staaten allein bis Ende 1907 etwa 15 1⁄4 Milliarden Mark neue Börsenwerte geschaffen.
γ) Verschuldung der Provinzen und Städte.
Dem Beispiele der Staaten folgen die Provinzen und
Städte. Leider fehlt auch hier wieder jede
zusammenfassende zuverlässigere Statistik.
Rudolph Eberstadt hat in seiner Monographie
über den „deutschen Kapitalmarkt“ (1901)
sein Material hauptsächlich durch direkte Anfragen
bei den städtischen Verwaltungen beschafft. Darnach
waren 1899 von 41 deutschen Städten 159,5 Millionen
Mark Schuldscheine an der Börse veräussert
worden. Das „Statistische Jahrbuch der deutschen
Städte“, herausgegeben von Dr.
Neef, hat sich erst in seinem letzten Jahrgange
wieder eingehender mit den Anleihen der Städte
beschäftigt. Die Zusammenstellung ergibt, dass 54
deutsche Städte mit über
50'000 Einwohnern bis zum 1. April 1906 bei einer
Gesamteinwohnerzahl von 11,7 Millionen 2770,2 Millionen
Mark Schulden aufgenommen hatten. Diese Aufwendungen sind
namentlich auf Rechnung der Kanalisation, der Gas- und
Wasserleitung, der Strassenbahnen, Schlachthäuser,
Friedhöfe, für Schulen, Armenpflege und Polizei
erfolgt. Schon R. Eberstadt wies darauf hin,
dass die Schuldaufnahmen der Provinzverbände
vielfach zur Beschaffung von Betriebsmitteln für
Provinzialbanken, zur Gewährung von Darlehen an
kleinere Gemeinden, zur Unterstützung von
Kleinbahnen, zur Beschaffung von Betriebsmitteln für
Genossenschaften zum Bau von Arbeiterwohnungen u.s.w.,
dienten. Hier handelt es sich also vielfach um die
Vermittelung von Schulden für andere kleinere
Verbände.
Nach den Veröffentlichungen des Kaiserlichen statistischen Amtes über die bei den deutschen Börsen zum Börsenhandel zugelassenen Wertpapiere waren Anleihen von Provinzen, Städten u.s.w.:
deutsche: | ausländische: | |||||||
In Summa: | 3285 | Mill. | Mark | 777 | Mill. | Mark | ||
1897 | 242 | Mill. | Mark | 91 | Mill. | Mark | ||
1898 | 154 | " | " | 102 | " | " | ||
1899 | 259 | " | " | 2 | " | " | ||
1900 | 257 | " | " | 11 | " | " | ||
1901 | 431 | " | " | 72 | " | " | ||
1902 | 339 | " | " | 289 | " | " | ||
1903 | 366 | " | " | 49 | " | " | ||
1904 | 548 | " | " | — | " | " | ||
1905 | 333 | " | " | 111 | " | " | ||
1906 | 356 | " | " | 50 | " | " |
Nach der gleichen statistischen Quelle war der Stand
der Kommunaldarlehen und Kommunalobligationen der
deutschen Hypothekenbanken:
Am Ende d. Jahres: | Darlehen: | Obligationen: | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
1870 | 1,8 | Mill. | Mark | — | Mill. | Mark | ||
1875 | 5,2 | " | " | — | " | " | ||
1880 | 12,6 | " | " | 7,7 | " | " | ||
1885 | 17,5 | " | " | 14,7 | " | " | ||
1890 | 37,4 | " | " | 34,4 | " | " | ||
1895 | 68,5 | " | " | 61,8 | " | " | ||
1900 | 87,6 | " | " | 74,0 | " | " | ||
1904 | 177,7 | " | " | 158,2 | " | " | ||
1905 | 197,7 | " | " | 177,7 | " | " | ||
1906 | 222,7 | " | " | 199,2 | " | " |
Zusammenstellungen, welche neuerdings im kgl. bayerischen statistischen Bureau gemacht wurden, bekunden, dass die Gesamtschulden der Gemeinden in Bayern seit Ende 1895 bis Ende 1905 von 265 1⁄2 Millionen auf 614 Millionen Mark — also in 10 Jahren um 232 %! — zugenommen haben.
Jedenfalls geht aus diesem lückenhaften Material hervor, dass auch die Verschuldung der Provinzen und Städte in den letzten Jahrzehnten rascher gewachsen ist und heute mit 3 1⁄4 Milliarden Mark gewiss nicht zu hoch angesetzt wird.
δ) Die hypothekarische Verschuldung des Grundbesitzes. Der preussische Finanzminister hat den Gesamtbetrag der Hypotheken und Pfandbriefe in Preussen für das Jahr 1892 auf 16,5 Milliarden Mark angegeben. Eberstadt bezeichnet diese Summe als eine Mindestziffer und berechnet auf grund amtlicher Ermittelungen die Zunahme der Hypotheken in Preussen für 1893 bis 1900 auf 8,356 Milliarden, also für 1900 auf die Gesamtsumme von 25 Milliarden Mark. Da indes für 1886 bis 1900 in Preussen nach amtlicher Ermittelung sich eine Hypothekenzunahme von 14,8 Milliarden annehmen lässt, wird die Eberstadt’sche Ziffer wahrscheinlich zu niedrig sein.
An dieser Gesamtschuldenlast ist der
städtische Grundbesitz weit überwiegend
beteiligt. Nach amtlichen Erhebungen war der Ueberschuss
der Eintragungen von Hypotheken über die
Löschungen 1886—1897 in den Städten 8,544
Milliarden Mark, auf dem Lande 2,417 Milliarden Mark.
Hieran war Berlin 1888 annähernd so stark beteiligt,
wie alle übrigen Städte von Preussen zusammen.
Von da ab steigt die Verschuldung der preussischen
Provinzstädte rasch an, um 1895 die
2 1⁄2fache Ziffer der
Berliner Verschuldung zu erreichen.
Nach dem statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin waren die eingetragenen Hypotheken, Grund- und Rentenschulden des Berliner Grundbesitzes 1905 = 5,755 Milliarden Mark. Von sachverständiger Seite wurden die Hypotheken von Berlin mit seinen Vororten für 1906 auf 9 Milliarden Mark geschätzt. Nach den vorgenannten amtlichen Erhebungen lassen sich darnach für 1906 die Hypotheken der preussischen Provinzstädte auf 18 Milliarden, die Hypotheken des gesamten städtischen Grundbesitzes in Preussen auf 27 Milliarden Mark einstellen — gegen nur 16,5 Milliarden als Gesamtbetrag der hypothekarischen Belastung des preussischen Grundbesitzes im Jahre 1892.
Für die ländlichen Bezirke fehlt in Preussen eine neuere Ziffer der Gesamtverschuldung. Die preussische ländliche Verschuldungsstatistik von 1902 informiert nur über die Verschuldung der Grundbesitzer. Legt man aber das Verhältnis der Verschuldungszunahme des landwirtschaftlichen Grundbesitzes zum städtischen Besitz in den Jahren 1888 bis 1897 zu Grunde, so würden wir für 1906 mindestens die Ziffer von 8 Milliarden für den ländlichen Grundbesitz und von 35 Milliarden als hypothekarische Gesamtbelastung der privaten Liegenschaften in Preussen erhalten.
Für Bayern gibt
Eberstadt als mässige Schätzung für 1900
die Summe der Bodenschulden auf 4 1⁄2 Milliarden an.
Württemberg soll in der
Gesamtverschuldung nach Eberstadt 1900 =
1 1⁄4 Milliarde nicht
überschritten haben, während
Sachsen auf 4,750, Baden auf
1,250, das übrige Deutschland auf 5,000
Milliarden Bodenschulden veranschlagt wurde. Das
ergibt für ganz Deutschland ohne Preussen und
für 1900 : 16,750 Milliarden Mark,
oder — nach dem Verhältnis der Zunahme der
preussischen Grundbelastung erhöht —
für 1906: rund 23 Milliarden.
Der gesamte deutsche Grundbesitz wäre also
1900 | mit | 42 | Milliarden | Mark |
1906 | " | 58 | " | " |
hypothekarisch verpfändet gewesen.
Felix Hecht, Direktor der Rheinischen Hypothekenbank in Mannheim, hat 1900 eine Zusammenstellung des Pfandbriefumlaufs der europäischen Bodenkreditanstalten im Jahre 1898 veröffentlicht, der wir zum Vergleiche die nachfolgenden Ziffern entnehmen: Es war der Pfandbriefumlauf in:
Gesamtsumme: | 14,257,423,000 | Franken. | |
Belgien | = | 87,147,000 | Franken |
Bulgarien | = | 18,708,000 | " |
Dänemark | = | 901,764,000 | " |
Frankreich | = | 2,136,519,000 | " |
Holland | = | 357,809,000 | " |
Italien | = | 318,034,000 | " |
Oesterreich–Ungarn | = | 2,808,448,000 | " |
Portugal | = | 69,552,000 | " |
Rumänien | = | 270,267,000 | " |
Russland | = | 5,795,870,000 | " |
Schweden u. Norwegen | = | 722,042,000 | " |
Schweiz | = | 605,855,000 | " |
Serbien | = | 10,013,000 | " |
Spanien | = | 95,395,000 | " |
In dem gleichen Jahre 1898 war nach
Hecht der Pfandbriefumlauf in Deutschland 11,464,132,000
Franken, also beinahe ebensoviel, als in allen
übrigen Staaten von Europa zusammen! Nun erreicht
aber in Preussen nach einer Spezialuntersuchung des
Generalsekretärs Dr. von Altrock im
Jahre 1902
der Gesamtverschuldung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes. Deutschland darf mithin sicher die Ehre für sich in Anspruch nehmen, seinen Grund und Boden weitaus mit den höchsten Summen verschuldet zu haben.
Dabei hat die Verschuldung des Grundbesitzes nach
allgemeiner Erfahrung nicht den Zweck, durch
Meliorationen den Bodenwert zu erhöhen. Diese starke
Kreditbelastung ist vielmehr in ganz hervorragendem Masse
bestimmt, dem immobilen Besitz die Qualität einer
tunlichst leicht beweglichen „Ware“ im
Verkehre zu verleihen. Ein mit „Bankgeldern“
und Hypotheken hoch besetztes Grundstück kann schon
mit einer viel kleineren Geldsumme erworben werden. So
wird die Zahl der kauffähigen Bewerber ganz
wesentlich vermehrt. Es ist unter dieser Voraussetzung
einem Manne von mittlerem Vermögen schon
möglich, mehrere städtische
Grundstücke oder einen grösseren
landwirtschaftlichen Besitz zu erwerben. Auch die
Unbemittelten können auf diese Weise „Grund-
und Hausbesitzer“ werden. All diese
Möglichkeiten erhöhen erfahrungsgemäss den
sogenannten „Verkehrswert“ der
Grundstücke. Dieser ganze, durch das geltende Recht
und die herrschende Kreditorganisation erst geschaffene
„Handel“ mit deutschen Grundstücken
sieht im Grund und Boden nicht das unentbehrliche Produktionswerkzeug oder
die Basis der Konsumbedürfnisse des Volkes, sondern
ausschliesslich das Spekulationsobjekt, das man
möglichst billig einzukaufen und möglichst
teuer zu verkaufen bemüht ist. Deshalb ist die
Bewegung der Grundstückspreise auf dem Markte so
sehr von der allgemeinen „Konjunktur“
abhängig. Zeiten mit billigem Geldstand und leichter
Kreditgewährung erhöhen die Preise der
Grundstücke. Allgemeine Kredit- und Bankkrisen mit
teurem Gelde und mehr vorsichtiger Kreditgewährung
lassen dann auf dem Grundstücksmarkte unter den
weniger Bemittelten die Subhastionen rasch anschwellen.
Und wo die Grundstücksspekulation sich mit dem
Häuserbau beschäftigt, da muss heute die
Bauausführung im Interesse der Hypothekenforderungen
den Hausbesitz wie einen Pfandbrief mit Rentenkoupons
konstruieren. So wird die städtische Mietskaserne
mit dem modernen Wohnungselend durch unser herrschendes
System der Grundverschuldung erzeugt und geboren. Im
Jahre 1890 wohnten von 1000
Einwohnern
|
in Wohnungen mit nicht mehr als einem heizbaren Zimmer, darunter bezw. 5,4 — 4,6 — 0,2 — und 0,7 in solchen ohne heizbares Zimmer! Nach A. Lasson in der „Medizinischen Reform“ wurden in Berlin 1906 hundert Häuser gezählt, von denen jedes bis 120 Menschen beherbergte, 309 Gebäude hatten 225 Bewohner, 34 Grundstücke je mehr als 500 und ein Haus in der Ackerstrasse sogar 1300 Einwohner. 50% aller Berliner hausen in Wohnungen mit nur einem heizbaren Zimmer und manche von diesen Räumen beherbergen bis zu 14 Personen. 4068 Wohnungen bestanden überhaupt nur aus einem Küchenraum und in vielen solchen Gelassen wohnten 10 bis 20 Menschen.
Alle grösseren Städte sind heute von einem
Ring grosskapitalistischer Terraingesellschaften
umschlossen, in den sich
die Stadterweiterungen mit entsprechend hohen
Grundpreisen einkaufen müssen. So haben sich in der
Umgegend von Berlin in den Jahren
1881 — 1906 insgesamt 77
Terraingesellschaften mit einem Aktienkapitale von 269
Millionen Mark gebildet, deren Führer die Berliner
Grossbanken, wie die Deutsche Bank, die
Diskontogesellschaft, die Dresdener Bank, der
Schaaffhausen’sche Bankverein, sind.
Bis zu welchem Maasse der städtische Hausbesitz heute Spekulationsobjekt der Unbemittelten geworden ist, haben namentlich die „Mitteilungen des städtischen statistischen Amtes der Stadt Dresden“ überzeugend nachgewiesen. Im Jahre 1901 waren von sämtlichen Grundbesitzern in Dresden nur 36% Leute mit einem Jahreseinkommen von über 6000 Mark, 22% hatten nur ein Einkommen von 3500—6000 Mark, 30% ein solches von 1600—3500 Mark und 12% gar nur ein Einkommen von weniger als 1600 Mark. Und als 1904 und 1905 die städtischen Zwangsversteigerungen in Dresden sich bedenklich mehrten, wurde festgestellt, dass die verganteten Hausbesitzer nur zu 7% zu den Wohlhabenderen, 31% aber direkt zu den Unbemittelten gehörten. Unter 427 verganteten Häusern waren 275 mit 100 bis 150% und mehr ihres Wertes mit Schulden belastet.
Die Degradierung des landwirtschaftlichen
Grundbesitzes zur Ware — was Rodbertus bekanntlich
die gewaltsame Umwandlung eines Pferdes in einen Vogel
genannt hat — wird durch das Fideikommissgesetz und
durch andere beschränkende erbrechtliche
Bestimmungen noch etwas aufgehalten. Es kommt hinzu, dass
die höchst ungünstige Preisbewegung der
landwirtschaftlichen Produkte, namentlich in den Jahren
1892 bis 1897 nur zu häufig die Produktionskosten
nicht gedeckt hat und deshalb Betriebsdefizite die
Verschuldung der Landwirte weiter anwachsen liessen. Das alles ist zu
berücksichtigen, wenn nach der vom preussischen
statistischen Landesamt für 1902 vorgenommenen
Aufnahme der Verschuldung des ländlichen
Grundbesitzes in Preussen von 100 Eigentümern
29,5 | unverschuldet, | ||
29,6 | unter 25%, | ||
23,4 | mit 25—50%, | ||
12,4 | mit 50—75%, | ||
4,3 | mit 75—100% | ||
und | 0,9 | mit 100% und mehr ihres Gesamtvermögens |
verschuldet waren, wozu jedoch neuerdings durch Spezialerhebungen der Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz nachgewiesen wurde, dass die bäuerlichen Besitzer bei der amtlichen Erhebung einen wesentlichen Teil ihrer Schulden verschwiegen haben. Aber auch bei all diesen Einschränkungen lässt sich heute aus der Verschuldung der landwirtschaftlichen Grundbesitzer der unheilvolle Einfluss der gesetzlichen Umwandlung des landwirtschaftlichen Grund und Bodens in eine „Handelsware“ nachweisen, was zuerst namentlich wieder von Dr. von Altrock betont worden ist (Volkswirtschaftliche Blätter, 18. Juli 1906) und wodurch sich die bekannten früheren Ausführungen von Rodbertus, Buchenberger, Meitzen u. a. bestätigen.
Die landwirtschaftliche Verschuldung wächst in Preussen ganz allgemein mit dem kleineren Einkommen. Grundbesitzer mit einem Einkommen
von nicht mehr als | 900 | Mk. | waren | mit | 33,8 % |
von 900 bis | 3000 | " | " | " | 26,5 % |
mit über | 3000 | " | " | " | 24,6 % |
ihres Vermögens verschuldet. |
Natürlich! Wer mit einem
verhältnismässig kleineren Vermögen
Grundbesitzer wird, muss sich mit einer entsprechend
höheren Schuldenlast abfinden. Wo in der Rheinprovinz die
Realteilung im Erbfalle Sitte ist, erreicht die
durchschnittliche Verschuldung 8,5% des Gesamtvermögens. Im Gebiete
mit geschlossener Vererbung, bei mässigen Taxen und
Ausschluss der Grundpreise im freien Markte, wie im
Bezirke Münster, beträgt die
Verschuldung des Gesamtvermögens 11,6%. Wo, wie im Bezirk
Düsseldorf, die Uebergabspreise im
Erbgange sich mehr an die Grundpreise im freien Markte
anlehnen, ist die Verschuldung der Grundbesitzer auf
19,7% gestiegen. Je mehr der
landwirtschaftliche Grundbesitz Ware geworden ist, desto
höher ist seine Schuldenlast.
Der gleisnerische einschmeichelnde Gedanke aber, welcher unserem herrschenden Kapitalistenrecht für Grund und Boden eigen ist, lautet: „Du brauchst nicht zu arbeiten, auch wenn Du unbemittelt bist. Kaufe vielmehr mit Schulden Grundbesitz. Ueberbiete Deine Konkurrenten durch höhere Preise. Und kaufe möglichst viel. Wenn Du dann Glück hast, in eine gute allgemeine Konjunktur hineinzukommen, und wenn Du Deinen Besitz zur rechten Zeit wieder verkaufst, dann wirst Du ein reicher Mann, ohne gearbeitet zu haben!“
An die Stelle der ehrlichen, redlichen stetigen Arbeit treten die Lockungen des Spekulationsgewinnes, der fast immer zweifelhaft ist. Sicher ist zunächst nur eine rasch fortschreitende Belastung des Grundbesitzes mit Schulden aller Art, bei bald steigenden, bald fallenden Grundpreisen je nach dem Wechsel der Konjunktur. All diesen Erscheinungen entspricht die wachsende Herrschaft des Kapitalismus.
ε) Die Börse als
zentrales Organ des Kapitalismus. Wie oft schon hat
man das Wort gehört: „die Börse sei das
Herz des volkswirtschaftlichen Körpers. Hier
strömt das Geld des Volkes
zusammen. Von hier aus wird es durch tausend Kanäle
hinausgetrieben, um auf abermals tausend verschiedenen
Wegen zurückzuströmen und den Kreislauf von
Neuem zu beginnen!“ Jedenfalls ist die Börse
ein zentrales Organ in unserem herrschenden
kapitalistischen Zeitalter. Es ist deshalb ungemein
wichtig, das volkswirtschaftliche Wesen der Börse
richtig zu erkennen.
Zunächst die Frage: Wer ist an der Börse? Die Antwort lautet:
Ein so guter Kenner der Börse wie Georg
Bernhard (Herausgeber des „Plutus“)
hat die „Börse“ als den „Markt
für fungible Werte“ bezeichnet (Handel,
Industrie und Verkehr in Einzeldarstellungen, Band 7: die
Börse, 1907). Jedenfalls sind die
Börseneinrichtungen offensichtlich bemüht, die
Kauf- und Verkaufsverträge und durch die
Maklerbanken sogar die Personen möglichst
gleichartig, tauschfähig, „fungibel“ zu
machen, so dass hier die Ausnutzung jeder Gewinnchance
durch Kauf und Verkauf, wie die schliessliche
gegenseitige Verrechnung einen höchst möglichen
Grad von Erleichterung gefunden haben. Um die Beteiligung
auch der „Aussenseite“ an den
Börsengeschäften tunlichst zu erleichtern und
die Börse selbst recht aufnahmefähig zu machen,
hat die Kreditgewährung an der
Börse eine ganz ausserordentliche Ausdehnung
gewonnen. Die höchst raffinierte, juristische Konstruktion des
Börsenkredits ist von dem kapitalistischen
Erwerbssinn der Jahrtausende ausgearbeitet worden. Und
diese allgemeinen Geschäftsgrundsätze,
„Börsenusancen“ genannt, bestimmen, dass
in Berlin z.B. jeder Mindestkauf
oder Mindestverkauf, über welchen ein
„Schlusschein“ ausgestellt wird, bei
Wertpapieren sich auf 15'000 Mk. oder 1000 Dollars oder
1000 Pfd. Sterling oder 50 Stück, bei Getreide auf
50 Tonnen (bis 1. Januar 1897) bezieht. Die
„Anzahlung“ oder die
„Sicherstellung“, welche dabei gefordert
wird, richtet sich im allgemeinen nach der Verlustgefahr,
mithin nach der Grösse der möglichen
Preisschwankung im ungünstigen Sinne. Sie ist
deshalb in ruhigen Zeiten recht gering und erreicht im
Durchschnitt etwa 2 bis 5
Prozent des
Nominalwertes des respektiven Geschäftsabschlusses.
Die Börsensprache unterscheidet deshalb sehr wohl
zwischen Papieren, welche in „festen
Händen“ sind, und Papieren, welche mit
Hülfe des Kredits im Markte „schwimmen“.
Wo der Kredit in solchem Maasse eine dominierende Rolle
spielt, wird die eigentliche Macht in den Händen
derjenigen Institute ruhen, welche den Kredit
gewähren. Das sind die Grossbanken in weitaus erster
Linie.
Die Kreditbanken an den deutschen Börsen haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr zusammengeschlossen. Riesser, der ehemalige Direktor der Darmstädter Bank, welcher darüber ein sehr interessantes Buch geschrieben, führt darin u.A. folgendes aus:
In den Jahren 1848 bis 1856 sind die fünf
ältesten grossen Aktienbanken, nämlich die
Darmstädter Bank (1853),
Diskontogesellschaft (1851), der
Schaaffhausensche Bankverein (1848), die
Mitteldeutsche Kreditbank (1856) und die
Berliner Handelsgesellschaft (1856) mit
zusammen 157,35 Millionen Mark gegründet worden. Ihr
Aktienkapital war dann im Ganzen 1870
120,4, Ende 1905 auf 603 Millionen Mark erhöht. Die
neuere Entwicklung der Grossbanken datiert seit 1870. Das
Kapital der Deutschen Bank (1870) und der
Dresdener Bank (1872) ist seit ihrer
Gründung bis 1905 von zusammen 24,6 auf 360
Millionen Mark 1906, der Kommerz- und
Diskontobank (1870) und der Nationalbank
für Deutschland (1881) von 35 auf 165
Millionen 1906 angewachsen.
Diese Berliner Grossbanken hatten Niederlassungen, Depositenkassen, Wechselstuben, Kommanditen, ständige Beteiligungen an anderen deutschen Aktienbanken von in Summa
1865 | = | 59, |
1896 | = | 63, |
1900 | = | 99, |
1902 | = | 147, |
1905 | = | 241. |
Neuerdings haben diese Berliner Grossbanken vier Gruppen gebildet, nämlich:
mit einem Aktienkapital und Reserven von zusammen rund 2 Milliarden Mark. „Diesen vier Interessengemeinschaften sind bis Ultimo Dezember 1905: 45 Provinzbanken mit 151 Filialen, 273 Agenturen, 16 Kommanditen, 44 Depositenkassen, 83 kleinere Banken und 16 Interessengemeinschaften innerhalb Deutschland angeschlossen. Dazu gehörten im Auslande bis Anfang 1906: 13 deutsche Ueberseebanken mit etwa 100 Millionen Kapital und etwa 70 Niederlassungen.“
In diesen Ziffern ist jedoch der
ökonomische Machtbereich der
Grossbanken noch lange nicht ausreichend zum Ausdruck
gekommen. Eine im Jahre 1898 ausgeführte
Zusammenstellung aller Aktiengesellschaften, welche mit
der Deutschen Bank in näherer
Geschäftsverbindung standen, ergab als Summe des
Aktienkapitals, der Obligationen und Reserven 2,200
Millionen Mark. Anfang Mai 1907 wurde von hervorragend
sachverständiger Seite diese Syndikatsherrschaft der
Deutschen Bank über deutsches Volksvermögen auf
5 bis 6 Milliarden Mark geschätzt. Der
Vermögenseinfluss der vereinigten Dresdener Bank und
des Schaaffhausen’schen Bankverein soll noch
grösser sein. Rechnen wir bei diesen vier
Grossbankgruppen durchschnittlich nur 5 Milliarden, so
verfügt dieses organisierte Bankkapital heute
über rund 20 Milliarden des deutschen
Volksvermögens. Zu Anfang der 70er Jahre konnte die
Vermögensherrschaft dieser Berliner Grossbanken,
welche den Kern unserer Bankkonzentration ausmachen, kaum
auf 200 Millionen veranschlagt werden. Das bedeutet von
1873 bis 1907 einen Zuwachs des Machtbereichs der
Berliner Grossbanken um das
Hundertfache!
Riesser selbst erklärt, dass damit die Konzentrationsbewegung unserer Grossbanken noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Wir haben also mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen, dass diese rapid wachsende Riesenkapitalmacht in nicht zu ferner Zeit schon in der Hand nur eines Banksyndikates ruht. Dieser so bedenkliche Zusammenschluss der Grossbanken ist indes, wie auch Riesser (S. 192 ff.) ausführt, nicht nur in Deutschland, sondern auch für Amerika, England und Oesterreich heute schon nachweisbar.
In dem Maasse als die Konzentration der Grossbanken
fortgeschritten ist, musste die Rolle der privaten
Bankiers eine andere werden. Ein wesentlicher Teil
der besseren Privatfirmen hat sich als Filialen mit den
Grossbanken verschmolzen. Andere
grössere Privatfirmen haben — nach Georg
Bernhard („Die Börse“, S. 45)
— „der Herrschaft der
Grossbanken über den Börsenhandel in der Weise
Rechnung getragen, dass sie, wenn auch nicht formell, so
doch faktisch direkt im Auftrage der Banken handeln und
von diesen als «Einpeitscher» für
Papiere benutzt werden, die die Banken gern unter ein
anderes Publikum gebracht haben möchten, als das
ist, welches sie selbst dirigieren können.“
Andere Privatbankiers sind in grösserer Zahl in die
Reihen der Makler eingetreten.
Sache der offiziellen Kursmakler ist es bekanntlich, Käufe und Verkäufe zu vermitteln und auf Grund der von ihnen vermittelten Geschäfte zu einer genau fixierten Tageszeit einmal an jedem Börsentage die Kassakurse festzusetzen.
Das Gros der Spekulationsmakler bildet den sogenannten „Markt“. An den für die einzelnen Papiere im Börsenraume bestimmten Plätze stehen diese Makler während der ganzen Börsenzeit und übernehmen auf eigenes Risiko, ohne sich erst nach einer Gegenpartei umzusehen, das Angebot oder die Nachfrage. Hier finden die Aufträge verschiedenster Art rascheste Erledigung. Um auch die Sicherheit der Ausführung zu garantieren, sind Maklerbanken errichtet worden, von denen heute an der Berliner Börse nur noch der „Berliner Maklerverein“ besteht. Die Agenten einer solchen Maklerbank haben meist bei der Bank als Sicherheit ein entsprechendes Kapital zu hinterlegen, welches der Bank gegenüber für den ökonomischen Erfolg ihrer eingegangenen Geschäfte haftet, während die Bank nach aussen den Auftraggebern gegenüber die volle Haftung übernimmt.
Die Kassamakler sind Konkurrenten der offiziellen Makler. Sie vermitteln zu möglichst billigen Sätzen Aufträge in den sogenannten Kassawerten. Sie beanspruchen keinen Börsenkredit.
Endlich haben wir noch die
Vertreter des Nachrichtendienstes an der
Börse zu erwähnen. Unter ihnen finden
sich die tüchtigsten Repräsentanten angesehener
Fachblätter und Tageszeitungen bis herunter zu der
nicht kleinen Zahl der Revolverjournalisten, welche mit
ihrem Blättchen bei kleiner Postauflage das
„Recht auf Annonce“ ausüben und auf
günstige Gelegenheit passen, um im Trüben zu
fischen. Hier ist ferner eine sehr umfassende
Organisation des telegraphischen Nachrichtendienstes. Die
Börse hat nicht nur selbst ein recht hohes Interesse
an Nachrichten aller Art, sie wünscht auch nicht
minder lebhaft, dass die Ereignisse innerhalb der
Börse als Regel der breitesten Oeffentlichkeit
zugänglich gemacht werden, und zwar beides in
tunlichster Beschleunigung. Die Spekulanten
innerhalb der Börse können nur
dann gute Geschäfte machen, wenn eine möglichst
grosse Zahl von Personen ausserhalb der
Börse sich an ihren Spekulationen beteiligen. Diese
„Aussenseite“ anzuregen und ihr Interesse
möglichst lebhaft zu erhalten, ist im wesentlichen
Sache des Börsennachrichtendienstes.
Was tut die Börse?
Die Staaten und
öffentlichen Körperschaften wünschen
neue Anleihen aufzunehmen. Diese
Anleihen sind früher auf dem Wege der Submission
vergeben worden, wobei die günstigste Offerte den
Zuschlag erhielt. Heute hat die moderne Bankorganisation
hier die freie Konkurrenz ganz beseitigt. Es wurden
für bestimmte Werte grosse nationale und
internationale Syndikate gebildet, wie das
Preussenkonsortium, das Russenkonsortium, die
internationalen Bankabmachungen für den Bau der
Bagdadbahn usw. Die Banken setzen in vertraulichen
Sitzungen ihre Uebernahmebedingungen fest, welche
für den Kredit suchenden Staat bindend sind. In
exotischen Ländern war es vor kurzem noch notwendig,
durch besondere Agenten das
Anleihebedürfnis der Staaten anzuregen. Hierbei
wurde mit Bestechungen nicht gespart, deren Betrag auf
die Unkosten der Geldvermittlung übernommen wurde,
also doch zuletzt von dem Schuldner zu tragen waren.
Diese exotischen Anleihen sind deshalb besonders beliebt,
weil sie höhere Provisionen bringen, weil
gleichzeitig für die heimische Industrie grosse
Bestellungen mit vereinbart wurden, die wieder in erster
Linie denjenigen Unternehmungen zugeführt werden
konnten, welche bei den betreffenden Banken angegliedert
waren. Das erhöhte wieder deren Dividenden und
Tantiemen. Ferner war hier die Möglichkeit, zur
Bauausführung (von Eisenbahnen, Kanälen,
Wasserleitungen) besondere Baugesellschaften zu
gründen, deren Anteile in Freundeskreisen
untergebracht wurden und bei einem minimalen Risiko
überreiche Gewinne lieferten, (bis 280 Prozent pro
Jahr!). Heute hat sich auch hier mehr und mehr die
nationale und internationale Konsortialbeteiligung
eingeführt, welche unter Beseitigung der Konkurrenz
der Banken die Gewinne teilt, oder — wie die
Bankpresse es lieber zu nennen pflegt — „das
Risiko verteilt!“
Oder ein bestehendes Privatunternehmen soll in eine Aktiengesellschaft verwandelt oder grosse neue Unternehmungen im In- und Auslande sollen durch vorhandene Industriesyndikate gegründet werden, oder es handelt sich um die Ausgabe neuer Aktien, neuer Obligationen für bestehende Unternehmungen. In all diesen Fällen wird heute durch Spezialagenten oder Spezialbüros die Sache vorbereitet, dann von den Banken beschlossen und die Papiere endlich an die Börse gebracht. Oder im Warenmarkte bestehen Aussichten auf starke Preissteigerungen oder Preissenkungen, welche an der Börse durch eine geschickt verdeckte Ein- oder Verkaufspolitik von langer Hand vorbereitet und dann nach Börsenusancen geschickt durchgeführt sein wollen. Wie werden all diese Geschäfte möglich?
Infolge der fortschreitenden
direkten Angliederung des Volkes an die Grossbanken
— die Deutsche Bank z.B. hatte
Ende 1906: 164'494 Konten gegen 139'451 Ende 1905 —
wird ein stetig wachsender Teil der Emissions- und
Spekulationsgeschäfte im direkten Verkehre der
Banken mit ihrem Kundenkreise erledigt. In diesem Sinne
pflegt man zu sagen, dass jede Grossbank heute eine
„Börse für sich“ sei.
Um auch auf die ausserhalb der angegliederten
Bankkundschaft stehenden Volkskreise einwirken zu
können, bleibt bis auf weiteres der Apparat der
Börse mit seinem weitverzweigten Nachrichtendienst
für die Grossbanken unentbehrlich. Die Börse
aber braucht für die geplante Uebernahme von
Geschäften vor allem Kredit und Stimmungsmache
in der Presse. Sind diese Voraussetzungen
erfüllt, so kann das Börsenspiel beginnen. Die
Kurse steigen. Die Beteiligung des Publikums nimmt rasch
zu. Die leicht verdienten Gewinne werden realisiert. Der
Konsum der Börsenbesucher wächst mit der
Kursbewegung. In günstigen Börsenzeiten ist zum
Frühstücken im Börsenrestaurant kaum ein
Platz zu bekommen, in schlechten Zeiten sind fast alle
Stühle leer. Nun kommt auf einmal aus irgend einem
Wetterwinkel der Erde eine ungünstige Nachricht, die
in den Börsenkursen natürlich sofort Ausdruck
findet. Glauben jetzt viele Spekulanten, durch
Uebertragung ihrer Spekulation auf einen späteren
Monat ihren erhofften Gewinn doch noch einstreichen zu
können, oder hat man Aktien und Wertpapiere
übernommen, auf welche jetzt bestimmte Einzahlungen
gefordert werden, die man nicht aus Eigenem leisten kann,
oder die neuen und alten Industrieunternehmungen haben
ungenügende Betriebsmittel, oder Geld für
Erweiterungsbauten nötig, um noch mehr Aufträge
übernehmen zu können, oder es sollen die aus
den Büchern ermittelten Gewinne an die
Aktionäre ausgeschüttet
werden, um
die günstigen Börsenkurse zu halten, trotzdem
in den Kassen des Unternehmens von diesen Gewinnen nichts
zu sehen ist, oder die sicheren Staatsrenten die bereits
im Kurse wesentlich zurückgegangen, sollen ohne
Verkäufe mit entsprechendem Kursverlust dazu dienen,
noch mehr Geldmittel flüssig zu machen, um mit noch
grösseren Nominalbeträgen sich an dem noch
günstigen Verlaufe der Börsenspekulation
beteiligen zu können u.s.w. In
all diesen und ähnlichen Fällen braucht die
Spekulation Geld, viel Geld.
Und damit helfen die Grossbanken aus. Zur Uebertragung
der spekulativen Engagements dient der
Reportkredit. Um trotz des gesetzlichen
Terminhandelsverbotes ihren Kunden diese Art von
Spekulation zu ermöglichen, kaufen die Banken
für ihre Auftraggeber Kassa-Effekten, für
welche nur ganz geringe Anzahlung zu leisten ist, um so
mehr die Banken diese Effekten als Sicherheit in ihren
Tresors behalten. Deshalb ist nach Georg
Bernhard das Debitorenkonto der Grossbanken
in den letzten Jahren so enorm angeschwollen. Nach
Caesar Straus und dem deutschen
Oekonomist fällt auch dem
Akzeptkredit im heutigen Börsenspiele
eine grössere Rolle zu. Caesar Strauss gebraucht
für Akzeptkredit häufiger den Ausdruck
„Gefälligkeitswechsel“. Was versteht man
unter diesen Bezeichnungen? Den Kunden wird nach
Riesser gestattet, in der Regel einen
drei-Monat-Sichtwechsel auf die Bank zu ziehen. Mit dem
Akzept einer Grossbank versehen, kann dieser Wechsel als
Primawechsel zum Privatdiskont im Markte verwertet
werden, und auch von der Reichsbank werden diese Wechsel
anstandslos angenommen. Ebenso ist seine Verwertung auf
einer vielleicht noch billigeren grossen
Auslandsbörse möglich. Den Erlös dieses
Wechsels zahlt der Kunde bei der Bank dann behufs
Schaffung eines sofortigen Guthabens ein, während er
für deren Akzept erst per Verfalltag
des Wechsels belastet wird. So erhält der Spekulant
zum billigsten Zinsfusse das benötigte
Geld, während die redliche Arbeit im Lande ihren
soliden Produktivkredit um einige Prozente teurer
bezahlen muss.
So ist viel billiges Geld die Seele der
Börsenspekulation und der Kurstreibereien.
Russland und Oesterreich z.B. haben
nach Caesar Straus wiederholt der deutschen
Börse vorübergehend billiges Geld zur
Verfügung gestellt, um im Interesse der
beabsichtigten Konversion oder Neuemission die
Börsenkurse für sich günstig zu
beeinflussen. Für das deutsche Anlage suchende
Publikum waren damit die Kurse entsprechend
ungünstig beeinflusst. Nach einer Untersuchung von
Eberstadt ist durch Spekulation der Kurs der
deutschen Industriepapiere vom 1. Januar 1895 bis zum 1.
April 1900 um 75 bis 100% ihres
Ausgabekurses erhöht worden. Das bedeutet
natürlich entsprechende Börsenspielgewinne.
Diese Gewinne verbreiten ihre Lockungen überall im
Lande. Ueberall erwacht damit das Streben, auch
möglichst rasch und möglichst mühelos
reich zu werden. Das Interesse der Bevölkerung an
dem täglichen Studium des Börsenkurszettels
wächst, das Interesse an der redlichen, stetigen,
produktiven Arbeit geht entsprechend zurück. Die
Beteiligung der „Aussenseite“ nimmt
lawinenartig zu. Die Ansprüche der entfesselten
Spielwut an den Bankkredit nehmen solchen Umfang an, dass
es selbst den Banken bedenklich wird. So klagt der
Geschäftsbericht der Dresdener Bank von 1899:
„Wir haben es für unsere Pflicht gehalten, im
Hinblick auf die Anspannung des Geldmarktes, einem hie
und da (?) in Erscheinung tretenden Uebereifer des
Publikums in Effektenkäufen, namentlich solchen
unter Kreditinanspruchnahme, mit den uns zu Gebote
stehenden Mitteln entgegenzutreten, was uns freilich nur
in beschränktem Maasse gelungen ist!“ Das
alles treibt natürlich mit vollen
Segeln zur „Krisis“, deren Anzeichen nach
Riesser vor allem in Folgendem zu suchen
sind: „Sprunghafte Vergrösserung des
Kreditbedürfnisses, starke, bald völlige
Zurückziehung der Bankguthaben, Verdrängung des
kurzfristigen durch langfristigen Kredit,
überhandnehmende Prolongation fälliger Wechsel,
starke Zunahme weniger guter Sicherheiten,
Inanspruchnahme des Bankakzeptkredits seitens der
Industrie für Dividendenzahlungen, oder zur
erheblichen Vermehrung der stehenden Kapitalien,
fortgesetzte Entnahme von Vorschüssen ohne Angabe
oder mit Verschleierung des Verwendungszweckes, immer
stärkere Verzögerung des rechtzeitigen
Einganges fälliger Zahlungen, Hinaufschnellen der
Rohstoff- und Warenpreise, Uebermass von Gründungen
und Emissionen und massenhafte Einrichtungen von blossen
Hilfsgesellschaften, von Tochter- und
Trustgesellschaften. Dazu gehören noch die allgemein
bekannten Erscheinungen auf dem
Arbeitsmarkte.“ Während der
aufsteigenden Konjunktur werden überall Bauten und
Vergrösserungen ausgeführt. Die Fabriken
können nicht genug Arbeiter heranziehen, um in Tag-
und Nacht-Schichten die immer mehr sich häufenden
Bestellungen auszuführen. Die hohen Gewinne
gestatten der Industrie steigende Löhne zu bezahlen.
Immer mehr Arbeiter werden aus der Landwirtschaft zur
Industrie hinübergelockt. Die Arbeiterstreiks haben
zumeist Erfolg und mehren sich deshalb. Da kommt
über Nacht die Krisis. Der Absatz der Waren stockt.
Viele Fabriken werden geschlossen, die Arbeiter
entlassen. Die Löhne und die Zahl der Streiks gehen
zurück. Die Landwirtschaft kann wieder leichter ihre
Arbeiter finden, während in den Grossstädten
das Heer der „Arbeitslosen“ die
Armenversorgungskassen stürmt und den Organen der
Sicherheitspolizei zur Last fällt.
So hat der fast unbeschränkte Kredit, den die
Leipziger Bank namentlich gewährte, der
Kasseler Trebergesellschaft gestattet,
innerhalb 12 Jahren ihr Kapital von 350'000 Mark auf 20
Millionen Mark zu erhöhen, Dividenden zwischen 10
und 50% zu verteilen, über
21 Millionen Mark zu Unrecht als Dividenden und Tantiemen
auszuschütten und 32 Tochtergesellschaften zu
gründen. Als 1901 der Zusammenbruch erfolgte, waren
bei 177 Millionen Mark Schulden nur 1 bis 2 Millionen
Mark greifbares Vermögen vorhanden, und die
Leipziger Bank an dem Konkurs mit 93 Millionen
Kontokorrentkredit beteiligt. Der Börsenkurs dieser
Treberaktien ist im Herbst 1896 auf 895% hinaufgetrieben und längere Zeit
gehalten worden. So hat die Pommersche
Hypothekenbank im Dezember 1900 ihren
Gläubigern einen Verlust von 29 1⁄2 Millionen Mark, die
Preussische Hypothekenaktienbank noch
grössere Verluste gebracht. So werden bei
rückläufigen Kursbewegungen viele, viele
Millionen im Börsendifferenzspiel verloren, die
Unterschlagungen und Fälschungen aller Art nach sich
ziehen, wie neuerdings wieder der Zusammenbruch der
Marienburger Bank (Westpreussen) gezeigt hat. Kein
geringerer als Rudolf von Jhering hat in
seinem „Zweck im Recht“ (Band I,
S. 223) seine Eindrücke und Beobachtungen aus der
Börsenkrisis von 1873 in die Worte zusammengefasst:
„Die Verheerungen, welche die Aktiengesellschaften
im Privatbesitz angestiftet haben, sind ärger, als
wenn Feuers- und Wassersnot, Misswachs, Erdbeben, Krieg
und feindliche Okkupation sich verschworen hätten,
den nationalen Wohlstand zu ruinieren.“
Unsere Grossbanken sind an der Erhaltung der
Börse, wie sie heute ist, wesentlich interessiert.
Die Börse mit ihrem Nachrichtendienste versteht es
weitaus am besten, die „ahnungslose“
Aussenseite für die Teilnahme an der Spekulation in
Waren und Wertpapieren mobil zu machen. Und trotzdem
diese Aussenseite in jeder Krisis am meisten bluten muss,
sind die trüben Erfahrungen bei der nächsten
Hausse vom Publikum meist wieder
vollständig vergessen. Gerade die allgemeinere
Beteiligung des Publikums, wesentlich erweitert und
gefördert durch Gewährung eines masslosen
Kredits, erleichtert den Grossbanken die Unterbringung
ihrer viel zu grossen Neu-Emissionen und damit die
fortschreitende Umwandlung des Volksvermögens in
Börsenwerte ganz wesentlich. Die fortschreitende
Konzentration der Bankgeschäfte hat den Berliner
Grossbanken etwa eine halbe Million der reichsten Leute
als Kunden angegliedert. Dazu beherrschen diese Institute
den Börsenkredit fast monopolartig. Georg
Bernhard konnte deshalb in seinem kleinen Buche
über die Börse (S. 45) mit gutem Recht
behaupten: „Die Abhängigkeit des gesamten
Börsenhandels von der grossen Bankwelt ist
überhaupt ein ganz besonderes typisches
Charakteristikum des neuesten Entwicklungsstadiums der
Börse“. Hierher gehört auch die
Abhängigkeit des „Berliner
Maklervereins“ von den Grossbanken. Nach
Saling’s Börsenhandbuch 1906 sind
die Berliner Grossbanken im Aufsichtsrat des
„Berliner Maklerverein“, der letzten noch
übrig gebliebenen Berliner Maklerbank. Hier laufen
die spekulativen Engagements, wie sie sich bei den
Spekulationsmaklern im Markte einfinden, zusammen. Die
täglichen Eintragungen in den Büchern des
Maklervereins bieten deshalb jeweils die beste Uebersicht
über die herrschende Lage im freien Markte. Nun
gehört es zu den Pflichten der Grossbanken, als
Aufsichtsräte des Maklervereins, den Inhalt dieser
Bücher und damit den jeweiligen Stand der Marktlage
fortlaufend zu kontrollieren. Auf Grund dieser Kenntnisse
treffen dann die Banken ihre Spekulationsdispositionen
für den nächsten Tag. Es kann deshalb wenig
überraschen, dass es heute den Spekulanten an der
Börse gar nicht möglich ist, gegen die Banken,
namentlich mit einer Baisseoperation im Markte
durchzudringen. Auch in bedenklichen Zeiten bleiben
deshalb
heute die
Börsenkurse ziemlich fest, wie z.B. in den Wintermonaten 1906/7. Die Kleinen,
welche gegen die Oberherrschaft der Grossen anzugehen
versuchten, sind stets hineingefallen.
Bei all dem gehört die Gewährung von Börsenkredit zu den einträglichsten Bankgeschäften. Ist der Börsenkredit billig, so blühen die Spekulationsgewinne aus Kurssteigerungen und Emissionen. Und hat sich die Börsenspekulation erst genügend übernommen und kommt es zu den unausbleiblichen Stockungen, dann ist der Zins für kurzfristige Gelder schon auf 1% pro Tag gestiegen! Deshalb haben die Grossbanken für beliebig grosse Geldsummen stets Verwendung. Neben der fortwährenden Erhöhung des eigenen Aktienkapitals wird namentlich der Aufnahme neuer Depositengelder wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. Besondere Aquisiteure ermitteln die besten Einleger bei den Sparkassen und veranlassen diese, zu den Banken als Depositenkunden über zu gehen. Diese reinen Depositengelder sind nach den Zusammenstellungen des „Deutschen Oekonomist“ bei den dort angeführten deutschen Banken in den letzten vier Jahren um eine weitere Milliarde gewachsen! Von den Banken werden diese Gelder mit 3 bis 3 1⁄2%, selten höher vergütet. Die Banken selbst vereinnahmen von ihren Schuldnern bis 7, 8, 9 % und mehr. Gerade die Zeiten der Krisis bieten für genügend kapitalkräftige Banken häufig die reichsten Gewinne. So haben die Deutsche Bank und die Bergisch-Märkische Bank ihren grössten Aufschwung in der Zeit des wirtschaftlichen Niederganges nach 1900 erlebt.
Wie gross sind nun die Summen, welche in Deutschland von den deutschen Banken der Börsenspekulation auf dem Wege des Kredits zur Verfügung gestellt werden?
Nach den bekannten statistischen
Uebersichten des „Deutschen Oekonomist“ waren
im Jahre 1906 von 143 deutschen Banken, die unter sich in
mehr oder minder enger Geschäftsverbindung stehen,
nach ihren eigenen Geschäftsberichten gewährt
worden:
an Wechselkredit | 2'447'096'000 | Mark |
an Lombardkredit | 1'099'366'000 | " |
an Debitoren und Diverse | 6'073'380'000 | " |
an Akzeptkredit | 1'848'112'000 | " |
Rechnen wir hiervon, nach Schätzungen hervorragender Sachverständiger, aus dem Wechselkredit etwa 1⁄10, aus dem Lombardkredit etwa 1⁄4, aus dem Debitorenkonto die Hälfte und aus dem Akzeptkredit 3⁄8 auf reinen Spekulationskredit und lassen wir die Beträge der Reichsbank, um Doppelzählungen zu vermeiden, ganz ausser Rechnung, so erhalten wir eine Gesamtsumme von
welche im letzten Jahre 1906 im Spekulationskredit für Börsenwerte von den deutschen Banken umgesetzt wurden. Um einen Anhalt zu geben, wie rasch sich diese Konten, welche im Wesentlichen den Spekulationskredit enthalten, in den letzten Jahren entwickelt haben, entnehmen wir dem wiederholt angeführten Buche von Jeidels folgende Angaben, welche für 1906 nach dem „Deutschen Oekonomist“ ergänzt sind:
Das ist durchweg eine Zunahme um mehr als das Zehnfache innerhalb 24 Jahren. Nehmen wir zu Gunsten der Börse an, dass sich der prozentuale Anteil des Kredits für Börsenspekulationen in diesen Konten nicht erhöht habe, wie von sachverständiger Seite übereinstimmend behauptet wird, so verbleibt immer noch eine Erhöhung der Ansprüche des Börsenspekulationskredits an den Geldmarkt um mehr als das Doppelte innerhalb 5 Jahren.
Dieses ungemein rasche Anwachsen des Börsenkredits bei den deutschen Banken muss um so bedenklicher erscheinen, als nach den gleichen Zusammenstellungen des „Deutschen Oekonomist“ die Deckung der Verbindlichkeiten der deutschen Kreditbanken von 72% im Jahre 1898 auf nur 61% im Jahre 1906 und speziell bei den Berliner Grossbanken von 76% im Jahre 1898 auf 63% im Jahre 1906 zurückgegangen ist. Auch die Banken arbeiten eben heute in immer grösserem Umfange mit fremden Geldern.
Schon aus diesem Zusammenhange wird
ersichtlich, dass die Börse mit den Banken heute
nicht nur die Ueberspekulation mit ihrem periodischen
Zusammenbrechen in der Krisis direkt herbei führen,
sondern auch den Zinsfuss in ein
Spekulationsobjekt verwandelt haben, was
zunächst wohl der Pariser Börsenstatistiker
Jaques Siegfried mit Benutzung des
französischen Materials 1899 öffentlich
bewiesen hat. Der zunehmenden Ueberspekulation und
steigenden Ausgabe von neuen Börsenwerten steht die
wachsende Inanspruchnahme des Kredits, namentlich als
Wechsel-, Debitoren- und Akzeptkredit, zur Seite, bis
diese Bewegung ihren Kulminationspunkt in der Krisis
findet. Dann steigt der Zinsfuss in der Regel noch etwas
weiter. Die Neuemissionen gehen wesentlich zurück.
Das Kapital rückt von allen unsicheren Anlagen ab
und findet zunächst in den Kellern der Banken als
tägliches Geld eine um so rentablere Anlage, als
gerade jetzt der Kurs der Staatspapiere zu steigen
pflegt, weil sie jetzt, nach der Krisis, stärker
gekauft werden. Mit den grösseren Barbeständen
der Banken wird der Zinsfuss wieder billiger. Die
wirtschaftliche Lage erholt sich allmählich, bis von
neuem das Börsenspiel mit neuen grösseren
Emissionen, steigendem Zinsfusse, wachsender Spekulation
usw. einsetzt und der Krisis mit steigenden
Zinssätzen zueilt. Der deutschen Börsenkrisis
von 1890/1893 geht eine Zinsfussteigerung der Reichsbank
bis 5 und 5 1⁄2% zur
Seite. Dann verbilligt sich 1894 und
1895 der Wechseldiskont der Reichsbank wieder auf
3%, der Privatdiskont sinkt im
Februar 1895 sogar auf 1,26%!
Die Barmittel der deutschen Banken steigen, die
Emissionstätigkeit setzt von neuem ein, um im
Dezember 1899 abermals zu einer Krisis zu führen mit
einem Wechselzinsfuss der Reichsbank von 7% im Januar 1900.
Dann kam 1902 und 1903 wieder eine Zeit der
„Er
holung“ mit einem
Reichsbankzinsfuss bis 3% und
einem Privatdiskontsatz an der Berliner Börse von
nur 1,59%! (Juli 1902), bis
wieder der Zinssatz mit der Börsenspekulation anzog,
um gegen Schluss des Jahres 1906 mit der Krisis 6 bis
7% und infolge einer
international hinhaltenden Politik der führenden
Banken bis Oktober 1907 sogar 7 1⁄2 und 8 1⁄2% im Reichsbankzinsfuss zu
erreichen. So spielt das Auf und Nieder der
Börsenspekulation seit Anfang der 50er Jahre des
vorigen Jahrhunderts.
Die Börse ist also nicht nur das Institut, welches Marktkurse und Marktpreise festsetzt und den nationalen und internationalen Zahlungsausgleich erleichtert. An der Börse vollzieht sich auch der Prozess der fortschreitenden Umwandlung des Volksvermögens in Börsenwerte. Von der Börse aus finden die Spekulationsinteressen ihre immer allgemeinere Ausbreitung bis in die entferntesten Winkel des Landes. Gleichzeitig knüpfen Banken und Börsen immer neue und immer mehr kapitalistische Beziehungen zum Auslande. Die Börse in erster Linie ist der verantwortliche Träger des ewigen Auf und Nieder, des fortwährenden Wechsels zwischen Ueberspekulation und Krisis mit nachfolgender Erholung. Und in diese Schwankungen reisst die Börse auch die Zinsfussbewegung mit hinein. Aus all diesen Erwägungen werden wir die Börse volkswirtschaftlich definieren: als Zentralorgan der stetig sich ausbreitenden Herrschaft des Kapitalismus.
α)
Citate. Immer zahlreicher werden die Personen,
welche nicht erwerben, um zu leben, sondern leben, um zu
erwerben, oder um mit Jakob Fugger zu reden: „gewinnen wollen, dieweil sie
können“. Diese „Sucht“, zu
erwerben, ist in jedem Falle relativ unbegrenzt. Denn
„Die Begehrlichkeit kennt keine Schranken, nur
Steigerung“, wie schon Seneca gesagt
hat. Auch die private Wirtschaftspolitik jedes
Habsüchtigen hat eine Tendenz zur Weltherrschaft.
Grenzen, welche durch das geltende Recht und die gute
Sitte gezogen sind, werden wenig beachtet, wie durch eine
Reihe von einwandfreien Zeugen bestätigt wird. So
hat schon 1638 der Amsterdamer Kaufherr
Beylandt, als er bei einer Proviantlieferung
an die belagerte feindliche Stadt Antwerpen abgefasst
wurde, erklärt: „Wenn ich, um im Handel zu
gewinnen, durch die Hölle fahren müsste, so
würde ich den Brand meiner Segel dran setzen! Der
Handel muss frei sein und darf durch keine Kriegstaten
unterbrochen werden!“
Von einem ungarischen Finanzminister zu Anfang der 70er Jahre stammt das Wort: „Wer sich schämt, wird nicht reich!“ Schaeffle hat den Ausspruch eines Rothschild uns erhalten: „Es ist nicht möglich, Millionär zu werden, ohne mit dem Aermel das Zuchthaus zu streifen.“ Nach einem amerikanischen Witzblatt gibt der alte Yankee auf dem Sterbebette seinem Sohne eine Lebensregel, welche lautet: „Mache Geld, mein Sohn! wenn Du kannst — auf ehrliche Weise! Aber wenn nicht — — unter allen Umständen mache Geld!“ Der „Kladderadatsch“ brachte vor einigen Jahren die Mitteilung, dass das — bei unseren Grossbanken so beliebte — „sanieren“ ein ausserordentlich unregelmässiges Zeitwort sei, welches wie folgt abgewandelt werde:
„Ich saniere“, |
„Du stiehlst“, |
„Er schwindelt“, |
„Wir begaunern“, |
„Ihr stibitzt“, |
„Sie machen Pleite.“ |
Nach Moritz Jokai ist
heute „die Tasche das empfindlichste Organ der
Menschen.“ Andrew Carnegie behauptet
in seinem Evangelium des Reichtums: „Wie ich sie
kenne, gibt es wenige Millionäre, sogar sehr wenige,
die frei sind von der Sünde, Bettler geschaffen zu
haben.“ Und wer wollte bestreiten, dass Carnegie
die Millionäre kennt?
β) Die Umprägung des Wucherbegriffes. In unserer Zeit, in der nur zu Viele möglichst rasch reich werden wollen, ist man auch allgemeiner geneigt, die schweren Sünden des rücksichtslosen Erwerbs, der über „Leichen“ zum materiellen Erfolg schreitet, leichter zu verzeihen, als das früher üblich war. Selbst die nationalökonomische Wissenschaft ist offensichtlich bestrebt, dieser modernen Entwicklungstendenz tunlichst Rechnung zu tragen. Und unser Recht, mit seiner besonderen Vorliebe für die formale Durchbildung bei sichtlicher Vernachlässigung des materiellen Inhalts der Verträge, begünstigt diese Umprägung der sittlichen Begriffe in hohem Masse. Ein Beispiel:
Aus dem grauen Altertume wird berichtet, dass es einen
phönizischen Zauberer Namens Dardanus
gegeben habe, welcher die schwarze Kunst verstand, die
Früchte auf den Feldern seiner Nachbarn zu verderben
(entwerten) oder in seine Scheune zu zaubern. Seit dieser
Zeit sollen die Getreidewucherer Dardanarii, ihre
Handlungen als das Verbrechen des
„Dardanariat“ bezeichnet und bestraft worden
sein. Die Benutzung falscher Maasse und Gewichte im
Lebensmittelhandel und das Einsperren von Ware zum Zwecke
der Preistreiberei, werden speziell von den Quellen als
übliche Verbrechen der Dardanarii bezeichnet, die
mit sehr hohen Geldstrafen oder auch mit
Vermögenskonfiskation, Landesverweisung oder
lebenslänglicher Zwangsarbeit
geahndet wurden. Aus dem römischen Recht sind diese
Begriffe und Strafen durch Vermittlung der Kirche auch in
die Strafbestimmungen des christlichen Abendlandes
übergegangen. Namentlich die Reichstagsabschiede und
die Reichspolizeiverordnungen des XVI. Jahrhunderts
beschäftigen sich noch wiederholt mit diesem
Dardanariat. Und selbst in dem österreichischen
Strafgesetzbuch von 1803, im preussischen Landrecht, im
code pénal, wie im bayerischen Strafgesetzbuch von
1813 finden sich Anklänge an diese
uralte Rechtsauffassung. Erst die zweite
Hälfte des XIX. Jahrhunderts hat mit der Anerkennung
der Wucherfreiheit und des Egoismus als herrschendes
Motiv aller wirtschaftlichen Handlungen auch die
Dardanarii über Bord geworfen. Was bis dahin durch
Jahrtausende ein Kapitalverbrechen war, war von jetzt ab
eine legale Erwerbsform geworden. Niemand hinderte mehr
die Börsenspieler, heute die Getreidepreise
künstlich ins Masslose zu drücken,
übermorgen dasselbe Getreide durch Einsperren und
„Schwänzen“ ebenso masslos in seinem
Verkehrswerte zu steigern. Mit einer gewissen
begeisterten Liebe folgt die Wissenschaft diesem
„Wellenspiel“ der Preise an den
Terminbörsen und erblickt in den neueren
gesetzlichen Einschränkungen der Börse nur das
Resultat „irregeleiteter
Masseninstinkte.“
Als man aber den Negern in unseren Kolonien die
Baumwollpflanzung gelernt hatte und ihnen dann in dem
einen Jahre sehr hohe, in dem anderen Jahre sehr niedrige
Preise für ihre Baumwolle bot, entsprechend den
Preisnotierungen der grossen internationalen
Baumwollbörsen, da betrachtete der durch keinerlei
Theorie verdorbene gesunde Sinn der Neger diese Art von
Preisbildung als einen ungeheuren Schwindel. Sie gaben
deshalb lieber ihre Baumwollpflanzungen auf. Um diese
wichtige Kultur unseren Kolonien zu erhalten, hat der
börsenerfahrene neue
Kolonialdirektor Dernburg eine Einrichtung
getroffen, welche den Negern einen ganz bestimmten,
festen, mittleren Baumwollpreis Jahr für Jahr
sichert. Damit ist die freie Marktpreisbildung für
die Baumwollpflanzungen unserer Togoneger glücklich
ausgeschaltet. Es gehört heute schon die reiche
Erfahrung eines ehemaligen Bankdirektors dazu, um sich
von der herrschenden wissenschaftlichen Verherrlichung
der Terminbörsen zu emanzipieren. Oder die ganze
frische Unbefangenheit des nordamerikanischen
Präsidenten Roosevelt wie des
nordamerikanischen Professors Brooks Adams
ist nötig, um seine „innere Empörung
gegen die herrschende Deifikation der Börse, des
Kontors und der Fabrik“ uneingeschränkt zum
Ausdruck zu bringen. Oder man muss die gewaltigen
geschäftlichen Erfolge eines Andrew
Carnegie hinter sich haben, um — ohne
Verhöhnung in allen nationalökonomischen
Zeitschriften — sagen zu können: „Es ist
gut für das Land, dass die Börsenspieler zu
Schaden kommen. Ich wünschte, ich könnte ein
Verfahren erfinden, das diese Spieler auf beiden Seiten
zu Schaden kommen lässt. Geldspekulation ist ein
parasitisches Leben von Werten, ohne letztere zu
schaffen. Es ist an der Zeit, dass wir
Geschäftsleute, die etwas schaffen und Geld auf
berechtigte Weise verdienen, diesen Leuten, welche Geld
verdienen und keine Werte dafür liefern, die
Anerkennung versagen.“
Dennoch würden wir der fortschreitenden öffentlichen Meinung unrecht tun mit der Behauptung, sie hätte die Erinnerung an das alte Verbrechen des rücksichtslosen Erwerbs ganz vergessen. Man beurteilt vielmehr heute die gleiche verwerfliche Handlung nach einer ganz bestimmten Voraussetzung ganz verschieden, wie hier an einigen Beispielen illustriert werden möge.
Ogden Armour, der Chef der grossen
nordamerikanischen Firmen Armour Grain Co. und Armour
& Co., der auf dem
Getreidemarkte sich eine lange Reihe höchst
bedenklicher „Manipulationen“ hat zu Schulden
kommen lassen, der in skrupelloser Weise dem Volke der
Nordamerikaner die Zwangsjacke des
Grosschlächterringes hat anlegen helfen, der
über ein Vermögen von ungezählten
Millionen verfügt, scheint es als eine Art Sport zu
betrachten, zur Weihnachtszeit, die dem Frieden unter den
Menschen geweiht ist, seine nordamerikanischen
Mitbürger durch eine Spezialspekulation noch extra
auszuräubern. So hat Ogden Armour zu Weihnachten
einmal die Aepfelvorräte aufgekauft, um dann die
Aepfelpreise zu diktieren. Zu einer anderen
Weihnachtszeit beherrschte er den Markt des
nordamerikanischen Weihnachtsvogels, des Truthahnes, um
dessen Preise um 100% zu
erhöhen usw. Aber — Armour wird immer reicher
und die kapitalistische Presse diesseits wie jenseits des
Ozeans behandelt ihn durchweg mit dem Ausdruck jener
Hochachtung, wie das einer „prima
zahlungsfähigen“ Firma gegenüber Sitte
ist. Im Erntejahre 1897/98 hat der nordamerikanische
Spekulant Josef Leiter den Weizenmarkt per
Herbst, per Dezember und per Frühjahr international
„gekornert“. Das war nur möglich, weil
vorher viele Jahre hindurch der Weizenmarkt der Welt
durch gewissenlose Blankoverkäufe in ganz
ungerechtfertigter Weise zu niedrige Weizenpreise
ertragen musste, die international eine zu starke
Einschränkung des Weizenbaues bewirkten. Dem
beispiellosen Erfolge Leiters im Herbst und Dezember 1897
folgte im Mai 1898 sein Zusammenbruch. Seine Gegner,
unter denen Ogden Armour der Führer war, hatten in
der nordamerikanischen Statistik der sichtbaren
Weizenvorräte ungeheure Fälschungen
fertiggebracht. Es wurden auch bedenkliche Bestechungen
des Leiterschen Personals bekannt. Leiter ist der Sohn
eines sehr reichen Vaters. Alle seine Schulden aus dem
Mai – Weizenspiel wurden
nach und
nach bezahlt. Sein Name blieb ohne Tadel. Ueber die
furchtbaren Schäden, welche die bald zu niedrigen,
bald zu hohen Börsenpreise für Weizen dem
Wohlstande aller Völker zugefügt hatten, und
die im Grunde doch mit so verwerflichen Mitteln
bewerkstelligt wurden, fand man in der kapitalistischen
Presse aller Länder kein Wort der Rüge. Im
Sommer 1901 führte Phillips einen
erfolgreichen Maiscorner an der Börse in Chicago
durch. Sofort verlieh ihm die Presse den Ehrentitel
„Kornkönig“. Im Oktober 1901 versuchte
derselbe Phillips eine Haussebewegung auf dem
Weizenmarkte, die im Januar 1902 zusammengebrochen ist.
Seine Gegner hatten auch hier wieder mit Bestechungen
unter seinem Büropersonal gearbeitet, und die
Fallstricke der Chicagoer Börsenusance geschickt
benutzt. Phillips verlor alles. Er hatte keinen reichen
Vater. Seine Schulden aus dem Börsenspiele wurden
nicht voll gedeckt. Und nun hiess es in der
kapitalistischen Presse: „So ein Lump! So ein
elender Spekulant! So ein verworfenes Subjekt!“
usw. Vor einigen Jahrzehnten begann ein junger Mann seine
kaufmännische Laufbahn in einer grossen Handelsstadt
Mitteleuropas damit, dass er mit der Portokasse eines
grösseren Geschäfts, in dem er in der Lehre
war, plötzlich verschwunden ist. Inzwischen wurde
das ein sehr reicher Mann, der längst geadelt ist
und die Ehre geniesst, finanzieller Berater eines
mächtigen regierenden Königs in Europa zu
sein.
Der doppelte Boden dieses modernen Wucherbegriffes ist
leicht erkennbar. Nur jene Wuchergeschäfte, welche
mit einem ökonomischen Misserfolg enden, sind ein
Verbrechen. Jedes erfolgreiche
„Geschäft“ aber verdient keinen Tadel.
Die Ehre eines Mannes ist nicht mehr mit seinen
Handlungen und seinem Charakter, sondern mit seiner
wohlgefüllten Geldbörse, mit seiner
„Zahlungsfähigkeit“ identisch.
„Arm sein“ ist ein Verbrechen, weit schlimmer
als alle Rechtsverletzungen der Habgier. Der Reichtum
aber deckt alle Sünden zu. Gewiss ist diese rein
materialistische Moral noch nicht zur allgemeinen
Herrschaft gekommen. Ueberall sind noch weite Kreise
davon frei. Aber es ist betrübend, zu sehen, mit
welcher Raschheit die alten Begriffe von Recht und
Unrecht durch den „Goldkrebs“ zerfressen
werden.
γ) Der Kapitalismus und
seine systematischen Bestechungskünste. Das
Aufkommen bedenklicher sittlicher Anschauungen
„jenseits von gut und bös“, aber
„diesseits von reich und arm“ hat
natürlich seine ganz bestimmten materiellen
Gründe. Seitdem die „Aktie“ als
schneidigste Waffe im Dienste der sich ausbreitenden
Herrschaft des Kapitalismus in der Geschichte der
modernen Kulturvölker Eingang gefunden, datiert auch
die Geschichte der Bestechungskünste aller Art. Man
hat in Frankreich Schulden der Krone gezahlt und dem
König an jedem Morgen zum Frühstück 1000
Livres überreicht. In Deutschland, dessen
Beamtenstand als Muster von Ehrlichkeit und
Unbestechlichkeit gelten kann, haben bald nach Beginn der
Erteilung von Eisenbahnkonzessionen demoralisierende
Bestechungen stattgefunden. Die bayerische Ostbahn
z.B. hat dem damals
berühmtesten bayerischen Nationalökonomen und
Universitätsprofessor eine „Beteiligung von
einigen hunderttausend Gulden
„«geschenkt»“.
Vor der Gründung der österreichischen
Kreditanstalt erhielt jede grössere
Zeitungsredaktion eine Beteiligung von 500 Aktien, wobei
es den Herren Redakteuren vielfach freigestellt wurde,
die Aktie oder bis zu einem bestimmten Termin 15% Prämie davon zu nehmen. Als im
Herbst 1888 die Emission der Aktien der „Assurance
Financière“
vorbereitet wurde, hat man für Publikationsspesen in
den Zeitungen Frankreichs 2'850'000 Frcs. zur
Verfügung gestellt. Der „Credit-Foncier“
hat 2 Millionen Franken verteilt, um das Schweigen oder
das Lob der Zeitungen zu erwerben. Der L’Economiste
Français schätzte, dass während des
Panamaschwindels mehrere Dutzend Millionen an die Presse
verteilt worden sind. Die Enthüllungen der deutschen
Börsen-Enquête-Kommission
über bedenkliche Erscheinungen innerhalb
der deutschen Presse haben
inzwischen durch den Pommernbankprozess
(Juli 1903) weitere Ergänzungen erfahren.
Die Direktoren der Pommernbank hatten dem „Berliner Presse-Klub“ 25'000 Mark als „unverzinsliches Darlehn auf unbestimmte Zeit“ gegeben, um „mit den Vertretern der Presse eine gewisse Fühlung zu erhalten.“ Weiter wurden aus den „sekreten Ausgaben“ dieser Bank gerichtlich festgestellt, dass an Redakteur S. 1000 Mark, Quartalssummen für Dr. W. = 3000 Mark; Dr. O. 3000 Mark, Prof. M. = 2000 Mark; Dr. Oc. = 4000 Mark usw. bezahlt wurden. Das sollen Honorare für „Privatarbeiten“ gewesen sein. Aber warum gehören denn diese Summen zu den „geheimen“ Ausgaben? — Gewiss trifft dieses grobe Verderbnis nur einen Bruchteil der Berliner Zeitungsschreiber. Aber sie bleibt trotzdem ein höchst bedenkliches Zeichen der Zeit.
Heute scheint die kapitalistische Welt es
vorteilhafter zu finden, neben grossen
Annoncenaufträgen an die Presse die angesehensten
Zeitungen aufzukaufen oder doch finanziell zu
beherrschen. Dazu kommen grosse kapitalistische
Monopolgesellschaften der Verlagsanstalten, Monopole im
Zeitungsnachrichtendienst, in der Herstellung von
Unterhaltungsbeilagen für kleinere
Provinzblätter usw. In Nordamerika haben einzelne
Grosskapitalisten Universitäten gegründet, an
denen die Theorien des kapitalistischen Erwerbs als Nationalökonomie
vorgetragen werden. In Europa ist die Vorliebe der
Universitätsprofessoren für die Börse und
für die Grossbanken in der Mehrheit ganz
unverkennbar. Und das schon vor Jahrzehnten literarisch
behandelte Thema: „Der Kapitalismus in der
Gelehrtenwelt“ würde einer neuerlichen
Behandlung ungleich reicheren Stoff bieten.
In England war es nach der „Kreuzzeitung“ vom 28. Dezember 1900 bis vor kurzem Sitte, dass der reich gewordene Spekulant den Damen der Gesellschaft Geld beim Hazardspiel borgte und dann die Anleihe vergass, oder dass er für diese Damen auf Rennpferde wettete, bis ein hoher Gewinn herauskam, oder man „arrangierte“ die Schulden eines verkrachten Verwandten oder Liebhabers usw. Durch Baron Hirsch aber sei in England die „Mode“ aufgekommen, einer jeden Dame, je nach ihrem Einfluss und ihrer sozialen Stellung, von der Herzogin bis zur einfachen „Miss“ 20'000 bis 1000 Mark in neuen englischen Banknoten in die Serviette an der Festtafel zu legen. So verschafft das Geld sich Eintritt in die höheren Gesellschaftskreise und Einfluss auf die öffentliche Meinung. Wie selten fragt man dabei, auf welche Weise es erworben wurde?
Vor einiger Zeit hat die Presse als ein
ausserordentliches Ereignis die Nachricht verbreitet: ein
amtlicher nordamerikanischer Statistiker habe infolge von
Bestechungen durch Spekulanten unrichtige Ziffern der
Erntestatistik veröffentlicht. Wer schon
längere Zeit sich mit dieser Spezialstatistik
praktisch beschäftigt hat, weiss, dass solche
Fälle keineswegs selten vorkommen. Viele dieser
Beamten der Marktstatistik sind
verhältnismässig so schlecht besoldet, dass die
Nordamerikaner schon darin die Notwendigkeit erblicken,
für Bestechungen zugänglich zu bleiben. Es
betrifft nur eine andere Seite dieser, für unsere Zeit so charakteristischen
Erscheinungen, wenn die „New-Yorker
Handelszeitung“ vom 23. Februar 1907 berichtet,
dass im Jahre 1906 die Beamten der grösseren
Organisationen sich Unterschlagungen in Höhe von
79,31 Millionen Mark gegen nur 53,02 Millionen Mark im
Jahre 1905 haben zu schulden kommen lassen. Der weitaus
grösste Teil davon entfällt auf
Beamtenveruntreuungen bei den Banken und
Trustgesellschaften. Natürlich können diese
Ziffern noch in keiner Weise den Anspruch auf
Vollständigkeit erheben. Welche Rolle heute das Geld
bei den politischen Wahlen spielt, darüber gibt ein
englisches Blaubuch für die letzten Wahlen in
England folgende Auskunft: „Die Gesamtausgaben der
Kandidaten betrugen 23'377'160 Mark. Im einzelnen
kosteten die Drucksachen 8'365'920 Mark, die
öffentlichen Versammluugen 603'140 Mark, die
persönlichen Ausgaben erreichten 1'281'080 Mark,
Angestellte und Boten kosteten 2'583'040 Mark, Wahlbeamte
4'126'480 Mark usw. Die Ausgaben für jede abgegebene
Stimme betrugen ungefähr 4 Mark für Irland,
4,25 Mark für England, 4,50 Mark für
Schottland. Noch gewaltigere Summen werden bei den Wahlen
in Nordamerika umgesetzt. Aber auch aus den deutschen
Wahlen sind Fälle bekannt geworden, in denen der
Baraufwand eines Kandidaten zum Reichstage 100'000 Mark
wesentlich überschritten hat.
δ) Moderne Grossunternehmungen als gross angelegte Raubzüge. Je mehr der allmächtige Dollar zur Herrschaft kommt, desto unverhüllter entfalten sich moderne Riesenunternehmungen als gross angelegte, täglich sich erneuernde Raubzüge auf die Taschen der Mitmenschen. Als typisches Unternehmen dieser Art soll hier die Entwicklung des nordamerikanischen Grossschlächterringes nach einer Reichstagsrede des Dr. G. Roesicke skizziert werden.
Zu Anfang des Jahres 1876 gab es in
den Vereinigten Staaten von Nordamerika noch 30 bis
40'000 selbständige Schlächtermeister. Die
Technik hatte bereits die Konstruktion von
künstlichen Gefrieranlagen und von Kühlwagen
für Eisenbahnen erfunden, wodurch die Versendung von
frischem Fleisch über Land auf beliebige
Entfernungen möglich wurde. Aber die
ökonomische Vernichtung der selbständigen
Schlächtermeister hat erst begonnen, als eine sehr
kapitalkräftige Firma, auf Grund ihres Besitzes von
nordamerikanischen Eisenbahnaktien, einen bestimmenden
Einfluss auf die Eisenbahntarife auszuüben wusste.
Von dieser Zeit ab wurde frisches Fleisch in
Eisenbahnwagen mit Kühlvorrichtungen ganz wesentlich
billiger verfrachtet, als lebendes Vieh. Auf Grund dieser
Bevorzugung waren die Grosschlächter den
selbständigen Schlächtermeistern entsprechend
überlegen und die Mitglieder des
Schlächtergewerbes standen jetzt vor der
Alternative: entweder den Fleischverkauf für die
grossen Schlachthäuser kommissionsweise zu
übernehmen, oder durch deren
Halsabschneiderkonkurrenz sich ruinieren zu lassen. Die
kurzsichtigen Konsumenten liefen in einem jeden solchen
Konkurrenzfalle dem billigeren Fleische nach und halfen
so kräftig mit, das Mittelstandsgewerbe zu
beseitigen und die Alleinherrschaft der 7
Grosschlächtereien zu begründen. Binnen wenigen
Jahren war dieser Umwandlungsprozess zum Abschluss
gekommen. Nun ging die Politik des Grosschlächterringes
daran, die
nordamerikanischen Farmer zu zwingen, die Mastwirtschaft
ganz überwiegend aus dem Osten nach dem Westen der
Union zu verlegen, damit das Fleisch zumeist als
geschlachtete Ware in den Kühlwagen des
Schlächterringes und nicht als lebendes Vieh vom
Westen nach dem Osten sich bewege. Das bereits vorher
erworbene Monopol der Viehmärkte hat dem
Schlächterring in der Tat gestattet, diese gewaltige
Ver
schiebung in den landwirtschaftlichen
Produktionsverhältnissen etwa bis Ende der 80er
Jahre durchzuführen. Von nun an aber wurde den
landwirtschaftlichen Farmern kein höherer
Mastviehpreis bewilligt, als zur Erlangung der
gewünschten Mengen von Masttieren nötig war,
den Konsumenten aber wurden so hohe Fleischpreise
aufgebürdet, als sie tragen konnten. Die Differenz
zwischen dem Einkaufspreis der Masttiere und dem
Verkaufspreis des ausgeschlachteten Fleisches wurde
dadurch geschickt verdeckt, dass für den Konsum acht
verschiedene Fleischqualitäten unterschieden wurden,
welche um das Fünffache im Preise differierten. Der
Grosschlächterring hatte indessen auf diesem Wege
nicht nur das Ankaufsmonopol der schlachtreifen Tiere der
nordamerikanischen Farmer und das Monopol der
Fleischversorgung für die Bevölkerung der Union
erworben. Er wusste gleichzeitig durch eine raffinierte
Ausnutzung aller Nebenprodukte noch eine ganze Reihe von
Monopolen in der Erzeugung von Massenprodukten für
das Volk zu gewinnen. Die Klauen wurden zu Leim, die
Hörner zu Kämmen und Knöpfen, die Felle zu
Leder, die Knochen zu Dünger, die Haare zu Kissen
verarbeitet. Dazu kommt noch die Herstellung von
Schweineschmalz, Margarine und Seife. Welche Fülle
von Gelegenheiten, das nordamerikanische Volk unter
Ausschluss jeglicher Konkurrenz tributpflichtig zu
machen! Endlich ist erst dieser so organisierte
Grosschlächterring mit Erfolg bemüht gewesen,
einen Teil des wachsenden Fleischbedarfs auch der
europäischen Völker aus
Nordamerika zu decken und das kurzsichtige
Konsumenteninteresse in Europa ist auch bei diesem
Eindringen der grosskapitalistischen Interessen wieder
zur Unterstützung stets bereit gewesen.
Die Vereinigung einer solchen Machtfülle in einer
Hand liess natürlich nicht lange auf grobe
Missbräuche warten.
Verdorbenes und unverkäufliches Büchsenfleisch
wurde von diesen Riesenschlachthäusern im
spanisch-amerikanischen Kriege an die amerikanische
Armee- und Marineverwaltung verkauft und diesem Fleische
fielen mehr nordamerikanische Soldaten zum Opfer als den
Geschossen der Feinde. Durch die Enthüllungen
Sinklairs, deren Richtigkeit amtliche
Erhebungen bestätigt haben, wurde in breiterer
Oeffentlichkeit bekannt, welch’ bedenkliche
Praktiken diese Schlachthäuser bis dahin durch hohe
Schweigegelder zu verheimlichen wussten. Neu geborene
Kälber, unterwegs erkrankte und verendete Tiere
fanden als Büchsenfleisch oder Wurst Verwendung. Zur
Konservierung des Fleisches kamen solch’ scharfe
Chemikalien zur Anwendung, dass die Stiefel
der Arbeiter davon zerfressen wurden.
Dem Magen der Konsumenten aber soll das nichts schaden.
Aus sumpfigen Resten und Abfällen in den
Schlächtereien wurde Schmalz gewonnen. Selbst bei
Unfällen abgehackte Glieder der Arbeiter, vergiftete
Ratten u. dergl. wanderten ins Büchsenfleisch oder
in die Wurstmaschine. Der angelsächsische Arbeiter
ist längst aus diesen Schlachthäusern
verschwunden. Auch der Deutsche und selbst der
Irländer sind hier nicht mehr zu finden. Neu
eingewanderte Polen und Littauer sind für solche
Arbeit noch zu haben. Das Amt eines Fleischbeschauers
kommt in Nordamerika hauptsächlich als
Entschädigung für politische Handlangerdienste
zur Verleihung und kann deshalb unmöglich gegen die
Interessen von Parteifreunden richtig funktionieren.
Solch schamlose Geschäftspraktiken gehören in der Union keineswegs zu den Seltenheiten. Henry Demarest Lloyd hat in seinem Buche „Wealth against Commonwealth“ (1894) eine lange Reihe ähnlicher Fälle aus den nordamerikanischen Trustgesellschaften aktenmässig nachgewiesen. Hier sollen davon nur drei Beispiele dieser Art angeführt werden.
Im Februar 1888 waren alle
grösseren Brennereien der Nordstaaten dem
Whisky-Trust beigetreten. Nur zwei grössere
Unternehmungen hatten ihre Unabhängigkeit bewahrt.
Auf einer Versammlung der Trustees Ende Februar 1888
wurde erwogen, wie diesen unbequemen Konkurrenten
beizukommen wäre. Im April hat man in einer dieser
Fabriken den Versuch gemacht, durch ausserordentliche
Belastung eines Ventils eine Explosion
herbeizuführen. Im Mai gab der betreffende
Fabrikbesitzer bekannt, dass ihm der Whisky-Ring einen
Kaufpreis von 1 Million Dollars geboten habe, den er
nicht akzeptierte. Im Dezember des gleichen Jahres flog
die gleiche Fabrik in die Luft. Eine gerichtliche
Untersuchung wurde nicht eingeleitet.
Am 11. Februar 1891 wurde ein Sekretär des Whisky-Trusts verhaftet, weil er einen staatlichen Aichmeister bestochen hatte, um eine unabhängige Spiritusfabrik mit einer Höllenmaschine in die Luft zu sprengen. Die polizeiliche Untersuchung ergab, dass der Aichmeister nach einem Anzünden der Lunte die Zeit nicht gefunden haben würde, sich zu retten. Am 15. Februar wurde von einer Versammlung der Trustmitglieder einstimmig beschlossen, für den verhafteten Sekretär Partei zu nehmen. Am 8. Juni hob der Staatsgerichtshof die Anklage des Lokalgerichts auf. Am 24. Juni wurde der Sekretär freigelassen, weil der Staatsanwalt nicht genügendes Beweismaterial beibringen konnte, und der Aichmeister als Zeuge nicht zu finden war.
In Nordamerika ist das staatliche Petroleuminspektorat
eingeführt, das über den Grad der Reinigung des
Petroleums zu wachen hat. Kontrollierte
Petroleumfässer werden mit einer Brandmarke
versehen. Ungeprüftes und deshalb vielleicht
für den Konsum gefährliches Petroleum soll
nicht in den Handel kommen. Im Jahre 1890 erstattete der
Petroleumoberinspektor von Iowa amtliche
Anzeige, dass verschiedene Inspektoren dem Petroleumring
ihre staatlichen Stempel zur freien Benutzung
überlassen hätten. Seitens des Gouveneurs fand
keine Untersuchung statt, wohl aber wurde der betreffende
Oberinspektor seines Amtes enthoben. 1891 kam dieselbe
Anklage vor den Senat und zwar in Minnesota. In dem
darüber erstatteten Kommissionsbericht heisst es
wörtlich: „Nachdem die Petroleuminspektoren
mit dem Petroleumring ein Abkommen über die ihnen zu
zahlende Belohnung getroffen hatten, schienen sie ihre
Pflichten in die Worte zusammenzufassen:
„«Wir haben keine Verpflichtung gegen den
Staat Minnesota, die Standard-Oil-Company
hat uns bezahlt»“. Der
staatliche Petroleuminspektor erhielt nämlich sein
Gehalt nicht vom Staate, sondern als eine Art Gebühr
vom Petroleumring bezahlt.
ε) Das Einkommen des
Einzelnen stuft sich heute ab nach seiner Teilnahme am
kapitalistischen Erwerb. Es ist oben festgestellt
worden, dass in dem kurzen Zeitraume von etwa 50 Jahren
rund die Hälfte des deutschen Volksvermögens in
Börsenwerte verwandelt wurde und die
Vermögensherrschaft der acht Berliner Grossbanken
seit 1870/73 bis heute etwa um das Hundertfache gewachsen
ist. In anderen Ländern mag der fortschreitende Sieg
des Kapitalismus noch grössere Erfolge verzeichnen.
Klar und bestimmt strebt der Kapitalismus der
Weltherrschaft zu. Es ist deshalb ganz natürlich,
dass jene Personen, welche in der kapitalistischen
Entwicklung an leitender Stelle stehen, das weitaus
grösste Einkommen beziehen. Das Einkommen der
Beamten zeitgemäss weiter zu entwickeln, ist fast
vergessen worden. Das Einkommen der unter der kapitalistischen Entwicklung
leidenden Bevölkerungskreise, wie der Landwirte, der
Gewerbetreibenden, ist in den letzten Jahrzehnten sogar
zurückgegangen.
Der Vater und Erfinder der modernen
grosskapitalistischen Produktionsmonopole, John D.
Rockefeller, welcher vor etwa 50 Jahren als
Farmarbeiter seine geschäftliche Laufbahn begonnen
hat, erzielte nach amtlichen Ermittlungen aus seinen
Petroleumquellen von 1899 bis 1906 im Durchschnitt
pro Jahr ein Einkommen von 42 1⁄2 Millionen Mark. Das
Einkommen Rockefellers aus anderen
Erwerbsquellen, wie insbesondere aus seiner
Beteiligung an dem Stahltrust, an nordamerikanischen
Eisenbahnen, Grundstücksspekulationen u.s.w. ist weniger bekannt, darf aber nach dem
Urteil von Sachverständigen nicht viel niedriger
geschätzt werden. Das Jahreseinkommen dieses
typischen modernen Grosskapitalisten, der mit
nichts angefangen hat, wird mithin heute auf rund
70 bis 80 Millionen Mark veranschlagt werden
können. Nach einer Enquete über den Standard
Oil Trust im Jahre 1906 verdiente
Rockefeller seit Gründung dieses Trusts
610 Millionen Mark. Das ursprüngliche Kapital dieser
Gesellschaft war 319 Millionen Mark. Der darauf erzielte
Gewinn betrug von 1882 bis 1894 nur etwa 15%. Im Jahre 1903 stieg er auf 83% und von 1903 bis 1905 hielt er sich auf
der durchschnittlichen Höhe von 69%. Bei den Angestellten der
grosskapitalistischen Organisationen geht das Gehalt
entsprechend zurück. So erhält — nach dem
„Petit Parisien“ (Januar 1905) — der
Direktor der Nordamerikanischen Bank
Morgan & Co. jährlich ein Gehalt
von 1 Million Mark. Damit konnte sich nur
noch der verstorbene Cecil Rhodes
vergleichen, welcher als Direktor der
consolidated Goldfields jährlich 1'400'000 Mark
bezogen haben soll. Der Sekretär des
Petroleumringes erhält jährlich 800'000
Mark. Der
Präsident der bedeutendsten
amerikanischen Lebensversicherungsgesellschaft
vereinnahmt als Vergütung jährlich
600'000 Mark. Nach einer jüngst (1907)
bekannt gewordenen Petition des Berliner Magistrats an
den preussischen Minister des Innern hatten drei
Direktoren der Deutschen Bank und ein Direktor der
Diskontogesellschaft ein staatssteuerpflichtiges
Einkommen von je 450'000 Mark, während
auf 19 Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank, der
Diskontogesellschaft, der Dresdener Bank, der Bank
für Handel und Industrie, der Nationalbank für
Deutschland, der Mitteldeutschen Kreditbank und des
Schaaffhausenschen Bankvereins zusammen, ein
staatssteuerpflichtiges Einkommen von rund 3'500'000
Mark, also auf je einen dieser Herren rund 185'000 Mark
entfielen. Der erste Chemiker des
nordamerikanischen Zuckersyndikats bezieht 200'000 Mark.
Das übliche Direktorialgehalt der grossen deutschen
Syndikate beträgt bekanntlich 100'000 Mark. Nur
ebenso gross ist das Gehalt des deutschen
Reichskanzlers. Das Ministergehalt in
Preussen beträgt heute 36'000 bis 50'000 Mark
und sinkt in Süddeutschland auf 12'000
Mark. Landgerichtsräte und
Amtsrichter erhalten in
Preussen 3000 bis 6600 Mark und müssen
sich in Süddeutschland mit einem
Anfangsgehalt von 2280 bis 4080 Mark begnügen. Der
Unterleutnant hat 1290 bis 1578 Mark. Der
Lehrer am Gymnasium in Preussen 2700 bis
5100 Mark, der Elementarlehrer in Berlin
1800 bis 3600 Mark. Die Erhebung des preussischen
statistischen Landesamtes von 1902 ermittelte für
die preussischen landwirtschaftlichen
Grundbesitzer, dass noch nicht
1⁄15 | ein | Jahreseikommen | von | über 3000 Mark, |
9⁄15 (3⁄5) | " | " | " | 900 bis 3000 Mark, |
5⁄15 (1⁄3) | " | " | " | 900 Mark und weniger |
haben,
wobei der Grossgrundbesitz mit rund 3⁄10 in der Einkommengruppe von 900
bis 3000 Mark vertreten ist. Die Einkommenziffern der
Gewerbetreibenden dürften sich kaum günstiger
gestalten.
Im Gegensatze hierzu sind in der Industrie Löhne für erwachsene männliche Arbeiter bei 9 bis 10stündigem Arbeitstage pro Jahr in der Höhe von 900 Mark, heute als Minimallöhne zu bezeichnen. In den Kruppschen Werken betrug der Durchschnittslohn sämtlicher Arbeiter:
1880 | : | 3,19 | Mark | pro | Tag |
1890 | : | 3,95 | " | " | " |
1900 | : | 4,78 | " | " | " |
1906 | : | 5,35 | " | " | " |
also bei 300 Arbeitstagen ein Jahresgehalt von 1605 Mark. Dabei erhöhte sich die Zahl der ständig beschäftigten Arbeiter in den Kruppschen Werken von rund 30'000 auf über 60'000 Mann. Das Jahreseinkommen der Roll- und Müllkutscher in Berlin ist von 1896 bis 1906 von 936 auf 1560 bezw. 2054 Mark gestiegen. Der durchschnittliche Jahreslohn sämtlicher preussischer Bergarbeiter war nach Calwer (Wirtschaftsjahr 1906, erster Teil): 1895 848 Mark, 1900 1138 Mark, 1906 1211 Mark. Vorarbeiter erhalten Jahresgehälter von 3000 bis 5000 Mark und mehr. Kunstschlosser erhalten bei achtstündigem Arbeitstage bis 6000 Mark pro Jahr. Beim Stahlkönig Carnegie steigt das Jahreseinkommen der Arbeiter, welche Erfindungen oder Verbesserungen gemacht haben, wie z.B. bei A. J. Dey, dem jetzigen Chef der Montagewerkstätten des Stahltrusts, bis auf 80'000 Mark.
Nach einem detaillierten Nachweis der
„Kreuzzeitung“ vom 10. Juli 1904, wird der
unbemittelte Leutnant, auch wenn er die
„Königszulage“ von 20 Mark monatlich
erhält, trotz denkbar sparsamster Wirtschaft, schon
nach Ablauf des ersten Monats seiner Dienstzeit vor die
Alternative gestellt: entweder seinen Abschied zu nehmen
oder Schulden zu machen. Nach einer Bemerkung des
Kammerherrn von Oldenburg im Reichstage (24.
April 1907) fehlen heute in der preussischen Armee 700
Offiziere. Rechnen wir die unbesetzten Offizierstellen in
den süddeutschen Kontingenten hinzu, so ergibt das
heute für das deutsche Heer ein Unbesetztsein von
1070 Offiziersstellen. In den Beamtenkreisen macht sich
deutlich das Streben bemerkbar, aus dem Staatsdienst in
den weit höher besoldeten grosskapitalistischen
Privatdienst überzutreten. Nach einer nicht einmal
vollständigen Zählung der „Deutschen
Tageszeitung“ vom 14. August 1905 sind in den
letzten Jahren fünfzehn höhere Reichs- und
Preussische Staatsbeamte in den Dienst der Syndikate und
Banken übernommen worden. Nicht minder gross ist die
Flucht aus dem Staatsdienst in den süddeutschen
Ländern. Die Beamten und Offiziere, welche im
Staatsdienste bleiben, sind vor allem auf eine reiche
Heirat angewiesen. Selbst in unserer Diplomatie nehmen
die reichen ausländischen Frauen zu. Wo dann die so
reich gewordenen Offiziere und Beamten mit ihren
ärmeren Kollegen und Kameraden zusammentreffen,
wird, namentlich draussen auf dem Lande, das rechte
Zusammenarbeiten ungemein erschwert. Wer aber keinen
höheren Treffer in der Heiratslotterie gezogen hat,
fällt bei den ungeheuer gewachsenen
gesellschaftlichen Ansprüchen entweder als Opfer des
Mammonismus oder stirbt, selbst bei einer äusserlich
glänzenden Laufbahn, in bescheidenen
ökonomischen Verhältnissen, welche die Kinder
gegen Not nicht sichert.
Immerhin ist durch die moderne kapitalistische Entwicklung der Geldbetrag des Einkommens der Beamten und Offiziere wenigstens nicht direkt herabgesetzt worden, wie das für das Einkommen der Landwirte und Gewerbetreibenden im allgemeinen der Fall ist. So erscheint diesen Kreisen bei der wachsenden Unsicherheit ihrer materiellen Lage das Aufrücken in die zwar schlecht bezahlte aber doch gesicherte Position des Beamten als ein höchst erstrebenswertes Ziel. Das klassische Land dieser allgemeineren Bewegung nach der Beamtenposition scheint das Land der kleinen Rentner „Frankreich“ zu sein. Nach Jules Méline „Rückkehr zur Scholle“ (1906) haben sich bei der Seine-Präfektur für 400 offene Stellen als Chausseeaufseher, Büroschreiber, Schuldiener etc. 50'000 Bewerber eingefunden. Der häufige Wechsel im französischen Ministerium und das parlamentarische System begünstigen die Belohnung politischer Wahldienste durch Staatsanstellung. So ist die Zahl der Staatsbeamten Frankreichs von 283'000 im Jahre 1876 auf 603'566 im Jahre 1907 gestiegen. Auf 100 französische Gewerbesteuerzahler kamen 1868 : 18, 1907 : 33 Staatsbeamte. Die von der französischen Staatskasse gezahlten Beamtengehälter sind von 279 Millionen Franken 1876 auf 800 Millionen 1907 angewachsen. In Deutschland nimmt bekanntlich die allgemeinere Bewegung nach der Beamtenposition und den liberalen Berufen die Form der Ueberfüllung der Mittel- und Hochschulen an. Statistisch ist nachgewiesen, dass die Studierenden aus Subaltern- und Handwerkerkreisen in Halle a.S. in hundert Jahren von 31 auf 42% der Gesamtzahl der Universitätsbesucher angewachsen ist.
Die besonders charakteristische Bevölkerungsbewegung im Zeitalter des Kapitalismus ist:
Nach dem „Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich“ (1907) gehörten, nach den letzten Berufszählungen, von 100 Erwerbstätigen zur
Länder: | Land- u. Forst- wirt- schaft. |
In- dustrie u. Berg- bau. |
Hand. u. Verk. |
Armee u. Marin. |
Oefftl. Dienst u. freie Ber. |
Häusl. Dienst- boten |
Sonst. Er- werbs- tätige. |
Deutschland | 37,5 | 37,4 | 10,6 | 2,8 | 3,6 | 6,1 | 2,0 |
Oesterreich | 58,2 | 22,3 | 7,3 | 12,2 | — | — | — |
Ungarn | 68,6 | 13,4 | 4,1 | 1,5 | 2,4 | 4,4 | 5,6 |
Russland | 58,3 | 17,9 | 7,1 | 3,6 | 3,8 | 5,2 | 4,1 |
Italien | 59,4 | 24,5 | 7,4 | 1,2 | 3,9 | 3,0 | 0,6 |
Schweiz | 30,9 | 44,9 | 13,0 | 0,2 | 4,5 | 5,5 | 1,0 |
Frankreich | 41,8 | 35,5 | 9,5 | 3,0 | 5,2 | 4,9 | 0,1 |
Belgien | 21,1 | 41,6 | 11,7 | 1,0 | 24,6 | — | — |
Niederlande | 30,7 | 33,7 | 17,2 | 1,0 | 5,4 | 10,3 | 1,7 |
Dänemark | 48,0 | 24,9 | 11,8 | — | 4,9 | 8,4 | 2,0 |
Schweden | 49,8 | 20,9 | 7,5 | 2,0 | 2,9 | 10,8 | 6,1 |
Norwegen | 41,0 | 27,7 | 14,0 | 0,7 | 3,4 | 11,2 | 2,0 |
Engl. u. Wales | 8,0 | 58,3 | 13,0 | 1,2 | 5,6 | 13,9 | — |
Schottland | 12,0 | 60,4 | 12,4 | 0,4 | 4,7 | 10,1 | — |
Irland | 44,6 | 32,6 | 5,0 | 1,6 | 5,0 | 11,2 | — |
Großbritannien | 12,4 | 5,7 | 12,1 | 1,1 | 5,5 | 13,2 | — |
Verein. Staat. v. Nordamerika |
35,9 | 24,1 | 16,3 | 0,4 | 4,3 | 19,0 | — |
Die Zeitschrift des preussischen
statistischen Landesamtes brachte eine
Veröffentlichung von Dr. Broesicke
über die Binnenwanderung in Preussen auf Grund der
letzten Erhebungen, der wir folgende Angaben entnehmen:
Preussen hat vom 1. Dezember 1900 bis 1905 = 96'645
Einwohner durch Zuwanderung
über die Abwanderung gewonnen. Dem entspricht eine
Zunahme der Ausländer in Preussen,
welche gezählt wurden auf:
87,304 | : | 1871, |
205,818 | : | 1895, |
368,003 | : | 1900, |
524,874 | : | 1905. |
Die grösste Bevölkerungszunahme hatte die Provinz Brandenburg infolge des rapiden Anwachsens der Berliner Vorstädte. Weiter haben merkliche Zuwanderungen zu verzeichnen die industriellen westlichen Provinzen: Rheinland, Westfalen und Hessen-Nassau. Verloren durch Abwanderung haben am meisten die östlichen, vornehmlich landwirtschaftlichen Provinzen: Posen, Ostpreussen, Westpreussen, Pommern und Schlesien. Von 88 Stadtkreisen der Monarchie haben 72 einen Wandergewinn zu verzeichnen. Von den 489 ländlichen Kreisen gewannen nur 73 durch Zuwanderung. Es sind das vornehmlich solche im westlichen Industriegebiet und vor den Toren von Grosstädten, die übrigen ländlichen Kreise verloren durch Abwanderung und zwar:
1895/1900 | = | 1'093'789, | ||
1900/1905 | = | 809'138, | also | |
von | 1895/1905 | = | 1'902'927 | oder fast 2 Millionen |
Menschen binnen 10 Jahren. Noch ungünstiger stellen sich die Zahlen, wenn wir diejenigen ländlichen Kreise herausgreifen, deren Bevölkerung zu mehr als 50% im Hauptberuf in der Landwirtschaft tätig sind. Das sind 268 Kreise, in denen die Abwanderung betrug
1'347'059 | Köpfe, | ||
1895/1900 | : | 791'599 | Köpfe |
1900/1905 | : | 555'460 | Köpfe, zusammen mithin |
wobei in einzelnen Kreisen diese Abwanderung 11,5 und 16,9% der Gesamtbevölkerung erreichte.
Der natürliche
Bevölkerungszuwachs beträgt zurzeit in Preussen
auf dem platten Lande durchschnittlich 345'000 Köpfe
pro Jahr. Nun wurden nach der letzten Volkszählung
1905 in der Landwirtschaft und den verwandten
Berufsgruppen rund 95'000 Ausländer ermittelt. Die
Hauptmasse dieser Personen darf als Ersatz der mangelnden
landwirtschaftlichen Arbeitskräfte gelten. Man darf
daraus den Schluss ziehen, dass das platte Land heute
durchschnittlich jährlich 200'000 Personen an Stadt
und Industrie abgibt, dass es aber zur Bewältigung
der landwirtschaftlichen Arbeit nur 125'000 Köpfe
abgeben könnte. Was die Landwirtschaft
über ihren Bedarf hinaus abgibt, wird durch
Ausländer ersetzt.
Von 100 Einwohnern lebten in Preussen:
In den Städten: |
Speziell in Grossstädten: |
Auf dem Lande: |
|
1849 | 28,07 | — | 71,93 |
1871 | 32,34 | 5,18 | 67,57 |
1900 | 43,07 | 16,92 | 56,93 |
1905 | 45,23 | 20,00 | 54,77 |
Demnach ist seit der Gründung des Reichs, seit 1871, in Preussen die Zahl der Bevölkerung
gestiegen in den Städten um 39,9%, |
gestiegen in den Grossstädten um 286,1%, |
gefallen auf dem Lande um 18,9%. |
Wenn Städte mit mehr als 100'000 Einwohnern als Grossstädte gelten, so war:
1850 | unter | 38 | Deutschen | 1 | Grossstädter |
1870 | " | 20 | " | 1 | " |
1880 | " | 13 | " | 1 | " |
1890 | " | 8 | " | 1 | " |
1900 | " | 6 | " | 1 | " |
In England lebten schon 1891
32% der Bevölkerung in
Grossstädten, 21,7% in
Städten mit 20 bis 100'000 Einwohnern und nur
28% in ländlichen
Distrikten.
Die ostpreussische Landwirtschaftskammer hat vor Kurzem eine Erhebung darüber angestellt: wo die aus den Landschulen entlassene Jugend der Provinz verbleibt. Die Umfrage bezog sich auf die Jahrgänge 1895 und 1900. Von den jetzt 25 jährigen Personen, die 1895 aus der Schule kamen, waren 3⁄5 der ostpreussischen Landwirtschaft als Arbeitskräfte verloren gegangen. Auch von dem Jahrgang 1900 hatten schon 3⁄5 eine andere Tätigkeit erwählt. Die Abwanderung vom Lande erstreckt sich mithin auf die besten Altersklassen. Die Kinder, die alten Leute und die Gebrechlichen bleiben auf dem Lande zurück.
Im Osten der Monarchie wird diese Landflucht zur
„Polenfrage“, wie namentlich der praktische
Arzt Dr. G. W. Schiele in seinen
„Briefen über die Landflucht und
Polenfrage“ auf Grund persönlicher Beobachtung
an Ort und Stelle so überzeugend nachgewiesen hat.
Der deutsche Arbeiter im Osten wandert der besser
rentierenden und höhere Löhne zahlenden
Industrie nach. Die deutsche Industrie des Westens
gewährt heute selbst für ausländische
Arbeiter bei 9- bis 10stündiger Arbeitszeit
3 1⁄2 bis 4 Mark und
mehr pro Tag, während die Landwirte nur
1 1⁄2 bis 2,
höchstens 3 Mark pro Tag zahlen können, wenn
sie nicht ein sicheres Defizit übernehmen wollen.
Die abwandernden landwirtschaftlichen Arbeiter werden
dann durch Ausländer aus Polen, Russland, Galizien,
Ungarn ersetzt. Es ist aber unmöglich, dass der Sohn
eines deutschen Kleinbauern mit solchen Einwanderern am
gleichen Tische sitzt. Dazu sind die Sitten und
Lebensgewohnheiten beider zu verschieden. Der deutsche
Kleinbauer kann sich deshalb nach dem Einrücken der
ausländischen Arbeiter nicht mehr halten. Die
eindringende polnische Nachfrage nach
Grundbesitz bietet und zahlt höchste Preise. Das und
die nur zu häufig vorhandenen Hypothekenschulden
erleichtern dem deutschen Bauern den Entschluss zum
Verkaufen. So kommt es zum Abwandern der deutschen
Landwirte. Ihnen folgt der deutsche Gewerbetreibende, der
kleine deutsche Kaufmann, dann die Vertreter der
liberalen Berufe und schliesslich muss auch der deutsche
Grossgrundbesitzer weichen. Die Abwanderung vom platten
Lande wirkt dann weiter in den Städten. So ist die
polnische Bevölkerung in Posen von 1890 bis 1900 um
10 1⁄2%, die deutsche
nur um 3 3⁄4%
gewachsen. Das Baugewerbe der Stadt Posen, das 1890 noch
überwiegend deutsch war, zählte 1900:
Meister: | Gesellen: | Lehrlinge: | |
Deutsche | 133 | 508 | 131 |
Polen | 137 | 1212 | 309 |
Trotz der 350 Millionen Mark, welche der
Ansiedlungskommission zur Einführung deutscher
Ansiedler zur Verfügung standen, hat der deutsche
Grundbesitz von 1896 bis 1903 in Posen und
Westpreussen 50'000 Hektar = 10
Quadratmeilen oder 1% der
Gesamtfläche an die polnische Hand verloren. Diese
nationalfeindliche Bewegung hat sogar schon auf
Ostpreussen, Pommern, Schlesien und selbst
auf Brandenburg übergegriffen. Nach
einer Rede des Oberpräsidenten für Schlesien,
Graf von Zedlitz–Trützschler vom
19. Januar 1906 sind in dieser Provinz in den letzten
Jahren über 2 Quadratmeilen deutschen Bodens (10'540
Hektar) aus deutschen Händen in polnische
übergegangen. Der überwiegende Teil der
deutschen Verkäufer waren bäuerliche Besitzer.
Aber der verkauften Gesamtfläche nach war doch der
schlesische Grossgrundbesitz mit zwei Drittel beteiligt.
Mit der Abwanderung der deutschen landwirtschaftlichen
Arbeiter wird so die Abwanderung der Deutschen in den
östlichen Provinzen von
Preussen eingeleitet und die leer gewordenen Stellen
besetzen dann die Polen. Auf dem Wege friedlicher
Bevölkerungsbewegung wird heute ein immer wachsender
Teil des deutschen Bodens innerhalb der Reichsgrenzen
einem fremden Volke eingeräumt. Weil aber die
zu starke Wanderbewegung der Arbeiter vom Lande nach der
Stadt und nach der Industrie eine allgemeine ist, zwingt
der Arbeitermangel die Landwirte in fast allen Teilen
Deutschlands ausländische Arbeiter zu importieren.
Hier macht sich dann die Arbeiternachfrage der deutschen
Industrie und nicht minder die des Auslandes bemerkbar.
So ist der ungarische Arbeitermarkt 1907 z.B. wesentlich beeinflusst durch
Arbeitsnachfrage aus Nordamerika, welche einen Tagelohn
von 5 bis 6 Mark geboten hat. Die naheliegende Folge
dieser Erscheinungen musste zunächst sein eine
bedenkliche Zunahme der ausländischen Wanderarbeiter
in Deutschland. Eine reichsstatistische
Aufzeichnung dieser Wanderarbeiterbewegung gibt es nicht.
Nur das preussische Ministerium des Inneren macht
darüber Aufzeichnungen seit 1905, die mir geneigtest
zugänglich gemacht wurden. Nach Schätzungen von
Sachverständigen nimmt man an, dass die Zahl der
ausländischen Saisonarbeiter in Preussen war:
1902 | = | 130'000, | |
1903 | = | 170'000. | Ihre Summe erreichte |
1905 | = | 454'348, | |
1906 | = | 605'339. |
Sie verteilen sich auf
Landwirt- schaft: |
Industrie u. Bergbau: |
|
1905 : | 206'983 | 228'700 |
1906 : | 236'068 | 369'271 |
Sachverständige nehmen an, dass
die in Deutschland beschäftigten
ausländischen Arbeiter 1907 die erste Million
erreichen dürften. Nach dem
offiziellen „Leitfaden zur Arbeiterversicherung des
deutschen Reiches“ (1906) war 1904 die Zahl der
Arbeiter in Industrie und Landwirtschaft mit einem
Jahresverdienst bis 3000 Mark: 15'076'000. —
Die deutsche Industrie und die deutsche
Landwirtschaft sind mithin heute schon zu einem
wesentlichen Teile in ihrer Produktion auf die Mitwirkung
ausländischer Lohnarbeiter angewiesen. Wohin
soll das führen?
Schon diese Tatsachen lassen vermuten, dass die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands aus dem bisherigen Bevölkerungsüberschuss in den Zustand des Bevölkerungsmangels einzutreten beginnt. Auf dem Grunde auch dieser Erscheinungen begegnet uns der heute herrschende Kapitalismus.
Der Kapitalismus zersetzt fortschreitend den
Zusammenhalt der Familie und zwar nicht nur bei den
Proletariern. Die früher unauflösliche Ehe ist
bereits zu einem nicht allzu schwer lösbaren Vertrag
geworden. Die Zahl der Ehescheidungen in
Berlin ist gestiegen von 836 im Jahre 1892 auf
1608 im Jahre 1899 (vor Einführung des
Bürgerlichen Gesetzbuches), um von 1900 bis 1905 von
936 auf 1421 anzuwachsen. Im ganzen preussischen
Staate zählte man 1905 : 5325
Ehescheidungen, die ganz überwiegend,
nämlich zu 77,7% auf
die Städte entfielen, während das Land nur mit
22,3% beteiligt war. Wie
früher die eheliche Gütergemeinschaft, so ist
heute die eheliche Gütertrennung herrschende Sitte
geworden. Auch die Kinder beginnen schon früh
ökonomisch unabhängig zu werden. Dem
selbständigen Mittelstand wird seine Existenz mehr
und mehr erschwert. Erfolgreiche Neugründungen von
selbständigen mittleren Existenzen werden seltener.
Die Mittelstandsangehörigen kommen deshalb immer
später zum Heiraten, was in der allgemeinen Statistik durch das
heute frühere Heiraten der Proletarier verdeckt
wird. Eine stetig wachsende Zahl von Töchtern des
Mittelstandes wird nicht geheiratet. Sie sind deshalb in
ihrer Versorgung auf ihren eigenen Erwerb angewiesen. Aus
diesem Grunde haben wir die wachsende Bewegung der
Frauenemanzipation mit ihrem
Bildungsbedürfnis, Mädchengymnasium,
Frauenstudium an der Universität u.s.w. Damit scheint aber eine Degeneration
des weiblichen Körpers verbunden zu sein. P.
J. Möbius sagt etwas unhöflich zwar,
aber sachlich zutreffend in seiner schon 1905 in 7.
Auflage erschienenen Schrift über den
„physiologischen Schwachsinn des Weibes“:
„Die modernen Närrinnen sind schlechte
Gebärerinnen und schlechte Mütter. In dem
Maasse, als die Zivilisation wächst, sinkt die
Fruchtbarkeit der Frauen. Je besser die
Mädchenschulen werden, um so schlechter werden die
Wochenbetten, um so geringer die Milchabsonderung, die
für das Aufziehen einer tüchtigen Generation
unentbehrlich ist. Das moderne Weib kann nicht viele
Kinder gebären und will es auch nicht. Die
Früchte der Gehirndamen zeichnen sich nicht durch
Kraft aus, denn es fehlt an Muttermilch.“
Tatsächlich haben Adele Gerhard und
Helene Simon 1901 in Berlin aus 420
Fällen bei Damen mit geistiger Arbeit 156
Unverheiratete, 57 kinderlose Ehen und bei 207
Müttern nur 147 mit mehr als einem
lebensfähigem Kinde gefunden. In Nordamerika soll
der Prozentsatz der kinderlosen Ehen bei Damen mit
Universitätsbildung weit höher sein.
Aber nicht nur die Ehen des gebildeten Mittelstandes,
auch die modernen Arbeiterehen zeigen einen höchst
bedenklichen Rückgang der Geburten, oder, wie es
Eugen Dühring ausgedrückt hat:
„Die Proletarier verlieren ihre
proles.“ Auch die Arbeiterfamilien sind
heute fortwährend mobil. Bei Reisen wie bei
Wohnungen in den
Mietskasernen sind viele Kinder ein Hindernis, das teuer
zu stehen kommt. Die auch in Arbeiterkreisen rasch
zugenommenen Festlichkeiten lassen wenig Zeit für
Kinderaufzucht. So haben die Schmutzannoncen in den
meisten Zeitungen und die moderne
„Aufklärung“ den Eingang
neomalthusianischer Praktiken in die Arbeitermassen sehr
gefördert. Die Zahl der Geburten in der
Proletarierstadt Berlin ist seit 1870 wie
folgt zurückgegangen:
Auf 1000 Ehefrauen kamen eheliche Geburten:
1870 | : | 222,2, |
1875 | : | 237,9, |
1880 | : | 205,6, |
1885 | : | 179,4, |
1890 | : | 163,7, |
1895 | : | 138,5, |
1900 | : | 127,0, |
1905 | : | 109,7. |
Von Berlin aus scheint sich die Tendenz der Minderung von Geburten auf die benachbarten Städte Schöneberg, Charlottenburg, Potsdam übertragen zu haben. Nach dem statistischen Jahrbuch der deutschen Städte 1904 schwankte hier die Zahl der Geburten zwischen 2 und 2 1⁄2 % der mittleren Bevölkerung, während in den katholischen Industriestädten der Rheingegend, wie Dortmund, Bochum, Duisburg, Essen und in den süddeutschen Städten Nürnberg und Mannheim gleichzeitig die Geburten 4 bis 4 1⁄2% der mittleren Bevölkerung erreichten.
Es kommt ferner in Betracht, dass die Grosstädte
ihre Bevölkerung verzehren. Darauf
haben Hansen, Ammon, Steinmetz usw. schon
früher mit Erfolg hingewiesen, aber erst der
Bevölkerungsstatistiker Carl Ballod hat
den unbestreitbaren Beweis erbracht in seinen
ausgezeichneten Untersuchungen über das mittlere
Lebensalter in Stadt und Land (1899) und
über die Sterblichkeit der Grosstädte (1903).
Es gab 1891 in Paris ca. 2'424'705 Personen.
Würde keine Zuwanderung erfolgen, so würden
nach den Geburts- und Sterbeverhältnissen schon in
der dritten Generation nur noch 938'170 Personen in Paris
sein. Die Eigenvermehrung der Berliner
Bevölkerung bleibt 1⁄10
bis 1⁄12 hinter dem Mass
einer stationär gedachten Bevölkerung
zurück. Das gleiche Verhältnis gilt auch
für die meisten anderen Grosstädte. Nun schiebt
aber die moderne Entwicklung immer grössere
Bevölkerungsmengen nach den Städten zusammen.
In Preussen wohnten am 2. Dezember 1867: 7'452'722
in der Stadt und 16'568'593 auf dem Lande. Am 1. Dezember
1905 zählte die Statistik 16'669'963 in den
Städten und 20'426'361 auf dem Lande. Weil aber dem
Lande die kräftigsten Jahrgänge der
Bevölkerung durch Abwanderung entzogen werden, so
dass eine chronische Arbeiternot sich einstellte, ging
die Zahl der Geburten auch auf dem Lande zurück. Und
es ist unerfindlich, woher unter der Fortdauer solcher
Verhältnisse die Grosstädte im eigenen Lande
den notwendigen Ersatz für ihren Menschenverbrauch
dauernd nehmen sollen.
Für Preussen haben sich Geburten, Heiraten und Sterbefälle, getrennt nach Stadt und Land, von 1870 bis 1905 wie folgt bewegt:
Städte | pro 1000 Einwohner | Land | ||||
Geburten | Heiraten | Sterbefälle | Jahr | Geburten | Heiraten | Sterbefälle |
39,8 | 16,2 | 29,8 | 1870 | 40,5 | 14,2 | 27,2 |
40,3 | 19,9 | 29,3 | 1875 | 43,0 | 16,9 | 27,5 |
38,6 | 16,9 | 28,5 | 1880 | 40,4 | 14,6 | 26,6 |
37,5 | 18,2 | 27,4 | 1885 | 40,5 | 15,3 | 26,9 |
36,0 | 18,7 | 25,3 | 1890 | 39,5 | 15,1 | 25,5 |
35,1 | 17,9 | 23,1 | 1895 | 40,5 | 15,0 | 23,2 |
31,8 | 19,3 | 23,1 | 1900 | 39,5 | 15,7 | 23,1 |
31,8 | 18,0 | 20,2 | 1905 | 37,3 | 15,0 | 21,3. |
Trotz aller örtlichen
Verschiedenheit zeigt auch die Reichsstatistik die
gleiche Entwicklungstendenz. Auf 1000 Einwohner
kamen Geborene
1870 | : | 40,1 |
1875 | : | 42,3 |
1880 | : | 39,1 |
1890 | : | 37,0 |
1900 | : | 36,8 |
1905 | : | 34,0 |
Für diesen Rückgang der Geburten ist die Zahl der Eheschliessungen nicht verantwortlich zu machen; denn es fielen in der gleichen Zeit auf je 1000 Einwohner Eheschliessungen:
1870 | : | 7,7 |
1875 | : | 9,1 |
1880 | : | 7,5 |
1890 | : | 8,0 |
1900 | : | 8,5 |
1905 | : | 8,1 |
Wenn trotzdem die Eigenbevölkerung des Deutschen Reiches in dieser Zeit nicht zurückgegangen ist, so hängt das damit zusammen, dass die Sterbefälle unter 1000 Einwohnern gewesen sind:
1870 | : | 29,0 |
1875 | : | 29,3 |
1880 | : | 27,5 |
1890 | : | 25,6 |
1900 | : | 23,2 |
1905 | : | 20,8 |
Der Abnahme der Geburten um 8,3 pro 1000 Einwohner seit 1875 steht eine gleichzeitige Abnahme der Sterbefälle um 8,5 pro 1000 Einwohner gegenüber und bewirkte neben der Einflussnahme der internationalen Wanderung, dass die Bevölkerung des Deutschen Reiches von 42'729'360 im Jahre 1875 auf 60'641'278 im Jahre 1905 angewachsen ist.
Welcher Art ist die Abnahme der
Sterblichkeit? Erstreckt sie sich auf alle Altersklassen
des Volkes oder nur auf einen Teil derselben? Auf diese
Frage hat namentlich der Geheime Medizinalrat
Biedert in seiner klassischen Abhandlung
über „Die Kindersterblichkeit im ersten
Lebensjahre“, enthalten in seinem „Handbuch
der Kinderernährung im Säuglingsalter“,
5. Auflage 1905, folgende Auskunft gegeben: Unsere
Abnahme der Sterblichkeit ist im wesentlichen eine
Abnahme der Säuglingssterblichkeit. Man kann
hinzufügen, dass nur die Frauen ihre Lebensdauer
etwas verlängert haben. Keinerlei
Verbesserung ist in dem Absterben der
Männer eingetreten. Die Abnahme der
Kindersterblichkeit aber ist in erster Linie eine Wirkung
der Abnahme der Geburten. — Bei einer kleineren
Kinderzahl pflegen die Eltern mehr Sorgfalt auf Pflege
und Ernährung der Kinder zu verwenden als bei einem
grossen Kinderhaufen. Dann kommt eine wesentliche
Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse der
Arbeiterbevölkerung in Betracht. Diesen beiden
Faktoren gegenüber tritt die Kunst der Aerzte mit
den bisherigen Fortschritten in der
Säuglingsernährung entschieden in den
Hintergrund. Die Möglichkeit einer weiteren
Minderung der Sterbefälle hat also ganz bestimmte
Grenzen. Sterben müssen die Menschen! Wenn aber bei
den Frauen die Sitte weiter um sich greift,
keine Kinder zu haben, dann steht nichts im
Wege, dass die Geburtenziffer auch für ganz
Deutschland von heute noch 34,0 bald auf den heutigen
französischen Tiefstand von 22,1 pro 1000 Einwohner
zurückgeht, nachdem sie seit 1875 von 42,3 auf 34,0
bereits gesunken ist! Der bekannte führende
Statistiker Georg von Mayr hat deshalb sehr
richtig bemerkt: „Bis vor Kurzem hatte man nur in
Frankreich Angst vor dem Bevölkerungsrückgang.
Seit zwei Dezennien aber zeigen fast alle Kulturstaaten
eine
beträchtliche Verminderung der
Geburten. In Australien, England und den Vereinigten
Staaten ist die sehr starke Bevölkerungszunahme ins
Stocken geraten. Für Deutschland ist diese Frage
entscheidend für seine künftige
Weltstellung.“ Es scheint wichtig, aus dem hierher
gehörenden Zahlenmaterial Einiges
anzuführen:
Frankreichs Bevölkerung ist im letzten Menschenalter fast stabil geblieben. Im Jahre 1851 bezifferte sich seine Einwohnerzahl (ohne Elsass-Lothringen) schon auf 34.2 Millionen; 1905 auf 39 Millionen. Dabei ist die Sterbeziffer in Frankreich günstiger als bei uns in Deutschland. Auf 1000 Einwohner starben im Jahresdurchschnitt (1891/1900) in Frankreich 21,5, in Deutschland 22,2. Aber es wird in Frankreich weniger geheiratet und es werden weniger Kinder geboren. Im letzten Jahrzehnt heirateten im Jahresdurchschnitt auf je 1000 in Deutschland 8,2, in Frankreich nur 7,5. In der geringen Ehefrequenz liegt indes nicht die Hauptschuld an dem Stagnieren der Bevölkerung. Es gibt Länder, in denen noch erheblich weniger geheiratet wird und doch die Bevölkerung anwächst, wie in Rumänien, Italien, Schweden. In der Geburtenfrequenz liegt die hier entscheidende Ziffer. Diese betrug in Frankreich im Jahresdurchschnitt 1841/50 auf 1000 Einwohner 27,2 und ist jetzt bis 22,1 gesunken.
In der Schweiz ist die Zahl der Geburten auf 1000 Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren zurückgegangen
von 148 im Jahre 1880 |
auf 139 im Jahre 1900. |
Die Entwicklungstendenz tritt
schärfer hervor bei einer Unterscheidung der
Geburten nach Eingeborenen und Zugewanderten. Auf je 1000
Personen kamen z. B. in Basel von 1880 bis 1888
bei den Stadtbürgern | 19,7 |
bei den Bürgern anderer Kantone | 31,1 |
bei den Ausländern | 35,8 |
Geburten vor.
Den Amerikanern hat ihr Präsident Roosevelt den Vorwurf des „Rassenselbstmords“ (race suicide) gemacht und hinzugefügt, dass, wenn solche Worte mit Recht einer Nation vorgeworfen werden, dann muss dieselbe bis auf den innersten Kern faul sein! Auf 1000 Frauen zwischen 15 und 49 Jahren kamen in der ganzen Union Kinder unter 5 Jahren:
1860 | : | 634 |
1870 | : | 572 |
1880 | : | 559 |
1890 | : | 485 |
1900 | : | 474. |
Nach den Staatengruppen kamen auf 1000 Frauen von 15 bis 49 Jahren Kinder unter 5 Jahren:
1850 | 1860 | 1870 | 1880 | 1890 | 1900 | |
Nordatlant. Staaten | 507 | 518 | 459 | 423 | 373 | 390 |
Nördl. Zentralstaaten | 717 | 717 | 636 | 566 | 495 | 457 |
Weststaaten | 621 | 767 | 667 | 575 | 473 | 439 |
Südatlant. Staaten | 675 | 662 | 599 | 657 | 557 | 560 |
Südl. Zentralstaaten | 725 | 706 | 645 | 710 | 612 | 596 |
Die Kinderzahl ist gegenwärtig noch sehr hoch in beiden Dakotas mit ausschliesslich landwirtschaftlicher Bevölkerung, in Utah, Idaho und Neu-Mexiko. Diesen Ziffern am nächsten stehen die Ackerbaustaaten Montana, Nebraska, Minnesota und Wisconsin.
Beständige Abnahme des Kinderreichtums seit
1850 erfolgt dort, wo die schnellste
Ausbreitung der Industrie am bemerkenswertesten
war, so in Michigan (— 227), Ohio (— 227),
Illinois (— 309), Indiana (—
340). Ebenso haben die Neu-Englandstaaten New-Hampshire, Maine und Vermont
wenig Kinder gleich den benachbarten Staaten New-York und
Massachusetts, trotzdem in der ersteren Gruppe die
Landwirtschaft überwiegt. Aber diese Staaten sind
zuerst besiedelt worden. Der Luxus hat hier allgemein
Eingang gefunden und ebenso die höhere
Mädchenbildung mit dem Feminismus!
Ueber die Bevölkerungsbewegung in Australien entnehmen wir der Wolf’schen Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 1902, einem Aufsatze von Emil Jung folgende Angaben: Der anormale Stillstand des Wachstums der australischen Bevölkerung ist einer der bedenklichsten und für die Zukunft Australiens bedrohlichsten Punkte. Noch vor gar nicht langer Zeit war der Bevölkerungszuwachs ein auffallend starker. Inzwischen ist auf 1000 verheiratete Frauen von 1861 bis 1898 die Geburtsziffer gesunken in:
Neusüdwales | von | 306,1 | auf | 201,2 |
Viktoria | " | 285,4 | " | 193,0 |
Queensland (seit 1881) | " | 288,0 | " | 208,0 |
Neuseeland (seit 1881) | " | 281,5 | " | 214,2 |
Nichts berechtigt zu der Annahme, dass dieser Rückgang zum Stillstehen kommen werde. Es ist zweifelhaft, ob Australien nach 50 Jahren noch seine 8 Millionen Einwohner zählen wird. So sind die von der Gier nach dem Golde beherrschten Kulturvölker diesseits wie jenseits des Ozeans zum Aussterben verurteilt, wie einst die Bevölkerung von Rom und Griechenland für die gleiche Sünde verurteilt war.
Die modernen internationalen Beziehungen sind vor
allem von der Industrie und dem Geldverkehr getragen. Das
tägliche Brot der Industrie ist die Kohle. Die
Kohlengewinnung ist
nach dem statistischen Jahrbuch für das deutsche
Reich (1907) gestiegen in 1000 metrischen Tonnen
(à 1000 Kilo)
Deutschland: | Gross- britannien: |
V. St. v. Amerika: |
Japan: | |
1886 | 73,683 | 160,046 | 103,129 | 1,374 |
1900 | 149,788 | 228,795 | 244,653 | 7,489 |
1906 | 193,533 | 255,097 |
369,004 (1904) |
10,772 |
Die Roheisengewinnung war in 1000 metrischen Tonnen in
Deutschland mit Luxemburg: |
Gross- britannien: |
Vereinigte Staaten von Nordamerika: |
Japan: | |
1886 | 3,529 | 7,122 | 5,775 | 14 |
1900 | 8,521 | 9,103 | 14,011 | 25 |
1906 | 12,294 | 10,312 |
25,931 (1904) |
38. |
Dem Nachrichtenverkehr dienten (1903) 2006 Unterseekabel mit einer Gesamtlänge von 434,546 Kilometer. Bis Mitte April 1907 waren 103 Funkentelegraphenstationen in Betrieb. Die Länge der Eisenbahnen, welche die Erde umspannen, war
1890 | : | 617'285, | |
1905 | : | 905'695 | Kilometer. |
Nach dem Sonderheft zur
Marinerundschau für 1905 über die
„Entwicklung der deutschen Seeinteressen im
letzten Jahrzehnt“ (von Halle) befinden sich
im Auslande 3 Millionen geborene Deutsche und 750'000
Reichsangehörige. Der deutsche
Aussenhandel ist in dem Jahrzehnt 1894 bis
1904 von 7,3 Milliarden Mark auf 12,2
Milliarden Mark gestiegen, dem Gewichte nach um
60%, dem Werte nach um
66%. Im gleichen Zeitraum hat
der Spezialhandel Englands um 38%, der der Vereinigten Staaten um
59%, der Frankreichs um
28% und der Russlands um
23% zugenommen. In den letzten
25 Jahren hat der deutsche Spezialhandel sich genau
verdoppelt. Im letzten Jahrzehnt hat die Einfuhr von
industriellen Rohstoffen um mehr als
1,5 Milliarden Mark, die Ausfuhr an Fabrikaten fast um
1,6 Milliarden sich gehoben, während die Einfuhr von
Fabrikaten nur um etwa 400 Millionen Mark, die Ausfuhr
von industriellen Rohstoffen um 600 Millionen Mark stieg.
Während die Einfuhr von Nahrungs- und Genussmitteln
1894 : 36,5% der Gesamteinfuhr
ausmachte, betrug sie 1904 nur noch 30,7%. Dagegen hat sich die Einfuhr von
industriellen Rohstoffen von 42,3 auf 50,1% der Einfuhr, die Fabrikatausfuhr von
63,4 auf 65,8% und die Ausfuhr
von Rohstoffen von 22,6 auf 24,1% gehoben. Der auswärtige
Seeverkehr machte in den deutschen Häfen
1893/1903 rund 50% aus, betrug
aber in Grossbritannien, Vereinigten Staaten und Russland
nur 30 bis 46%. Japan allein
übertraf mit einer Verfünffachung des
Seeverkehrs alle übrigen Seemächte.
Dem Gesamtumfang des auswärtigen Seeverkehrs nach stand Deutschland 1903 anscheinend an vierter Stelle. Weil jedoch fast ein Drittel des ganzen deutschen Seehandels sich über belgische und holländische Häfen vollzieht, geben diese Zahlen nicht das richtige Bild. Im deutschen Verkehr hob sich die Beteiligungsziffer der deutschen Flagge zwischen 1893 und 1903 von 52 auf 59%, im überseeischen Verkehr von 69 auf 79%. Im Verkehr der wichtigsten fremden Schiffahrtsstaaten stieg der Anteil der deutschen Flagge besonders im letzten Jahrfünft überall. Der Bestand der deutschen Kauffahrteiflotte hat sich in den 7 Jahren 1898 bis 1905 um die Hälfte vermehrt. Die Dampfertonnage hat sich in dieser Zeit verdoppelt. Der Wert der Handelsflotte hat sich seit 1895 verzweieinhalbfacht. Der Wert der Neubeschaffungen der deutschen Handelsflotte darf heute (1905) auf sehr viel mehr als 1 Milliarde veranschlagt werden. Der Anteil am Weltschiffbau sank 1894/1904 bei Grossbritannien von 79 auf 61% und stieg bei Deutschland von 9 auf 10%.
Die 13 deutschen
Auslandaktienbanken hatten 1905 etwa 70
überseeische Niederlassungen, zur gleichen Zeit
hatte England allein 32 englische
Kolonialbanken mit Sitz in London und 2,104
Niederlassungen in den Kolonien, sowie 18 sonstige
englische Ueberseebanken mit 175 Niederlassungen.
Frankreich hatte 17 Kolonial- und
Auslandsbanken mit 104 Filialen. Ferner zählten 2
grössere französische Bankinstitute 27
Niederlassungen in den Kolonien und überseeischen
Ländern. Die Niederlande verfügte
über 16 Auslandsbanken mit 68 Niederlassungen.
Russland hat 1905 für seine asiatischen
Nachbarreiche 2 grosse ausländische Banken
geschaffen. Die Vereinigten Staaten von
Nordamerika haben 1905 eine grosse Auslandsbank
mit 17 Niederlassungen in Ostasien, Indien, Mexiko und
England ins Leben gerufen.
Auch im Versicherungsbetrieb macht sich das Streben zur Internationalität bemerkbar. Die deutschen Versicherungsgesellschaften legen grosses Gewicht auf ungestörten und gesicherten Auslandsbetrieb. Um seinetwillen nehmen sie gern die Konkurrenz ausländischer Anstalten im Gebiete des deutschen Reiches in Kauf. Man strebt nach gleichen internationalen Rechtsvorschriften für alle Staaten, in welchem das Versicherungswesen eine Rolle spielt (Sonderheft zur Reichsmarine – Rundschau 1905).
Das deutsche Vermögen im Auslande schätzt von Halle für 1905 auf 24 bis 25 Milliarden Mark. Frankreich besass nach der gleichen Quelle zur gleichen Zeit etwa 30 Milliarden Franken Auslandswerte. Für England ist der Besitz an ausländischen Werten für 1900 auf 50 Milliarden Mark geschätzt, aber als zu niedrig bezeichnet worden, nachdem schon in der Zeit von 1840 bis 1890 ungefähr 40 Milliarden englisches Kapital im Auslande angelegt worden seien.
Deutschland unterhielt
zur Wahrung seiner Handelsinteressen im Auslande:
1872 | : | 574, | |
1897 | : | 735, | |
1905 | : | 815 | konsularische Vertreter. |
Die modernen Grossbetriebe mit ihren
Kartellen und Syndikaten haben
längst internationale
Organisationsformen angenommen. So versuchte der
internationale Schiffahrtstrust die
Transporttarife, der nordamerikanische
Steel-Trust die Fabrikation und den Absatz von
Stahl international zu ordnen. Bekannt sind auch die
Versuche, ein Weltmonopol der
Mineralölproduzenten zu stande zu bringen.
Rudolf Kobatsch erwähnt ferner in
seinem interessanten Buche „Internationale
Wirtschaftspolitik“ (1907) das internationale
Spiegelglaskartell, das internationale
Sodakartell u.a. mehr.
Hierher gehören auch die auswärtigen
Fabrikationsniederlagen, Verkaufsbüros, die
namentlich von der Maschinenindustrie und der
elektrotechnischen Industrie Deutschlands ausgebaut
wurden. Es kommen ebenso jene Beteiligungen von
ausländischen Kapitalisten in Betracht, die in den
verschiedenen Ländern internationale
Interessengemeinschaften entstehen lassen. Der
internationale „Zwirntrust“
umfasst heute die Industrien von Amerika, England,
Belgien und Russland. Dem Boraxkartell
gehören nach Kobatsch die einschlägigen
Unternehmungen von Deutschland, den Vereinigten Staaten,
Frankreich und Oesterreich-Ungarn an. Das internationale
Knochenkartell ist durch Deutschland,
Dänemark, Italien, Schweden und Oesterreich-Ungarn
organisiert. Die Nobel-Dynamit Co. stellt
eine Vereinigung der Aktien dieser Fabriken in England,
Deutschland, Oesterreich-Ungarn dar, die neuerdings
Verträge mit den Sprengstofffabriken in Frankreich
und Amerika abgeschlossen haben. Das
Glühlampenkartell umfasst die wichtigsten Betriebe in Deutschland,
Oesterreich-Ungarn, Holland und der Schweiz mit einer
zentralen Verkaufsstation in Berlin. Das sogen.
Holländische Zementsyndikat, welches
von der süddeutschen Zementverkaufsstelle, dem
rheinisch-westfälischen Zementsyndikat und den
belgischen Werken gegründet wurde, hat mit dem
englischen Zementtrust und der massgebenden
französischen Konkurrenz engere Verabredungen
getroffen. Das Leimkartell umschliesst die
österreichischen, ungarischen und deutschen
Fabriken. Für Rohgummi und
Gummiwaren sind internationale
Vereinbarungen im Gange u.s.w.
Richard Calwer weist in seinem Buche
über das Wirtschaftsjahr 1902 darauf hin, dass schon
längst (1892) 53 angesehene
deutsche Industriefirmen, insgesamt 86
Auslandsbetriebe errichtet haben, wovon 24
auf Russland, 22 auf Oesterreich, 12 auf Frankreich, 8
auf Ungarn, 7 auf die Vereinigten Staaten von Amerika, je
5 auf Italien und Schweden und Norwegen, 4 auf Belgien
entfielen. Ueber die inzwischen sehr wesentliche
Fortbildung dieser ausländischen Entwicklung der
deutschen Montan- und Eisen-Industrie bietet namentlich
O. Jeidels: „Das Verhältnis der
deutschen Grossbanken zur Industrie“ (1905), Seite
185 ff, viel Material.
Calwer bemerkt mit Recht, dass dadurch internationale Wirtschaftsgebilde herangewachsen sind, die darauf abzielen, die Zollschranken bis zu einem gewissen Grade unwirksam zu machen.
Durch andere internationale Beziehungen der Industrie
werden neue Konkurrenzländer geschaffen. So
die indischen Baumwollspinnereien durch die
englische Maschinenindustrie. Zuerst hat
England die Maschinen zur Einrichtung von Spinnereien
nach Indien exportiert. Dann sind die Einrichtungen zur
Fabrikation von Spinnereimaschinen in Indien gefolgt.
Dann hat die indische
Industrie der englischen Baumwollspinnerei ernste
Konkurrenz gemacht, die heute durch die verschiedensten
Schikanen der englischen Regierung in Indien
niedergehalten wird, weshalb jetzt die revolutionäre
Bewegung unter den Eingeborenen in Indien gegen die
Herrschaft der Engländer im Wachsen ist. So hat die
deutsche Maschinenindustrie mit
deutschem Bankkapital die
Rübenzuckerindustrie in Italien gross
gezogen und dadurch dem deutschen Rübenzuckerabsatz
einen bisher nicht unwichtigen Markt verschlossen. Die
Rübenzuckerproduktion aber in Italien ist gestiegen
von 2300 Tonnen im Jahre 1896/7 auf 130'861 Tonnen im
Jahre 1903/4.
Nach Rudolf Kobatsch berechnet sich für 1905 der Gesamtwarenumsatz der Welt auf rund hundert Milliarden Mark. Diese statistischen Anschreibungen sind einigermassen zuverlässig. Aber die daraus gefolgerten Schlüsse auf die nationale Handelsbilanz der einzelnen Staaten kann namentlich deshalb wenig Zuverlässiges bieten, weil der internationale Handel in Wertpapieren einschliesslich der internationalen Zahlungen von der amtlichen Statistik bis heute nur in ganz ungenügender Weise erfasst werden. Wenn auch die Angaben von Alfred Neymark auf der letzten Sitzung des internationalen statistischen Institutes (London): die europäischen Länder hätten im Jahre 1905 für 255 Milliarden Franken ausländische Börsenwerte übernommen, ganz gewiss die Wirklichkeit um ein Vielfaches überragen, so bleiben diese internationalen Uebertragungen doch gross genug, um die bis heute vorhandenen Totalsummen der internationalen Handelsstatistik zu einem wesentlichen Betrage unrichtig erscheinen zu lassen.
Die Staaten haben internationale
Institute in den Dienst der modernen
weltwirtschaftlichen Verkehrsbedürfnisse gestellt.
So den internationalen Telegraphenverein (seit 1865), die
internationale Meterkonvention (seit 1875),
den Weltpostverein (seit 1875), die
internationale Union zum Schutze des litterarischen
Eigentums (seit 1890), die
Union zur Veröffentlichung der
Zolltarife (seit 1890), die internationale
Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz
mit einem internationalen Arbeitsamt (seit
1901), die internationale Union zum Schutze des
gewerblichen Eigentums (1902), denen neuestens
(1906) die Welt-Agrar-Kammer in Rom mit
einem zunächst international- agrarstatistischen
Programm sich anreiht.
Hierher gehören auch internationale private Interessenvereinigungen zum Zwecke der gegenseitigen Aufklärung in praktischen Fragen. So die „Internationale Vereinigung für Stand und Bildung der Getreidepreise“ (seit 1900), die „Internationalen landwirtschaftlichen Kongresse“ (Méline-Kongresse), der Internationale Baumwollenkongress, die internationale Vereinigung der Seidenindustriellen, der internationale Verlegerkongress, internationale Arbeiterkongresse, internationale Fischereikongresse, Fleischerkongresse, Handelskammerkongresse, die internationale Mittelstandsvereinigung, die internationalen Kongresse für Wohlfahrtspflege, für Volksbildung, gegen Arbeitslosigkeit, die Versicherungskongresse usw., neben welchen schliesslich noch die grosse Reihe der internationalen wissenschaftlichen Kongresse mit einem mehr theoretischen Programm zu nennen wären.
Die Zeit der rein nationalen Existenz ist heute für alle Staaten und Volkskörper verschwunden. Das Leben jedes Einzelmenschen wird in stetig höherem Masse von den weltwirtschaftlichen Strömungen erfasst.
Was ist der Krieg? Die militärischen
Schriftsteller sind zumeist geneigt, im Krieg „ein
Duell“ zu sehen. Diese Auffassung ist offenbar zu
eng. Sie sieht nur das Spiel der Waffen. Sie sieht
nicht, was dem Krieg im engeren Sinne
vorausgegangen ist und was ihm folgt. Der Krieg ist
für eine solche Betrachtung nur das akute Stadium
einer Erscheinungsreihe, deren Teilereignisse mit
einander im engsten kausalen Zusammenhange stehen und im
Ganzen sich stets auf einen längeren Zeitraum
erstrecken. Clausewitz nannte den Krieg
„Politik mit veränderten Mitteln“. Aber
das Wort „Politik“ bezeichnet keinen
einheitlichen Begriff. Dynastische Politik und nationale
Wirtschaftspolitik waren in der Geschichte sehr
häufig wesentlich verschiedene Dinge. Nur in den
Handelsstaaten fällt durchweg die Politik der Kriege
mit der Handelspolitik zusammen. Das Wort Politik
verlangt hier eine weitere begriffliche Klärung.
Offenbar ist das Wesen der Kriege so verschieden wie das
Wesen der Politik. Was hätte man z. B. den Kriegern
der germanischen Völkerwanderung durch
Schiedsgerichte bieten können? In ihrer Heimat
drohte der Hungertod. Sie wanderten mit ihren Familien
und mit Hab und Gut aus, um sich neues fruchtbares Land
zu erobern. Dieses Land aber war bereits im Besitz von
dritten Personen. Da blieb nichts anderes als Blut und
Eisen übrig. Die schwächlicheren Völker
wurden niedergemacht, besiegt und unterjocht. In den
Kriegen Karls des Grossen handelt es sich darum,
möglichst vielen germanischen Völkergruppen die
Segnungen eines christlichen Staatswesens zugänglich
zu machen und sie zu einem grossen Staatsganzen
zusammenzufassen. Solche „Entwicklungskriege“
kann die Geschichte
der Menschheit gar nicht entbehren. Ganz anderer Art
waren die Kabinettskriege, welche die Laune des absoluten
Fürsten, durch Zufälligkeiten aller Art
beeinflusst, mit Söldnern geführt hat. Nachdem
heute fast überall schon der Verfassungsstaat
eingeführt ist, darf diese Art von Kriegen
füglich ausscheiden. Abermals anderer Art waren die
unzähligen Kriege der Handelsvölker. Hier
gehörte es zur Aufgabe der Kriege der Gewinn- und
Beutesucht der Reichen die Wege zu ebnen. Und da jedes
Handelsvolk, von der Unersättlichkeit getrieben,
schliesslich der Weltherrschaft zustrebt, haben solche
Zeiten stets ihre sogenannten Weltkriege gehabt. So der
Krieg zwischen Athen und Korinth mit Sparta. So der Krieg
zwischen Rom und Karthago. So der Krieg zwischen Venedig
und Genua usw. Solche Kriege können zuletzt
allerdings auch eine unabweisbare Notwendigkeit für
die Fortexistenz des Staates werden und damit den
Entwicklungskriegen bis zu einem gewissen Grade
ähnlich werden. Von diesen Ausnahmen abgesehen,
werden wir die Kriege der Handelsvölker bezeichnen
müssen als „eine Erwerbsart der
Reichen“.
Zu unserer Zeit der ausgesprochenen Hinneigung zum
Industrie- und Handelsstaat sind die Kriege längst
wieder „eine Erwerbsart der Reichen“
geworden. Das wird in dem neuesten Buche von A.
Sartorius von Waltershausen „das
volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande
(1907)“ mit wissenschaftlicher Gründlichkeit
dargelegt. Die Industriestaaten werden immer reicher. Der
Reichtum sucht nach Veranlagung in der ganzen Welt. Das
Rentnertum im Inlande mit seiner ausgesprochenen
Arbeitsunlust strebt möglichst schnell hohe Gewinne
zu erzielen. So kommt es bald da, bald dort mit den
Interessen der Eingeborenen oder auch mit den
kapitalistischen Interessen anderer Staaten zum Streite,
der bei einer
genügend hohen Summe als Streitobjekt zum Kriege zu
führen pflegt. Rudolf Kobatsch, welcher
in seiner „internationalen
Wirtschaftspolitik“ das Wesen unserer modernen
Kriege als eine Form des wirtschaftlichen Erwerbs klar
vor Augen behält, erzählt unter anderem: dass
es im Jahre 1906 zu einem förmlichen Zollkrieg
zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien gekommen ist,
weil Serbien sich weigerte, Oesterreich-Ungarn bei
Geschützlieferungen paritätisch mit anderen
Staaten zu behandeln. Serbien aber war zu dieser
ablehnenden Stellung gegen Oesterreich–Ungarn
gewissermassen gezwungen worden, weil es vorher eine neue
Anleihe in Frankreich aufgenommen hatte mit der
Bedingung, auch einen ganz bestimmten Teil seiner
Geschütze aus der französischen Waffenindustrie
zu beziehen. Der ehemalige Grossbankdirektor Dr. Riesser
ruft in seinem öfter zitierten Buche: „Zur
Entwicklungsgeschichte der deutschen Grossbanken“
aus: „Die politischen Vorpostengefechte
werden auf finanziellem Boden geschlagen!“
und fügt dann hinzu: „Mit Recht weist Dehn
darauf hin, wie z.B. das
französische Kapital der französischen Politik
in Tunis und Marokko, in der Türkei und
Griechenland, vor allem aber in Russland geradezu
Pionierdienste geleistet habe. Werner
Sombart sagt nicht unzutreffend: „Die
alliance franco-russe ist ein reines
Bankiergebilde.“ Der Betrag der in Frankreich
untergebrachten russischen Staatswerte einschliesslich
der vom Staate garantierten russischen Eisenbahnwerte
wird auf mehr als neun Milliarden Franken geschätzt.
In gleichem Sinne machte Georg von Siemens
auf die grossen politischen Vorteile aufmerksam, die wir
Italien gegenüber dadurch errungen haben, dass wir,
nachdem zwischen Italien und Frankreich politische
Zwistigkeiten entstanden waren, sofort unsere Kapitalien
und unsere Fondsbörsen Italien zur Verfügung
gestellt haben. Ebenso wird der Kampf um Persien
zwischen Russland und England in
erster Linie auf finanziellem Gebiete geführt. In
neuerer Zeit sahen wir den Beginn besserer politischer
Beziehungen zwischen Frankreich und Italien sich zuerst
wieder durch finanzielle Annäherung vorbereiten, so
beispielsweise durch die vor einigen Jahren erfolgte
Uebernahme grösserer Aktienbeträge der
zunächst unter Ausschluss französischen
Kapitals begründeten „Banca comerciale
Italiana“ seitens einer französischen
Bankgruppe. Wir sahen in Portugal und Spanien englisches
und französisches Kapital an der Arbeit, um
politischen Zwecken den Boden zu ebnen. Wir sahen in der
allerletzten Zeit, dass Frankreich der Türkei die
Entziehung der Notierung für türkische Papiere
androhte, wenn nicht der französischen Industrie
gewisse Lieferungen übertragen würden“
u.s.f. So Riesser. Man kann es
nur als natürliche Konsequenz dieser heute
herrschenden Zustände bezeichnen, wenn in Frankreich
ein Wechselagent der Pariser Börse zum
Kriegsminister ernannt wurde.
Am Klarsten hat auch hier der
Generalfeldmarschall Graf von Moltke
gesehen. In der Vorrede der Volksausgabe des
„deutsch-französischen Krieges“ ist er
der Meinung, dass der deutsch-französische Krieg
wahrscheinlich der letzte dynastische Krieg war. Im Sinne
der vorausgeschickten Ausführungen würden wir
hier von einem „notwendigen
Entwicklungskriege“ sprechen, um die deutschen
Stämme zu einer Einheit zu verschmelzen. Selbst in
der freien Schweiz ist eine Vereinigung der Kantone ohne
„Blut und Eisen“ nicht möglich gewesen.
Moltke fährt dann wörtlich fort:
„Die grossen Kämpfe der neueren Zeit
sind gegen Wunsch und Willen der Regierenden entbrannt.
Die Börse hat in unseren Tagen einen Einfluss
gewonnen, welcher die bewaffnete Macht für ihre
Interessen ins Feld zu rufen
vermag. Mexiko und Egypten sind von europäischen
Heeren heimgesucht worden, um die Forderungen der hohen
Finanz zu liquidieren.“
Moltke hatte sein Leben lang seinem Könige gedient. Er konnte es nicht begreifen, dass „Volksheere“ für den Geldsack bluten und kämpfen sollten.
Die Geschichte der Kriege seit 1870/71 hat Moltke
Recht gegeben. Von den 24 Kriegen oder Gruppen von
Kriegen, welche seit 1870/71 gezählt werden
können, dürfen höchstens der
russisch-türkische Krieg (1877/78) der
serbisch-bulgarische Krieg (1886), der
griechisch-türkische Krieg (1897) und vielleicht
noch die Sansibar-Blockade mit dem
Araberaufstand nicht als reine
„Geldkriege“ bezeichnet werden.
Bei allen kriegerischen Konflikten liegen die Interessen
des Geldsackes nur zu offen zu Tage. Die
spanisch–kubanischen Kämpfe,
welche etwa 1868 begonnen haben und ihren Abschluss 1898
im spanisch–amerikanischen Kriege
fanden, wurden von den kubanischen Spekulanten und von
dem nordamerikanischen Zuckersyndikat geführt.
Angesehene nordamerikanische Blätter haben
inzwischen verkündet, dass kubanische
Revolutionäre einen Teil des Senats in Washington
mit 157 Millionen baar für den Krieg gegen Spanien
geneigt gemacht hatten. Das nordamerikanische
Zuckersyndikat soll sich diesen Krieg weit über
hundert Millionen Mark haben kosten lassen. Die
ungestörte Beherrschung der kubanischen
Zuckerproduktion war dieser Interessengruppe so viel
Wert. Der Salpeterkrieg zwischen Chile und
Peru (1877/78) wurde um die reichen Salpeterfelder
geführt. Europäische Bankiers hatten Garantien
für die chilenischen Anleihen übernommen,
welche diese Kriegsführung gestatteten. Und diese
Bankiers hatten wieder besondere Vorrechte in der
Ausbeutung der chilenischen Salpeterfelder erhalten. Der
Krieg Englands gegen die
Buren (1899/1902), welcher England 4300 Millionen
Mark kostete, soll ein Entwicklungskrieg
für die englischen Besitzungen in Südafrika
gewesen sein. Jedenfalls hat seinerzeit die
„Kölnische Zeitung“ den Einfluss des
baren Geldes jenes Goldminensyndikates unter Cecil Rhodes
bei Ausbruch und Fortführung dieses Krieges
genügend klar gelegt. Es war ferner auffallend, dass
die Partei der „Geldmänner“ damals in
Paris wie in Petersburg, in Berlin wie in London gleich
energisch und gleich wirksam für die
Fortführung des Krieges gegen die Buren eingetreten
ist. Aus den Entwicklungsbedürfnissen der englischen
Besitzungen in Südafrika lässt sich diese
Tatsache kaum erklären. Der Volkswitz wird deshalb
wohl das Richtige getroffen haben, wenn er den Krieg der
Engländer gegen die Buren als einen Krieg der
„Börsen gegen die Buren“ bezeichnete.
Die sogenannten Wirren in China mit dem
Boxeraufstande (1900/1901) war hervorgerufen
worden durch die Reaktion des chinesischen Volkes auf das
Eindringen des beutegierigen Kapitals von Europa und
Nordamerika. Es drohte die allgemeinere Einführung
von Eisenbahnen und Dampfschiffen durch fremde
Kapitalisten, denen ausserdem die Schätze der
chinesischen Bergwerke ausgeliefert wurden. Die
chinesischen Lastenträger und Barkenführer
sahen sich in ihrem primitiveren Erwerbe bedroht. Und da
gleichzeitig die neuen europäischen
Erwerbsgesellschaften das religiöse Gefühl der
Volksmassen in China aufs Schwerste verletzten, kam es
zum Aufstand gegen die Europäer. Zu dem Kriege
Deutschlands gegen Venezuela (1903) schreibt ein
deutscher Kaufmann aus Mexiko in der „Deutschen
Tageszeitung“ vom 18. Februar 1903, dass es sich
hier um wilde Kapitalsanlagen, um ein paar
Gründermillionen der Berliner
Diskontogesellschaft gehandelt habe. Der
blutige
russisch–japanische Krieg (1904/05)
ist hervorgerufen worden durch die Beutezüge des
russischen Kapitals in der Mandschurei und Korea. Diese
Gebiete aber braucht der aufstrebende Industriestaat
Japan als nächstliegenden und deshalb wichtigsten
Absatz für seine industriellen Produkte. Dazu kommen
seit 1870/71 die fast unzähligen
Kolonialkriege der Italiener in Abessinien,
der Engländer in Egypten, in Zentral-
und Südafrika, in Nordindien und in Australien, der
Franzosen in Madagaskar, in Indochina und
Nordafrika, der Holländer gegen die
Atschinesen, der Deutschen auf ihren
verschiedenen kolonialen Gebieten. Das Schema der
Entstehung all dieser Kolonialkriege lässt sich
— wie schon Tolstoi in seiner
Abhandlung über das Geld richtig erkannt hat —
in folgende Form zusammenfassen: Zunächst werden
durch einen kühnen Forschungsreisenden bei solenner
Festlichkeit sogenannte Freundschaftsverträge
geschlossen, deren Inhalt und Bedeutung den
Häuptlingen der Eingeborenen kaum bekannt ist. Dann
erscheinen europäische Händler und
Handelsgesellschaften, welche mit den Eingeborenen
Tauschgeschäfte machen, neue Bedürfnisse bei
ihnen wachrufen. Die verkauften Waren, wie Waffen,
Munition, Spirituosen, werden auf Kredit angeschrieben.
Diese Händler und Handelsgesellschaften sind
gewohnt, mit ihrem Kapital pro Jahr 100, 200% und mehr Gewinn zu erzielen. So wachsen
die Schulden der Eingeborenen ungeheuer rasch an. In
kurzer Zeit gehört den Gläubigern alles, was
die Eingeborenen besitzen. Nun greift die Staatsgewalt
ein und hilft den Gläubigern, ihre Gewinne zu
realisieren. Das ist dann für die Eingeborenen das
Signal zum blutigen Aufstand mit furchtbaren
Grausamkeiten. Jetzt bleibt der Kolonialkrieg
unvermeidlich, der Land und Leute den Europäern zur
Ausbeutung ausliefert, den europäischen Staaten aber
eine
Reihe von Milliarden als
Kriegskosten aufbürdet. Nach einem neuesten
Zeitungstelegramm vom 17. Juli 1907 über Beilegung
des Konflikts zwischen Japan und Nordamerika scheint es
Sitte zu werden, auch bei Ausgleichsverhandlungen der
Staaten einen Vertreter von Rothschild
zuzuziehen.
Die weitaus best verarbeitete Statistik über Vermögensbewegung verdanken wir dem wiederholt zitierten Statistiker Georg Evert. Siehe dessen „Sozialstatistische Streifzüge durch die Materialien der Ergänzungssteuerveranlagung in Preussen“ (Zeitschrift des preuss. statistischen Büros 1901, S. 217 ff.)
Die ergänzungssteuerpflichtige, also vermögenssteuerpflichtige Bevölkerung in Preussen macht von Jahr zu Jahr einen geringeren Bruchteil der Gesamtbevölkerung aus. Sie war im Jahre 1895 noch 14,14 vom Hundert der Gesamtbevölkerung und ist inzwischen mit unheimlicher Stetigkeit zurückgegangen auf
13,97 | im | Jahre | 1896, |
13,93 | " | " | 1897, |
13,92 | " | " | 1899, |
13,81 | " | " | 1902, |
13,78 | " | " | 1905. |
Die vermögende Schicht ist auf dem Lande
ausgedehnter und in mässiger Ausbreitung
begriffen. In den Städten war sie von Anfang
an enger und hat sich seitdem noch weiter
zusammengezogen. Es waren die
Ergänzungssteuerpflichtigen in Hundertteilen der
Gesamtbevölkerung:
Auf dem Lande: |
In den Städten: |
In den grösseren Städten: |
In Berlin: |
|
1895 | 14,33 | 12,85 | 11,91 | 8,91 |
1896 | 14,30 | 13,49 | 11,81 | 8,92 |
1897 | 14,38 | 13,29 | 11,58 | 8,62 |
1899 | 14,55 | 13,08 | 11,25 | 7,80 |
1902 | 14,45 | 12,98 | 11,21 | 7,69 |
1905 | 14,66 | 12,69 | 10,96 | 7,62 |
Der fortschreitende Prozess der Vereinigung des Vermögens in immer weniger Händen spielt sich am raschesten in den grösseren und grössten Städten ab und muss notwendigerweise um so schneller fortschreiten, je mehr sich das städtische Leben ausbreitet und die Wohlhabenheit des Landes zurückgeht.
Das Nettovermögen der ergänzungssteuerpflichtigen Bevölkerung in Preussen mit mehr als 3000 Mark Jahreseinkommen betrug:
im | Jahre | 1895 | : | 42,45 | Milliarden | Mark |
" | " | 1896 | : | 42,66 | " | " |
" | " | 1897 | : | 44,29 | " | " |
" | " | 1899 | : | 48,36 | " | " |
" | " | 1902 | : | 53,22 | " | " |
" | " | 1905 | : | 58,79 | " | " |
Diese Vermögenszunahme erreichte mithin in den 11 Jahren 1895 bis 1905 = 16,25 Milliarden Mark oder 1,47 Milliarden Mark pro Jahresdurchnitt.
Dieser Vermögenszunahme geht auch bei der vermögenden Schicht ein beträchtliches Anwachsen der Schulden parallel. Es war der Kapitalwert der Schulden der Zensiten mit über 3000 Mark Jahreseinkommen in Preussen in Milliarden Mark:
1895 | : | 9,73 | |
1896 | : | 10,32 | |
1897 | : | 10,78 | ![]() |
1899 | : | 12,23 | |
1902 | : | 14,42 | |
1905 | : | 16,76 |
Das wäre für diese Zensiten eine Schuldenzunahme von 7,03 Milliarden Mark innerhalb 11 Jahren, oder von 0,64 Milliarden Mark im Jahresdurchschnitt. Wir haben weiter oben Ziffern kennen gelernt, aus welchen hervorgegangen ist, dass die Schulden zu ihrem überwiegenden Teile von den weniger Bemittelten getragen werden.
Die Form der Vermögenspyramide der preussischen Steuerzahler kommt in folgenden Ziffern zum Ausdruck. Von den reichsten Zensiten besassen:
1896 | 1899 | 1902 | 1905 | |||
Die | 1. | Milliarde | 26 | 17 | 17 | 13 |
" | 2. | " | 75 | 58 | 50 | 41 |
" | 3. | " | 123 | 93 | 78 | 65 |
" | 4. | " | 171 | 135 | 113 | 91 |
" | 5. | " | 223 | 174 | 147 | 122 |
" | 6. | " | 286 | 222 | 189 | 150 |
" | 7. | " | 384 | 276 | 231 | 192 |
" | 8. | " | 400 | 346 | 286 | 223 |
" | 9. | " | 602 | 400 | 342 | 286 |
" | 10. | " | 667 | 498 | 400 | 317 |
Die ersten 10 Milliarden | 2957 | 2129 | 1853 | 1500 |
Die Zahl der Beteiligten an den ersten 10 Milliarden Vermögen ist mithin in 10 Jahren (1896 bis 1905) auf etwa die Hälfte herabgesunken. Das Heer des bäuerlichen Mittelstandes setzte in dieser Milliardenreihe
1896 | bei | der | 44. | Milliarde |
1899 | " | " | 51. | " |
1902 | " | " | 57. | " |
1905 | " | " | 63. | " |
ein und überwiegt dann
allerdings den parallelen Vermögensbesitz in der
Stadt. Der eigentliche Stamm der mittleren Vermögen ist auf dem Lande zu
suchen. In den Städten verschwindet der
selbständige Mittelstand. Aber dieser ländliche
Mittelstand wird in raschem Tempo nach
abwärts gedrängt von dem rasch
wachsenden Reichtume der Reichsten in den Städten.
Die Landwirtschaft hat nach diesen Ziffern keinen
Anteil an der zunehmenden Wohlhabenheit im
Lande.
In dem Maasse aber, als das Vermögen sich in immer wenigeren Händen zusammenfindet, in gleichem Maasse muss die Zahl der Vermögenslosen wachsen. Dieses betrübende Entwicklungsbild kann und darf durch die Resultate der Einkommensteuerstatistik nicht verdeckt werden. Dem wachsenden Einkommen stehen die wachsenden Kosten der Lebenshaltung und der gesellschaftlichen Ansprüche gegenüber. Und wer, ohne Vermögen, nur auf sein Einkommen angewiesen ist, steht mit jedem Wechsel der Ereignisse der Verarmung und dem Elend gegenüber, denen nicht immer durch Versicherungen vorgebeugt ist oder auch nur vorgebeugt werden kann.
Die rasche Konzentration des Vermögens in immer
wenigeren Händen, welche in den vorstehenden Ziffern
zum Ausdruck kommt, verschärft sich noch sehr
wesentlich, wenn wir fragen: wie viele Personen
über die ökonomische Verwaltung des
Vermögens verfügen? Dann werden die
ersten 10 Milliarden Mark, welche 1905 noch 1500 Personen
gehörten, vielleicht von nur 30 Personen
verwaltet! Wir haben oben von der
Konzentrationsbewegung der Grossbanken erfahren, dass die
vier Berliner Grossbankgruppen, welche zu Anfang der 70er
Jahre etwa über ein Volksvermögen von 200
Millionen verfügten, heute mindestens auf eine
Kapitalsherrschaft von 20 Milliarden Mark herabschauen.
Mit diesen Grossbanken hatten sich 1905
385 deutsche
industrielle Syndikate mit 12'000 beteiligten Betrieben
verbunden. Schon im Jahre 1903/04 waren nach Dr. O.
Jeidels sechs Berliner Grossbanken für 1350
industrielle Gesellschaften und Kreditbanken die
Zahlstellen für Zinsen, Dividenden, ausgeloste
Schuldverschreibungen usw. Das Adressbuch der Direktoren
und Aufsichtsräte 1904/5 zeigt, dass einzelne
Personen bis 35 Aufsichtsratsstellen in sich vereinigen.
Zwischen den leitenden Personen der Grossbanken und der
grossindustriellen Syndikate ist in den letzten Jahren
ein umfassender Austausch von Aufsichtsratsstellen
durchgeführt worden, so dass in der Bankwelt wie in
der industriellen Welt zuletzt immer die gleichen
Personen das Heft in Händen haben. Schon 1903
verfügten nach Franz Eulenburg die
damals noch sechs Berliner Grossbanken durch ihre
Direktoren und eigenen Aufsichtsräte über 750
Aufsichtsratsstellen anderer grosser
Aktiengesellschaften. Nach dem „Deutschen
Oekonomist“ vom 17. August 1907 ist im Jahre 1906
diese Zahl der Verwaltungsämter bei 67 Berliner
Bankgewaltigen schon auf 1231 gestiegen. Die
eigentliche Verwaltungsherrschaft für gewiss die
Hälfte des deutschen Volksvermögens liegt so
heute tatsächlich in den Händen von vielleicht
150 Personen. Die ganz überwiegende Masse der
Reichen begnügt sich mit der Position eines
arbeitslosen Rentners, der höchstens sich darauf
beschränkt, fortlaufend den Börsenkurszettel
bei seinem Morgenkaffee zu studieren. Die ungleich
grössere Masse der fast Vermögenslosen (in
Preussen heute wohl 86 1⁄2% der Gesamtbevölkerung!) ist
mit ihrem Lebensunterhalt auf Dienstleistungen bei diesen
150 führenden Kapitalisten angewiesen, soweit sie
nicht im Staats- oder Kommunaldienst Unterkunft gefunden
haben.
Zu allen Zeiten der Geschichte hat die Ansammlung eines masslosen Reichtums mit „heidenmässig viel Geld“ einen nicht minder masslosen Luxus hervorgerufen. So auch heute.
Nach einer englischen Zeitschrift haben die
Schönheitsspezialisten des Londoner Westends unter
ihren Kundinnen solche, die für die Vorbereitungen
zu einem Gesellschaftsabende 200, 300, ja 400 Mark
für ihren Schönheitsdoktor ausgeben. Die
betreffende Dame wird mit Dampf behandelt und massiert,
ihr Haar wird gebürstet und parfümiert,
gegebenenfalls neu gefärbt. Hände, Arme und
Nacken werden mit grösster Sorgfalt behandelt, mit
allerlei geheimnisvollen Salben gebleicht; dann schreitet
man zum Aufbau der Frisur, Locken und Löckchen
werden kunstvoll arrangiert. Besonders schwierig ist ein
geschicktes Schnüren. Bei all diesen Manipulationen
darf die „Schöne“ nur leichte Nahrung
geniessen. Besondere Droguen verleihen den Augen Glanz
und Helligkeit. Eine reiche Dame der Londoner
Gesellschaft hat es sich zur Gewohnheit gemacht, bei all
ihren Reisen sich von einem ganzen Stabe von
Schönheitsspezialisten begleiten zu lassen. Ein
anderer englischer Fachmann berechnete die
Toilettenkosten der reichen Amerikanerinnen in England in
folgender Weise: Die Ausstattung an Kleidern, Wäsche
usw. kostet bis 200'000 Mark. Dazu kommt
ein „anständiger“ Schmuck für etwa
300'000 Mark. Die teuerste aller Toiletten ist die
Kurrobe zur Vorstellung bei Hofe. Billiger wie für
100'000 Mark lässt sie sich, wenn sie Aufsehen
erregen soll, kaum herstellen. Hat doch die Kurrobe der
Herzogin von Marlborough, geborene Vanderbilt, rund eine
halbe Million Mark gekostet. Sehr teuer ist auch die
Winterausrüstung mit Pelzwerk. Seine Anfertigung in Paris bei
sorgfältiger Auswahl der einzelnen Pelzteile wird
immerhin 30'000 Mark beanspruchen. Für ein Ballkleid
rechnet dieser Statistiker durchschnittlich 1600 Mark.
Davon muss die reiche Amerikanerin dreissig parat haben.
Ueber dem Ballkleid trägt sie wohl einen Abendmantel
mit Hermelin bis zu 20'000 Mark. Für Hüte
müssen jährlich etwa 4000 Mark ausgesetzt
werden. Für Spitzenwäsche jährlich 14'000
Mark. Dagegen sollen für Schuhe und Strümpfe
5000 Mark, für Handschuhe und Taschentücher
höchstens 6000 Mark genügen. Alles in allem
muss darnach eine reiche Amerikanerin jährlich
120'000 Mark haben, um sich ihrem Range entsprechend
kleiden zu können.
Von oben herab sickert dann das Gift des übermässigen Luxus in das Volk. Englische Zeitschriften brachten jüngst zwei Schneiderrechnungen für junge Damen des englischen Mittelstandes, die eine vom Jahre 1875, die andere vom Jahre 1905.
Die Rechnung von 1875 führte an:
ein im Hause genähtes Kleid . . . . . . Mk. 50 für eine Abendtoilette . . . . . . . „ 84 für einen mit Pelz besetzten Wintermantel. . „ 63 für 2 Winterhüte . . . . . . . . . . „ 30 für einen Flanellunterrock . . . . . . „ 17 für einen seidenen Unterrock . . . . . . „ 21 für Schuhe und Handschuhe . . . . . . . „ 21 für Wäsche und Korsets . . . . . . . . „ 70 für 1 Pelzmuff . . . . . . . . . . „ 10 --------- Im Ganzen: Mk. 366
Die Rechnung für 1905 lautete:
2 Schneiderkleider . . . . . . . . . Mk. 217 2 Besuchskostüme . . . . . . . . . . „ 252 2 Abendtoiletten . . . . . . . . . . „ 275 --------- Zu übertragen: Mk. 744
Uebertrag: Mk. 744 seidene Unterröcke . . . . . . . . . „ 110 1 Abendmantel . . . . . . . . . . . „ 70 6 Hüte . . . . . . . . . . . . . „ 166 Wäsche und Korsets . . . . . . . . . „ 158 für Pelzkragen und Pelzmuff . . . . . . „ 210 für Handschuhe, Schuhe, Gürtel, Bänder . . „ 105 --------- Im Ganzen: Mk. 1563
Wie passen diese so rasch gewachsenen Ansprüche zu dem Rückgang des städtischen und ländlichen Mittelstandes im Vermögen wie im Einkommen?
Was eine Wohnung in Berlin-Westend heute enthalten muss, erfährt man aus einer Ankündigung im Mai 1907: „Hochherrschaftliche 8 bis 9-Zimmerwohnungen mit grosser Diele, Bad, 3 Klosetts, geschmackvoll ausgebaut, Warmwasserheizung, Warmwasserversorgung, Fahrstuhl, elektrische und Gasbeleuchtung, Vacuum-Reinigung, Müllschacht, Stahlpanzer-Safes, Mottenkammer, in jeder Wohnung eine Normaluhr, Roll- und Plättstube und Teppichklopfmaschine.“ Eine solche Wohnung kostet Jahresmiete 10'000 bis 12'000 Mark und mehr!
Die reichen Leute wollen indes nicht nur eine Wohnung
in der Stadt, sie streben auch nach einem
Luxusbesitz auf dem Lande und kaufen zu
diesem Zwecke Rittergüter und Bauernhöfe im
Lande zusammen. Der Antrag der Abgeordneten Dr.
Hahn und Engelbrecht im preussischen
Abgeordnetenhause gegen die Aufsaugung des
bäuerlichen Grundbesitzes durch das Grosskapital
(Session 1906/07) führte folgende Zitate aus den
Jahresberichten der landwirtschaftlichen Vereine
und Landwirtschaftskammern an: Jahresbericht des
landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreussen 1893,
Seite 5: „Das Grosskapital, welches sich durch die
Industrie in einzelnen Händen angesammelt hat,
bemächtigt sich allmählich eines Bauernhofes nach dem anderen und verpachtet
diese wieder meistens an auswärtige Leute.“
— 1897, Seite 10: „Auch im Kreise Lennep
macht sich die Erscheinung geltend, dass
Grosskapitalisten Grund und Boden, wie auch ganze
Landgüter, aufkaufen, um einen Teil ihres Reichtums
anzulegen und ihre Macht und ihr Ansehen zu erweitern und
zu befestigen. Vielfach wird auch Ackerland aufgeforstet.
Die Ausübung der Jagd scheint hierbei eine gewisse
Rolle zu spielen.“ — „Aus dem Kreise
Bergheim wird berichtet, dass in geradezu erschreckender
Weise die Latifundienbildung durch Landankauf seitens
hier ansässiger Kapitalisten zunimmt. In einzelnen
Gemeinden sind die genannten Kapitalisten bereits
völlig Herr der Lage geworden. Nicht nur kleine,
auch mittlere und grössere Landwirte werden nach und
nach ausgekauft und sinken grösstenteils zu
Arbeitern herab, die dann in den sich stets mehrenden
Fabriken ihr Brot suchen müssen.“ 1899, Seite
9: „Der Aufkauf bäuerlichen Eigentums durch
Industrielle und Grossgrundbesitzer nimmt weiteren
Fortgang.“ Seite 104: „Die Gründe der
steigenden Bodenpreise sind darin zu suchen, dass
Grosskapitalisten ihre in industriellen Unternehmungen
verdienten Kapitalien in Grund und Boden anzulegen
streben.“ Jahresbericht der
Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz
1905 S. 119: Einmal legen manche Industrielle ihr Geld in
Grundbesitz an. Da ihnen weniger an der
Rentabilität des Betriebes gelegen ist, zahlen sie
höhere Preise, die nun auch auf die Grundpreise der
nächsten Umgebung einwirken.“
Jahresbericht der Landwirtschaftskammer für
die Provinz Westfalen 1905, Seite 79: „Die
Zahl der Eigenbetriebe geht bei den grossen Ankäufen
der Industrie immer mehr zurück und die Pachtungen
nehmen zu, weil die Industrie die angekauften Besitzungen
zunächst noch verpachtet.“ S. 99 Sauerland:
„Die Ankäufer sind bei ganzen Gütern
meist Grossgrundbesitzer und
Kapitalisten, die letzteren namentlich dann, wenn dadurch
eigene Jagdberechtigung erworben wird.“
All die Vorkommnisse wirken natürlich auf die Preisbewegung der landwirtschaftlichen Grundstücke ein, welches Thema in den Jahren 1906 und 1907 häufig in besonderen Artikeln der „Deutschen Tageszeitung“ und der „Deutschen Agrarkorrespondenz“ von Edmund Klapper erörtert worden. Von diesen Angaben interessieren hier etwa die folgenden:
Der Marktpreis des landwirtschaftlichen Besitzes war mit den Caprivi’schen Handelsverträgen so ausserordentlich gesunken, dass nach den Erhebungen der Buchführungsstelle der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (Dr. Stieger) für 100 Güter in Ostpreussen, Westpreussen, Brandenburg, Pommern, Posen und Schlesien, nach Abzug des Versicherungswertes der Gebäude, des lebenden und toten Inventars wie der Erntehagelversicherung vom Kaufpreise für den Kulturwert des Bodens rund 120 Mark pro Hektar von den Kaufpreisen aus 1894 bis 1898 entfielen. Diesem Tiefstande der Grundpreise ist in den letzten Jahren in bestimmten Gegenden von Deutschland ein erhebliches Anziehen der Preise gefolgt. Die von der Königlichen Ansiedelungskommission in Westpreussen und Posen gekauften Grundbesitzungen haben in dem bezahlten Preise das Vielfache des Grundsteuerreinertrages vergütet:
Diese Güterpreissteigerung führt sich in Westpreussen und Posen zurück auf die Konkurrenz der Ansiedlungskommission, des Domänenfiskus, der polnischen Parzellierungsbanken und anderer Grundstücksspekulanten im Ankauf von landwirtschaftlichen Besitzungen.
Wie bedeutend diese prozentuale Steigerung ist, zeigt
ein Vergleich mit den Grundpreissteigerungen in der
Stadt Charlottenburg. Nach einer neuesten
Untersuchung des städtischen statistischen Amtes ist
der Preis pro Quadratmeter bebauten Grundes
in der ganzen Stadt gestiegen von 113,52
Mark 1898 auf 161,56 Mark 1906. Das ist eine
Preissteigerung um etwa 50% in 8
Jahren. Ungefähr ebenso gross ist die
Preissteigerung für unbebauten Grund
und Boden, nämlich von 13,87 Mark 1898, auf 19,86
1906. In den einzelnen Bezirken der Stadt ist die
Preisbewegung natürlich eine recht verschiedene. So
hat allein in den letzten drei Jahren 1903 bis 1906 das
Schlossviertel 3 eine Preissteigerung um 94,6%, das Schlossviertel 1 um 79,4%, am Litzensee
61,7%, am Spandauerberg
61,4%, im Hochschulviertel 7
volle 57,2% erreicht. Die
Preisbewegung hat damit in zwei Stadtbezirken 400 Mark
pro Quadratmeter überschritten.
Eine andere Art von Preissteigerung der landwirtschaftlichen Besitzungen ist in der Umgegend von Berlin und namentlich auch an der Strecke Dresden—Görlitz—Breslau eingetreten. Reich gewordene Industrielle, Grosskaufleute und Bankiers lieben es, bei der zunehmenden Reiselust im Volke, ihren Sommeraufenthalt auf eigenem Besitze zu verbringen. Eine wesentliche Rolle spielen bei diesen Luxuskäufen die Jagd und das Wohnhaus mit Park. Das Automobil hat die Vorliebe für einen solchen Luxusbesitz wesentlich gefördert. Auf eine Ueberzahlung der Besitzung um 100'000 Mark und mehr kommt es diesen neuen Erwerbern nicht an. So werden die alteingesessenen Landwirte durch hohe Preise von ihren Besitzungen weggelockt. Wo keine entsprechenden Rittergüter zu haben sind, werden Bauernhöfe in entsprechender Zahl für diese Luxuszwecke zusammengekauft.
Der Aufkauf der Bauernhöfe als Luxusbesitz für das Grosskapital tritt seit Jahrzehnten besonders scharf in den landschaftlich so schönen österreichischen Ländern hervor. Nach dem statistischen Jahrbuch des kk. Ackerbauministeriums umfassten in Oesterreich die herrschaftlichen Eigenjagden:
1885 | eine | Fläche | von | 6 | Millionen | ha |
1905 | " | " | " | 8,2 | " | " |
Nach dem bei Walter Schiff
(Oesterreichische Agrarpolitik seit der Grundentlastung
1898) zusammengestellten Material (Band I, S. 649 ff.)
ist dieser Flächenzuwachs der Eigenjagd um 2,2
Millionen ha zum wesentlichen Teile auf den Ankauf von
Bauernhöfen und Almen zurückzuführen. In
Salzburg umfasst das Jagdgebiet von sechs Mitgliedern fürstlicher
Häuser, sechs Grafen, sieben Freiherren, acht
adligen Jagdgesellschaften und sechs Bürgerlichen
52% der ganzen
Landesfläche. In Oberösterreich
umspannen die vierzehn grössten Jagdreviere
30% der Landesfläche.
Aehnliche Verhältnisse finden sich in Kärnten,
Tirol, Voralberg, Böhmen, Mähren,
Niederösterreich, Schlesien, aber auch in den
Sudeten- und Karpatenländern. Die bäuerliche
Besitzfläche und mit ihr die Viehhaltung geht
zurück, um dem Jagdsport der reichen Leute Raum zu
geben.
In Grossbritannien kaufen die reichen Amerikaner berühmte englische Familiensitze auf. So hat Carnegie „Skribo Castle“ erworben, das durch Lord Lytton bekannt geworden ist. Ein anderer Amerikaner hat vom Herzog von Westminster „Clivenden“ abgekauft u.s.w.
Diese Handänderungen scheinen jedoch sozial weniger bedenklich, weil schliesslich hier nur ein Personen- und Familienwechsel im Luxusbesitz in Frage kommt, keine Umwandlung sozial produktiver Ländereien in einen reinen Luxusbesitz des Grosskapitals.
Nach dem ausgezeichneten „Leitfaden zur Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches“ von Dr. Zacher (1906) stellten sich die Beitragslasten der gesamten deutschen Arbeiterversicherungen im Jahresdurchschnitt wie folgt:
Arbeitgeber: Arbeitnehmer: Reich: Zusammen: Krankenversicherung 5,15 Mk. 10,30 Mk. — 15,45 Mk. Unfallversicherung 6,08 " — " — 6,08 " Invalidenversicherung 4,65 " 4,65 " 2,88 Mk. 12,18 " ================================================ Zusammen: 15,88 Mk. 14,95 Mk. 2,88 Mk. 33,71 Mk.
Demgemäss haben die Arbeiter
noch nicht die Hälfte des Gesamterfordernisses
aufzubringen (von 33,71 Mk. nur 14,95 Mk.) und erhalten
an Entschädigung regelmässig mehr ausgezahlt,
als sie an Beiträgen einzahlen.
Auf Grund dieser Gesetzgebung sind in den Jahren 1885 bis 1905 bereits folgende Entschädigungen gewährt worden:
Krankenversicherung: (seit 1885) Krankengeld 1'114'629'489 Mk. Arzt 514'803'920 „ Heilmittel 402'757'651 „ Anstaltspflege 303'061'148 „ Sterbegeld 83'763'839 „ Wochenbett 36'543'672 „ Sonstige Leistungen 38'414'074 „ ================= 1885 bis 1904: 2'493'973'793 Mk. Dazu 1905: 205'000'000 „ ================= Summa: 2'744'000'000 Mk. Unfallversicherung: (seit 1885) Unfallrente 759'172'928 Mk. Hinterbliebenen-Rente 191'777'559 „ Heilverfahren 34'275'716 „ Anstaltspflege 55'010'333 „ Sterbegeld 6'927'990 „ Witwen-Abfindungen 7'747'570 „ Ausländer-Abfindungen 2'846'489 „ ================= 1885 bis 1904: 1'057'758'585 Mk. Dazu 1905: 136'000'000 „ ================= Summa: 1'194'000'000 Mk.
Invalidenversicherung: (seit 1891) Invaliden-Rente 560'486'961 Mk. Altersrente 336'472'378 „ Heilverfahren 55'371'747 „ Beitragserstattungen: a) bei Heirat 38'025'117 „ b) bei Tod 13'422'508 „ c) bei Unfall 171'201 „ ================= 1891 bis 1904: 1'003'949'912 Mk. Dazu 1905: 162'000'000 „ ================= Summa: 1'166'000'000 Mk.
so dass bis Ende 1905 im ganzen rund 70 Millionen Personen (Erkrankte, Unfallverletzte, Invalide und deren Angehörige) 5 Milliarden Mark an Entschädigung erhielten. Dabei haben die Arbeiter nur die kleinere Hälfte an Beiträgen aufgebracht und bereits 2 Milliarden Mark mehr an Entschädigung erhalten, als an Beiträgen gezahlt. Gegenwärtig werden für diesen Zweig der Arbeiterfürsorge in Deutschland schon täglich 1,5 Millionen Mark aufgewendet, während die angesammelten Vermögensbestände bereits 1,7 Milliarden erreichen. Davon sind 500 Millionen Mark für den Bau von Arbeiterwohnungen, Kranken- und Genesungshäusern, Volksheilstätten, Volksbädern und ähnliche Wohlfahrtseinrichtungen verwendet worden.
Durch die Wohltaten dieser Versicherungsgesetze ist
zweifelsohne jener Teil der Armenlasten, welcher
früher für die verarmten Arbeiter aufgebracht
wurde, wesentlich gemindert worden. Trotzdem sind
die Armenlasten seit 1885 weiter gewachsen, wie
namentlich das „statistische Jahrbuch der
Stadt Berlin“ bestätigt. Die
mittlere Zahl der Almosenempfänger, Pflegekinder und
Extraunterstützten war in Berlin:
Der Gesamt- betrag der ge- währten Unter- stützungen war pro Kopf: 1885 : 25'365 Personen oder 1,97 % der Bevölkerung 118,12 Mark 1890 : 29'117 " " 1,86 " " 128,33 " 1895 : 39'077 " " 2,38 " " 140,77 " 1900 : 44'564 " " 2,41 " " 155,66 " 1905 : 50'489 " " 2,25 " " 168,24 "
Von diesen Almosenempfängern standen 1906 im Alter von über sechzig Jahren 72,50% aller erwachsenen Unterstützten, im Alter von über siebzig Jahren noch 37,65%, im Alter von über 80 Jahren 7,92%, mehr als 80 Jahre zählten 93 oder 0,28%!
Pro Kopf der Bevölkerung war der Zuschuss zu den Kosten der Armenpflege der Stadt Berlin
1895/6 | = | 7,3 | Mark, | |
1899/0 | = | 7,71 | " | |
1904/5 | = | 9,69 | " | . |
Die Gesamtkosten der städtischen Armenpflege erreichten 1905/6 23'988'119 Mk.
In städtischer Fürsorgeerziehung waren Minderjährige untergebracht:
1903/4 | : | 1948, |
1904/5 | : | 2502, |
1905/6 | : | 2835. |
Die städtischen Ausgaben für diese Fürsorgeerziehung sind gestiegen:
von | 44'624 | Mark | 1900 |
auf | 188'027 | " | 1902 |
und | 400'000 | " | 1905 |
Neben den vielen gut ausgestatteten städtischen
Anstalten, welche der Armenpflege dienen, gab es in
Berlin 1905 noch 107 Wohltätigkeitsvereine der
verschiedensten Art mit zum Teil ansehnlichen Einkommen
und Vermögen. Die
städtische Kasse hat den weniger bemittelten
Wohltätigkeitsvereinen 1905 Geldunterstützungen
im Betrage von 1'179'264 Mark gewährt.
Also: trotz des Milliardenaufwandes der staatlichen Arbeiterversicherungsanstalten ein rasches Anwachsen der Armenlasten! Der Oberbürgermeister Dr. Adickes hat vor kurzem im Frankfurter Stadtparlament diese Entwicklung in folgende Worte zusammengefasst: „Hier (in Deutschland) will man darauf hinaus, sukzessive alles dem Einzelnen abzunehmen und der Allgemeinheit aufzubürden. Dadurch geht das Verantwortlichkeitsgefühl verloren, wie sich das in den vielen Simulationen bei den Krankenkassen zeigt. Bei den Schulen heisst es zuerst: „Schafft unentgeltliche Lehrmittel!“ dann fordert man Frühstück und Mittagessen für die Schulkinder, Kleider und Schuhe und schliesslich vielleicht noch Petroleum und Heizung, denn die Kinder sind schlecht genährt und zu Hause fehlt es ihnen an Licht und Wärme. Wo bleibt da die Pflicht des Einzelnen, für sich und die Seinen zu sorgen? Ich muss deshalb davor warnen, aus prinzipiellen Gründen, Wohltaten auszustreuen.“
Die Familie, der Hort der Erhaltung unserer bisherigen
Gesellschaft, zeigt fast allerwärts bedenkliche
Auflösungserscheinungen. Für die
Proletarierfamilie hat uns Werner Sombart
das in seinem „Proletariat“ anschaulich
geschildert. Die Ehestatistik in der modernen Romanwelt
bestätigt dieselbe Erscheinung auf jeder Seite. Die
anständig verheiratete Frau
erfreut sich bei den Romanschreibern der Gegenwart keiner
grossen Beliebtheit mehr. Ein englischer Kritiker hat
kürzlich eine Statistik aufgestellt, aus der sich
ergibt, dass aus achtzig englischen Romanen siebzehn die
Ehe als eine überlebte Institution lächerlich
machen, elf von der Nützlichkeit der Ehescheidung
handeln, zweiundzwanzig die freie Liebe verteidigen,
sieben sich über die eheliche Treue lustig machen
und dreiundzwanzig sogar von der Ehe in geradezu
skandalöser Weise sprechen. Was aber das
Sonderbarste ist, alle diese Romane sind von —
Frauen geschrieben worden.
Auf den bedenklichen Rückgang der Geburten und die wachsende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder selbst zu stillen, ist oben bereits verwiesen worden.
Fast unsere ganze moderne Geistesrichtung zeigt
einen decadenten Charakter. Schriftsteller, die
kaum der Schule entwachsen sind, vertreten den nackten
Materialismus als Weltanschauung. Der Ichkultus des
Adelsmenschen Ibsen’s und des Uebermenschen
Nietzsche’s wird noch übertrumpft. Dieses
Leben geht mit dem Tode zu Ende. Deshalb muss man dieses
Leben möglichst zu geniessen trachten.
Friedrich Paulsen beginnt seine jüngst
(„Woche“ vom 30. November 1907) erschienenen
Betrachtungen „Zum Kapitel der geschlechtlichen
Sittlichkeit“ mit folgendem Satze: „Es ist,
als ob alle Dämonen losgelassen wären, den
Boden des deutschen Volkslebens zu verwüsten. Im
geschäftlichen Grossbetrieb wird unter dem Titel des
Problems der „«Homosexualit»“ die
Sache eines abscheulichen Lasters geführt, als ob es
sich um eine gleichberechtigte Spielart des
Geschlechtslebens handle. Rasende Weiber verkünden
in Traktaten und Romanen das „«Recht auf
Mutterschaft»“, auch wenn ein Vater für
das Kind nicht zu haben sein sollte. Irrende Poeten
predigen reiferen jungen Mädchen die Notwendigkeit
und das Recht, sich am
„«Heckenweg»“ einstweilen die
Freuden zu suchen, die ihnen sonst vorenthalten bleiben
möchten. Fanatische Gläubige der
Aufklärung beiderlei Geschlechts fordern mit
Ungestüm die Einführung der Jugend in die
Geheimnisse des Geschlechtslebens durch naturhistorischen
Anschauungsunterricht. Und dass die „«freie
Liebe»“ bestimmt sei, das System der alten
unerträglich gewordenen
„«Zwangsehe»“ zu ersetzen, ist in
den Kreisen freier Literaten und unverantwortlicher
Politiker längst ausgemachtes Dogma.“
Neben dem Recht „sich auszuleben“, steht das andere Recht, „sich die dazu erforderlichen Mittel zu beschaffen.“ In rücksichtsloser Erwerbssucht wird jede Konkurrenz nieder zu treten versucht. Unsere laxen gesetzlichen Bestimmungen über den unlauteren Wettbewerb und der noch laxere Schutz der Privatehre des Einzelnen erleichtern diese raubtierartige Erwerbspolitik ganz wesentlich. Das alles muss die Gesundheit des Volkes ungünstig beeinflussen.
Nach den Veröffentlichungen des preussisch-statistischen Landesamtes waren die Fichtennadelbäder und Kaltwasserheilanstalten in Preussen besucht worden im
Jahre 1870 1880 1890 1900 ============================== von 383 6336 17513 36963 Personen.
Die in den Anstalten für Geisteskranke verpflegten Personen waren nach der gleichen Quelle in Preussen:
1881/90 1891/1900 1904 ================================== 34781 57191 92720
Die Summe der behandelten Krankheitsfälle
in den allgemeinen Heilanstalten des preussischen
Staates war:
1877 1890 1900 1904 ======================================= 216016 455605 748686 960815
Trotzdem in der gleichen Zeit die Zahl der privaten Heilanstalten ganz wesentlich zugenommen hat. Denn es gab in Preussen auf 10'000 Einwohner Aerzte und Wundärzte:
1825 1898 1905 =========================== 4,6 4,7 5,5
in dem gleichen Jahre in Berlin 14,0, Schleswig-Holstein 5,8, Rheinpreussen 5,2, Westpreusssen 3,5.
Der moderne „Ich-Mensch“ kennt
natürlich nichts von einer Aufopferung für
andere. Vergleiche die Berichte über das Verhalten
der Pariser Bonvivants während des berühmten
Bazarbrandes im Mai 1897! Jedenfalls hat
unter dem Einfluss unserer allgemeinen
Wirtschaftsverhältnisse die Prostitution stark
zugenommen. Nach von Boltenstern gibt es
heute in Berlin z. B. 20'000 Prostituierte, wovon jedoch
— nach dem ausgezeichneten „Handbuch
der medizinischen Statistik“ von
Prinzing (1906) — nur der kleinste
Teil auf „abnorme Veranlagung“
zurückzuführen ist. Die Masse der
Prostituierten geht meist im Elend zu Grunde. Aber
Einzelnen gelingt es allerdings, durch
„Verhältnisse“ mit der „jeunesse
dorée“, sich und ihre Kinder reichlich zu
versorgen. Daneben zeigt sich eine bedenkliche Zunahme
der Geschlechtskrankheiten. Nach Prinzing
wurden am 30. April 1900 in Preussen über 40'000
syphilitische Erkrankte in Behandlung
gezählt. Diese Seuche muss mit dem Alkoholismus und
dem „Nachtleben“ auch nach Prinzing zur
Entartung der Bevölkerung in den Grossstädten
führen. Die allgemeine Zunahme der
Kurzsichtigkeit kann nicht mehr bestritten werden.
Wo, wie in Paris, raffinierteste Genusssucht sich
materiell sicher gestellt fühlt, paart sich der
hervorstechende Zug der Sinnlichkeit mit dem
Mystizismus und erzeugt die Buddhisten- und
Brahminen-Gemeinden, die
Jünger des Zoroaster, die
Gnostiker, Satanisten, die
Isisgemeinde u.s.w.
Weil es nach der modernen Auffassung kein Jenseits gibt, erfährt das Diesseits eine übertriebene Wertschätzung. Und wo dem materialistischen Streben keine genügenden Erfolge zufallen, findet sich die Unzufriedenheit mit dem Pessimismus und einer falschen Sentimentalität ein. Aus Nordamerika wurde jüngst von „Selbstmordepidemien“ berichtet. Junge Damen, welche gemeinsam das Gymnasium absolvierten, schlossen sich zu einem „Selbstmordklub“ zusammen, um sich gemeinsam zu vergiften.
Unsere deutsche Litteratur feiert heute in Kellnerinnen- und Dirnenromanen wahre Orgien. Professor Eulenburg hat kürzlich einen Vortrag über Schülerselbstmorde in Preussen gehalten, dessen Daten dem amtlichen Material der preussischen Schulbehörden entnommen wurden. Danach sind in den Jahren 1880 bis 1903 1152 Schülerselbstmorde in Preussen vorgekommen. Hiervon entfielen 956 auf männliche Schüler, 196 auf Schülerinnen.
Bei Abwägung der Schuldfrage senkt sich nach dem Referenten die Wagschale tief zu Ungunsten des Hauses. In viel zu zahlreichen Fällen zeigte sich die Familie der ihr gestellten erzieherischen Aufgabe nicht im mindesten gewachsen. Als besondere Motive werden angeführt: erbliche Belastung, verkehrte Lebenshaltung und Erziehung, unverdaute Lektüre, religiöse Zweifel, Frühreife, geschlechtliche und alkoholische Ausschweifungen.
Diese decadente Richtung unserer Zeit ist
unzertrennbar verbunden mit unserer Presse,
unserer Litteratur und
unserer Kunst. Martin Luther sagt einmal,
rein referierend auf Grund eigner Beobachtung seiner
Zeitverhältnisse: „Wenn Du etwas schreibst in
der Meinung: „«warte Publikum, ich will Dir
zeigen, was Du lesen sollst, um Dich zu bessern und
fortzubilden»“, so wirst Du
kaum ökonomischen Erfolg haben. Willst Du aber
Erfolg haben, so gehe hinaus auf den Hof und schaue den
Mägden auf das Maul und so wie die reden, so
schreibe, dann wird Dein Buch sicher gekauft
werden!“ Ein wesentlicher Teil unserer modernen
Literatur und ein gut Teil unserer Zeitungen scheinen
heute auf dem Hofe den Mägden auf das Maul zu
schauen, um zu schreiben, „so
wie die reden.“ Eine Reihe von Witzblättern
erfreuen sich aus diesem Grunde international eines recht
bedenklichen Rufes. In immer weiteren Kreisen erkennt
man, dass es sich hier um Machwerke einer
gewöhnlichen Geldspekulation handelt. Der materielle
Erfolg dieser Witzblätter lässt die modernen
Dichter und Schriftsteller nicht ruhen. Den gleichen
Spuren folgt die moderne Zeitungsberichterstattung. Nicht
genug, dass wir täglich von scheusslichen Verbrechen
der verschiedensten Art lesen, die Aburteilung dieser
Verbrecher muss mit einer hingebenden Sorgfalt verfolgt
werden, als handle es sich um ein welterschütterndes
Ereignis. Daneben spielen ungeheuerliche Versuche, die
Richter zu beinflussen. Inzwischen ist der Verbrecher,
der seiner wohlverdienten Strafe zugeführt werden
soll, ein international berühmter Mann geworden. Die
herrschende Profitwut unserer Zeit prägte den
Wucherbegriff um, führte die Wucherfreiheit ein und
hat nur für den missglückten, nicht aber
für den erfolgreichen Raubzug Worte der
Verurteilung. Die gleiche Profitwut widmet sich in der
Presseberichterstattung der „Bestie im
Menschen“ und versteht es fast regelmässig,
für diese Bestie eine durchaus perverse Art
von Sympathie in der
Bevölkerung wachzurufen. Dieser Verbrecherruhm muss
bei unserem so systematisch verbildeten Volksempfinden
notwendigerweise zu neuen Verbrechen führen. Ganz
gleichgültig! Die Erwerbssucht der Zeitungen
flüchtet sich hinter das Schlagwort
„Pressfreiheit“ und darf darin nicht
gestört werden. Den gleichen Weg im Dienste der
Menschenbestie beschreitet die Reproduktion und
Verbreitung gewisser Kunstwerke. Das Reichsgericht
scheint vergessen zu haben, dass Eines sich nicht
für Alle schickt und dass das gleiche Kunstwerk,
verschiedenen Personen in verschiedenen
Entwicklungsaltern zugänglich gemacht, ungemein
verschiedene Wirkungen hervorrufen muss. Die
Sittlichkeitsverbrechen, speziell begangen an
Mädchen unter 14 Jahren, nehmen in Deutschland rasch
zu. Von den im Jahre 1904 wegen Sittlichkeitsverbrechen
5385 Verurteilten waren 1064 Jugendliche im Alter von 12
bis 14 Jahren. Man sollte denken, dass unter solchen
Umständen alles verhütet wird, was die
Sinnlichkeit in öffentlichen Lokalen und an den
Strassen und Plätzen zu erregen geeignet wäre.
Aber — dadurch würden ja alle jene
„Geschäfte“ leiden, welche aus der
Spekulation auf die Sinnlichkeitserregung
ein Gewerbe gemacht haben. Und da Presse und Litteratur
nur zu vielfach auch vom „Bestiendienst“
Vorteile ziehen, ist flugs das Schlagwort zur Hand:
„Ein vom künstlerischen Standpunkt nicht
unzüchtiges Bild kann durch die subjektive
Willensrichtung des Verbreitenden nicht zu einem
Unzüchtigen werden“. Und „die Kunst muss
frei sein“! Im gleichen Sinne haben sich die
Römer noch für ihr Recht begeistert, als schon
ihre Welt zu Grunde ging
Bei allen Völkern hat das kapitalistische
Zeitalter eine stark ausgeprägte Vorliebe für
die Form, statt für die Sache, für das Formale,
statt für das Materielle, für die Paragraphen, statt für die
Prinzipien der Gesetze gehabt. „Kein Verbrechen
ohne Gesetz, keine Strafe ohne Gesetz!“ Wenn aber
der Verbrecher es versteht, mit Hülfe eines
raffinierten, teuer bezahlten Rechtsanwalts nachzuweisen,
dass seine Handlung unter keinen der geltenden
Paragraphen fällt, dann geht das Verbrechen
straffrei aus und der Verbrecher erntet heute noch Ruhm
und Ehre. Ein gewerbsmässiger internationaler
Hoteldieb lernt bei einer Dirne in Paris, die
vorher ein reicher Lord in einem Institut hat erziehen
lassen, die sogenannten besseren Umgangsformen und
heiratet dann die Tochter aus einer deutschen
standesherrlichen Familie. Solange dieser Mann mit
gestohlenem Gelde seine Börse gut füllen
konnte, verkehrte er in den Grossstädten von
Mitteleuropa in den ersten gesellschaftlichen Kreisen,
wobei ein selbst zugelegter Prinzen- oder Grafentitel die
vorausgegangenen Verurteilungen als gemeiner Verbrecher
verdecken half. Und als diese Verbrecherlaufbahn ihren
Abschluss gefunden zu haben schien, hat eine
hochangesehene Verlagsanstalt es rentabel genug gefunden,
die Selbstbiographie dieses Mannes, die aus den
unglaublichsten Uebertreibungen sich zusammensetzt, gegen
reiches Honorar zu übernehmen. Fast alle Zeitungen
brachten lange Besprechungen. Inzwischen ist eine ganze
Literatur diesem Manne gewidmet. Und der Verbrecher zieht
daraus in seinen alten Tagen ein reiches Einkommen. In
den Lokalblättern der Grossstädte liest man
heute immer wieder, dass ein Hochstapler oder ein
Revolverjournalist Töchter aus hochachtbaren reichen
Familien geheiratet haben. In Spaa, Monte Carlo, an der
Riviera, in Ostende u.s.w. findet
sich die Aristokratie der Geburt und des Geldes mit der
internationalen Verbrecherwelt zu einer echt modernen
Gesellschaft zusammen. Wer über eine gefüllte
Börse und gute Manieren verfügt, hat Zutritt.
Der innere Inhalt des einzelnen
Menschen und die Herkunft des Geldes, das aufgewendet
wird, bleiben gleichgültig —
bis zur nächsten Verhaftung durch die Polizei. Die
tüchtigsten, ehrlichsten Leute, die über
geringere Barmittel verfügen und womöglich gar
noch mit dem Messer essen oder die Serviette an ihrem
Halskragen befestigen, werden in solchen Kreisen
selbstverständlich nicht geduldet.
Bei der Jahrhundertfeier des Leipziger Korps
„Lusatia“ (1907) hielt Hofrat Dr.
Klemm-Dresden eine Festrede, der folgende
treffende Sätze zu entnehmen sind: „Wie oft
bei rasch aufsteigenden Völkern droht auch bei uns
der Moloch eines goldsatten und doch goldgierigen
Protzentums banausischer Emporkömmlinge die edlen
Regungen der Volksseele zu ersticken. Gleichzeitig
verschärft sich der Kampf ums Dasein auf allen
Gebieten des bürgerlichen Lebens. Nicht zum
geringsten unter dem verderblichen Einfluss jener
Banausen und ihres zur Schau getragenen Wohllebens
zeitigt dieser Kampf ein wüstes Strebertum. Durch
Vetternschaft und Cliquenwesen sucht er sich
der Futterkrippen zu bemächtigen und vertritt der
ehrlichen Pflichterfüllung, die nur auf sich selbst
gestellt ist, und auf die Gediegenheit ihrer Leistungen,
dreist und gewissenlos den Weg.“ Dr. Klemm
berührt hier das uralte Problem aller demokratischen
Verfassungen, die Tüchtigkeit sachlicher Leistungen
durch persönliche Beziehungen zum Schaden der
Gesamtheit zu unterdrücken. Kleisthenes
hat in seiner Verfassungsreform für Athen diese
Gefahr für so gross gehalten, dass er lieber
dem blinden Zufall der Auslosung die Ernennung zu
den Staatsämtern anvertraute, als der Vetternschaft
und dem Cliquenwesen. In welchem Masse heute unsere ganze
öffentliche Meinungsfabrik durch solche
persönlichen Beziehungen gefälscht wird, hat
der Streit zwischen Ferdinand Bonn und dem
„Berliner Tageblatt“
recht gut beleuchtet. Bonn schrieb damals: „Man
muss nämlich wissen, dass, wenn man irgend einem
Schmock eine Ohrfeige gibt, so ist das „die“
Presse. Wenn man lachend in einen Revolver schaut, und
sagt: „Ich führe Deine Stücke nicht
auf“, dann wiederholen sämtliche Zeitungen das
Modegeschrei: „Bonn hat die Presse
beleidigt.“ Bei den bevorstehenden
Gerichtsverhandlungen wird man erkennen, dass die
Behörde sich manchmal übel von den Zeitungen
treiben lässt (!) und so furchtbaren Schaden
anrichtet an dem Besitz des deutschen Volkes.
Französische Dirnenstücke, Unzucht und Anarchie
jederart können sich jederzeit sehen lassen. Am
sogenannten Deutschen Theater wird ein Stück
gegeben, das direkt im Bordell spielt. Es gibt viele, die
der literarischen Schreckensherrschaft des Gemeinen und
Hässlichen müde sind. Nicht alle Menschen sind
pervers und verfault. Und wenn die Gesunden und Guten
wüssten, dass es nur ein winziger Konvent von
Schreckensmännern ist, die fortwährend
das öffentliche Gefühl verfälschen, dann
wären nicht gute ideale Künstler und Dichter
zertreten worden, während die Geilen, Zersetzenden,
Verneinenden zu Modegötzen hinauf geschwindelt
wurden.“ Die Redaktion der „Deutschen
Tageszeitung“ bemerkt zu diesen Sätzen:
„Was Bonn hier sagt, sind durchweg
unantastbare Wahrheiten.“
Dieses Vettern- und Cliquenwesen in seinem Kampfe
gegen tüchtigere Leistungen reicht bis in die Kreise
der „reinen“ Wissenschaft. Schon der
Philosoph Locke hat in dem Ansehen der
älteren Universitätsprofessoren eines der
bedenklichsten Hemmnisse im Fortschritt der menschlichen
Erkenntnis erblickt. Denn, wenn ein solcher Professor
zugeben müsste, dass er so viele Jahre von seinem
Katheder herab einen Irrtum vertreten habe, so
müsste ja „sogar sein roter Talar
erröten.“ Also bleibt der Professor im Zweifel ein Gegner neuer
Wahrheiten. Als der englische Arzt William
Harvey (1578—1658) mit seiner Entdeckung des
Blutkreislaufs bei Menschen und Tieren vor die
Oeffentlichkeit trat, wurde er von den Fachprofessoren
seiner Zeit mit Spott und Hohn überschüttet.
Man nannte Harvey den „Zirkulator“. Erst die
Philosophen Bacon und
Descartes, welche der neuen Entdeckung
unbefangener gegenüberstanden, sind für die
Anerkennung der Harveyschen Lehre eingetreten und heute
wird dessen Name neben dem eines Galilei, Kepler und
Newton genannt. Als Friedrich List in den
zwanziger, dreissiger und vierziger Jahren des letzten
Jahrhunderts die Freihandelslehre des Adam
Smith bekämpfte, den deutschen Zollverein
gründete, die Hauptlinien unseres deutschen
Eisenbahnsystems schuf, und eine deutsche Handelsflotte,
eine deutsche Kriegsflotte, deutsche Kolonien und eine
deutsche Industrie forderte, um den Engländern nicht
dauernd die ökonomische Welt zur alleinigen
Ausbeutung zu überlassen, da wurde er von den
damaligen deutschen Professoren für
Nationalökonomie als „ungenügend
gebildeter Dilettant“, als „Mann mit einer
überhitzten Phantasie, dem die ordentliche
Ausbildung fehle“, verhöhnt und auf das
heftigste angefeindet. Die Presse der damaligen Zeit hat
ihn noch mit persönlichen Verdächtigungen als
Spekulant verfolgt. Bald wollte niemand mehr mit einem
politisch so unruhigen Geiste etwas zu tun haben.
Ueberarbeitet und verärgert griff List am 30.
November 1846 zur Pistole. Dann hat die damalige
Professorenliteratur die List’schen Lehren
„verhüttet“, bis sie von Eugen
Dühring wieder ausgegraben wurden. Heute
setzte man diesem selben List schon das fünfte oder
sechste Denkmal als dem „grössten deutschen
Nationalökonomen.“
Deutschland aber ist mit einer Verspätung um
eine Reihe von Jahrzehnten in
die industrielle und koloniale Entwicklung eingetreten.
Etwa um die Zeit, als der vielgequälte List mit der
Pistole seinem Leben ein Ende machte, hat Dr.
Semmelweis in Wien das Wesen des Kindbettfiebers,
dem früher so viele Wöchnerinnen zum Opfer
gefallen sind, richtig erkannt und darauf seine korrekte
antiseptische Behandlung aufgebaut. Aber die
medizinischen Professoren in Wien liessen die Neuerung
nicht zu. Das Wiener Kultusministerium hat sich auf
seiten der Professoren gegen den jungen Forscher
Semmelweis gestellt. Seine epochemachende Entdeckung
wurde totgeschwiegen. Und als dann Semmelweis von
Budapest aus sein fundamentales Werk über das
Kindbettfieber 1861 veröffentlichte, begegnete es
bei seinen wissenschaftlichen Fachkollegen einer so
abfälligen, persönlich gehässigen Kritik,
dass dieser Bahnbrecher wenige Jahre später aus Gram
und Aerger darüber im Irrenhause gestorben ist. Ein
Vierteljahrhundert später, nachdem inzwischen noch
Tausende und Abertausende von Wöchnerinnen sterben
mussten, deren Erkrankung nach der neuen Lehre sicher
verhütet worden wäre, hat die neue Erkenntnis
durch Vermittluug eines Lister, Pasteuer, Helmholtz, Koch
und Bruns sich endlich Bahn gebrochen. Inzwischen hat man
ja auch Semmelweis ein Denkmal in Budapest errichtet.
Robert Mayer, der Galilei des 19. Jahrhunderts und Philipp Reis, der Erfinder des Telephons, fanden bei dem Berliner Professor und Herausgeber der „Annalen für Physik und Chemie“ Poggendorf mit der Bitte um Veröffentlichung ihrer epochemachenden Arbeiten, nur einen abweisenden Bescheid. Das Telephon musste deshalb im Auslande noch einmal entdeckt werden, um dann erst seinen Weg nach Deutschland zu finden und die Robert Mayersche Lehre musste erst im Auslande anerkannt werden, bevor die deutsche Wissenschaft sie als gültig akzeptieren konnte.
Und noch in den letzten Jahren hat
Professor August Bier, jetzt in Berlin,
nachdem er die „Stauungsbehandlung als
Heilmittel“ erkannt hatte, und ein grosses Gebiet
der Chirurgie an die Gummibinde, den trockenen
Schröpfkopf und den Heissluftkasten verwiesen hat,
anderthalb Jahrzehnte gebraucht, bis seine
Entdeckung endlich allgemeine Anerkennung gefunden. Die
hierbei gemachten Beobachtungen haben den ersten
Assistenten von Bier, Professor Klapp,
veranlasst, in einer Veröffentlichung für die
Lebensgeschichte neuer Ideen drei charakteristische
Epochen zu unterscheiden: erste Epoche: die neue Idee
wird von den Fachleuten todgeschwiegen; zweite Epoche:
die neue Idee wird von den Fachleuten scharf ablehnend
kritisiert; dritte Epoche: verschiedene Fachleute
führen den Prioritätsstreit und wollen die neue
Idee schon früher entdeckt haben. Jedenfalls birgt
diese Herrschaft der persönlichen Beziehungen
über den Fortschritt in der Erkenntnis eine eminente
soziale Gefahr in einer Zeit, in welcher sich die
Degenerationserscheinungen im Volke so häufen, wie
das heute der Fall ist und die verzögerte
Anerkennung neuer wichtiger Ideen um mehrere Jahrzehnte
unter Umständen über Sein oder Nichtsein des
ganzen Volkes entscheidet.
Eine weitere Gruppe von Degenerationserscheinungen, die gleichzeitig den wachsenden Unfrieden in der Gesellschaft erkennen lässt, bieten uns die Ziffern der Kriminalstatistik.
Kein geringerer als Professor von Liszt
vertritt die Anschauung: wie das Fieber oder
bösartige Neubildungen auf tieferliegende, das Leben
selbst bedrohende Erkrankungen hinweisen, so sei auch die
Kriminalität unserer Zeit als eine
pathologische Erscheinung zu betrachten und zu
behandeln. Leider bietet auch hier nur die deutsche
Statistik ein gutes Material. Und nach diesem hat die Zahl der Verurteilten
seit 1882 beträchtlich zugenommen. Auf 100'000
strafmündige Angehörige der
Zivilbevölkerung wurden wegen Verbrechen und
Vergehen verurteilt:
1882 | = | 1040, |
1885 | = | 1062, |
1890 | = | 1105, |
1895 | = | 1249, |
1900 | = | 1198, |
1904 | = | 1214. |
Die Gesamtzahl der Verurteilten ist von 1882 bis 1904 von 315'849 auf 505'158 gestiegen.
Wer wurde hier verurteilt? Darauf gibt die Reichsstatistik folgende Auskunft:
Auf 100'000
Verurteilte straf- mündige Personen: |
Auf 100'000 jugendl.
Personen (Alter von 12 bis 18 Jahren): |
||||
männliche: | weibliche: | Verurteilte: | männl.: | weibl.: | |
1882 | 1667 | 379 | 568 | 901 | 235 |
1885 | 1708 | 364 | 560 | 897 | 221 |
1890 | 1787 | 373 | 663 | 1082 | 243 |
1895 | 2067 | 406 | 702 | 1158 | 244 |
1900 | 2039 | 357 | 745 | 1248 | 239 |
1904 | 2118 | 378 | 708 | 1181 | 233 |
Ueberwiegend waren also die Männer an den
Verurteilungen beteiligt und zwar zu einem stetig
wachsenden Prozentsatz als jugendliche Verbrecher, wobei
zu beachten ist, dass die scheinbare Verbesserung der
Ziffern seit 1900 auf die Einführung der
Fürsorge-Erziehung seit dieser Zeit
zurückgeführt werden muss. Die Zunahme der
Verurteilten überhaupt hat von 1882 bis 1904:
59,9% erreicht. In der gleichen
Zeit war die Zunahme der verurteilten Erwachsenen
59,6%, der verurteilten
Jugendlichen 62,8%, während
die strafmündige Bevölkerung überhaupt nur
um 31,2%, die Zahl der
Erwachsenen um 31,4%, die der
Jugendlichen um 30,6% zugenommen hat. Im Jahre 1901 kamen auf
100'000 strafmündige Personen der
Zivilbevölkerung derselben Altersklasse und
desselben Geschlechts Verurteilte:
männliche: | weibliche: | ||||||
12 | bis | unter | 15 | Jahre | alt | 770,4 | 144,8 |
15 | " | " | 18 | " | " | 1733,7 | 345,7 |
18 | " | " | 21 | " | " | 4845,2 | 437,2 |
21 | " | " | 25 | " | " | 4022,5 | 431,5 |
25 | " | " | 30 | " | " | 3263,7 | 461,5 |
30 | " | " | 40 | " | " | 2492,4 | 517,3 |
40 | " | " | 50 | " | " | 1806,4 | 485,0 |
50 | " | " | 60 | " | " | 1129,6 | 312,4 |
60 | " | " | 70 | " | " | 596,9 | 152,9 |
70 und mehr Jahre alt | 222,0 | 53,9 |
Die Verbrechen der männlichen Bevölkerung sind mithin im wesentlichen eine Erscheinung des jugendlichen Alters, während die weibliche Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 50 Jahren die grössere Energie zum Verbrechen zeigt.
Was die Art der Verbrechen betrifft, so hat Liszt schon betont, dass die Verbrechen der rohen Gewalt, wie Bandenraub, Raubmord in den Hintergrund treten, feinere Vermögensdelikte, wie Betrug, Unterschlagung, Urkundenfälschung häufiger werden. Speziell die Diebstahlskurve schliesst sich an die wirtschaftliche Lage der gewerblichen Arbeiter an. Wenn die Bauhandwerker streiken, nehmen die Einbruchsdiebstähle rasch zu. Die harten Interessenkämpfe lassen ferner die Zunahme der Beleidigungen, Körperverletzungen, Hausfriedensbrüche, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung rasch zunehmen. Die Reichstatistik bietet hierzu folgende Ziffern:
Verurteilt wurden wegen Verbrechen
und Vergehen:
I. gegen den Staat, öffentliche Ordnung und Religion:
Personen: Handlungen: 1882/1891 58'892 63'293 1892/1901 78'405 85'902
II. gegen Personen und zwar Beleidigung und Körperverletzung:
Personen: Beleidigung: Körperverletzung: Pers.: Handlg.: Pers.: Handlg.: Pers.: Handlg.: 1882/1891 131'672 104'053 42'575 53'487 74'129 63'501 1892/1901 191'743 210'453 53'104 73'413 114'997 101'991
III. gegen das Vermögen und zwar Diebstahl überhaupt, Betrug und Untreue:
Vermögen: Diebstahl: Betrug, Untreue: Pers.: Handlg.: Pers.: Handlg.: Pers.: Handlg.: 1882/1891 162'999 240'895 108'405 158'951 16'516 36'636 1892/1901 188'101 258'544 115'740 154'834 24'993 48'365 Urkundenfälschung, Verletzung fremder Strafbarer Eigennutz: Geheimnisse: Personen: Handlungen: Personen: Handlungen: 1882/1891 3'287 7'585 9'926 8'869 1892/1901 5'010 9'300 10'453 9'278.
Speziell die Verhältniszahl der Verurteilung Jugendlicher hat im Durchschnitt von 1882/91 bis 1892/1901 zugenommen bei:
Die Kriminalität unserer Jugend ist mithin stetig ungünstiger geworden.
Den Störungen des gesellschaftlichen Friedens durch die Verbrecher stehen zur Seite die Lohnkämpfe der Arbeiter mit ihren „Angriffstreiks“, „Abwehrstreiks“, Aussperrungen, Streikposten, Kämpfen gegen die Arbeitswilligen usw. Nach dem „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ forderte die Streikbewegung in Deutschland innerhalb der letzten sechs Jahre:
Verlust
an Arbeitszeit: |
Verlust an Arbeitsverd.: |
Zahl der | Zu- sammen |
|||||
Aus- ständig: |
Aus- gesp.: |
|||||||
1900 | 1'223'702 | Tage | 4'412'850 | Mk. | 121'803 | 9'385 | 131'888 | |
1901 | 1'194'553 | " | 3'997'082 | " | 55'262 | 5'414 | 60'676 | |
1902 | 965'317 | " | 3'759'350 | " | 53'912 | 10'305 | 56'217 | |
1903 | 2'622'232 | " | 7'675'937 | " | 85'603 | 35'273 | 120'876 | |
1904 | 2'120'145 | " | 7'825'369 | " | 113'480 | 23'760 | 137'240 | |
1905 | 7'362'902 | " | 28'869'200 | " | 408'145 | 118'665 | 526'810 |
Die Baraufwendungen der
Arbeiterorganisationen für diese Kriegsführung
waren nach der gleichen Quelle:
1895 | = | 424'231 | Mark |
1900 | = | 2'936'030 | " |
1905 | = | 10'933'724 | " |
Das „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften“ bemerkt hierzu wörtlich: „Dennoch waren die Kämpfe des Jahres 1905 nur ein Vorpostengefecht eines seiner Entwicklung entgegengehenden grossen schweren Kampfes. Das Proletariat muss noch gewaltige Opfer bringen, um bereit zu sein. Wir müssen die strategischen Bewegungen unserer Gegner, der Unternehmerorganisationen, genau beobachten und unsere Massnahmen danach einrichten. Wir stehen dauernd im Kampfe“. Inzwischen haben sich die persönlichen Beziehungen zwischen den Unternehmern und Arbeitern wesentlich verschlechtert und die Unternehmerorganisationen machen solche Fortschritte, dass sie binnen wenigen Jahren jeder Streikbewegung der Arbeiter unbedingt gewachsen zu sein hoffen. Das alles spielt sich täglich vor den Augen der Staatsgewalt ab, welche zumeist die Rolle des ganz unbeteiligten Zuschauers übernimmt. Aber es handelt sich hier in Wahrheit doch um nichts anderes, als um einen fortwährend sich verschärfenden Bürgerkrieg, wie das neuerdings auch von so hervorragenden Fachleuten, wie Geheimrat Dr. Zacher und Nicholas P. Gilman ausgesprochen wurde.
Damit in diesem Bilde der wachsenden Friedensstörungen auch die Unruhen auf dem Lande nicht fehlen, sei aus neuester Zeit an die Bauernaufstände in Rumänien, Bessarabien, Russland und Frankreich erinnert. Dazu kommen die fast ständigen Agrarrevolten in Ungarn, Italien und Spanien, die allerdings mehr den Charakter von Lohnbewegungen der ländlichen Arbeiter tragen.
Den wachsenden gährenden
Friedensstörungen entspricht eine stetige
Ausbreitung der politischen Partei der Unzufriedenen, der
Sozialdemokratie. Bei den deutschen
Reichstagswahlen wurden sozialdemokratische Stimmen
gezählt:
1871 | : | 101'927, |
1874 | : | 351'670, |
1877 | : | 493'447, |
1878 | : | 437'158, |
1881 | : | 311'961, |
1884 | : | 549'990, |
1887 | : | 763'128, |
1890 | : | 1'427'298, |
1893 | : | 1'786'738, |
1898 | : | 2'107'076, |
1903 | : | 3'010'771, |
1907 | : | 3'259'020. |
Die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten im deutschen Reichstage war:
1871 | : | 1, |
1881 | : | 12, |
1890 | : | 35, |
1898 | : | 56, |
1903 | : | 81, |
1907 | : | 43. |
Die „rote Internationale“
fasst in ihrem vorbereitenden Bericht für den
Stuttgarter Sozialistenkongress 1905 durch den belgischen
Sozialisten Vandervelde ihre Fortschritte
während der letzten Jahre in folgende Ziffern: In
Frankreich gehören dem Parlamente 52
Sozialisten an. In England sitzen im
Unterhause 50 Handarbeiter, von denen 29 sich der
Arbeiterpartei zuzählen. In Belgien
stieg die Zahl der Abgeordneten der Arbeiterpartei von 28
auf 30 unter 166 Mitgliedern, in
Dänemark von 16 auf 28 unter 114
Mitgliedern, in Schweden von 4 auf 15, in
Norwegen von 3 auf 10. Endlich hat in jenen
Ländern, wo die Arbeiterklasse zum ersten Male
Gelegenheit hatte, zum Parlament zu wählen,
nämlich in Finnland, Russland und
Oesterreich, der Sozialismus sofort einen
stärkeren Anteil an der Volksvertretung errungen,
als in jedem anderen Lande. In Italien, der
Schweiz und Deutschland ist
zwar auch die Zahl der sozialistischen Stimmen weiter
gewachsen, aber die Zahl der Gewählten
ist gesunken. Wer will angesichts der fast allgemeinen
Verschlimmerung der Krankheitssymptome am
Volkskörper ernstlich behaupten, dass durch diese
wenigen „besseren“ Wahlen aus letzter Zeit
ein innerer Gesundungsprozess schon eingeleitet worden
wäre?
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