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Inhalt Band 3
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Buchseite 120 D.

Pathologische Symptome im Völkerleben
der Gegenwart.



a) Alles scheint verkäufliche Ware zu werden.

Am 31. Mai 1808 wurden zum ersten Male amtlich im Berliner Kurszettel 21 öffentliche Fonds notiert. Ultimo 1870 zählte der Berliner Börsenkurszettel 358, Ultimo 1899: 1273 Effekten, deren Zahl heute (Ende November 1907) auf 2670 gestiegen ist.

Alfred Neymark, welcher seit Jahren für das internationale statistische Institut die internationale Statistik der beweglichen Werte zu vervollkommnen bemüht ist, hat die Summe der Werte, welche an den Fondsbörsen von Europa zum Handel zugelassen waren,

 bis  1896  auf  192 Milliarden Franken,  
  "  1902   "  342     "     "  
  "  1905   "  570     "     " geschätzt.

Von diesen 570 Milliarden für 1905 sollen 345 Milliarden inländische, 255 Milliarden ausländische Werte gezählt worden sein. Neymark hat zwar für jedes Land besondere sachverständige Berichterstatter gewonnen, aber die mitgeteilten Ziffern umschliessen offenbar noch so grosse Irrtümer, dass sie für Kalkulationen der praktischen Politik nicht verwendbar erscheinen.

Buchseite 121 Richard Calwer gibt in seinem letzten „Jahrbuch der Weltwirtschaft“ (1906) die Gesamtziffer der internationalen Emissionsstatistik an:

auf 7,8  Milliarden  Mark 1897,
 " 8,5      "      " 1898,
 " 9,2      "      " 1899,
 " 9,6      "      " 1900,
 " 8,0      "      " 1901,
 " 17,8      "      " 1902,
 " 14,8      "      " 1903,
 " 11,6      "      " 1904.

Davon entfielen in Prozenten an den Geldbedarf von:

                            1897   1898   1899   1900   1901   1902   1903   1904
                            ======================================================
Staaten, Provinzen, Städte  22,58  19,38  22,10  40,44  52,19  26,84  16,05  39,97
Kreditanstalten              9,20  13,39  13,37  11,85   7,04   3,60   7,26   9,29
Eisenbahn und Industrie     61,08  51,67  58,97  47,71  40,77  30,89  28,94  38,05
Konvertierungen              7,14  15,56   5,56    —      —    38,67  47,75  12,69

Speziell in Deutschland waren nach Riesser’s „Entwicklungsgeschichte der deutschen Grossbanken“ von 1883 bis Ende 1904 Börsenwerte im Effektivbetrage von 32 Milliarden Mark emittiert worden.

Der „Deutsche Oekonomist“ schätzte am 15. Juli 1905 den Gesamtbetrag der Börsenpapiere in Deutschland auf 45 Milliarden Mark, wovon etwa 15 Milliarden, also ein Drittel, als ausländische Werte bezeichnet werden.

Richard Calwer fand im August 1906 an der Berliner Börse allein Wertpapiere im Gesamtbetrage von über 80 Milliarden Mark. Riesser gibt in seiner „Entwicklungsgeschichte der deutschen Grossbanken“ (2. Auflage 1906) unter Benutzung der Denkschrift des Reichsmarineamts vom Dezember 1905 an, dass unsere deutsche ausländische Kapitalsanlage auf mindestens 24 bis 25 Milliarden zu schätzen sei, und dass Deutschland etwa 75 Milliarden Börsenwerte besitze. Der ausgezeichnete Statistiker G. Evert hat in seiner Spezialabhandlung über das „VolksBuchseite 122vermögen in den wichtigsten Kulturländern“ („Woche“ vom 25. August 1906) das steuerbare Privatvermögen in Deutschland auf 150 bis 160 Milliarden Mark beziffert. Wenn die deutsche ausländische Kapitalsanlage 24 bis 25 Milliarden Mark beträgt, dann muss der Gesamtbetrag der Börsenpapiere in Deutschland nach dem „Deutschen Oekonomist“, vom 15. Juli 1905 mit 45 Milliarden zu niedrig angegeben sein. Auch die Calwersche Ziffer von über 80 Milliarden Mark für Berlin allein spricht gegen diese Schätzung des „Deutschen Oekonomist.“ Wohl aber bestätigt die vorgenannte Annahme des Reichsmarineamts (von Halle) mit 75 Milliarden Börsenwerten in Deutschland die Regel des „Deutschen Oekonomisten“, nach welcher sich der Gesamtbörsenbesitz zur Kapitalsanlage im Auslande wie 3 : 1 verhält. Heute sind also schon nach einer mässigen Schätzung etwa drei Sechstel des deutschen Volksvermögens von 150 bis 160 Milliarden Mark Börsenwerte, und etwa ein Sechstel ausländische Kapitalsanlage geworden. Und doch hat in Berlin die Einführung von Börsenwerten und das Aufsuchen ausländischer Kapitalanlagen erst vor etwa 50 bis 60 Jahren eigentlich begonnen!

Nach dem zuverlässigsten statistischen Material, das G. Evert verwendet hat, darf heute die Vermögenszunahme in Deutschland auf etwa 2 Milliarden Mark pro Jahr geschätzt werden. Da von diesen 2 Milliarden für Meliorationen aller Art, verbesserte Lebenshaltung, Erhöhung des Betriebskapitals, Spareinlagen usw., mindestens die Hälfte Verwendung findet, kann die jährliche Sparkraft des deutschen Volkes heute kaum für mehr als 1 Milliarde Mark neue Börsenwerte aufnahmefähig sein. Der inzwischen verstorbene Frankfurter Bankier Caesar Straus, eine ganz hervorragende Autorität in allen praktischen Börsenfragen, hat in der „Kreuzzeitung“ vom Buchseite 123 26. und 28. Februar 1895 eingehend begründet, dass in den Jahren 1892/93 den deutschen Börsen nur 450 bis 470 Millionen Mark aus dem Einkommen des deutschen Volkes für neue Börsenwerte zur Verfügung stehen konnten. Nun betrug aber nach Riesser (Seite 162) das auf dem Wege der Emission durch die deutschen Börsen aufgebrachte Kapital:

    1889 : 1741 Mill.  Mk.,          1897 : 1944 Mill., Mk.,
    1890 : 1520  "      "            1898 : 2407   "     "
    1891 : 1217  "      "            1899 : 2612   "     "
    1892 : 1016  "      "            1900 : 1777   "     "
    1893 : 1266  "      "            1901 : 1631   "     "
    1894 : 1420  "      "            1902 : 2110   "     "
    1895 : 1375  "      "            1903 : 1665   "     "
    1896 : 1896  "      "            1904 : 1995   "     "

also in diesen 16 Jahren die Gesamtsumme von 27,592 Millionen. Die aus dem Vermögenszuwachs des deutschen Volkes resultierende Nachfrage nach neuen Börsenwerten in dieser Zeit kann aber kaum die Hälfte dieses Betrages erreicht haben. Die andere Hälfte muss also wohl, mit Hülfe des Börsenkredits und der Börsenspekulation, durch Umwandlung eines entsprechend grossen Teiles des deutschen Volksvermögens in Börsenwerte untergebracht worden sein.

Nach den angeführten Mitteilungen von G. Evert wurde für 1896 das Volksvermögen in Grossbritannien und Irland auf 236 Milliarden Mark angegeben. Neymark schätzt für 1900 die englischen Börsenwerte auf 172 Milliarden Mark. Etwa 7⁄10 des englischen Volksvermögens waren mithin um diese Zeit schon in den Strudel der Börsenspekulation hineingeraten. Die Entwicklung Deutschlands scheint auf dem besten Wege, diesem englischen Beispiele rasch zu folgen.

Buchseite 124 Diese Summen der Börsenwerte müssen noch ganz wesentlich erhöht werden, wenn man sich erinnert, in welchem Umfange die Preisbildung für die Arbeitsprodukte der Menschen dem Börsenspiele an den Warenbörsen ausgeliefert ist. So z.B. das Getreide mit Ausnahme der Gerste an den Börsen in Chicago, New-York, Liverpool, Berlin, Wien, Budapest; Rohspiritus, Rüböl in Berlin, Hamburg, London, New-York, Paris; Rohzucker in Magdeburg, Hamburg, Prag und Paris; Kaffee in Hamburg, Havre und New-York; Salpeter in Hamburg; Wolle in Havre; Baumwolle in Liverpool, New Orleans und New-York; Kohle in London; Eisenbarren in Glasgow, Brüssel, London, New-York; Schmalz, Schweinefleisch (gepökelt) und Rippen in Chicago und New-York etc.

b) Die Hauptwege der stetigen Ausbreitung des
Kapitalismus.

Wie konnte der Kapitalismus in den letzten 50 Jahren etwa die Hälfte des heutigen deutschen Volksvermögens in Börsenwerte verwandeln?

Unsere Wirtschaftsgeschichte gibt auf diese Frage eine ganz bestimmte Auskunft: Zunächst hat sich diese Umwandlung durch die Aktie und inzwischen auch durch die Gesellschaft m.b.H. vollzogen. Dann kommt die Verschuldung der Staaten, der Provinzen und Städte in Betracht. Daran reiht sich die ungeheure HypothekenBuchseite 125verschuldung des Bodens. Und last but not least spielt hier das Wesen der Börse selbst eine ganz hervorragende Rolle. Es wird notwendig sein, diese Erklärung einzeln zu behandeln:

α) Die Gründung von Aktiengesellschaften und G.m.b.H. ist ein Prozess der Trennung des Geldwertes eines Unternehmens von der Arbeit und der weiteren Aufteilung dieses Geldwertes in Anteilscheine. Gewiss wird da und dort eine dieser Rechtsformen gewählt, um das Risiko eines Unternehmens zu begrenzen oder die Erbteilung innerhalb der Familie zu erleichtern, ohne die Anteile an die Börse zu bringen. Das sind jedoch Ausnahmen. Als Regel ist die Gründung einer Aktiengesellschaft oder einer G.m.b.H. bestrebt, ihre Werte an die Börse zu bringen. In diesem Sinne spricht man von Börsengründungen, Börsenzulassung, Gründergewinnen u.s.w. Nach der Reichsstatistik gab es in Deutschland am 31. Dezember 1906 Aktiengesellschaften und Kommanditaktiengesellschaften zusammen 5060 mit einem nominellen Aktienkapital von 13'839 Millionen Mark. Von diesen Aktiengesellschaften wurden neu gegründet

vor  1851   1,6 %,
von 1852 bis 1870   7,5 %,
von 1871 bis 1890   36,5 %,
von 1891 bis 1900   35,4 %,
von 1901 bis 1906   18,1 %.

Dazu kamen bis 1905 mindestens 8000 neue Gesellschaften m.b.H. mit einem Kapital von 2 Milliarden Mark. Weit grösser war die Zahl der neu gegründeten Aktiengesellschaften in England, nämlich:

1895 : 3820,
1896 : 4668,
1897 : 5157,
1898 : 5071,

um 1904 immer noch die Zahl von 3769 zu erreichen. Dem Kapitalbedarf zur Zeit der Gründung dieser Buchseite 126 Gesellschaften folgt erfahrungsgemäss sehr bald die Ausgabe neuer Aktien, die Aufnahme von Schulden in der üblichen Form der Ausgabe von Obligationen, die Aufnahme von Schulden bei den Banken als Konto-Korrent und Akzeptschulden. Unter Einrechnung dieser Summen mit den angesammelten Reserven darf die „Umwandlung des deutschen Volksvermögens in „Börsenwerte“ durch die Aktiengesellschaften und die Gesellschaften m.b.H. von 1871 bis 1905 gewiss auf 20 Milliarden Mark veranschlagt werden.

β) Zunehmende Verschuldung der Staaten. Gerade bei der Schuldaufnahme zeigt sich der Kapitalismus in seiner einschmeichelnden servilen Art. Wo die Verhältnisse eines Staates für eine grössere Anleihe reif geworden sind, finden sich auch die Scharen der Kreditvermittler ein, um ihre guten Dienste anzubieten. Wo exotische Staaten sich vielleicht weniger rasch zum Schuldenmachen entschliessen können, pflegen Bestechungskünste der verschiedensten Form diese Hindernisse bald zu beseitigen. Der unselige Zug der Zeit, über die ganze Erde die höchst entwickelten Staaten nachzuahmen und das Kulturniveau zwischen den mitteleuropäischen Staaten einerseits und China, Sibirien, Venezuela, ja Abessinien, andererseits international, tunlichst rasch, ohne alle Rücksicht auf historische Kontinuität, auszugleichen, hat die Zunahme der Staatsschulden zweifelsohne sehr begünstigt. Mit dieser hiermit in Wechselbeziehung stehenden ausserordentlichen Steigerung des internationalen Verkehrs hat unverkennbar die Möglichkeit kriegerischer Konflikte zugenommen, was noch mehr Staatsschulden bedeutete. Das Resultat war fast allgemein ein von Jahr zu Jahr fortschreitendes Anwachsen der Schuldziffern der Staaten: Buchseite 127

Die Staatsschulden waren in Millionen Mark
Länder   1874     1890     1905  
Deutsches Reich u. Bundesstaaten 3150 8214 15205
Frankreich 18126 25633 24672
England 15690 14110 16277
Russland 6700 14386 15263
Oesterreich–Ungarn 7290 7754 8001
Nordamerikanische Union 7303 6533 3745

Man pflegt zwar hier darauf hinzuweisen, dass speziell die deutschen Staaten immer noch beträchtlich höhere Einnahmen aus den Erträgen ihrer Domänen, Forsten, Eisenbahnen, Lotterien, Bankbetrieben u.s.w. ziehen, als die Bruttobeträge der Verzinsung ihrer Schulden fordern. Bei der sichtlich herrschenden fortschreitenden Verschuldung aber kann dieser Vorzug der deutschen Staaten wahrscheinlich nur noch eine bestimmte Zeit dauern. Jedenfalls haben die Anleihen der deutschen Staaten allein bis Ende 1907 etwa 15 1⁄4 Milliarden Mark neue Börsenwerte geschaffen.

γ) Verschuldung der Provinzen und Städte. Dem Beispiele der Staaten folgen die Provinzen und Städte. Leider fehlt auch hier wieder jede zusammenfassende zuverlässigere Statistik. Rudolph Eberstadt hat in seiner Monographie über den „deutschen Kapitalmarkt“ (1901) sein Material hauptsächlich durch direkte Anfragen bei den städtischen Verwaltungen beschafft. Darnach waren 1899 von 41 deutschen Städten 159,5 Millionen Mark Schuldscheine an der Börse veräussert worden. Das „Statistische Jahrbuch der deutschen Städte“, herausgegeben von Dr. Neef, hat sich erst in seinem letzten Jahrgange wieder eingehender mit den Anleihen der Städte beschäftigt. Die Zusammenstellung ergibt, dass 54 deutsche Städte mit Buchseite 128 über 50'000 Einwohnern bis zum 1. April 1906 bei einer Gesamteinwohnerzahl von 11,7 Millionen 2770,2 Millionen Mark Schulden aufgenommen hatten. Diese Aufwendungen sind namentlich auf Rechnung der Kanalisation, der Gas- und Wasserleitung, der Strassenbahnen, Schlachthäuser, Friedhöfe, für Schulen, Armenpflege und Polizei erfolgt. Schon R. Eberstadt wies darauf hin, dass die Schuldaufnahmen der Provinzverbände vielfach zur Beschaffung von Betriebsmitteln für Provinzialbanken, zur Gewährung von Darlehen an kleinere Gemeinden, zur Unterstützung von Kleinbahnen, zur Beschaffung von Betriebsmitteln für Genossenschaften zum Bau von Arbeiterwohnungen u.s.w., dienten. Hier handelt es sich also vielfach um die Vermittelung von Schulden für andere kleinere Verbände.

Nach den Veröffentlichungen des Kaiserlichen statistischen Amtes über die bei den deutschen Börsen zum Börsenhandel zugelassenen Wertpapiere waren Anleihen von Provinzen, Städten  u.s.w.:


    deutsche:   ausländische:
In Summa:  3285 Mill. Mark 777 Mill. Mark
1897 242 Mill. Mark 91 Mill. Mark
1898   154 " " 102 " "
1899   259 " " 2 " "
1900   257 " " 11 " "
1901   431 " " 72 " "
1902   339 " " 289 " "
1903   366 " " 49 " "
1904   548 " " " "
1905   333 " " 111 " "
1906   356 " " 50 " "

Nach der gleichen statistischen Quelle war der Stand der Kommunaldarlehen und Kommunalobligationen der deutschen Hypothekenbanken: Buchseite 129

Am Ende d. Jahres:   Darlehen:   Obligationen:
1870   1,8 Mill. Mark   Mill. Mark
1875   5,2 " "   " "
1880   12,6 " "   7,7 " "
1885   17,5 " "   14,7 " "
1890   37,4 " "   34,4 " "
1895   68,5 " "   61,8 " "
1900   87,6 " "   74,0 " "
1904   177,7 " "   158,2 " "
1905   197,7 " "   177,7 " "
1906   222,7 " "   199,2 " "

Zusammenstellungen, welche neuerdings im kgl. bayerischen statistischen Bureau gemacht wurden, bekunden, dass die Gesamtschulden der Gemeinden in Bayern seit Ende 1895 bis Ende 1905 von 265 1⁄2 Millionen auf 614 Millionen Mark — also in 10 Jahren um 232 %! — zugenommen haben.

Jedenfalls geht aus diesem lückenhaften Material hervor, dass auch die Verschuldung der Provinzen und Städte in den letzten Jahrzehnten rascher gewachsen ist und heute mit 3 1⁄4 Milliarden Mark gewiss nicht zu hoch angesetzt wird.

δ) Die hypothekarische Verschuldung des Grundbesitzes. Der preussische Finanzminister hat den Gesamtbetrag der Hypotheken und Pfandbriefe in Preussen für das Jahr 1892 auf 16,5 Milliarden Mark angegeben. Eberstadt bezeichnet diese Summe als eine Mindestziffer und berechnet auf grund amtlicher Ermittelungen die Zunahme der Hypotheken in Preussen für 1893 bis 1900 auf 8,356 Milliarden, also für 1900 auf die Gesamtsumme von 25 Milliarden Mark. Da indes für 1886 bis 1900 in Preussen nach amtlicher Ermittelung sich eine Hypothekenzunahme von 14,8 Milliarden annehmen lässt, wird die Eberstadt’sche Ziffer wahrscheinlich zu niedrig sein.

Buchseite 130 An dieser Gesamtschuldenlast ist der städtische Grundbesitz weit überwiegend beteiligt. Nach amtlichen Erhebungen war der Ueberschuss der Eintragungen von Hypotheken über die Löschungen 1886—1897 in den Städten 8,544 Milliarden Mark, auf dem Lande 2,417 Milliarden Mark. Hieran war Berlin 1888 annähernd so stark beteiligt, wie alle übrigen Städte von Preussen zusammen. Von da ab steigt die Verschuldung der preussischen Provinzstädte rasch an, um 1895 die 2 1⁄2fache Ziffer der Berliner Verschuldung zu erreichen.

Nach dem statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin waren die eingetragenen Hypotheken, Grund- und Rentenschulden des Berliner Grundbesitzes 1905 = 5,755 Milliarden Mark. Von sachverständiger Seite wurden die Hypotheken von Berlin mit seinen Vororten für 1906 auf 9 Milliarden Mark geschätzt. Nach den vorgenannten amtlichen Erhebungen lassen sich darnach für 1906 die Hypotheken der preussischen Provinzstädte auf 18 Milliarden, die Hypotheken des gesamten städtischen Grundbesitzes in Preussen auf 27 Milliarden Mark einstellen — gegen nur 16,5 Milliarden als Gesamtbetrag der hypothekarischen Belastung des preussischen Grundbesitzes im Jahre 1892.

Für die ländlichen Bezirke fehlt in Preussen eine neuere Ziffer der Gesamtverschuldung. Die preussische ländliche Verschuldungsstatistik von 1902 informiert nur über die Verschuldung der Grundbesitzer. Legt man aber das Verhältnis der Verschuldungszunahme des landwirtschaftlichen Grundbesitzes zum städtischen Besitz in den Jahren 1888 bis 1897 zu Grunde, so würden wir für 1906 mindestens die Ziffer von 8 Milliarden für den ländlichen Grundbesitz und von 35 Milliarden als hypothekarische Gesamtbelastung der privaten Liegenschaften in Preussen erhalten.

Buchseite 131 Für Bayern gibt Eberstadt als mässige Schätzung für 1900 die Summe der Bodenschulden auf 4  1⁄2 Milliarden an. Württemberg soll in der Gesamtverschuldung nach Eberstadt 1900 = 1 1⁄4 Milliarde nicht überschritten haben, während Sachsen auf 4,750, Baden auf 1,250, das übrige Deutschland auf 5,000 Milliarden Bodenschulden veranschlagt wurde. Das ergibt für ganz Deutschland ohne Preussen und für 1900 : 16,750 Milliarden Mark, oder — nach dem Verhältnis der Zunahme der preussischen Grundbelastung erhöht — für 1906: rund 23 Milliarden.

Der gesamte deutsche Grundbesitz wäre also

1900  mit  42 Milliarden Mark
1906  " 58 " "

hypothekarisch verpfändet gewesen.

Felix Hecht, Direktor der Rheinischen Hypothekenbank in Mannheim, hat 1900 eine Zusammenstellung des Pfandbriefumlaufs der europäischen Bodenkreditanstalten im Jahre 1898 veröffentlicht, der wir zum Vergleiche die nachfolgenden Ziffern entnehmen: Es war der Pfandbriefumlauf in:

Gesamtsumme: 14,257,423,000  Franken.
Belgien = 87,147,000  Franken
Bulgarien = 18,708,000 "
Dänemark = 901,764,000 "
Frankreich = 2,136,519,000 "
Holland = 357,809,000 "
Italien = 318,034,000 "
Oesterreich–Ungarn = 2,808,448,000 "
Portugal = 69,552,000 "
Rumänien = 270,267,000 "
Russland = 5,795,870,000 "
Schweden u. Norwegen  = 722,042,000 "
Schweiz = 605,855,000 "
Serbien = 10,013,000 "
Spanien = 95,395,000 "

Buchseite 132 In dem gleichen Jahre 1898 war nach Hecht der Pfandbriefumlauf in Deutschland 11,464,132,000 Franken, also beinahe ebensoviel, als in allen übrigen Staaten von Europa zusammen! Nun erreicht aber in Preussen nach einer Spezialuntersuchung des Generalsekretärs Dr. von Altrock im Jahre 1902

  • der von Landschaften und provinziellen Grundkreditinstituten gewährte Kredit = 21,4 %,
  • der von öffentlichen Sparkassen = 12,4 %,
  • der von Hypothekenbanken = 1,8 %,
  • der von ländlichen Kreditgenossenschaften = 3,7 %,
  • der unorganisierte Kredit = 39,3 %,

der Gesamtverschuldung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes. Deutschland darf mithin sicher die Ehre für sich in Anspruch nehmen, seinen Grund und Boden weitaus mit den höchsten Summen verschuldet zu haben.

Dabei hat die Verschuldung des Grundbesitzes nach allgemeiner Erfahrung nicht den Zweck, durch Meliorationen den Bodenwert zu erhöhen. Diese starke Kreditbelastung ist vielmehr in ganz hervorragendem Masse bestimmt, dem immobilen Besitz die Qualität einer tunlichst leicht beweglichen „Ware“ im Verkehre zu verleihen. Ein mit „Bankgeldern“ und Hypotheken hoch besetztes Grundstück kann schon mit einer viel kleineren Geldsumme erworben werden. So wird die Zahl der kauffähigen Bewerber ganz wesentlich vermehrt. Es ist unter dieser Voraussetzung einem Manne von mittlerem Vermögen schon möglich, mehrere städtische Grundstücke oder einen grösseren landwirtschaftlichen Besitz zu erwerben. Auch die Unbemittelten können auf diese Weise „Grund- und Hausbesitzer“ werden. All diese Möglichkeiten erhöhen erfahrungsgemäss den sogenannten „Verkehrswert“ der Grundstücke. Dieser ganze, durch das geltende Recht und die herrschende Kreditorganisation erst geschaffene „Handel“ mit deutschen Grundstücken sieht im Grund und Boden nicht das unentBuchseite 133behrliche Produktionswerkzeug oder die Basis der Konsumbedürfnisse des Volkes, sondern ausschliesslich das Spekulationsobjekt, das man möglichst billig einzukaufen und möglichst teuer zu verkaufen bemüht ist. Deshalb ist die Bewegung der Grundstückspreise auf dem Markte so sehr von der allgemeinen „Konjunktur“ abhängig. Zeiten mit billigem Geldstand und leichter Kreditgewährung erhöhen die Preise der Grundstücke. Allgemeine Kredit- und Bankkrisen mit teurem Gelde und mehr vorsichtiger Kreditgewährung lassen dann auf dem Grundstücksmarkte unter den weniger Bemittelten die Subhastionen rasch anschwellen. Und wo die Grundstücksspekulation sich mit dem Häuserbau beschäftigt, da muss heute die Bauausführung im Interesse der Hypothekenforderungen den Hausbesitz wie einen Pfandbrief mit Rentenkoupons konstruieren. So wird die städtische Mietskaserne mit dem modernen Wohnungselend durch unser herrschendes System der Grundverschuldung erzeugt und geboren. Im Jahre 1890 wohnten von 1000 Einwohnern

  • in Berlin 447,2,
  • in Hamburg 245,9,
  • in Leipzig 304,2,
  • in München 265,5,
  • in Breslau 484,6

in Wohnungen mit nicht mehr als einem heizbaren Zimmer, darunter bezw. 5,4 — 4,6 — 0,2 — und 0,7 in solchen ohne heizbares Zimmer! Nach A. Lasson in der „Medizinischen Reform“ wurden in Berlin 1906 hundert Häuser gezählt, von denen jedes bis 120 Menschen beherbergte, 309 Gebäude hatten 225 Bewohner, 34 Grundstücke je mehr als 500 und ein Haus in der Ackerstrasse sogar 1300 Einwohner. 50% aller Berliner hausen in Wohnungen mit nur einem heizbaren Zimmer und manche von diesen Räumen beherbergen bis zu 14 Personen. 4068 Wohnungen bestanden überhaupt nur aus einem Küchenraum und in vielen solchen Gelassen wohnten 10 bis 20 Menschen.

Alle grösseren Städte sind heute von einem Ring grosskapitalistischer Terraingesellschaften umschlossen, in Buchseite 134 den sich die Stadterweiterungen mit entsprechend hohen Grundpreisen einkaufen müssen. So haben sich in der Umgegend von Berlin in den Jahren 1881 — 1906 insgesamt 77 Terraingesellschaften mit einem Aktienkapitale von 269 Millionen Mark gebildet, deren Führer die Berliner Grossbanken, wie die Deutsche Bank, die Diskontogesellschaft, die Dresdener Bank, der Schaaffhausen’sche Bankverein, sind.

Bis zu welchem Maasse der städtische Hausbesitz heute Spekulationsobjekt der Unbemittelten geworden ist, haben namentlich die „Mitteilungen des städtischen statistischen Amtes der Stadt Dresden“ überzeugend nachgewiesen. Im Jahre 1901 waren von sämtlichen Grundbesitzern in Dresden nur 36% Leute mit einem Jahreseinkommen von über 6000 Mark, 22% hatten nur ein Einkommen von 3500—6000 Mark, 30% ein solches von 1600—3500 Mark und 12% gar nur ein Einkommen von weniger als 1600 Mark. Und als 1904 und 1905 die städtischen Zwangsversteigerungen in Dresden sich bedenklich mehrten, wurde festgestellt, dass die verganteten Hausbesitzer nur zu 7% zu den Wohlhabenderen, 31% aber direkt zu den Unbemittelten gehörten. Unter 427 verganteten Häusern waren 275 mit 100 bis 150% und mehr ihres Wertes mit Schulden belastet.

Die Degradierung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes zur Ware — was Rodbertus bekanntlich die gewaltsame Umwandlung eines Pferdes in einen Vogel genannt hat — wird durch das Fideikommissgesetz und durch andere beschränkende erbrechtliche Bestimmungen noch etwas aufgehalten. Es kommt hinzu, dass die höchst ungünstige Preisbewegung der landwirtschaftlichen Produkte, namentlich in den Jahren 1892 bis 1897 nur zu häufig die Produktionskosten nicht gedeckt hat und deshalb Betriebsdefizite die Verschuldung der Landwirte weiter anwachsen Buchseite 135 liessen. Das alles ist zu berücksichtigen, wenn nach der vom preussischen statistischen Landesamt für 1902 vorgenommenen Aufnahme der Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes in Preussen von 100 Eigentümern

  29,5 unverschuldet,
  29,6 unter 25%,
  23,4 mit 25—50%,
  12,4 mit 50—75%,
  4,3 mit 75—100%
und 0,9 mit 100% und mehr ihres Gesamtvermögens

verschuldet waren, wozu jedoch neuerdings durch Spezialerhebungen der Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz nachgewiesen wurde, dass die bäuerlichen Besitzer bei der amtlichen Erhebung einen wesentlichen Teil ihrer Schulden verschwiegen haben. Aber auch bei all diesen Einschränkungen lässt sich heute aus der Verschuldung der landwirtschaftlichen Grundbesitzer der unheilvolle Einfluss der gesetzlichen Umwandlung des landwirtschaftlichen Grund und Bodens in eine „Handelsware“ nachweisen, was zuerst namentlich wieder von Dr. von Altrock betont worden ist (Volkswirtschaftliche Blätter, 18. Juli 1906) und wodurch sich die bekannten früheren Ausführungen von Rodbertus, Buchenberger, Meitzen u. a. bestätigen.

Die landwirtschaftliche Verschuldung wächst in Preussen ganz allgemein mit dem kleineren Einkommen. Grundbesitzer mit einem Einkommen

von nicht mehr als  900  Mk. waren mit  33,8 %
von 900 bis  3000  " " " 26,5 %
mit über  3000  " " " 24,6 %
ihres Vermögens verschuldet.   

Natürlich! Wer mit einem verhältnismässig kleineren Vermögen Grundbesitzer wird, muss sich mit einer entsprechend höheren Schuldenlast abfinden. Wo in der Buchseite 136 Rheinprovinz die Realteilung im Erbfalle Sitte ist, erreicht die durchschnittliche Verschuldung 8,5% des Gesamtvermögens. Im Gebiete mit geschlossener Vererbung, bei mässigen Taxen und Ausschluss der Grundpreise im freien Markte, wie im Bezirke Münster, beträgt die Verschuldung des Gesamtvermögens 11,6%. Wo, wie im Bezirk Düsseldorf, die Uebergabspreise im Erbgange sich mehr an die Grundpreise im freien Markte anlehnen, ist die Verschuldung der Grundbesitzer auf 19,7% gestiegen. Je mehr der landwirtschaftliche Grundbesitz Ware geworden ist, desto höher ist seine Schuldenlast.

Der gleisnerische einschmeichelnde Gedanke aber, welcher unserem herrschenden Kapitalistenrecht für Grund und Boden eigen ist, lautet: „Du brauchst nicht zu arbeiten, auch wenn Du unbemittelt bist. Kaufe vielmehr mit Schulden Grundbesitz. Ueberbiete Deine Konkurrenten durch höhere Preise. Und kaufe möglichst viel. Wenn Du dann Glück hast, in eine gute allgemeine Konjunktur hineinzukommen, und wenn Du Deinen Besitz zur rechten Zeit wieder verkaufst, dann wirst Du ein reicher Mann, ohne gearbeitet zu haben!“

An die Stelle der ehrlichen, redlichen stetigen Arbeit treten die Lockungen des Spekulationsgewinnes, der fast immer zweifelhaft ist. Sicher ist zunächst nur eine rasch fortschreitende Belastung des Grundbesitzes mit Schulden aller Art, bei bald steigenden, bald fallenden Grundpreisen je nach dem Wechsel der Konjunktur. All diesen Erscheinungen entspricht die wachsende Herrschaft des Kapitalismus.

ε) Die Börse als zentrales Organ des Kapitalismus. Wie oft schon hat man das Wort gehört: „die Börse sei das Herz des volkswirtschaftlichen Körpers. Hier Buchseite 137 strömt das Geld des Volkes zusammen. Von hier aus wird es durch tausend Kanäle hinausgetrieben, um auf abermals tausend verschiedenen Wegen zurückzuströmen und den Kreislauf von Neuem zu beginnen!“ Jedenfalls ist die Börse ein zentrales Organ in unserem herrschenden kapitalistischen Zeitalter. Es ist deshalb ungemein wichtig, das volkswirtschaftliche Wesen der Börse richtig zu erkennen.

Zunächst die Frage: Wer ist an der Börse? Die Antwort lautet:

  1. die Vertreter der Grossbanken,
  2. andere Bankiers,
  3. die offiziellen Kursmakler,
  4. die Spekulationsmakler,
  5. die Kassamakler, auch „Pfuschmakler“ genannt, und
  6. die Vertreter der Presse und des Nachrichtendienstes.

Ein so guter Kenner der Börse wie Georg Bernhard (Herausgeber des „Plutus“) hat die „Börse“ als den „Markt für fungible Werte“ bezeichnet (Handel, Industrie und Verkehr in Einzeldarstellungen, Band 7: die Börse, 1907). Jedenfalls sind die Börseneinrichtungen offensichtlich bemüht, die Kauf- und Verkaufsverträge und durch die Maklerbanken sogar die Personen möglichst gleichartig, tauschfähig, „fungibel“ zu machen, so dass hier die Ausnutzung jeder Gewinnchance durch Kauf und Verkauf, wie die schliessliche gegenseitige Verrechnung einen höchst möglichen Grad von Erleichterung gefunden haben. Um die Beteiligung auch der „Aussenseite“ an den Börsengeschäften tunlichst zu erleichtern und die Börse selbst recht aufnahmefähig zu machen, hat die Kreditgewährung an der Börse eine ganz ausserordentliche Ausdehnung gewonnen. Die höchst raffinierte, Buchseite 138 juristische Konstruktion des Börsenkredits ist von dem kapitalistischen Erwerbssinn der Jahrtausende ausgearbeitet worden. Und diese allgemeinen Geschäftsgrundsätze, „Börsenusancen“ genannt, bestimmen, dass in Berlin z.B. jeder Mindestkauf oder Mindestverkauf, über welchen ein „Schlusschein“ ausgestellt wird, bei Wertpapieren sich auf 15'000 Mk. oder 1000 Dollars oder 1000 Pfd. Sterling oder 50 Stück, bei Getreide auf 50 Tonnen (bis 1. Januar 1897) bezieht. Die „Anzahlung“ oder die „Sicherstellung“, welche dabei gefordert wird, richtet sich im allgemeinen nach der Verlustgefahr, mithin nach der Grösse der möglichen Preisschwankung im ungünstigen Sinne. Sie ist deshalb in ruhigen Zeiten recht gering und erreicht im Durchschnitt etwa 2 bis 5 Prozent des Nominalwertes des respektiven Geschäftsabschlusses. Die Börsensprache unterscheidet deshalb sehr wohl zwischen Papieren, welche in „festen Händen“ sind, und Papieren, welche mit Hülfe des Kredits im Markte „schwimmen“. Wo der Kredit in solchem Maasse eine dominierende Rolle spielt, wird die eigentliche Macht in den Händen derjenigen Institute ruhen, welche den Kredit gewähren. Das sind die Grossbanken in weitaus erster Linie.

Die Kreditbanken an den deutschen Börsen haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr zusammengeschlossen. Riesser, der ehemalige Direktor der Darmstädter Bank, welcher darüber ein sehr interessantes Buch geschrieben, führt darin u.A. folgendes aus:

In den Jahren 1848 bis 1856 sind die fünf ältesten grossen Aktienbanken, nämlich die Darmstädter Bank (1853), Diskontogesellschaft (1851), der Schaaffhausensche Bankverein (1848), die Mitteldeutsche Kreditbank (1856) und die Berliner Handelsgesellschaft (1856) mit zusammen 157,35 Millionen Mark gegründet worden. Ihr Aktienkapital war dann im Ganzen Buchseite 139 1870 120,4, Ende 1905 auf 603 Millionen Mark erhöht. Die neuere Entwicklung der Grossbanken datiert seit 1870. Das Kapital der Deutschen Bank (1870) und der Dresdener Bank (1872) ist seit ihrer Gründung bis 1905 von zusammen 24,6 auf 360 Millionen Mark 1906, der Kommerz- und Diskontobank (1870) und der Nationalbank für Deutschland (1881) von 35 auf 165 Millionen 1906 angewachsen.

Diese Berliner Grossbanken hatten Niederlassungen, Depositenkassen, Wechselstuben, Kommanditen, ständige Beteiligungen an anderen deutschen Aktienbanken von in Summa

1865 = 59,
1896 = 63,
1900 = 99,
1902 = 147,
1905 = 241.

Neuerdings haben diese Berliner Grossbanken vier Gruppen gebildet, nämlich:

  1. die Gruppe der Deutschen Bank,
  2. die Gruppe der Diskontogesellschaft,
  3. die Gruppe der Interessengemeinschaft Dresdener Bank.
    — Schaaffhausen,
  4. die Gruppe der Darmstädter Bank,

mit einem Aktienkapital und Reserven von zusammen rund 2 Milliarden Mark. „Diesen vier Interessengemeinschaften sind bis Ultimo Dezember 1905: 45 Provinzbanken mit 151 Filialen, 273 Agenturen, 16 Kommanditen, 44 Depositenkassen, 83 kleinere Banken und 16 Interessengemeinschaften innerhalb Deutschland angeschlossen. Dazu gehörten im Auslande bis Anfang 1906: 13 deutsche Ueberseebanken mit etwa 100 Millionen Kapital und etwa 70 Niederlassungen.“

Buchseite 140 In diesen Ziffern ist jedoch der ökonomische Machtbereich der Grossbanken noch lange nicht ausreichend zum Ausdruck gekommen. Eine im Jahre 1898 ausgeführte Zusammenstellung aller Aktiengesellschaften, welche mit der Deutschen Bank in näherer Geschäftsverbindung standen, ergab als Summe des Aktienkapitals, der Obligationen und Reserven 2,200 Millionen Mark. Anfang Mai 1907 wurde von hervorragend sachverständiger Seite diese Syndikatsherrschaft der Deutschen Bank über deutsches Volksvermögen auf 5 bis 6 Milliarden Mark geschätzt. Der Vermögenseinfluss der vereinigten Dresdener Bank und des Schaaffhausen’schen Bankverein soll noch grösser sein. Rechnen wir bei diesen vier Grossbankgruppen durchschnittlich nur 5 Milliarden, so verfügt dieses organisierte Bankkapital heute über rund 20 Milliarden des deutschen Volksvermögens. Zu Anfang der 70er Jahre konnte die Vermögensherrschaft dieser Berliner Grossbanken, welche den Kern unserer Bankkonzentration ausmachen, kaum auf 200 Millionen veranschlagt werden. Das bedeutet von 1873 bis 1907 einen Zuwachs des Machtbereichs der Berliner Grossbanken um das Hundertfache!

Riesser selbst erklärt, dass damit die Konzentrationsbewegung unserer Grossbanken noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Wir haben also mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen, dass diese rapid wachsende Riesenkapitalmacht in nicht zu ferner Zeit schon in der Hand nur eines Banksyndikates ruht. Dieser so bedenkliche Zusammenschluss der Grossbanken ist indes, wie auch Riesser (S. 192 ff.) ausführt, nicht nur in Deutschland, sondern auch für Amerika, England und Oesterreich heute schon nachweisbar.

In dem Maasse als die Konzentration der Grossbanken fortgeschritten ist, musste die Rolle der privaten Bankiers eine andere werden. Ein wesentlicher Teil der besseren Privatfirmen hat sich als Filialen mit den Buchseite 141 Grossbanken verschmolzen. Andere grössere Privatfirmen haben — nach Georg Bernhard („Die Börse“, S. 45) — „der Herrschaft der Grossbanken über den Börsenhandel in der Weise Rechnung getragen, dass sie, wenn auch nicht formell, so doch faktisch direkt im Auftrage der Banken handeln und von diesen als «Einpeitscher» für Papiere benutzt werden, die die Banken gern unter ein anderes Publikum gebracht haben möchten, als das ist, welches sie selbst dirigieren können.“ Andere Privatbankiers sind in grösserer Zahl in die Reihen der Makler eingetreten.

Sache der offiziellen Kursmakler ist es bekanntlich, Käufe und Verkäufe zu vermitteln und auf Grund der von ihnen vermittelten Geschäfte zu einer genau fixierten Tageszeit einmal an jedem Börsentage die Kassakurse festzusetzen.

Das Gros der Spekulationsmakler bildet den sogenannten „Markt“. An den für die einzelnen Papiere im Börsenraume bestimmten Plätze stehen diese Makler während der ganzen Börsenzeit und übernehmen auf eigenes Risiko, ohne sich erst nach einer Gegenpartei umzusehen, das Angebot oder die Nachfrage. Hier finden die Aufträge verschiedenster Art rascheste Erledigung. Um auch die Sicherheit der Ausführung zu garantieren, sind Maklerbanken errichtet worden, von denen heute an der Berliner Börse nur noch der „Berliner Maklerverein“ besteht. Die Agenten einer solchen Maklerbank haben meist bei der Bank als Sicherheit ein entsprechendes Kapital zu hinterlegen, welches der Bank gegenüber für den ökonomischen Erfolg ihrer eingegangenen Geschäfte haftet, während die Bank nach aussen den Auftraggebern gegenüber die volle Haftung übernimmt.

Die Kassamakler sind Konkurrenten der offiziellen Makler. Sie vermitteln zu möglichst billigen Sätzen Aufträge in den sogenannten Kassawerten. Sie beanspruchen keinen Börsenkredit.

Buchseite 142 Endlich haben wir noch die Vertreter des Nachrichtendienstes an der Börse zu erwähnen. Unter ihnen finden sich die tüchtigsten Repräsentanten angesehener Fachblätter und Tageszeitungen bis herunter zu der nicht kleinen Zahl der Revolverjournalisten, welche mit ihrem Blättchen bei kleiner Postauflage das „Recht auf Annonce“ ausüben und auf günstige Gelegenheit passen, um im Trüben zu fischen. Hier ist ferner eine sehr umfassende Organisation des telegraphischen Nachrichtendienstes. Die Börse hat nicht nur selbst ein recht hohes Interesse an Nachrichten aller Art, sie wünscht auch nicht minder lebhaft, dass die Ereignisse innerhalb der Börse als Regel der breitesten Oeffentlichkeit zugänglich gemacht werden, und zwar beides in tunlichster Beschleunigung. Die Spekulanten innerhalb der Börse können nur dann gute Geschäfte machen, wenn eine möglichst grosse Zahl von Personen ausserhalb der Börse sich an ihren Spekulationen beteiligen. Diese „Aussenseite“ anzuregen und ihr Interesse möglichst lebhaft zu erhalten, ist im wesentlichen Sache des Börsennachrichtendienstes.

Was tut die Börse?

Die Staaten und öffentlichen Körperschaften wünschen neue Anleihen aufzunehmen. Diese Anleihen sind früher auf dem Wege der Submission vergeben worden, wobei die günstigste Offerte den Zuschlag erhielt. Heute hat die moderne Bankorganisation hier die freie Konkurrenz ganz beseitigt. Es wurden für bestimmte Werte grosse nationale und internationale Syndikate gebildet, wie das Preussenkonsortium, das Russenkonsortium, die internationalen Bankabmachungen für den Bau der Bagdadbahn usw. Die Banken setzen in vertraulichen Sitzungen ihre Uebernahmebedingungen fest, welche für den Kredit suchenden Staat bindend sind. In exotischen Ländern war es vor kurzem noch notwendig, durch besondere Agenten Buchseite 143 das Anleihebedürfnis der Staaten anzuregen. Hierbei wurde mit Bestechungen nicht gespart, deren Betrag auf die Unkosten der Geldvermittlung übernommen wurde, also doch zuletzt von dem Schuldner zu tragen waren. Diese exotischen Anleihen sind deshalb besonders beliebt, weil sie höhere Provisionen bringen, weil gleichzeitig für die heimische Industrie grosse Bestellungen mit vereinbart wurden, die wieder in erster Linie denjenigen Unternehmungen zugeführt werden konnten, welche bei den betreffenden Banken angegliedert waren. Das erhöhte wieder deren Dividenden und Tantiemen. Ferner war hier die Möglichkeit, zur Bauausführung (von Eisenbahnen, Kanälen, Wasserleitungen) besondere Baugesellschaften zu gründen, deren Anteile in Freundeskreisen untergebracht wurden und bei einem minimalen Risiko überreiche Gewinne lieferten, (bis 280 Prozent pro Jahr!). Heute hat sich auch hier mehr und mehr die nationale und internationale Konsortialbeteiligung eingeführt, welche unter Beseitigung der Konkurrenz der Banken die Gewinne teilt, oder — wie die Bankpresse es lieber zu nennen pflegt — „das Risiko verteilt!“

Oder ein bestehendes Privatunternehmen soll in eine Aktiengesellschaft verwandelt oder grosse neue Unternehmungen im In- und Auslande sollen durch vorhandene Industriesyndikate gegründet werden, oder es handelt sich um die Ausgabe neuer Aktien, neuer Obligationen für bestehende Unternehmungen. In all diesen Fällen wird heute durch Spezialagenten oder Spezialbüros die Sache vorbereitet, dann von den Banken beschlossen und die Papiere endlich an die Börse gebracht. Oder im Warenmarkte bestehen Aussichten auf starke Preissteigerungen oder Preissenkungen, welche an der Börse durch eine geschickt verdeckte Ein- oder Verkaufspolitik von langer Hand vorbereitet und dann nach Börsenusancen geschickt durchgeführt sein wollen. Wie werden all diese Geschäfte möglich?

Buchseite 144 Infolge der fortschreitenden direkten Angliederung des Volkes an die Grossbanken — die Deutsche Bank z.B. hatte Ende 1906: 164'494 Konten gegen 139'451 Ende 1905 — wird ein stetig wachsender Teil der Emissions- und Spekulationsgeschäfte im direkten Verkehre der Banken mit ihrem Kundenkreise erledigt. In diesem Sinne pflegt man zu sagen, dass jede Grossbank heute eine „Börse für sich“ sei. Um auch auf die ausserhalb der angegliederten Bankkundschaft stehenden Volkskreise einwirken zu können, bleibt bis auf weiteres der Apparat der Börse mit seinem weitverzweigten Nachrichtendienst für die Grossbanken unentbehrlich. Die Börse aber braucht für die geplante Uebernahme von Geschäften vor allem Kredit und Stimmungsmache in der Presse. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so kann das Börsenspiel beginnen. Die Kurse steigen. Die Beteiligung des Publikums nimmt rasch zu. Die leicht verdienten Gewinne werden realisiert. Der Konsum der Börsenbesucher wächst mit der Kursbewegung. In günstigen Börsenzeiten ist zum Frühstücken im Börsenrestaurant kaum ein Platz zu bekommen, in schlechten Zeiten sind fast alle Stühle leer. Nun kommt auf einmal aus irgend einem Wetterwinkel der Erde eine ungünstige Nachricht, die in den Börsenkursen natürlich sofort Ausdruck findet. Glauben jetzt viele Spekulanten, durch Uebertragung ihrer Spekulation auf einen späteren Monat ihren erhofften Gewinn doch noch einstreichen zu können, oder hat man Aktien und Wertpapiere übernommen, auf welche jetzt bestimmte Einzahlungen gefordert werden, die man nicht aus Eigenem leisten kann, oder die neuen und alten Industrieunternehmungen haben ungenügende Betriebsmittel, oder Geld für Erweiterungsbauten nötig, um noch mehr Aufträge übernehmen zu können, oder es sollen die aus den Büchern ermittelten Gewinne an die Aktionäre ausgeschüttet Buchseite 145 werden, um die günstigen Börsenkurse zu halten, trotzdem in den Kassen des Unternehmens von diesen Gewinnen nichts zu sehen ist, oder die sicheren Staatsrenten die bereits im Kurse wesentlich zurückgegangen, sollen ohne Verkäufe mit entsprechendem Kursverlust dazu dienen, noch mehr Geldmittel flüssig zu machen, um mit noch grösseren Nominalbeträgen sich an dem noch günstigen Verlaufe der Börsenspekulation beteiligen zu können u.s.w. In all diesen und ähnlichen Fällen braucht die Spekulation Geld, viel Geld.

Und damit helfen die Grossbanken aus. Zur Uebertragung der spekulativen Engagements dient der Reportkredit. Um trotz des gesetzlichen Terminhandelsverbotes ihren Kunden diese Art von Spekulation zu ermöglichen, kaufen die Banken für ihre Auftraggeber Kassa-Effekten, für welche nur ganz geringe Anzahlung zu leisten ist, um so mehr die Banken diese Effekten als Sicherheit in ihren Tresors behalten. Deshalb ist nach Georg Bernhard das Debitorenkonto der Grossbanken in den letzten Jahren so enorm angeschwollen. Nach Caesar Straus und dem deutschen Oekonomist fällt auch dem Akzeptkredit im heutigen Börsenspiele eine grössere Rolle zu. Caesar Strauss gebraucht für Akzeptkredit häufiger den Ausdruck „Gefälligkeitswechsel“. Was versteht man unter diesen Bezeichnungen? Den Kunden wird nach Riesser gestattet, in der Regel einen drei-Monat-Sichtwechsel auf die Bank zu ziehen. Mit dem Akzept einer Grossbank versehen, kann dieser Wechsel als Primawechsel zum Privatdiskont im Markte verwertet werden, und auch von der Reichsbank werden diese Wechsel anstandslos angenommen. Ebenso ist seine Verwertung auf einer vielleicht noch billigeren grossen Auslandsbörse möglich. Den Erlös dieses Wechsels zahlt der Kunde bei der Bank dann behufs Schaffung eines sofortigen Guthabens ein, während er für deren Akzept erst per Buchseite 146 Verfalltag des Wechsels belastet wird. So erhält der Spekulant zum billigsten Zinsfusse das benötigte Geld, während die redliche Arbeit im Lande ihren soliden Produktivkredit um einige Prozente teurer bezahlen muss.

So ist viel billiges Geld die Seele der Börsenspekulation und der Kurstreibereien. Russland und Oesterreich z.B. haben nach Caesar Straus wiederholt der deutschen Börse vorübergehend billiges Geld zur Verfügung gestellt, um im Interesse der beabsichtigten Konversion oder Neuemission die Börsenkurse für sich günstig zu beeinflussen. Für das deutsche Anlage suchende Publikum waren damit die Kurse entsprechend ungünstig beeinflusst. Nach einer Untersuchung von Eberstadt ist durch Spekulation der Kurs der deutschen Industriepapiere vom 1. Januar 1895 bis zum 1. April 1900 um 75 bis 100% ihres Ausgabekurses erhöht worden. Das bedeutet natürlich entsprechende Börsenspielgewinne. Diese Gewinne verbreiten ihre Lockungen überall im Lande. Ueberall erwacht damit das Streben, auch möglichst rasch und möglichst mühelos reich zu werden. Das Interesse der Bevölkerung an dem täglichen Studium des Börsenkurszettels wächst, das Interesse an der redlichen, stetigen, produktiven Arbeit geht entsprechend zurück. Die Beteiligung der „Aussenseite“ nimmt lawinenartig zu. Die Ansprüche der entfesselten Spielwut an den Bankkredit nehmen solchen Umfang an, dass es selbst den Banken bedenklich wird. So klagt der Geschäftsbericht der Dresdener Bank von 1899: „Wir haben es für unsere Pflicht gehalten, im Hinblick auf die Anspannung des Geldmarktes, einem hie und da (?) in Erscheinung tretenden Uebereifer des Publikums in Effektenkäufen, namentlich solchen unter Kreditinanspruchnahme, mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzutreten, was uns freilich nur in beschränktem Maasse gelungen ist!“ Das alles Buchseite 147 treibt natürlich mit vollen Segeln zur „Krisis“, deren Anzeichen nach Riesser vor allem in Folgendem zu suchen sind: „Sprunghafte Vergrösserung des Kreditbedürfnisses, starke, bald völlige Zurückziehung der Bankguthaben, Verdrängung des kurzfristigen durch langfristigen Kredit, überhandnehmende Prolongation fälliger Wechsel, starke Zunahme weniger guter Sicherheiten, Inanspruchnahme des Bankakzeptkredits seitens der Industrie für Dividendenzahlungen, oder zur erheblichen Vermehrung der stehenden Kapitalien, fortgesetzte Entnahme von Vorschüssen ohne Angabe oder mit Verschleierung des Verwendungszweckes, immer stärkere Verzögerung des rechtzeitigen Einganges fälliger Zahlungen, Hinaufschnellen der Rohstoff- und Warenpreise, Uebermass von Gründungen und Emissionen und massenhafte Einrichtungen von blossen Hilfsgesellschaften, von Tochter- und Trustgesellschaften. Dazu gehören noch die allgemein bekannten Erscheinungen auf dem Arbeitsmarkte.“ Während der aufsteigenden Konjunktur werden überall Bauten und Vergrösserungen ausgeführt. Die Fabriken können nicht genug Arbeiter heranziehen, um in Tag- und Nacht-Schichten die immer mehr sich häufenden Bestellungen auszuführen. Die hohen Gewinne gestatten der Industrie steigende Löhne zu bezahlen. Immer mehr Arbeiter werden aus der Landwirtschaft zur Industrie hinübergelockt. Die Arbeiterstreiks haben zumeist Erfolg und mehren sich deshalb. Da kommt über Nacht die Krisis. Der Absatz der Waren stockt. Viele Fabriken werden geschlossen, die Arbeiter entlassen. Die Löhne und die Zahl der Streiks gehen zurück. Die Landwirtschaft kann wieder leichter ihre Arbeiter finden, während in den Grossstädten das Heer der „Arbeitslosen“ die Armenversorgungskassen stürmt und den Organen der Sicherheitspolizei zur Last fällt.

So hat der fast unbeschränkte Kredit, den die Leipziger Bank namentlich gewährte, der Kasseler TreberBuchseite 148gesellschaft gestattet, innerhalb 12 Jahren ihr Kapital von 350'000 Mark auf 20 Millionen Mark zu erhöhen, Dividenden zwischen 10 und 50% zu verteilen, über 21 Millionen Mark zu Unrecht als Dividenden und Tantiemen auszuschütten und 32 Tochtergesellschaften zu gründen. Als 1901 der Zusammenbruch erfolgte, waren bei 177 Millionen Mark Schulden nur 1 bis 2 Millionen Mark greifbares Vermögen vorhanden, und die Leipziger Bank an dem Konkurs mit 93 Millionen Kontokorrentkredit beteiligt. Der Börsenkurs dieser Treberaktien ist im Herbst 1896 auf 895% hinaufgetrieben und längere Zeit gehalten worden. So hat die Pommersche Hypothekenbank im Dezember 1900 ihren Gläubigern einen Verlust von 29 1⁄2 Millionen Mark, die Preussische Hypothekenaktienbank noch grössere Verluste gebracht. So werden bei rückläufigen Kursbewegungen viele, viele Millionen im Börsendifferenzspiel verloren, die Unterschlagungen und Fälschungen aller Art nach sich ziehen, wie neuerdings wieder der Zusammenbruch der Marienburger Bank (Westpreussen) gezeigt hat. Kein geringerer als Rudolf von Jhering hat in seinem „Zweck im Recht“ (Band I, S. 223) seine Eindrücke und Beobachtungen aus der Börsenkrisis von 1873 in die Worte zusammengefasst: „Die Verheerungen, welche die Aktiengesellschaften im Privatbesitz angestiftet haben, sind ärger, als wenn Feuers- und Wassersnot, Misswachs, Erdbeben, Krieg und feindliche Okkupation sich verschworen hätten, den nationalen Wohlstand zu ruinieren.“

Unsere Grossbanken sind an der Erhaltung der Börse, wie sie heute ist, wesentlich interessiert. Die Börse mit ihrem Nachrichtendienste versteht es weitaus am besten, die „ahnungslose“ Aussenseite für die Teilnahme an der Spekulation in Waren und Wertpapieren mobil zu machen. Und trotzdem diese Aussenseite in jeder Krisis am meisten bluten muss, sind die trüben Erfahrungen bei der nächsten Buchseite 149 Hausse vom Publikum meist wieder vollständig vergessen. Gerade die allgemeinere Beteiligung des Publikums, wesentlich erweitert und gefördert durch Gewährung eines masslosen Kredits, erleichtert den Grossbanken die Unterbringung ihrer viel zu grossen Neu-Emissionen und damit die fortschreitende Umwandlung des Volksvermögens in Börsenwerte ganz wesentlich. Die fortschreitende Konzentration der Bankgeschäfte hat den Berliner Grossbanken etwa eine halbe Million der reichsten Leute als Kunden angegliedert. Dazu beherrschen diese Institute den Börsenkredit fast monopolartig. Georg Bernhard konnte deshalb in seinem kleinen Buche über die Börse (S. 45) mit gutem Recht behaupten: „Die Abhängigkeit des gesamten Börsenhandels von der grossen Bankwelt ist überhaupt ein ganz besonderes typisches Charakteristikum des neuesten Entwicklungsstadiums der Börse“. Hierher gehört auch die Abhängigkeit des „Berliner Maklervereins“ von den Grossbanken. Nach Saling’s Börsenhandbuch 1906 sind die Berliner Grossbanken im Aufsichtsrat des „Berliner Maklerverein“, der letzten noch übrig gebliebenen Berliner Maklerbank. Hier laufen die spekulativen Engagements, wie sie sich bei den Spekulationsmaklern im Markte einfinden, zusammen. Die täglichen Eintragungen in den Büchern des Maklervereins bieten deshalb jeweils die beste Uebersicht über die herrschende Lage im freien Markte. Nun gehört es zu den Pflichten der Grossbanken, als Aufsichtsräte des Maklervereins, den Inhalt dieser Bücher und damit den jeweiligen Stand der Marktlage fortlaufend zu kontrollieren. Auf Grund dieser Kenntnisse treffen dann die Banken ihre Spekulationsdispositionen für den nächsten Tag. Es kann deshalb wenig überraschen, dass es heute den Spekulanten an der Börse gar nicht möglich ist, gegen die Banken, namentlich mit einer Baisseoperation im Markte durchzudringen. Auch in bedenklichen Zeiten bleiben deshalb Buchseite 150 heute die Börsenkurse ziemlich fest, wie z.B. in den Wintermonaten 1906/7. Die Kleinen, welche gegen die Oberherrschaft der Grossen anzugehen versuchten, sind stets hineingefallen.

Bei all dem gehört die Gewährung von Börsenkredit zu den einträglichsten Bankgeschäften. Ist der Börsenkredit billig, so blühen die Spekulationsgewinne aus Kurssteigerungen und Emissionen. Und hat sich die Börsenspekulation erst genügend übernommen und kommt es zu den unausbleiblichen Stockungen, dann ist der Zins für kurzfristige Gelder schon auf 1% pro Tag gestiegen! Deshalb haben die Grossbanken für beliebig grosse Geldsummen stets Verwendung. Neben der fortwährenden Erhöhung des eigenen Aktienkapitals wird namentlich der Aufnahme neuer Depositengelder wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. Besondere Aquisiteure ermitteln die besten Einleger bei den Sparkassen und veranlassen diese, zu den Banken als Depositenkunden über zu gehen. Diese reinen Depositengelder sind nach den Zusammenstellungen des „Deutschen Oekonomist“ bei den dort angeführten deutschen Banken in den letzten vier Jahren um eine weitere Milliarde gewachsen! Von den Banken werden diese Gelder mit 3 bis 3 1⁄2%, selten höher vergütet. Die Banken selbst vereinnahmen von ihren Schuldnern bis 7, 8, 9 % und mehr. Gerade die Zeiten der Krisis bieten für genügend kapitalkräftige Banken häufig die reichsten Gewinne. So haben die Deutsche Bank und die Bergisch-Märkische Bank ihren grössten Aufschwung in der Zeit des wirtschaftlichen Niederganges nach 1900 erlebt.

Wie gross sind nun die Summen, welche in Deutschland von den deutschen Banken der Börsenspekulation auf dem Wege des Kredits zur Verfügung gestellt werden?

Buchseite 151 Nach den bekannten statistischen Uebersichten des „Deutschen Oekonomist“ waren im Jahre 1906 von 143 deutschen Banken, die unter sich in mehr oder minder enger Geschäftsverbindung stehen, nach ihren eigenen Geschäftsberichten gewährt worden:

an Wechselkredit 2'447'096'000    Mark
an Lombardkredit 1'099'366'000    "
an Debitoren und Diverse    6'073'380'000    "
an Akzeptkredit 1'848'112'000    "

Rechnen wir hiervon, nach Schätzungen hervorragender Sachverständiger, aus dem Wechselkredit etwa 1⁄10, aus dem Lombardkredit etwa 1⁄4, aus dem Debitorenkonto die Hälfte und aus dem Akzeptkredit 3⁄8 auf reinen Spekulationskredit und lassen wir die Beträge der Reichsbank, um Doppelzählungen zu vermeiden, ganz ausser Rechnung, so erhalten wir eine Gesamtsumme von

rund vier Milliarden Mark,

welche im letzten Jahre 1906 im Spekulationskredit für Börsenwerte von den deutschen Banken umgesetzt wurden. Um einen Anhalt zu geben, wie rasch sich diese Konten, welche im Wesentlichen den Spekulationskredit enthalten, in den letzten Jahren entwickelt haben, entnehmen wir dem wiederholt angeführten Buche von Jeidels folgende Angaben, welche für 1906 nach dem „Deutschen Oekonomist“ ergänzt sind:

(Alle Beträge in 1000 Mark)
  Wechselkonto
  1882 1892 1902 1906
1. Deutsche Bank  28'564   83'972   333'717   540'410 
2. Diskonto–Gesellschaft  36'186   68'181   135'485   175'833 
3. Darmstädter Bank  12'364   20'638   41'959   108'089 
4. Dresdener Bank  13'928   40'225   115'452   242'626 
5. Schaaffhausenscher Verein  66'412 
6. Berliner Handelsgesellschaft  2'820   31'764   58'372   74'501 
7. Nationalbank f. Deutschland  7'464   26'679   32'937   65'219 
Sa:     101'326   271'459   717'922   1'272'990 
 Buchseite 152  Akzeptkonto
  1882 1892 1902 1906
1. Deutsche Bank  17'095   17'343   145'302   226'110 
2. Diskonto–Gesellschaft  9'848   31'393   103'104   226'986 
3. Darmstädter Bank  18'816   24'131   53'936   78'498 
4. Dresdener Bank  12'155   47'326   115'364   205'892 
5. Schaaffhausenscher Verein  13'300   18'773   46'101   116'831 
6. Berliner Handelsgesellschaft  1'901   19'778   56'882   65'703 
7. Nationalbank f. Deutschland  13'892   14'067   22'868   43'603 
Sa:     87'007   172'811   543'557   958'233 
  Debitorenkonto
  1882 1892 1902 1906
1. Deutsche Bank  66'627   114'079   304'901   796'801 
2. Diskonto–Gesellschaft  62'089   113'724   193'702   480'350 
3. Darmstädter Bank  47'136   55'487   128'565   327'232 
4. Dresdener Bank  38'144   86'662   223'925   488'614 
5. Schaaffhausenscher Verein  29'414   53'083   132'053   379'579 
6. Berliner Handelsgesellschaft  12'837   54'126   130'854   192'626 
7. Nationalbank f. Deutschland  22'688   37'575   57'563   147'804 
Sa:     278'935   514'733   1'171'601   2'813'008 

Das ist durchweg eine Zunahme um mehr als das Zehnfache innerhalb 24 Jahren. Nehmen wir zu Gunsten der Börse an, dass sich der prozentuale Anteil des Kredits für Börsenspekulationen in diesen Konten nicht erhöht habe, wie von sachverständiger Seite übereinstimmend behauptet wird, so verbleibt immer noch eine Erhöhung der Ansprüche des Börsenspekulationskredits an den Geldmarkt um mehr als das Doppelte innerhalb 5 Jahren.

Dieses ungemein rasche Anwachsen des Börsenkredits bei den deutschen Banken muss um so bedenklicher erscheinen, als nach den gleichen Zusammenstellungen des „Deutschen Oekonomist“ die Deckung der Verbindlichkeiten der deutschen Kreditbanken von 72% im Jahre 1898 auf nur 61% im Jahre 1906 und speziell bei den Berliner Grossbanken von 76% im Jahre 1898 auf 63% im Jahre 1906 zurückgegangen ist. Auch die Banken arbeiten eben heute in immer grösserem Umfange mit fremden Geldern.

Buchseite 153 Schon aus diesem Zusammenhange wird ersichtlich, dass die Börse mit den Banken heute nicht nur die Ueberspekulation mit ihrem periodischen Zusammenbrechen in der Krisis direkt herbei führen, sondern auch den Zinsfuss in ein Spekulationsobjekt verwandelt haben, was zunächst wohl der Pariser Börsenstatistiker Jaques Siegfried mit Benutzung des französischen Materials 1899 öffentlich bewiesen hat. Der zunehmenden Ueberspekulation und steigenden Ausgabe von neuen Börsenwerten steht die wachsende Inanspruchnahme des Kredits, namentlich als Wechsel-, Debitoren- und Akzeptkredit, zur Seite, bis diese Bewegung ihren Kulminationspunkt in der Krisis findet. Dann steigt der Zinsfuss in der Regel noch etwas weiter. Die Neuemissionen gehen wesentlich zurück. Das Kapital rückt von allen unsicheren Anlagen ab und findet zunächst in den Kellern der Banken als tägliches Geld eine um so rentablere Anlage, als gerade jetzt der Kurs der Staatspapiere zu steigen pflegt, weil sie jetzt, nach der Krisis, stärker gekauft werden. Mit den grösseren Barbeständen der Banken wird der Zinsfuss wieder billiger. Die wirtschaftliche Lage erholt sich allmählich, bis von neuem das Börsenspiel mit neuen grösseren Emissionen, steigendem Zinsfusse, wachsender Spekulation usw. einsetzt und der Krisis mit steigenden Zinssätzen zueilt. Der deutschen Börsenkrisis von 1890/1893 geht eine Zinsfussteigerung der Reichsbank bis 5 und 5 1⁄2% zur Seite. Dann verbilligt sich 1894 und 1895 der Wechseldiskont der Reichsbank wieder auf 3%, der Privatdiskont sinkt im Februar 1895 sogar auf 1,26%! Die Barmittel der deutschen Banken steigen, die Emissionstätigkeit setzt von neuem ein, um im Dezember 1899 abermals zu einer Krisis zu führen mit einem Wechselzinsfuss der Reichsbank von 7% im Januar 1900. Dann kam 1902 und 1903 wieder eine Zeit der „ErBuchseite 154holung“ mit einem Reichsbankzinsfuss bis 3% und einem Privatdiskontsatz an der Berliner Börse von nur 1,59%! (Juli 1902), bis wieder der Zinssatz mit der Börsenspekulation anzog, um gegen Schluss des Jahres 1906 mit der Krisis 6 bis 7% und infolge einer international hinhaltenden Politik der führenden Banken bis Oktober 1907 sogar 7 1⁄2 und 8 1⁄2% im Reichsbankzinsfuss zu erreichen. So spielt das Auf und Nieder der Börsenspekulation seit Anfang der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Die Börse ist also nicht nur das Institut, welches Marktkurse und Marktpreise festsetzt und den nationalen und internationalen Zahlungsausgleich erleichtert. An der Börse vollzieht sich auch der Prozess der fortschreitenden Umwandlung des Volksvermögens in Börsenwerte. Von der Börse aus finden die Spekulationsinteressen ihre immer allgemeinere Ausbreitung bis in die entferntesten Winkel des Landes. Gleichzeitig knüpfen Banken und Börsen immer neue und immer mehr kapitalistische Beziehungen zum Auslande. Die Börse in erster Linie ist der verantwortliche Träger des ewigen Auf und Nieder, des fortwährenden Wechsels zwischen Ueberspekulation und Krisis mit nachfolgender Erholung. Und in diese Schwankungen reisst die Börse auch die Zinsfussbewegung mit hinein. Aus all diesen Erwägungen werden wir die Börse volkswirtschaftlich definieren: als Zentralorgan der stetig sich ausbreitenden Herrschaft des Kapitalismus.

c) Es herrscht die rücksichtsloseste Erwerbssucht.

α) Citate. Immer zahlreicher werden die Personen, welche nicht erwerben, um zu leben, sondern leben, um zu erwerben, oder um mit Jakob Fugger zu reden: Buchseite 155 „gewinnen wollen, dieweil sie können“. Diese „Sucht“, zu erwerben, ist in jedem Falle relativ unbegrenzt. Denn „Die Begehrlichkeit kennt keine Schranken, nur Steigerung“, wie schon Seneca gesagt hat. Auch die private Wirtschaftspolitik jedes Habsüchtigen hat eine Tendenz zur Weltherrschaft. Grenzen, welche durch das geltende Recht und die gute Sitte gezogen sind, werden wenig beachtet, wie durch eine Reihe von einwandfreien Zeugen bestätigt wird. So hat schon 1638 der Amsterdamer Kaufherr Beylandt, als er bei einer Proviantlieferung an die belagerte feindliche Stadt Antwerpen abgefasst wurde, erklärt: „Wenn ich, um im Handel zu gewinnen, durch die Hölle fahren müsste, so würde ich den Brand meiner Segel dran setzen! Der Handel muss frei sein und darf durch keine Kriegstaten unterbrochen werden!“

Von einem ungarischen Finanzminister zu Anfang der 70er Jahre stammt das Wort: „Wer sich schämt, wird nicht reich!“ Schaeffle hat den Ausspruch eines Rothschild uns erhalten: „Es ist nicht möglich, Millionär zu werden, ohne mit dem Aermel das Zuchthaus zu streifen.“ Nach einem amerikanischen Witzblatt gibt der alte Yankee auf dem Sterbebette seinem Sohne eine Lebensregel, welche lautet: „Mache Geld, mein Sohn! wenn Du kannst — auf ehrliche Weise! Aber wenn nicht — — unter allen Umständen mache Geld!“ Der „Kladderadatsch“ brachte vor einigen Jahren die Mitteilung, dass das — bei unseren Grossbanken so beliebte — „sanieren“ ein ausserordentlich unregelmässiges Zeitwort sei, welches wie folgt abgewandelt werde:

„Ich saniere“,
„Du stiehlst“,
„Er schwindelt“,
„Wir begaunern“,
„Ihr stibitzt“,
„Sie machen Pleite.“

Buchseite 156 Nach Moritz Jokai ist heute „die Tasche das empfindlichste Organ der Menschen.“ Andrew Carnegie behauptet in seinem Evangelium des Reichtums: „Wie ich sie kenne, gibt es wenige Millionäre, sogar sehr wenige, die frei sind von der Sünde, Bettler geschaffen zu haben.“ Und wer wollte bestreiten, dass Carnegie die Millionäre kennt?

β) Die Umprägung des Wucherbegriffes. In unserer Zeit, in der nur zu Viele möglichst rasch reich werden wollen, ist man auch allgemeiner geneigt, die schweren Sünden des rücksichtslosen Erwerbs, der über „Leichen“ zum materiellen Erfolg schreitet, leichter zu verzeihen, als das früher üblich war. Selbst die nationalökonomische Wissenschaft ist offensichtlich bestrebt, dieser modernen Entwicklungstendenz tunlichst Rechnung zu tragen. Und unser Recht, mit seiner besonderen Vorliebe für die formale Durchbildung bei sichtlicher Vernachlässigung des materiellen Inhalts der Verträge, begünstigt diese Umprägung der sittlichen Begriffe in hohem Masse. Ein Beispiel:

Aus dem grauen Altertume wird berichtet, dass es einen phönizischen Zauberer Namens Dardanus gegeben habe, welcher die schwarze Kunst verstand, die Früchte auf den Feldern seiner Nachbarn zu verderben (entwerten) oder in seine Scheune zu zaubern. Seit dieser Zeit sollen die Getreidewucherer Dardanarii, ihre Handlungen als das Verbrechen des „Dardanariat“ bezeichnet und bestraft worden sein. Die Benutzung falscher Maasse und Gewichte im Lebensmittelhandel und das Einsperren von Ware zum Zwecke der Preistreiberei, werden speziell von den Quellen als übliche Verbrechen der Dardanarii bezeichnet, die mit sehr hohen Geldstrafen oder auch mit Vermögenskonfiskation, Landesverweisung oder lebenslänglicher ZwangsBuchseite 157arbeit geahndet wurden. Aus dem römischen Recht sind diese Begriffe und Strafen durch Vermittlung der Kirche auch in die Strafbestimmungen des christlichen Abendlandes übergegangen. Namentlich die Reichstagsabschiede und die Reichspolizeiverordnungen des XVI. Jahrhunderts beschäftigen sich noch wiederholt mit diesem Dardanariat. Und selbst in dem österreichischen Strafgesetzbuch von 1803, im preussischen Landrecht, im code pénal, wie im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 finden sich Anklänge an diese uralte Rechtsauffassung. Erst die zweite Hälfte des XIX. Jahrhunderts hat mit der Anerkennung der Wucherfreiheit und des Egoismus als herrschendes Motiv aller wirtschaftlichen Handlungen auch die Dardanarii über Bord geworfen. Was bis dahin durch Jahrtausende ein Kapitalverbrechen war, war von jetzt ab eine legale Erwerbsform geworden. Niemand hinderte mehr die Börsenspieler, heute die Getreidepreise künstlich ins Masslose zu drücken, übermorgen dasselbe Getreide durch Einsperren und „Schwänzen“ ebenso masslos in seinem Verkehrswerte zu steigern. Mit einer gewissen begeisterten Liebe folgt die Wissenschaft diesem „Wellenspiel“ der Preise an den Terminbörsen und erblickt in den neueren gesetzlichen Einschränkungen der Börse nur das Resultat „irregeleiteter Masseninstinkte.“

Als man aber den Negern in unseren Kolonien die Baumwollpflanzung gelernt hatte und ihnen dann in dem einen Jahre sehr hohe, in dem anderen Jahre sehr niedrige Preise für ihre Baumwolle bot, entsprechend den Preisnotierungen der grossen internationalen Baumwollbörsen, da betrachtete der durch keinerlei Theorie verdorbene gesunde Sinn der Neger diese Art von Preisbildung als einen ungeheuren Schwindel. Sie gaben deshalb lieber ihre Baumwollpflanzungen auf. Um diese wichtige Kultur unseren Kolonien zu erhalten, hat der börsenerfahrene neue Buchseite 158 Kolonialdirektor Dernburg eine Einrichtung getroffen, welche den Negern einen ganz bestimmten, festen, mittleren Baumwollpreis Jahr für Jahr sichert. Damit ist die freie Marktpreisbildung für die Baumwollpflanzungen unserer Togoneger glücklich ausgeschaltet. Es gehört heute schon die reiche Erfahrung eines ehemaligen Bankdirektors dazu, um sich von der herrschenden wissenschaftlichen Verherrlichung der Terminbörsen zu emanzipieren. Oder die ganze frische Unbefangenheit des nordamerikanischen Präsidenten Roosevelt wie des nordamerikanischen Professors Brooks Adams ist nötig, um seine „innere Empörung gegen die herrschende Deifikation der Börse, des Kontors und der Fabrik“ uneingeschränkt zum Ausdruck zu bringen. Oder man muss die gewaltigen geschäftlichen Erfolge eines Andrew Carnegie hinter sich haben, um — ohne Verhöhnung in allen nationalökonomischen Zeitschriften — sagen zu können: „Es ist gut für das Land, dass die Börsenspieler zu Schaden kommen. Ich wünschte, ich könnte ein Verfahren erfinden, das diese Spieler auf beiden Seiten zu Schaden kommen lässt. Geldspekulation ist ein parasitisches Leben von Werten, ohne letztere zu schaffen. Es ist an der Zeit, dass wir Geschäftsleute, die etwas schaffen und Geld auf berechtigte Weise verdienen, diesen Leuten, welche Geld verdienen und keine Werte dafür liefern, die Anerkennung versagen.“

Dennoch würden wir der fortschreitenden öffentlichen Meinung unrecht tun mit der Behauptung, sie hätte die Erinnerung an das alte Verbrechen des rücksichtslosen Erwerbs ganz vergessen. Man beurteilt vielmehr heute die gleiche verwerfliche Handlung nach einer ganz bestimmten Voraussetzung ganz verschieden, wie hier an einigen Beispielen illustriert werden möge.

Ogden Armour, der Chef der grossen nordamerikanischen Firmen Armour Grain Co. und Armour & Co., der Buchseite 159 auf dem Getreidemarkte sich eine lange Reihe höchst bedenklicher „Manipulationen“ hat zu Schulden kommen lassen, der in skrupelloser Weise dem Volke der Nordamerikaner die Zwangsjacke des Grosschlächterringes hat anlegen helfen, der über ein Vermögen von ungezählten Millionen verfügt, scheint es als eine Art Sport zu betrachten, zur Weihnachtszeit, die dem Frieden unter den Menschen geweiht ist, seine nordamerikanischen Mitbürger durch eine Spezialspekulation noch extra auszuräubern. So hat Ogden Armour zu Weihnachten einmal die Aepfelvorräte aufgekauft, um dann die Aepfelpreise zu diktieren. Zu einer anderen Weihnachtszeit beherrschte er den Markt des nordamerikanischen Weihnachtsvogels, des Truthahnes, um dessen Preise um 100% zu erhöhen usw. Aber — Armour wird immer reicher und die kapitalistische Presse diesseits wie jenseits des Ozeans behandelt ihn durchweg mit dem Ausdruck jener Hochachtung, wie das einer „prima zahlungsfähigen“ Firma gegenüber Sitte ist. Im Erntejahre 1897/98 hat der nordamerikanische Spekulant Josef Leiter den Weizenmarkt per Herbst, per Dezember und per Frühjahr international „gekornert“. Das war nur möglich, weil vorher viele Jahre hindurch der Weizenmarkt der Welt durch gewissenlose Blankoverkäufe in ganz ungerechtfertigter Weise zu niedrige Weizenpreise ertragen musste, die international eine zu starke Einschränkung des Weizenbaues bewirkten. Dem beispiellosen Erfolge Leiters im Herbst und Dezember 1897 folgte im Mai 1898 sein Zusammenbruch. Seine Gegner, unter denen Ogden Armour der Führer war, hatten in der nordamerikanischen Statistik der sichtbaren Weizenvorräte ungeheure Fälschungen fertiggebracht. Es wurden auch bedenkliche Bestechungen des Leiterschen Personals bekannt. Leiter ist der Sohn eines sehr reichen Vaters. Alle seine Schulden aus dem Mai – Weizenspiel wurden Buchseite 160 nach und nach bezahlt. Sein Name blieb ohne Tadel. Ueber die furchtbaren Schäden, welche die bald zu niedrigen, bald zu hohen Börsenpreise für Weizen dem Wohlstande aller Völker zugefügt hatten, und die im Grunde doch mit so verwerflichen Mitteln bewerkstelligt wurden, fand man in der kapitalistischen Presse aller Länder kein Wort der Rüge. Im Sommer 1901 führte Phillips einen erfolgreichen Maiscorner an der Börse in Chicago durch. Sofort verlieh ihm die Presse den Ehrentitel „Kornkönig“. Im Oktober 1901 versuchte derselbe Phillips eine Haussebewegung auf dem Weizenmarkte, die im Januar 1902 zusammengebrochen ist. Seine Gegner hatten auch hier wieder mit Bestechungen unter seinem Büropersonal gearbeitet, und die Fallstricke der Chicagoer Börsenusance geschickt benutzt. Phillips verlor alles. Er hatte keinen reichen Vater. Seine Schulden aus dem Börsenspiele wurden nicht voll gedeckt. Und nun hiess es in der kapitalistischen Presse: „So ein Lump! So ein elender Spekulant! So ein verworfenes Subjekt!“ usw. Vor einigen Jahrzehnten begann ein junger Mann seine kaufmännische Laufbahn in einer grossen Handelsstadt Mitteleuropas damit, dass er mit der Portokasse eines grösseren Geschäfts, in dem er in der Lehre war, plötzlich verschwunden ist. Inzwischen wurde das ein sehr reicher Mann, der längst geadelt ist und die Ehre geniesst, finanzieller Berater eines mächtigen regierenden Königs in Europa zu sein.

Der doppelte Boden dieses modernen Wucherbegriffes ist leicht erkennbar. Nur jene Wuchergeschäfte, welche mit einem ökonomischen Misserfolg enden, sind ein Verbrechen. Jedes erfolgreiche „Geschäft“ aber verdient keinen Tadel. Die Ehre eines Mannes ist nicht mehr mit seinen Handlungen und seinem Charakter, sondern mit seiner wohlgefüllten Geldbörse, mit seiner „ZahlungsBuchseite 161fähigkeit“ identisch. „Arm sein“ ist ein Verbrechen, weit schlimmer als alle Rechtsverletzungen der Habgier. Der Reichtum aber deckt alle Sünden zu. Gewiss ist diese rein materialistische Moral noch nicht zur allgemeinen Herrschaft gekommen. Ueberall sind noch weite Kreise davon frei. Aber es ist betrübend, zu sehen, mit welcher Raschheit die alten Begriffe von Recht und Unrecht durch den „Goldkrebs“ zerfressen werden.

γ) Der Kapitalismus und seine systematischen Bestechungskünste. Das Aufkommen bedenklicher sittlicher Anschauungen „jenseits von gut und bös“, aber „diesseits von reich und arm“ hat natürlich seine ganz bestimmten materiellen Gründe. Seitdem die „Aktie“ als schneidigste Waffe im Dienste der sich ausbreitenden Herrschaft des Kapitalismus in der Geschichte der modernen Kulturvölker Eingang gefunden, datiert auch die Geschichte der Bestechungskünste aller Art. Man hat in Frankreich Schulden der Krone gezahlt und dem König an jedem Morgen zum Frühstück 1000 Livres überreicht. In Deutschland, dessen Beamtenstand als Muster von Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit gelten kann, haben bald nach Beginn der Erteilung von Eisenbahnkonzessionen demoralisierende Bestechungen stattgefunden. Die bayerische Ostbahn z.B. hat dem damals berühmtesten bayerischen Nationalökonomen und Universitätsprofessor eine „Beteiligung von einigen hunderttausend Gulden „«geschenkt»“. Vor der Gründung der österreichischen Kreditanstalt erhielt jede grössere Zeitungsredaktion eine Beteiligung von 500 Aktien, wobei es den Herren Redakteuren vielfach freigestellt wurde, die Aktie oder bis zu einem bestimmten Termin 15% Prämie davon zu nehmen. Als im Herbst 1888 die Emission der Aktien der „Assurance Financière“ Buchseite 162 vorbereitet wurde, hat man für Publikationsspesen in den Zeitungen Frankreichs 2'850'000 Frcs. zur Verfügung gestellt. Der „Credit-Foncier“ hat 2 Millionen Franken verteilt, um das Schweigen oder das Lob der Zeitungen zu erwerben. Der L’Economiste Français schätzte, dass während des Panamaschwindels mehrere Dutzend Millionen an die Presse verteilt worden sind. Die Enthüllungen der deutschen Börsen-Enquête-Kommission über bedenkliche Erscheinungen innerhalb der deutschen Presse haben inzwischen durch den Pommernbankprozess (Juli 1903) weitere Ergänzungen erfahren.

Die Direktoren der Pommernbank hatten dem „Berliner Presse-Klub“ 25'000 Mark als „unverzinsliches Darlehn auf unbestimmte Zeit“ gegeben, um „mit den Vertretern der Presse eine gewisse Fühlung zu erhalten.“ Weiter wurden aus den „sekreten Ausgaben“ dieser Bank gerichtlich festgestellt, dass an Redakteur S. 1000 Mark, Quartalssummen für Dr. W. = 3000 Mark; Dr. O. 3000 Mark, Prof. M. = 2000 Mark; Dr. Oc. = 4000 Mark usw. bezahlt wurden. Das sollen Honorare für „Privatarbeiten“ gewesen sein. Aber warum gehören denn diese Summen zu den „geheimen“ Ausgaben? — Gewiss trifft dieses grobe Verderbnis nur einen Bruchteil der Berliner Zeitungsschreiber. Aber sie bleibt trotzdem ein höchst bedenkliches Zeichen der Zeit.

Heute scheint die kapitalistische Welt es vorteilhafter zu finden, neben grossen Annoncenaufträgen an die Presse die angesehensten Zeitungen aufzukaufen oder doch finanziell zu beherrschen. Dazu kommen grosse kapitalistische Monopolgesellschaften der Verlagsanstalten, Monopole im Zeitungsnachrichtendienst, in der Herstellung von Unterhaltungsbeilagen für kleinere Provinzblätter usw. In Nordamerika haben einzelne Grosskapitalisten Universitäten gegründet, an denen die Theorien des kapitalistischen Buchseite 163 Erwerbs als Nationalökonomie vorgetragen werden. In Europa ist die Vorliebe der Universitätsprofessoren für die Börse und für die Grossbanken in der Mehrheit ganz unverkennbar. Und das schon vor Jahrzehnten literarisch behandelte Thema: „Der Kapitalismus in der Gelehrtenwelt“ würde einer neuerlichen Behandlung ungleich reicheren Stoff bieten.

In England war es nach der „Kreuzzeitung“ vom 28. Dezember 1900 bis vor kurzem Sitte, dass der reich gewordene Spekulant den Damen der Gesellschaft Geld beim Hazardspiel borgte und dann die Anleihe vergass, oder dass er für diese Damen auf Rennpferde wettete, bis ein hoher Gewinn herauskam, oder man „arrangierte“ die Schulden eines verkrachten Verwandten oder Liebhabers usw. Durch Baron Hirsch aber sei in England die „Mode“ aufgekommen, einer jeden Dame, je nach ihrem Einfluss und ihrer sozialen Stellung, von der Herzogin bis zur einfachen „Miss“ 20'000 bis 1000 Mark in neuen englischen Banknoten in die Serviette an der Festtafel zu legen. So verschafft das Geld sich Eintritt in die höheren Gesellschaftskreise und Einfluss auf die öffentliche Meinung. Wie selten fragt man dabei, auf welche Weise es erworben wurde?

Vor einiger Zeit hat die Presse als ein ausserordentliches Ereignis die Nachricht verbreitet: ein amtlicher nordamerikanischer Statistiker habe infolge von Bestechungen durch Spekulanten unrichtige Ziffern der Erntestatistik veröffentlicht. Wer schon längere Zeit sich mit dieser Spezialstatistik praktisch beschäftigt hat, weiss, dass solche Fälle keineswegs selten vorkommen. Viele dieser Beamten der Marktstatistik sind verhältnismässig so schlecht besoldet, dass die Nordamerikaner schon darin die Notwendigkeit erblicken, für Bestechungen zugänglich zu bleiben. Es betrifft nur eine andere Seite dieser, für Buchseite 164 unsere Zeit so charakteristischen Erscheinungen, wenn die „New-Yorker Handelszeitung“ vom 23. Februar 1907 berichtet, dass im Jahre 1906 die Beamten der grösseren Organisationen sich Unterschlagungen in Höhe von 79,31 Millionen Mark gegen nur 53,02 Millionen Mark im Jahre 1905 haben zu schulden kommen lassen. Der weitaus grösste Teil davon entfällt auf Beamtenveruntreuungen bei den Banken und Trustgesellschaften. Natürlich können diese Ziffern noch in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Welche Rolle heute das Geld bei den politischen Wahlen spielt, darüber gibt ein englisches Blaubuch für die letzten Wahlen in England folgende Auskunft: „Die Gesamtausgaben der Kandidaten betrugen 23'377'160 Mark. Im einzelnen kosteten die Drucksachen 8'365'920 Mark, die öffentlichen Versammluugen 603'140 Mark, die persönlichen Ausgaben erreichten 1'281'080 Mark, Angestellte und Boten kosteten 2'583'040 Mark, Wahlbeamte 4'126'480 Mark usw. Die Ausgaben für jede abgegebene Stimme betrugen ungefähr 4 Mark für Irland, 4,25 Mark für England, 4,50 Mark für Schottland. Noch gewaltigere Summen werden bei den Wahlen in Nordamerika umgesetzt. Aber auch aus den deutschen Wahlen sind Fälle bekannt geworden, in denen der Baraufwand eines Kandidaten zum Reichstage 100'000 Mark wesentlich überschritten hat.

δ) Moderne Grossunternehmungen als gross angelegte Raubzüge. Je mehr der allmächtige Dollar zur Herrschaft kommt, desto unverhüllter entfalten sich moderne Riesenunternehmungen als gross angelegte, täglich sich erneuernde Raubzüge auf die Taschen der Mitmenschen. Als typisches Unternehmen dieser Art soll hier die Entwicklung des nordamerikanischen Grossschlächterringes nach einer Reichstagsrede des Dr. G. Roesicke skizziert werden.

Buchseite 165 Zu Anfang des Jahres 1876 gab es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika noch 30 bis 40'000 selbständige Schlächtermeister. Die Technik hatte bereits die Konstruktion von künstlichen Gefrieranlagen und von Kühlwagen für Eisenbahnen erfunden, wodurch die Versendung von frischem Fleisch über Land auf beliebige Entfernungen möglich wurde. Aber die ökonomische Vernichtung der selbständigen Schlächtermeister hat erst begonnen, als eine sehr kapitalkräftige Firma, auf Grund ihres Besitzes von nordamerikanischen Eisenbahnaktien, einen bestimmenden Einfluss auf die Eisenbahntarife auszuüben wusste. Von dieser Zeit ab wurde frisches Fleisch in Eisenbahnwagen mit Kühlvorrichtungen ganz wesentlich billiger verfrachtet, als lebendes Vieh. Auf Grund dieser Bevorzugung waren die Grosschlächter den selbständigen Schlächtermeistern entsprechend überlegen und die Mitglieder des Schlächtergewerbes standen jetzt vor der Alternative: entweder den Fleischverkauf für die grossen Schlachthäuser kommissionsweise zu übernehmen, oder durch deren Halsabschneiderkonkurrenz sich ruinieren zu lassen. Die kurzsichtigen Konsumenten liefen in einem jeden solchen Konkurrenzfalle dem billigeren Fleische nach und halfen so kräftig mit, das Mittelstandsgewerbe zu beseitigen und die Alleinherrschaft der 7 Grosschlächtereien zu begründen. Binnen wenigen Jahren war dieser Umwandlungsprozess zum Abschluss gekommen. Nun ging die Politik des Grosschlächterringes daran, die nordamerikanischen Farmer zu zwingen, die Mastwirtschaft ganz überwiegend aus dem Osten nach dem Westen der Union zu verlegen, damit das Fleisch zumeist als geschlachtete Ware in den Kühlwagen des Schlächterringes und nicht als lebendes Vieh vom Westen nach dem Osten sich bewege. Das bereits vorher erworbene Monopol der Viehmärkte hat dem Schlächterring in der Tat gestattet, diese gewaltige VerBuchseite 166schiebung in den landwirtschaftlichen Produktionsverhältnissen etwa bis Ende der 80er Jahre durchzuführen. Von nun an aber wurde den landwirtschaftlichen Farmern kein höherer Mastviehpreis bewilligt, als zur Erlangung der gewünschten Mengen von Masttieren nötig war, den Konsumenten aber wurden so hohe Fleischpreise aufgebürdet, als sie tragen konnten. Die Differenz zwischen dem Einkaufspreis der Masttiere und dem Verkaufspreis des ausgeschlachteten Fleisches wurde dadurch geschickt verdeckt, dass für den Konsum acht verschiedene Fleischqualitäten unterschieden wurden, welche um das Fünffache im Preise differierten. Der Grosschlächterring hatte indessen auf diesem Wege nicht nur das Ankaufsmonopol der schlachtreifen Tiere der nordamerikanischen Farmer und das Monopol der Fleischversorgung für die Bevölkerung der Union erworben. Er wusste gleichzeitig durch eine raffinierte Ausnutzung aller Nebenprodukte noch eine ganze Reihe von Monopolen in der Erzeugung von Massenprodukten für das Volk zu gewinnen. Die Klauen wurden zu Leim, die Hörner zu Kämmen und Knöpfen, die Felle zu Leder, die Knochen zu Dünger, die Haare zu Kissen verarbeitet. Dazu kommt noch die Herstellung von Schweineschmalz, Margarine und Seife. Welche Fülle von Gelegenheiten, das nordamerikanische Volk unter Ausschluss jeglicher Konkurrenz tributpflichtig zu machen! Endlich ist erst dieser so organisierte Grosschlächterring mit Erfolg bemüht gewesen, einen Teil des wachsenden Fleischbedarfs auch der europäischen Völker aus Nordamerika zu decken und das kurzsichtige Konsumenteninteresse in Europa ist auch bei diesem Eindringen der grosskapitalistischen Interessen wieder zur Unterstützung stets bereit gewesen.

Die Vereinigung einer solchen Machtfülle in einer Hand liess natürlich nicht lange auf grobe Missbräuche Buchseite 167 warten. Verdorbenes und unverkäufliches Büchsenfleisch wurde von diesen Riesenschlachthäusern im spanisch-amerikanischen Kriege an die amerikanische Armee- und Marineverwaltung verkauft und diesem Fleische fielen mehr nordamerikanische Soldaten zum Opfer als den Geschossen der Feinde. Durch die Enthüllungen Sinklairs, deren Richtigkeit amtliche Erhebungen bestätigt haben, wurde in breiterer Oeffentlichkeit bekannt, welch’ bedenkliche Praktiken diese Schlachthäuser bis dahin durch hohe Schweigegelder zu verheimlichen wussten. Neu geborene Kälber, unterwegs erkrankte und verendete Tiere fanden als Büchsenfleisch oder Wurst Verwendung. Zur Konservierung des Fleisches kamen solch’ scharfe Chemikalien zur Anwendung, dass die Stiefel der Arbeiter davon zerfressen wurden. Dem Magen der Konsumenten aber soll das nichts schaden. Aus sumpfigen Resten und Abfällen in den Schlächtereien wurde Schmalz gewonnen. Selbst bei Unfällen abgehackte Glieder der Arbeiter, vergiftete Ratten u. dergl. wanderten ins Büchsenfleisch oder in die Wurstmaschine. Der angelsächsische Arbeiter ist längst aus diesen Schlachthäusern verschwunden. Auch der Deutsche und selbst der Irländer sind hier nicht mehr zu finden. Neu eingewanderte Polen und Littauer sind für solche Arbeit noch zu haben. Das Amt eines Fleischbeschauers kommt in Nordamerika hauptsächlich als Entschädigung für politische Handlangerdienste zur Verleihung und kann deshalb unmöglich gegen die Interessen von Parteifreunden richtig funktionieren.

Solch schamlose Geschäftspraktiken gehören in der Union keineswegs zu den Seltenheiten. Henry Demarest Lloyd hat in seinem Buche „Wealth against Commonwealth“ (1894) eine lange Reihe ähnlicher Fälle aus den nordamerikanischen Trustgesellschaften aktenmässig nachgewiesen. Hier sollen davon nur drei Beispiele dieser Art angeführt werden.

Buchseite 168 Im Februar 1888 waren alle grösseren Brennereien der Nordstaaten dem Whisky-Trust beigetreten. Nur zwei grössere Unternehmungen hatten ihre Unabhängigkeit bewahrt. Auf einer Versammlung der Trustees Ende Februar 1888 wurde erwogen, wie diesen unbequemen Konkurrenten beizukommen wäre. Im April hat man in einer dieser Fabriken den Versuch gemacht, durch ausserordentliche Belastung eines Ventils eine Explosion herbeizuführen. Im Mai gab der betreffende Fabrikbesitzer bekannt, dass ihm der Whisky-Ring einen Kaufpreis von 1 Million Dollars geboten habe, den er nicht akzeptierte. Im Dezember des gleichen Jahres flog die gleiche Fabrik in die Luft. Eine gerichtliche Untersuchung wurde nicht eingeleitet.

Am 11. Februar 1891 wurde ein Sekretär des Whisky-Trusts verhaftet, weil er einen staatlichen Aichmeister bestochen hatte, um eine unabhängige Spiritusfabrik mit einer Höllenmaschine in die Luft zu sprengen. Die polizeiliche Untersuchung ergab, dass der Aichmeister nach einem Anzünden der Lunte die Zeit nicht gefunden haben würde, sich zu retten. Am 15. Februar wurde von einer Versammlung der Trustmitglieder einstimmig beschlossen, für den verhafteten Sekretär Partei zu nehmen. Am 8. Juni hob der Staatsgerichtshof die Anklage des Lokalgerichts auf. Am 24. Juni wurde der Sekretär freigelassen, weil der Staatsanwalt nicht genügendes Beweismaterial beibringen konnte, und der Aichmeister als Zeuge nicht zu finden war.

In Nordamerika ist das staatliche Petroleuminspektorat eingeführt, das über den Grad der Reinigung des Petroleums zu wachen hat. Kontrollierte Petroleumfässer werden mit einer Brandmarke versehen. Ungeprüftes und deshalb vielleicht für den Konsum gefährliches Petroleum soll nicht in den Handel kommen. Im Jahre 1890 Buchseite 169 erstattete der Petroleumoberinspektor von Iowa amtliche Anzeige, dass verschiedene Inspektoren dem Petroleumring ihre staatlichen Stempel zur freien Benutzung überlassen hätten. Seitens des Gouveneurs fand keine Untersuchung statt, wohl aber wurde der betreffende Oberinspektor seines Amtes enthoben. 1891 kam dieselbe Anklage vor den Senat und zwar in Minnesota. In dem darüber erstatteten Kommissionsbericht heisst es wörtlich: „Nachdem die Petroleuminspektoren mit dem Petroleumring ein Abkommen über die ihnen zu zahlende Belohnung getroffen hatten, schienen sie ihre Pflichten in die Worte zusammenzufassen: „«Wir haben keine Verpflichtung gegen den Staat Minnesota, die Standard-Oil-Company hat uns bezahlt»“. Der staatliche Petroleuminspektor erhielt nämlich sein Gehalt nicht vom Staate, sondern als eine Art Gebühr vom Petroleumring bezahlt.

ε) Das Einkommen des Einzelnen stuft sich heute ab nach seiner Teilnahme am kapitalistischen Erwerb. Es ist oben festgestellt worden, dass in dem kurzen Zeitraume von etwa 50 Jahren rund die Hälfte des deutschen Volksvermögens in Börsenwerte verwandelt wurde und die Vermögensherrschaft der acht Berliner Grossbanken seit 1870/73 bis heute etwa um das Hundertfache gewachsen ist. In anderen Ländern mag der fortschreitende Sieg des Kapitalismus noch grössere Erfolge verzeichnen. Klar und bestimmt strebt der Kapitalismus der Weltherrschaft zu. Es ist deshalb ganz natürlich, dass jene Personen, welche in der kapitalistischen Entwicklung an leitender Stelle stehen, das weitaus grösste Einkommen beziehen. Das Einkommen der Beamten zeitgemäss weiter zu entwickeln, ist fast vergessen worden. Das Einkommen der unter der Buchseite 170 kapitalistischen Entwicklung leidenden Bevölkerungskreise, wie der Landwirte, der Gewerbetreibenden, ist in den letzten Jahrzehnten sogar zurückgegangen.

Der Vater und Erfinder der modernen grosskapitalistischen Produktionsmonopole, John D. Rockefeller, welcher vor etwa 50 Jahren als Farmarbeiter seine geschäftliche Laufbahn begonnen hat, erzielte nach amtlichen Ermittlungen aus seinen Petroleumquellen von 1899 bis 1906 im Durchschnitt pro Jahr ein Einkommen von 42 1⁄2 Millionen Mark. Das Einkommen Rockefellers aus anderen Erwerbsquellen, wie insbesondere aus seiner Beteiligung an dem Stahltrust, an nordamerikanischen Eisenbahnen, Grundstücksspekulationen u.s.w. ist weniger bekannt, darf aber nach dem Urteil von Sachverständigen nicht viel niedriger geschätzt werden. Das Jahreseinkommen dieses typischen modernen Grosskapitalisten, der mit nichts angefangen hat, wird mithin heute auf rund 70 bis 80 Millionen Mark veranschlagt werden können. Nach einer Enquete über den Standard Oil Trust im Jahre 1906 verdiente Rockefeller seit Gründung dieses Trusts 610 Millionen Mark. Das ursprüngliche Kapital dieser Gesellschaft war 319 Millionen Mark. Der darauf erzielte Gewinn betrug von 1882 bis 1894 nur etwa 15%. Im Jahre 1903 stieg er auf 83% und von 1903 bis 1905 hielt er sich auf der durchschnittlichen Höhe von 69%. Bei den Angestellten der grosskapitalistischen Organisationen geht das Gehalt entsprechend zurück. So erhält — nach dem „Petit Parisien“ (Januar 1905) — der Direktor der Nordamerikanischen Bank Morgan & Co. jährlich ein Gehalt von 1 Million Mark. Damit konnte sich nur noch der verstorbene Cecil Rhodes vergleichen, welcher als Direktor der consolidated Goldfields jährlich 1'400'000 Mark bezogen haben soll. Der Sekretär des Petroleumringes erhält jährlich 800'000 Mark. Der Buchseite 171 Präsident der bedeutendsten amerikanischen Lebensversicherungsgesellschaft vereinnahmt als Vergütung jährlich 600'000 Mark. Nach einer jüngst (1907) bekannt gewordenen Petition des Berliner Magistrats an den preussischen Minister des Innern hatten drei Direktoren der Deutschen Bank und ein Direktor der Diskontogesellschaft ein staatssteuerpflichtiges Einkommen von je 450'000 Mark, während auf 19 Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank, der Diskontogesellschaft, der Dresdener Bank, der Bank für Handel und Industrie, der Nationalbank für Deutschland, der Mitteldeutschen Kreditbank und des Schaaffhausenschen Bankvereins zusammen, ein staatssteuerpflichtiges Einkommen von rund 3'500'000 Mark, also auf je einen dieser Herren rund 185'000 Mark entfielen. Der erste Chemiker des nordamerikanischen Zuckersyndikats bezieht 200'000 Mark. Das übliche Direktorialgehalt der grossen deutschen Syndikate beträgt bekanntlich 100'000 Mark. Nur ebenso gross ist das Gehalt des deutschen Reichskanzlers. Das Ministergehalt in Preussen beträgt heute 36'000 bis 50'000 Mark und sinkt in Süddeutschland auf 12'000 Mark. Landgerichtsräte und Amtsrichter erhalten in Preussen 3000 bis 6600 Mark und müssen sich in Süddeutschland mit einem Anfangsgehalt von 2280 bis 4080 Mark begnügen. Der Unterleutnant hat 1290 bis 1578 Mark. Der Lehrer am Gymnasium in Preussen 2700 bis 5100 Mark, der Elementarlehrer in Berlin 1800 bis 3600 Mark. Die Erhebung des preussischen statistischen Landesamtes von 1902 ermittelte für die preussischen landwirtschaftlichen Grundbesitzer, dass noch nicht

1⁄15  ein Jahreseikommen von über 3000 Mark,
9⁄15 (3⁄5) " " " 900 bis 3000 Mark,
5⁄15 (1⁄3) " " " 900 Mark und weniger

Buchseite 172 haben, wobei der Grossgrundbesitz mit rund 3⁄10 in der Einkommengruppe von 900 bis 3000 Mark vertreten ist. Die Einkommenziffern der Gewerbetreibenden dürften sich kaum günstiger gestalten.

Im Gegensatze hierzu sind in der Industrie Löhne für erwachsene männliche Arbeiter bei 9 bis 10stündigem Arbeitstage pro Jahr in der Höhe von 900 Mark, heute als Minimallöhne zu bezeichnen. In den Kruppschen Werken betrug der Durchschnittslohn sämtlicher Arbeiter:

1880 : 3,19 Mark pro Tag
1890 : 3,95 " " "
1900 : 4,78 " " "
1906 : 5,35 " " "

also bei 300 Arbeitstagen ein Jahresgehalt von 1605 Mark. Dabei erhöhte sich die Zahl der ständig beschäftigten Arbeiter in den Kruppschen Werken von rund 30'000 auf über 60'000 Mann. Das Jahreseinkommen der Roll- und Müllkutscher in Berlin ist von 1896 bis 1906 von 936 auf 1560 bezw. 2054 Mark gestiegen. Der durchschnittliche Jahreslohn sämtlicher preussischer Bergarbeiter war nach Calwer (Wirtschaftsjahr 1906, erster Teil): 1895 848 Mark, 1900 1138 Mark, 1906 1211 Mark. Vorarbeiter erhalten Jahresgehälter von 3000 bis 5000 Mark und mehr. Kunstschlosser erhalten bei achtstündigem Arbeitstage bis 6000 Mark pro Jahr. Beim Stahlkönig Carnegie steigt das Jahreseinkommen der Arbeiter, welche Erfindungen oder Verbesserungen gemacht haben, wie z.B. bei A. J. Dey, dem jetzigen Chef der Montagewerkstätten des Stahltrusts, bis auf 80'000 Mark.

Buchseite 173 d) Der Kapitalismus beherrscht die Bevölkerungsbewegung
in Raum und Zeit.

Nach einem detaillierten Nachweis der „Kreuzzeitung“ vom 10. Juli 1904, wird der unbemittelte Leutnant, auch wenn er die „Königszulage“ von 20 Mark monatlich erhält, trotz denkbar sparsamster Wirtschaft, schon nach Ablauf des ersten Monats seiner Dienstzeit vor die Alternative gestellt: entweder seinen Abschied zu nehmen oder Schulden zu machen. Nach einer Bemerkung des Kammerherrn von Oldenburg im Reichstage (24. April 1907) fehlen heute in der preussischen Armee 700 Offiziere. Rechnen wir die unbesetzten Offizierstellen in den süddeutschen Kontingenten hinzu, so ergibt das heute für das deutsche Heer ein Unbesetztsein von 1070 Offiziersstellen. In den Beamtenkreisen macht sich deutlich das Streben bemerkbar, aus dem Staatsdienst in den weit höher besoldeten grosskapitalistischen Privatdienst überzutreten. Nach einer nicht einmal vollständigen Zählung der „Deutschen Tageszeitung“ vom 14. August 1905 sind in den letzten Jahren fünfzehn höhere Reichs- und Preussische Staatsbeamte in den Dienst der Syndikate und Banken übernommen worden. Nicht minder gross ist die Flucht aus dem Staatsdienst in den süddeutschen Ländern. Die Beamten und Offiziere, welche im Staatsdienste bleiben, sind vor allem auf eine reiche Heirat angewiesen. Selbst in unserer Diplomatie nehmen die reichen ausländischen Frauen zu. Wo dann die so reich gewordenen Offiziere und Beamten mit ihren ärmeren Kollegen und Kameraden zusammentreffen, wird, namentlich draussen auf dem Lande, das rechte Zusammenarbeiten ungemein erschwert. Wer aber keinen höheren Treffer in der Heiratslotterie gezogen hat, fällt bei den ungeheuer gewachsenen gesellschaftlichen Ansprüchen entweder als Opfer des Mammonismus oder stirbt, selbst bei Buchseite 174 einer äusserlich glänzenden Laufbahn, in bescheidenen ökonomischen Verhältnissen, welche die Kinder gegen Not nicht sichert.

Immerhin ist durch die moderne kapitalistische Entwicklung der Geldbetrag des Einkommens der Beamten und Offiziere wenigstens nicht direkt herabgesetzt worden, wie das für das Einkommen der Landwirte und Gewerbetreibenden im allgemeinen der Fall ist. So erscheint diesen Kreisen bei der wachsenden Unsicherheit ihrer materiellen Lage das Aufrücken in die zwar schlecht bezahlte aber doch gesicherte Position des Beamten als ein höchst erstrebenswertes Ziel. Das klassische Land dieser allgemeineren Bewegung nach der Beamtenposition scheint das Land der kleinen Rentner „Frankreich“ zu sein. Nach Jules Méline „Rückkehr zur Scholle“ (1906) haben sich bei der Seine-Präfektur für 400 offene Stellen als Chausseeaufseher, Büroschreiber, Schuldiener etc. 50'000 Bewerber eingefunden. Der häufige Wechsel im französischen Ministerium und das parlamentarische System begünstigen die Belohnung politischer Wahldienste durch Staatsanstellung. So ist die Zahl der Staatsbeamten Frankreichs von 283'000 im Jahre 1876 auf 603'566 im Jahre 1907 gestiegen. Auf 100 französische Gewerbesteuerzahler kamen 1868 : 18, 1907 : 33 Staatsbeamte. Die von der französischen Staatskasse gezahlten Beamtengehälter sind von 279 Millionen Franken 1876 auf 800 Millionen 1907 angewachsen. In Deutschland nimmt bekanntlich die allgemeinere Bewegung nach der Beamtenposition und den liberalen Berufen die Form der Ueberfüllung der Mittel- und Hochschulen an. Statistisch ist nachgewiesen, dass die Studierenden aus Subaltern- und Handwerkerkreisen in Halle a.S. in hundert Jahren von 31 auf 42% der Gesamtzahl der Universitätsbesucher angewachsen ist.

Die besonders charakteristische Bevölkerungsbewegung im Zeitalter des Kapitalismus ist:

Buchseite 175 Die Flucht der Bevölkerung nach der Stadt und aus der
Landwirtschaft nach der Industrie.

Nach dem „Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich“ (1907) gehörten, nach den letzten Berufszählungen, von 100 Erwerbstätigen zur

Länder: Land-
   u.
Forst-
 wirt-
schaft.
   In-
dustrie
   u.
 Berg-
  bau.
Hand.
   u.
Verk.
Armee
   u.
Marin.
Oefftl.
Dienst
   u.
 freie
 Ber.
 Häusl.
Dienst-
 boten
Sonst.
  Er-
werbs-
 tätige.
Deutschland 37,5 37,4 10,6 2,8 3,6 6,1 2,0
Oesterreich 58,2 22,3 7,3 12,2
Ungarn 68,6 13,4 4,1 1,5 2,4 4,4 5,6
Russland 58,3 17,9 7,1 3,6 3,8 5,2 4,1
Italien 59,4 24,5 7,4 1,2 3,9 3,0 0,6
Schweiz 30,9 44,9 13,0 0,2 4,5 5,5 1,0
Frankreich 41,8 35,5 9,5 3,0 5,2 4,9 0,1
Belgien 21,1 41,6 11,7 1,0 24,6
Niederlande 30,7 33,7 17,2 1,0 5,4 10,3 1,7
Dänemark 48,0 24,9 11,8 4,9 8,4 2,0
Schweden 49,8 20,9 7,5 2,0 2,9 10,8 6,1
Norwegen 41,0 27,7 14,0 0,7 3,4 11,2 2,0
Engl. u. Wales 8,0 58,3 13,0 1,2 5,6 13,9
Schottland 12,0 60,4 12,4 0,4 4,7 10,1
Irland 44,6 32,6 5,0 1,6 5,0 11,2
Großbritannien 12,4 5,7 12,1 1,1 5,5 13,2
Verein. Staat. v.
Nordamerika
35,9 24,1 16,3 0,4 4,3 19,0

Die Zeitschrift des preussischen statistischen Landesamtes brachte eine Veröffentlichung von Dr. Broesicke über die Binnenwanderung in Preussen auf Grund der letzten Erhebungen, der wir folgende Angaben entnehmen: Preussen hat vom 1. Dezember 1900 bis 1905 = 96'645 Buchseite 176 Einwohner durch Zuwanderung über die Abwanderung gewonnen. Dem entspricht eine Zunahme der Ausländer in Preussen, welche gezählt wurden auf:

87,304 : 1871,
205,818 : 1895,
368,003 : 1900,
524,874 : 1905.

Die grösste Bevölkerungszunahme hatte die Provinz Brandenburg infolge des rapiden Anwachsens der Berliner Vorstädte. Weiter haben merkliche Zuwanderungen zu verzeichnen die industriellen westlichen Provinzen: Rheinland, Westfalen und Hessen-Nassau. Verloren durch Abwanderung haben am meisten die östlichen, vornehmlich landwirtschaftlichen Provinzen: Posen, Ostpreussen, Westpreussen, Pommern und Schlesien. Von 88 Stadtkreisen der Monarchie haben 72 einen Wandergewinn zu verzeichnen. Von den 489 ländlichen Kreisen gewannen nur 73 durch Zuwanderung. Es sind das vornehmlich solche im westlichen Industriegebiet und vor den Toren von Grosstädten, die übrigen ländlichen Kreise verloren durch Abwanderung und zwar:

  1895/1900  =  1'093'789,  
  1900/1905  =  809'138,  also
von  1895/1905  =  1'902'927   oder fast 2 Millionen

Menschen binnen 10 Jahren. Noch ungünstiger stellen sich die Zahlen, wenn wir diejenigen ländlichen Kreise herausgreifen, deren Bevölkerung zu mehr als 50% im Hauptberuf in der Landwirtschaft tätig sind. Das sind 268 Kreise, in denen die Abwanderung betrug

    1'347'059 Köpfe,
1895/1900 : 791'599 Köpfe
1900/1905 :    555'460 Köpfe, zusammen mithin

wobei in einzelnen Kreisen diese Abwanderung 11,5 und 16,9% der Gesamtbevölkerung erreichte.

Buchseite 177 Der natürliche Bevölkerungszuwachs beträgt zurzeit in Preussen auf dem platten Lande durchschnittlich 345'000 Köpfe pro Jahr. Nun wurden nach der letzten Volkszählung 1905 in der Landwirtschaft und den verwandten Berufsgruppen rund 95'000 Ausländer ermittelt. Die Hauptmasse dieser Personen darf als Ersatz der mangelnden landwirtschaftlichen Arbeitskräfte gelten. Man darf daraus den Schluss ziehen, dass das platte Land heute durchschnittlich jährlich 200'000 Personen an Stadt und Industrie abgibt, dass es aber zur Bewältigung der landwirtschaftlichen Arbeit nur 125'000 Köpfe abgeben könnte. Was die Landwirtschaft über ihren Bedarf hinaus abgibt, wird durch Ausländer ersetzt.

Von 100 Einwohnern lebten in Preussen:

   In den
Städten:
  Speziell in
Grossstädten:
Auf dem
  Lande:
1849 28,07 71,93
1871 32,34 5,18 67,57
1900 43,07 16,92 56,93
1905 45,23 20,00 54,77

Demnach ist seit der Gründung des Reichs, seit 1871, in Preussen die Zahl der Bevölkerung

gestiegen in den Städten um 39,9%,
gestiegen in den Grossstädten um 286,1%,
gefallen auf dem Lande um 18,9%.

Wenn Städte mit mehr als 100'000 Einwohnern als Grossstädte gelten, so war:

1850  unter  38  Deutschen   1   Grossstädter
1870 " 20 " 1 "
1880 " 13 " 1 "
1890 " 8 " 1 "
1900 " 6 " 1 "

Buchseite 178 In England lebten schon 1891 32% der Bevölkerung in Grossstädten, 21,7% in Städten mit 20 bis 100'000 Einwohnern und nur 28% in ländlichen Distrikten.

Die ostpreussische Landwirtschaftskammer hat vor Kurzem eine Erhebung darüber angestellt: wo die aus den Landschulen entlassene Jugend der Provinz verbleibt. Die Umfrage bezog sich auf die Jahrgänge 1895 und 1900. Von den jetzt 25 jährigen Personen, die 1895 aus der Schule kamen, waren 3⁄5 der ostpreussischen Landwirtschaft als Arbeitskräfte verloren gegangen. Auch von dem Jahrgang 1900 hatten schon 3⁄5 eine andere Tätigkeit erwählt. Die Abwanderung vom Lande erstreckt sich mithin auf die besten Altersklassen. Die Kinder, die alten Leute und die Gebrechlichen bleiben auf dem Lande zurück.

Im Osten der Monarchie wird diese Landflucht zur „Polenfrage“, wie namentlich der praktische Arzt Dr. G. W. Schiele in seinen „Briefen über die Landflucht und Polenfrage“ auf Grund persönlicher Beobachtung an Ort und Stelle so überzeugend nachgewiesen hat. Der deutsche Arbeiter im Osten wandert der besser rentierenden und höhere Löhne zahlenden Industrie nach. Die deutsche Industrie des Westens gewährt heute selbst für ausländische Arbeiter bei 9- bis 10stündiger Arbeitszeit 3 1⁄2 bis 4 Mark und mehr pro Tag, während die Landwirte nur 1 1⁄2 bis 2, höchstens 3 Mark pro Tag zahlen können, wenn sie nicht ein sicheres Defizit übernehmen wollen. Die abwandernden landwirtschaftlichen Arbeiter werden dann durch Ausländer aus Polen, Russland, Galizien, Ungarn ersetzt. Es ist aber unmöglich, dass der Sohn eines deutschen Kleinbauern mit solchen Einwanderern am gleichen Tische sitzt. Dazu sind die Sitten und Lebensgewohnheiten beider zu verschieden. Der deutsche Kleinbauer kann sich deshalb nach dem Einrücken der ausländischen Arbeiter nicht mehr halten. Die eindringende polnische Nachfrage Buchseite 179 nach Grundbesitz bietet und zahlt höchste Preise. Das und die nur zu häufig vorhandenen Hypothekenschulden erleichtern dem deutschen Bauern den Entschluss zum Verkaufen. So kommt es zum Abwandern der deutschen Landwirte. Ihnen folgt der deutsche Gewerbetreibende, der kleine deutsche Kaufmann, dann die Vertreter der liberalen Berufe und schliesslich muss auch der deutsche Grossgrundbesitzer weichen. Die Abwanderung vom platten Lande wirkt dann weiter in den Städten. So ist die polnische Bevölkerung in Posen von 1890 bis 1900 um 10 1⁄2%, die deutsche nur um 3  3⁄4% gewachsen. Das Baugewerbe der Stadt Posen, das 1890 noch überwiegend deutsch war, zählte 1900:

  Meister:  Gesellen:  Lehrlinge: 
Deutsche  133   508 131
Polen  137 1212 309

Trotz der 350 Millionen Mark, welche der Ansiedlungskommission zur Einführung deutscher Ansiedler zur Verfügung standen, hat der deutsche Grundbesitz von 1896 bis 1903 in Posen und Westpreussen 50'000 Hektar = 10 Quadratmeilen oder 1% der Gesamtfläche an die polnische Hand verloren. Diese nationalfeindliche Bewegung hat sogar schon auf Ostpreussen, Pommern, Schlesien und selbst auf Brandenburg übergegriffen. Nach einer Rede des Oberpräsidenten für Schlesien, Graf von Zedlitz–Trützschler vom 19. Januar 1906 sind in dieser Provinz in den letzten Jahren über 2 Quadratmeilen deutschen Bodens (10'540 Hektar) aus deutschen Händen in polnische übergegangen. Der überwiegende Teil der deutschen Verkäufer waren bäuerliche Besitzer. Aber der verkauften Gesamtfläche nach war doch der schlesische Grossgrundbesitz mit zwei Drittel beteiligt. Mit der Abwanderung der deutschen landwirtschaftlichen Arbeiter wird so die Abwanderung der Deutschen in den östlichen ProBuchseite 180vinzen von Preussen eingeleitet und die leer gewordenen Stellen besetzen dann die Polen. Auf dem Wege friedlicher Bevölkerungsbewegung wird heute ein immer wachsender Teil des deutschen Bodens innerhalb der Reichsgrenzen einem fremden Volke eingeräumt. Weil aber die zu starke Wanderbewegung der Arbeiter vom Lande nach der Stadt und nach der Industrie eine allgemeine ist, zwingt der Arbeitermangel die Landwirte in fast allen Teilen Deutschlands ausländische Arbeiter zu importieren. Hier macht sich dann die Arbeiternachfrage der deutschen Industrie und nicht minder die des Auslandes bemerkbar. So ist der ungarische Arbeitermarkt 1907 z.B. wesentlich beeinflusst durch Arbeitsnachfrage aus Nordamerika, welche einen Tagelohn von 5 bis 6 Mark geboten hat. Die naheliegende Folge dieser Erscheinungen musste zunächst sein eine bedenkliche Zunahme der ausländischen Wanderarbeiter in Deutschland. Eine reichsstatistische Aufzeichnung dieser Wanderarbeiterbewegung gibt es nicht. Nur das preussische Ministerium des Inneren macht darüber Aufzeichnungen seit 1905, die mir geneigtest zugänglich gemacht wurden. Nach Schätzungen von Sachverständigen nimmt man an, dass die Zahl der ausländischen Saisonarbeiter in Preussen war:

1902 = 130'000,  
1903 = 170'000. Ihre Summe erreichte
1905 = 454'348,  
1906 = 605'339.

Sie verteilen sich auf

   Landwirt-
schaft: 
 Industrie u.
   Bergbau:
1905 :  206'983 228'700
1906 :  236'068 369'271

Sachverständige nehmen an, dass die in Deutschland beschäftigten ausländischen Arbeiter 1907 die erste Million Buchseite 181 erreichen dürften. Nach dem offiziellen „Leitfaden zur Arbeiterversicherung des deutschen Reiches“ (1906) war 1904 die Zahl der Arbeiter in Industrie und Landwirtschaft mit einem Jahresverdienst bis 3000 Mark: 15'076'000. — Die deutsche Industrie und die deutsche Landwirtschaft sind mithin heute schon zu einem wesentlichen Teile in ihrer Produktion auf die Mitwirkung ausländischer Lohnarbeiter angewiesen. Wohin soll das führen?

Schon diese Tatsachen lassen vermuten, dass die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands aus dem bisherigen Bevölkerungsüberschuss in den Zustand des Bevölkerungsmangels einzutreten beginnt. Auf dem Grunde auch dieser Erscheinungen begegnet uns der heute herrschende Kapitalismus.

Der Kapitalismus zersetzt fortschreitend den Zusammenhalt der Familie und zwar nicht nur bei den Proletariern. Die früher unauflösliche Ehe ist bereits zu einem nicht allzu schwer lösbaren Vertrag geworden. Die Zahl der Ehescheidungen in Berlin ist gestiegen von 836 im Jahre 1892 auf 1608 im Jahre 1899 (vor Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches), um von 1900 bis 1905 von 936 auf 1421 anzuwachsen. Im ganzen preussischen Staate zählte man 1905 : 5325 Ehescheidungen, die ganz überwiegend, nämlich zu 77,7% auf die Städte entfielen, während das Land nur mit 22,3% beteiligt war. Wie früher die eheliche Gütergemeinschaft, so ist heute die eheliche Gütertrennung herrschende Sitte geworden. Auch die Kinder beginnen schon früh ökonomisch unabhängig zu werden. Dem selbständigen Mittelstand wird seine Existenz mehr und mehr erschwert. Erfolgreiche Neugründungen von selbständigen mittleren Existenzen werden seltener. Die Mittelstandsangehörigen kommen deshalb immer später zum Heiraten, was in der Buchseite 182 allgemeinen Statistik durch das heute frühere Heiraten der Proletarier verdeckt wird. Eine stetig wachsende Zahl von Töchtern des Mittelstandes wird nicht geheiratet. Sie sind deshalb in ihrer Versorgung auf ihren eigenen Erwerb angewiesen. Aus diesem Grunde haben wir die wachsende Bewegung der Frauenemanzipation mit ihrem Bildungsbedürfnis, Mädchengymnasium, Frauenstudium an der Universität u.s.w. Damit scheint aber eine Degeneration des weiblichen Körpers verbunden zu sein. P. J. Möbius sagt etwas unhöflich zwar, aber sachlich zutreffend in seiner schon 1905 in 7. Auflage erschienenen Schrift über den „physiologischen Schwachsinn des Weibes“: „Die modernen Närrinnen sind schlechte Gebärerinnen und schlechte Mütter. In dem Maasse, als die Zivilisation wächst, sinkt die Fruchtbarkeit der Frauen. Je besser die Mädchenschulen werden, um so schlechter werden die Wochenbetten, um so geringer die Milchabsonderung, die für das Aufziehen einer tüchtigen Generation unentbehrlich ist. Das moderne Weib kann nicht viele Kinder gebären und will es auch nicht. Die Früchte der Gehirndamen zeichnen sich nicht durch Kraft aus, denn es fehlt an Muttermilch.“ Tatsächlich haben Adele Gerhard und Helene Simon 1901 in Berlin aus 420 Fällen bei Damen mit geistiger Arbeit 156 Unverheiratete, 57 kinderlose Ehen und bei 207 Müttern nur 147 mit mehr als einem lebensfähigem Kinde gefunden. In Nordamerika soll der Prozentsatz der kinderlosen Ehen bei Damen mit Universitätsbildung weit höher sein.

Aber nicht nur die Ehen des gebildeten Mittelstandes, auch die modernen Arbeiterehen zeigen einen höchst bedenklichen Rückgang der Geburten, oder, wie es Eugen Dühring ausgedrückt hat: „Die Proletarier verlieren ihre proles.“ Auch die Arbeiterfamilien sind heute fortwährend mobil. Bei Reisen wie bei Wohnungen Buchseite 183 in den Mietskasernen sind viele Kinder ein Hindernis, das teuer zu stehen kommt. Die auch in Arbeiterkreisen rasch zugenommenen Festlichkeiten lassen wenig Zeit für Kinderaufzucht. So haben die Schmutzannoncen in den meisten Zeitungen und die moderne „Aufklärung“ den Eingang neomalthusianischer Praktiken in die Arbeitermassen sehr gefördert. Die Zahl der Geburten in der Proletarierstadt Berlin ist seit 1870 wie folgt zurückgegangen:

Auf 1000 Ehefrauen kamen eheliche Geburten:

1870  :  222,2,
1875  :  237,9,
1880  :  205,6,
1885  :  179,4,
1890  :  163,7,
1895  :  138,5,
1900  :  127,0,
1905  :  109,7.

Von Berlin aus scheint sich die Tendenz der Minderung von Geburten auf die benachbarten Städte Schöneberg, Charlottenburg, Potsdam übertragen zu haben. Nach dem statistischen Jahrbuch der deutschen Städte 1904 schwankte hier die Zahl der Geburten zwischen 2 und 2 1⁄2 % der mittleren Bevölkerung, während in den katholischen Industriestädten der Rheingegend, wie Dortmund, Bochum, Duisburg, Essen und in den süddeutschen Städten Nürnberg und Mannheim gleichzeitig die Geburten 4 bis 4 1⁄2% der mittleren Bevölkerung erreichten.

Es kommt ferner in Betracht, dass die Grosstädte ihre Bevölkerung verzehren. Darauf haben Hansen, Ammon, Steinmetz usw. schon früher mit Erfolg hingewiesen, aber erst der Bevölkerungsstatistiker Carl Ballod hat den unbestreitbaren Beweis erbracht in seinen ausgezeichneten Untersuchungen über das mittlere LebensBuchseite 184alter in Stadt und Land (1899) und über die Sterblichkeit der Grosstädte (1903). Es gab 1891 in Paris ca. 2'424'705 Personen. Würde keine Zuwanderung erfolgen, so würden nach den Geburts- und Sterbeverhältnissen schon in der dritten Generation nur noch 938'170 Personen in Paris sein. Die Eigenvermehrung der Berliner Bevölkerung bleibt 1⁄10 bis 1⁄12 hinter dem Mass einer stationär gedachten Bevölkerung zurück. Das gleiche Verhältnis gilt auch für die meisten anderen Grosstädte. Nun schiebt aber die moderne Entwicklung immer grössere Bevölkerungsmengen nach den Städten zusammen. In Preussen wohnten am 2. Dezember 1867: 7'452'722 in der Stadt und 16'568'593 auf dem Lande. Am 1. Dezember 1905 zählte die Statistik 16'669'963 in den Städten und 20'426'361 auf dem Lande. Weil aber dem Lande die kräftigsten Jahrgänge der Bevölkerung durch Abwanderung entzogen werden, so dass eine chronische Arbeiternot sich einstellte, ging die Zahl der Geburten auch auf dem Lande zurück. Und es ist unerfindlich, woher unter der Fortdauer solcher Verhältnisse die Grosstädte im eigenen Lande den notwendigen Ersatz für ihren Menschenverbrauch dauernd nehmen sollen.

Für Preussen haben sich Geburten, Heiraten und Sterbefälle, getrennt nach Stadt und Land, von 1870 bis 1905 wie folgt bewegt:

Städte pro 1000 Einwohner Land
Geburten Heiraten Sterbefälle Jahr Geburten Heiraten Sterbefälle
39,8 16,2 29,8  1870  40,5 14,2 27,2
40,3 19,9 29,3  1875  43,0 16,9 27,5
38,6 16,9 28,5  1880  40,4 14,6 26,6
37,5 18,2 27,4  1885  40,5 15,3 26,9
36,0 18,7 25,3  1890  39,5 15,1 25,5
35,1 17,9 23,1  1895  40,5 15,0 23,2
31,8 19,3 23,1  1900  39,5 15,7 23,1
31,8 18,0 20,2  1905  37,3 15,0 21,3.

Buchseite 185 Trotz aller örtlichen Verschiedenheit zeigt auch die Reichsstatistik die gleiche Entwicklungstendenz. Auf 1000 Einwohner kamen Geborene

1870  :  40,1
1875  :  42,3
1880  :  39,1
1890  :  37,0
1900  :  36,8
1905  :  34,0

Für diesen Rückgang der Geburten ist die Zahl der Eheschliessungen nicht verantwortlich zu machen; denn es fielen in der gleichen Zeit auf je 1000 Einwohner Eheschliessungen:

1870  :  7,7
1875  :  9,1
1880  :  7,5
1890  :  8,0
1900  :  8,5
1905  :  8,1

Wenn trotzdem die Eigenbevölkerung des Deutschen Reiches in dieser Zeit nicht zurückgegangen ist, so hängt das damit zusammen, dass die Sterbefälle unter 1000 Einwohnern gewesen sind:

1870  :  29,0
1875  :  29,3
1880  :  27,5
1890  :  25,6
1900  :  23,2
1905  :  20,8

Der Abnahme der Geburten um 8,3 pro 1000 Einwohner seit 1875 steht eine gleichzeitige Abnahme der Sterbefälle um 8,5 pro 1000 Einwohner gegenüber und bewirkte neben der Einflussnahme der internationalen Wanderung, dass die Bevölkerung des Deutschen Reiches von 42'729'360 im Jahre 1875 auf 60'641'278 im Jahre 1905 angewachsen ist.

Buchseite 186 Welcher Art ist die Abnahme der Sterblichkeit? Erstreckt sie sich auf alle Altersklassen des Volkes oder nur auf einen Teil derselben? Auf diese Frage hat namentlich der Geheime Medizinalrat Biedert in seiner klassischen Abhandlung über „Die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahre“, enthalten in seinem „Handbuch der Kinderernährung im Säuglingsalter“, 5. Auflage 1905, folgende Auskunft gegeben: Unsere Abnahme der Sterblichkeit ist im wesentlichen eine Abnahme der Säuglingssterblichkeit. Man kann hinzufügen, dass nur die Frauen ihre Lebensdauer etwas verlängert haben. Keinerlei Verbesserung ist in dem Absterben der Männer eingetreten. Die Abnahme der Kindersterblichkeit aber ist in erster Linie eine Wirkung der Abnahme der Geburten. — Bei einer kleineren Kinderzahl pflegen die Eltern mehr Sorgfalt auf Pflege und Ernährung der Kinder zu verwenden als bei einem grossen Kinderhaufen. Dann kommt eine wesentliche Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse der Arbeiterbevölkerung in Betracht. Diesen beiden Faktoren gegenüber tritt die Kunst der Aerzte mit den bisherigen Fortschritten in der Säuglingsernährung entschieden in den Hintergrund. Die Möglichkeit einer weiteren Minderung der Sterbefälle hat also ganz bestimmte Grenzen. Sterben müssen die Menschen! Wenn aber bei den Frauen die Sitte weiter um sich greift, keine Kinder zu haben, dann steht nichts im Wege, dass die Geburtenziffer auch für ganz Deutschland von heute noch 34,0 bald auf den heutigen französischen Tiefstand von 22,1 pro 1000 Einwohner zurückgeht, nachdem sie seit 1875 von 42,3 auf 34,0 bereits gesunken ist! Der bekannte führende Statistiker Georg von Mayr hat deshalb sehr richtig bemerkt: „Bis vor Kurzem hatte man nur in Frankreich Angst vor dem Bevölkerungsrückgang. Seit zwei Dezennien aber zeigen fast alle Kulturstaaten eine Buchseite 187 beträchtliche Verminderung der Geburten. In Australien, England und den Vereinigten Staaten ist die sehr starke Bevölkerungszunahme ins Stocken geraten. Für Deutschland ist diese Frage entscheidend für seine künftige Weltstellung.“ Es scheint wichtig, aus dem hierher gehörenden Zahlenmaterial Einiges anzuführen:

Frankreichs Bevölkerung ist im letzten Menschenalter fast stabil geblieben. Im Jahre 1851 bezifferte sich seine Einwohnerzahl (ohne Elsass-Lothringen) schon auf 34.2 Millionen; 1905 auf 39 Millionen. Dabei ist die Sterbeziffer in Frankreich günstiger als bei uns in Deutschland. Auf 1000 Einwohner starben im Jahresdurchschnitt (1891/1900) in Frankreich 21,5, in Deutschland 22,2. Aber es wird in Frankreich weniger geheiratet und es werden weniger Kinder geboren. Im letzten Jahrzehnt heirateten im Jahresdurchschnitt auf je 1000 in Deutschland 8,2, in Frankreich nur 7,5. In der geringen Ehefrequenz liegt indes nicht die Hauptschuld an dem Stagnieren der Bevölkerung. Es gibt Länder, in denen noch erheblich weniger geheiratet wird und doch die Bevölkerung anwächst, wie in Rumänien, Italien, Schweden. In der Geburtenfrequenz liegt die hier entscheidende Ziffer. Diese betrug in Frankreich im Jahresdurchschnitt 1841/50 auf 1000 Einwohner 27,2 und ist jetzt bis 22,1 gesunken.

In der Schweiz ist die Zahl der Geburten auf 1000 Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren zurückgegangen

von 148 im Jahre 1880
auf  139 im Jahre 1900.

Die Entwicklungstendenz tritt schärfer hervor bei einer Unterscheidung der Geburten nach Eingeborenen und Zugewanderten. Auf je 1000 Personen kamen z. B. in Basel von 1880 bis 1888 Buchseite 188

bei den Stadtbürgern 19,7
bei den Bürgern anderer Kantone   31,1
bei den Ausländern 35,8

Geburten vor.

Den Amerikanern hat ihr Präsident Roosevelt den Vorwurf des „Rassenselbstmords“ (race suicide) gemacht und hinzugefügt, dass, wenn solche Worte mit Recht einer Nation vorgeworfen werden, dann muss dieselbe bis auf den innersten Kern faul sein! Auf 1000 Frauen zwischen 15 und 49 Jahren kamen in der ganzen Union Kinder unter 5 Jahren:

1860  :  634
1870  :  572
1880  :  559
1890  :  485
1900  :  474.

Nach den Staatengruppen kamen auf 1000 Frauen von 15 bis 49 Jahren Kinder unter 5 Jahren:

  1850 1860 1870 1880 1890 1900
Nordatlant. Staaten 507 518 459 423 373 390
Nördl. Zentralstaaten 717 717 636 566 495 457
Weststaaten 621 767 667 575 473 439
Südatlant. Staaten 675 662 599 657 557 560
Südl. Zentralstaaten 725 706 645 710 612 596

Die Kinderzahl ist gegenwärtig noch sehr hoch in beiden Dakotas mit ausschliesslich landwirtschaftlicher Bevölkerung, in Utah, Idaho und Neu-Mexiko. Diesen Ziffern am nächsten stehen die Ackerbaustaaten Montana, Nebraska, Minnesota und Wisconsin.

Beständige Abnahme des Kinderreichtums seit 1850 erfolgt dort, wo die schnellste Ausbreitung der Industrie am bemerkenswertesten war, so in Michigan (— 227), Ohio (— 227), Illinois (— 309), Indiana (— 340). Ebenso haben die Neu-Englandstaaten Buchseite 189 New-Hampshire, Maine und Vermont wenig Kinder gleich den benachbarten Staaten New-York und Massachusetts, trotzdem in der ersteren Gruppe die Landwirtschaft überwiegt. Aber diese Staaten sind zuerst besiedelt worden. Der Luxus hat hier allgemein Eingang gefunden und ebenso die höhere Mädchenbildung mit dem Feminismus!

Ueber die Bevölkerungsbewegung in Australien entnehmen wir der Wolf’schen Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 1902, einem Aufsatze von Emil Jung folgende Angaben: Der anormale Stillstand des Wachstums der australischen Bevölkerung ist einer der bedenklichsten und für die Zukunft Australiens bedrohlichsten Punkte. Noch vor gar nicht langer Zeit war der Bevölkerungszuwachs ein auffallend starker. Inzwischen ist auf 1000 verheiratete Frauen von 1861 bis 1898 die Geburtsziffer gesunken in:

Neusüdwales  von  306,1  auf  201,2
Viktoria " 285,4 " 193,0
Queensland (seit 1881) " 288,0 " 208,0
Neuseeland (seit 1881) " 281,5 " 214,2

Nichts berechtigt zu der Annahme, dass dieser Rückgang zum Stillstehen kommen werde. Es ist zweifelhaft, ob Australien nach 50 Jahren noch seine 8 Millionen Einwohner zählen wird. So sind die von der Gier nach dem Golde beherrschten Kulturvölker diesseits wie jenseits des Ozeans zum Aussterben verurteilt, wie einst die Bevölkerung von Rom und Griechenland für die gleiche Sünde verurteilt war.

e) Die internationalen wirtschaftlichen Beziehungen
wachsen rasch.

Die modernen internationalen Beziehungen sind vor allem von der Industrie und dem Geldverkehr getragen. Das tägliche Brot der Industrie ist die Kohle. Die Buchseite 190 Kohlengewinnung ist nach dem statistischen Jahrbuch für das deutsche Reich (1907) gestiegen in 1000 metrischen Tonnen (à 1000 Kilo)

  Deutschland:  Gross-
britannien: 
 V. St. v.
Amerika: 
Japan: 
1886 73,683 160,046 103,129 1,374
1900 149,788 228,795 244,653 7,489
1906 193,533 255,097 369,004
(1904)
10,772

Die Roheisengewinnung war in 1000 metrischen Tonnen in

  Deutschland
mit Luxemburg:
Gross-
britannien: 
Vereinigte Staaten
von Nordamerika: 
Japan: 
1886 3,529 7,122 5,775 14 
1900 8,521 9,103 14,011 25 
1906 12,294 10,312 25,931
(1904)
38.

Dem Nachrichtenverkehr dienten (1903) 2006 Unterseekabel mit einer Gesamtlänge von 434,546 Kilometer. Bis Mitte April 1907 waren 103 Funkentelegraphenstationen in Betrieb. Die Länge der Eisenbahnen, welche die Erde umspannen, war

1890 : 617'285,  
1905 : 905'695 Kilometer.

Nach dem Sonderheft zur Marinerundschau für 1905 über die „Entwicklung der deutschen Seeinteressen im letzten Jahrzehnt“ (von Halle) befinden sich im Auslande 3 Millionen geborene Deutsche und 750'000 Reichsangehörige. Der deutsche Aussenhandel ist in dem Jahrzehnt 1894 bis 1904 von 7,3 Milliarden Mark auf 12,2 Milliarden Mark gestiegen, dem Gewichte nach um 60%, dem Werte nach um 66%. Im gleichen Zeitraum hat der Spezialhandel Englands um 38%, der der Vereinigten Staaten um 59%, der Frankreichs um 28% und der Russlands um 23% zugenommen. In den letzten 25 Jahren hat der deutsche Spezialhandel sich genau verdoppelt. Im letzten Jahrzehnt hat die Einfuhr von inBuchseite 191dustriellen Rohstoffen um mehr als 1,5 Milliarden Mark, die Ausfuhr an Fabrikaten fast um 1,6 Milliarden sich gehoben, während die Einfuhr von Fabrikaten nur um etwa 400 Millionen Mark, die Ausfuhr von industriellen Rohstoffen um 600 Millionen Mark stieg. Während die Einfuhr von Nahrungs- und Genussmitteln 1894 : 36,5% der Gesamteinfuhr ausmachte, betrug sie 1904 nur noch 30,7%. Dagegen hat sich die Einfuhr von industriellen Rohstoffen von 42,3 auf 50,1% der Einfuhr, die Fabrikatausfuhr von 63,4 auf 65,8% und die Ausfuhr von Rohstoffen von 22,6 auf 24,1% gehoben. Der auswärtige Seeverkehr machte in den deutschen Häfen 1893/1903 rund 50% aus, betrug aber in Grossbritannien, Vereinigten Staaten und Russland nur 30 bis 46%. Japan allein übertraf mit einer Verfünffachung des Seeverkehrs alle übrigen Seemächte.

Dem Gesamtumfang des auswärtigen Seeverkehrs nach stand Deutschland 1903 anscheinend an vierter Stelle. Weil jedoch fast ein Drittel des ganzen deutschen Seehandels sich über belgische und holländische Häfen vollzieht, geben diese Zahlen nicht das richtige Bild. Im deutschen Verkehr hob sich die Beteiligungsziffer der deutschen Flagge zwischen 1893 und 1903 von 52 auf 59%, im überseeischen Verkehr von 69 auf 79%. Im Verkehr der wichtigsten fremden Schiffahrtsstaaten stieg der Anteil der deutschen Flagge besonders im letzten Jahrfünft überall. Der Bestand der deutschen Kauffahrteiflotte hat sich in den 7 Jahren 1898 bis 1905 um die Hälfte vermehrt. Die Dampfertonnage hat sich in dieser Zeit verdoppelt. Der Wert der Handelsflotte hat sich seit 1895 verzweieinhalbfacht. Der Wert der Neubeschaffungen der deutschen Handelsflotte darf heute (1905) auf sehr viel mehr als 1 Milliarde veranschlagt werden. Der Anteil am Weltschiffbau sank 1894/1904 bei Grossbritannien von 79 auf 61% und stieg bei Deutschland von 9 auf 10%.

Buchseite 192 Die 13 deutschen Auslandaktienbanken hatten 1905 etwa 70 überseeische Niederlassungen, zur gleichen Zeit hatte England allein 32 englische Kolonialbanken mit Sitz in London und 2,104 Niederlassungen in den Kolonien, sowie 18 sonstige englische Ueberseebanken mit 175 Niederlassungen. Frankreich hatte 17 Kolonial- und Auslandsbanken mit 104 Filialen. Ferner zählten 2 grössere französische Bankinstitute 27 Niederlassungen in den Kolonien und überseeischen Ländern. Die Niederlande verfügte über 16 Auslandsbanken mit 68 Niederlassungen. Russland hat 1905 für seine asiatischen Nachbarreiche 2 grosse ausländische Banken geschaffen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben 1905 eine grosse Auslandsbank mit 17 Niederlassungen in Ostasien, Indien, Mexiko und England ins Leben gerufen.

Auch im Versicherungsbetrieb macht sich das Streben zur Internationalität bemerkbar. Die deutschen Versicherungsgesellschaften legen grosses Gewicht auf ungestörten und gesicherten Auslandsbetrieb. Um seinetwillen nehmen sie gern die Konkurrenz ausländischer Anstalten im Gebiete des deutschen Reiches in Kauf. Man strebt nach gleichen internationalen Rechtsvorschriften für alle Staaten, in welchem das Versicherungswesen eine Rolle spielt (Sonderheft zur Reichsmarine – Rundschau 1905).

Das deutsche Vermögen im Auslande schätzt von Halle für 1905 auf 24 bis 25 Milliarden Mark. Frankreich besass nach der gleichen Quelle zur gleichen Zeit etwa 30 Milliarden Franken Auslandswerte. Für England ist der Besitz an ausländischen Werten für 1900 auf 50 Milliarden Mark geschätzt, aber als zu niedrig bezeichnet worden, nachdem schon in der Zeit von 1840 bis 1890 ungefähr 40 Milliarden englisches Kapital im Auslande angelegt worden seien.

Buchseite 193 Deutschland unterhielt zur Wahrung seiner Handelsinteressen im Auslande:

1872 : 574,  
1897 : 735,  
1905 : 815 konsularische Vertreter.

Die modernen Grossbetriebe mit ihren Kartellen und Syndikaten haben längst internationale Organisationsformen angenommen. So versuchte der internationale Schiffahrtstrust die Transporttarife, der nordamerikanische Steel-Trust die Fabrikation und den Absatz von Stahl international zu ordnen. Bekannt sind auch die Versuche, ein Weltmonopol der Mineralölproduzenten zu stande zu bringen. Rudolf Kobatsch erwähnt ferner in seinem interessanten Buche „Internationale Wirtschaftspolitik“ (1907) das internationale Spiegelglaskartell, das internationale Sodakartell u.a. mehr. Hierher gehören auch die auswärtigen Fabrikationsniederlagen, Verkaufsbüros, die namentlich von der Maschinenindustrie und der elektrotechnischen Industrie Deutschlands ausgebaut wurden. Es kommen ebenso jene Beteiligungen von ausländischen Kapitalisten in Betracht, die in den verschiedenen Ländern internationale Interessengemeinschaften entstehen lassen. Der internationale „Zwirntrust“ umfasst heute die Industrien von Amerika, England, Belgien und Russland. Dem Boraxkartell gehören nach Kobatsch die einschlägigen Unternehmungen von Deutschland, den Vereinigten Staaten, Frankreich und Oesterreich-Ungarn an. Das internationale Knochenkartell ist durch Deutschland, Dänemark, Italien, Schweden und Oesterreich-Ungarn organisiert. Die Nobel-Dynamit Co. stellt eine Vereinigung der Aktien dieser Fabriken in England, Deutschland, Oesterreich-Ungarn dar, die neuerdings Verträge mit den Sprengstofffabriken in Frankreich und Amerika abgeschlossen haben. Das Glühlampenkartell umfasst die Buchseite 194 wichtigsten Betriebe in Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Holland und der Schweiz mit einer zentralen Verkaufsstation in Berlin. Das sogen. Holländische Zementsyndikat, welches von der süddeutschen Zementverkaufsstelle, dem rheinisch-westfälischen Zementsyndikat und den belgischen Werken gegründet wurde, hat mit dem englischen Zementtrust und der massgebenden französischen Konkurrenz engere Verabredungen getroffen. Das Leimkartell umschliesst die österreichischen, ungarischen und deutschen Fabriken. Für Rohgummi und Gummiwaren sind internationale Vereinbarungen im Gange u.s.w. Richard Calwer weist in seinem Buche über das Wirtschaftsjahr 1902 darauf hin, dass schon längst (1892) 53 angesehene deutsche Industriefirmen, insgesamt 86 Auslandsbetriebe errichtet haben, wovon 24 auf Russland, 22 auf Oesterreich, 12 auf Frankreich, 8 auf Ungarn, 7 auf die Vereinigten Staaten von Amerika, je 5 auf Italien und Schweden und Norwegen, 4 auf Belgien entfielen. Ueber die inzwischen sehr wesentliche Fortbildung dieser ausländischen Entwicklung der deutschen Montan- und Eisen-Industrie bietet namentlich O. Jeidels: „Das Verhältnis der deutschen Grossbanken zur Industrie“ (1905), Seite 185 ff, viel Material.

Calwer bemerkt mit Recht, dass dadurch internationale Wirtschaftsgebilde herangewachsen sind, die darauf abzielen, die Zollschranken bis zu einem gewissen Grade unwirksam zu machen.

Durch andere internationale Beziehungen der Industrie werden neue Konkurrenzländer geschaffen. So die indischen Baumwollspinnereien durch die englische Maschinenindustrie. Zuerst hat England die Maschinen zur Einrichtung von Spinnereien nach Indien exportiert. Dann sind die Einrichtungen zur Fabrikation von Spinnereimaschinen in Indien gefolgt. Dann hat die Buchseite 195 indische Industrie der englischen Baumwollspinnerei ernste Konkurrenz gemacht, die heute durch die verschiedensten Schikanen der englischen Regierung in Indien niedergehalten wird, weshalb jetzt die revolutionäre Bewegung unter den Eingeborenen in Indien gegen die Herrschaft der Engländer im Wachsen ist. So hat die deutsche Maschinenindustrie mit deutschem Bankkapital die Rübenzuckerindustrie in Italien gross gezogen und dadurch dem deutschen Rübenzuckerabsatz einen bisher nicht unwichtigen Markt verschlossen. Die Rübenzuckerproduktion aber in Italien ist gestiegen von 2300 Tonnen im Jahre 1896/7 auf 130'861 Tonnen im Jahre 1903/4.

Nach Rudolf Kobatsch berechnet sich für 1905 der Gesamtwarenumsatz der Welt auf rund hundert Milliarden Mark. Diese statistischen Anschreibungen sind einigermassen zuverlässig. Aber die daraus gefolgerten Schlüsse auf die nationale Handelsbilanz der einzelnen Staaten kann namentlich deshalb wenig Zuverlässiges bieten, weil der internationale Handel in Wertpapieren einschliesslich der internationalen Zahlungen von der amtlichen Statistik bis heute nur in ganz ungenügender Weise erfasst werden. Wenn auch die Angaben von Alfred Neymark auf der letzten Sitzung des internationalen statistischen Institutes (London): die europäischen Länder hätten im Jahre 1905 für 255 Milliarden Franken ausländische Börsenwerte übernommen, ganz gewiss die Wirklichkeit um ein Vielfaches überragen, so bleiben diese internationalen Uebertragungen doch gross genug, um die bis heute vorhandenen Totalsummen der internationalen Handelsstatistik zu einem wesentlichen Betrage unrichtig erscheinen zu lassen.

Die Staaten haben internationale Institute in den Dienst der modernen weltwirtschaftlichen Verkehrsbedürfnisse gestellt. So den internationalen TeleBuchseite 196graphenverein (seit 1865), die internationale Meterkonvention (seit 1875), den Weltpostverein (seit 1875), die internationale Union zum Schutze des litterarischen Eigentums (seit 1890), die Union zur Veröffentlichung der Zolltarife (seit 1890), die internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz mit einem internationalen Arbeitsamt (seit 1901), die internationale Union zum Schutze des gewerblichen Eigentums (1902), denen neuestens (1906) die Welt-Agrar-Kammer in Rom mit einem zunächst international- agrarstatistischen Programm sich anreiht.

Hierher gehören auch internationale private Interessenvereinigungen zum Zwecke der gegenseitigen Aufklärung in praktischen Fragen. So die „Internationale Vereinigung für Stand und Bildung der Getreidepreise“ (seit 1900), die „Internationalen landwirtschaftlichen Kongresse“ (Méline-Kongresse), der Internationale Baumwollenkongress, die internationale Vereinigung der Seidenindustriellen, der internationale Verlegerkongress, internationale Arbeiterkongresse, internationale Fischereikongresse, Fleischerkongresse, Handelskammerkongresse, die internationale Mittelstandsvereinigung, die internationalen Kongresse für Wohlfahrtspflege, für Volksbildung, gegen Arbeitslosigkeit, die Versicherungskongresse usw., neben welchen schliesslich noch die grosse Reihe der internationalen wissenschaftlichen Kongresse mit einem mehr theoretischen Programm zu nennen wären.

Die Zeit der rein nationalen Existenz ist heute für alle Staaten und Volkskörper verschwunden. Das Leben jedes Einzelmenschen wird in stetig höherem Masse von den weltwirtschaftlichen Strömungen erfasst.

Buchseite 197 f) Der Krieg eine Form des wirtschaftlichen Erwerbs.

Was ist der Krieg? Die militärischen Schriftsteller sind zumeist geneigt, im Krieg „ein Duell“ zu sehen. Diese Auffassung ist offenbar zu eng. Sie sieht nur das Spiel der Waffen. Sie sieht nicht, was dem Krieg im engeren Sinne vorausgegangen ist und was ihm folgt. Der Krieg ist für eine solche Betrachtung nur das akute Stadium einer Erscheinungsreihe, deren Teilereignisse mit einander im engsten kausalen Zusammenhange stehen und im Ganzen sich stets auf einen längeren Zeitraum erstrecken. Clausewitz nannte den Krieg „Politik mit veränderten Mitteln“. Aber das Wort „Politik“ bezeichnet keinen einheitlichen Begriff. Dynastische Politik und nationale Wirtschaftspolitik waren in der Geschichte sehr häufig wesentlich verschiedene Dinge. Nur in den Handelsstaaten fällt durchweg die Politik der Kriege mit der Handelspolitik zusammen. Das Wort Politik verlangt hier eine weitere begriffliche Klärung. Offenbar ist das Wesen der Kriege so verschieden wie das Wesen der Politik. Was hätte man z. B. den Kriegern der germanischen Völkerwanderung durch Schiedsgerichte bieten können? In ihrer Heimat drohte der Hungertod. Sie wanderten mit ihren Familien und mit Hab und Gut aus, um sich neues fruchtbares Land zu erobern. Dieses Land aber war bereits im Besitz von dritten Personen. Da blieb nichts anderes als Blut und Eisen übrig. Die schwächlicheren Völker wurden niedergemacht, besiegt und unterjocht. In den Kriegen Karls des Grossen handelt es sich darum, möglichst vielen germanischen Völkergruppen die Segnungen eines christlichen Staatswesens zugänglich zu machen und sie zu einem grossen Staatsganzen zusammenzufassen. Solche „Entwicklungskriege“ kann die Buchseite 198 Geschichte der Menschheit gar nicht entbehren. Ganz anderer Art waren die Kabinettskriege, welche die Laune des absoluten Fürsten, durch Zufälligkeiten aller Art beeinflusst, mit Söldnern geführt hat. Nachdem heute fast überall schon der Verfassungsstaat eingeführt ist, darf diese Art von Kriegen füglich ausscheiden. Abermals anderer Art waren die unzähligen Kriege der Handelsvölker. Hier gehörte es zur Aufgabe der Kriege der Gewinn- und Beutesucht der Reichen die Wege zu ebnen. Und da jedes Handelsvolk, von der Unersättlichkeit getrieben, schliesslich der Weltherrschaft zustrebt, haben solche Zeiten stets ihre sogenannten Weltkriege gehabt. So der Krieg zwischen Athen und Korinth mit Sparta. So der Krieg zwischen Rom und Karthago. So der Krieg zwischen Venedig und Genua usw. Solche Kriege können zuletzt allerdings auch eine unabweisbare Notwendigkeit für die Fortexistenz des Staates werden und damit den Entwicklungskriegen bis zu einem gewissen Grade ähnlich werden. Von diesen Ausnahmen abgesehen, werden wir die Kriege der Handelsvölker bezeichnen müssen als „eine Erwerbsart der Reichen“.

Zu unserer Zeit der ausgesprochenen Hinneigung zum Industrie- und Handelsstaat sind die Kriege längst wieder „eine Erwerbsart der Reichen“ geworden. Das wird in dem neuesten Buche von A. Sartorius von Waltershausen „das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande (1907)“ mit wissenschaftlicher Gründlichkeit dargelegt. Die Industriestaaten werden immer reicher. Der Reichtum sucht nach Veranlagung in der ganzen Welt. Das Rentnertum im Inlande mit seiner ausgesprochenen Arbeitsunlust strebt möglichst schnell hohe Gewinne zu erzielen. So kommt es bald da, bald dort mit den Interessen der Eingeborenen oder auch mit den kapitalistischen Interessen anderer Staaten zum Streite, der bei Buchseite 199 einer genügend hohen Summe als Streitobjekt zum Kriege zu führen pflegt. Rudolf Kobatsch, welcher in seiner „internationalen Wirtschaftspolitik“ das Wesen unserer modernen Kriege als eine Form des wirtschaftlichen Erwerbs klar vor Augen behält, erzählt unter anderem: dass es im Jahre 1906 zu einem förmlichen Zollkrieg zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien gekommen ist, weil Serbien sich weigerte, Oesterreich-Ungarn bei Geschützlieferungen paritätisch mit anderen Staaten zu behandeln. Serbien aber war zu dieser ablehnenden Stellung gegen Oesterreich–Ungarn gewissermassen gezwungen worden, weil es vorher eine neue Anleihe in Frankreich aufgenommen hatte mit der Bedingung, auch einen ganz bestimmten Teil seiner Geschütze aus der französischen Waffenindustrie zu beziehen. Der ehemalige Grossbankdirektor Dr. Riesser ruft in seinem öfter zitierten Buche: „Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Grossbanken“ aus: „Die politischen Vorpostengefechte werden auf finanziellem Boden geschlagen!“ und fügt dann hinzu: „Mit Recht weist Dehn darauf hin, wie z.B. das französische Kapital der französischen Politik in Tunis und Marokko, in der Türkei und Griechenland, vor allem aber in Russland geradezu Pionierdienste geleistet habe. Werner Sombart sagt nicht unzutreffend: „Die alliance franco-russe ist ein reines Bankiergebilde.“ Der Betrag der in Frankreich untergebrachten russischen Staatswerte einschliesslich der vom Staate garantierten russischen Eisenbahnwerte wird auf mehr als neun Milliarden Franken geschätzt. In gleichem Sinne machte Georg von Siemens auf die grossen politischen Vorteile aufmerksam, die wir Italien gegenüber dadurch errungen haben, dass wir, nachdem zwischen Italien und Frankreich politische Zwistigkeiten entstanden waren, sofort unsere Kapitalien und unsere Fondsbörsen Italien zur Verfügung gestellt haben. Ebenso wird der Kampf um Persien Buchseite 200 zwischen Russland und England in erster Linie auf finanziellem Gebiete geführt. In neuerer Zeit sahen wir den Beginn besserer politischer Beziehungen zwischen Frankreich und Italien sich zuerst wieder durch finanzielle Annäherung vorbereiten, so beispielsweise durch die vor einigen Jahren erfolgte Uebernahme grösserer Aktienbeträge der zunächst unter Ausschluss französischen Kapitals begründeten „Banca comerciale Italiana“ seitens einer französischen Bankgruppe. Wir sahen in Portugal und Spanien englisches und französisches Kapital an der Arbeit, um politischen Zwecken den Boden zu ebnen. Wir sahen in der allerletzten Zeit, dass Frankreich der Türkei die Entziehung der Notierung für türkische Papiere androhte, wenn nicht der französischen Industrie gewisse Lieferungen übertragen würden“ u.s.f. So Riesser. Man kann es nur als natürliche Konsequenz dieser heute herrschenden Zustände bezeichnen, wenn in Frankreich ein Wechselagent der Pariser Börse zum Kriegsminister ernannt wurde.

Am Klarsten hat auch hier der Generalfeldmarschall Graf von Moltke gesehen. In der Vorrede der Volksausgabe des „deutsch-französischen Krieges“ ist er der Meinung, dass der deutsch-französische Krieg wahrscheinlich der letzte dynastische Krieg war. Im Sinne der vorausgeschickten Ausführungen würden wir hier von einem „notwendigen Entwicklungskriege“ sprechen, um die deutschen Stämme zu einer Einheit zu verschmelzen. Selbst in der freien Schweiz ist eine Vereinigung der Kantone ohne „Blut und Eisen“ nicht möglich gewesen. Moltke fährt dann wörtlich fort: „Die grossen Kämpfe der neueren Zeit sind gegen Wunsch und Willen der Regierenden entbrannt. Die Börse hat in unseren Tagen einen Einfluss gewonnen, welcher die bewaffnete Macht für ihre Interessen ins Feld Buchseite 201 zu rufen vermag. Mexiko und Egypten sind von europäischen Heeren heimgesucht worden, um die Forderungen der hohen Finanz zu liquidieren.“

Moltke hatte sein Leben lang seinem Könige gedient. Er konnte es nicht begreifen, dass „Volksheere“ für den Geldsack bluten und kämpfen sollten.

Die Geschichte der Kriege seit 1870/71 hat Moltke Recht gegeben. Von den 24 Kriegen oder Gruppen von Kriegen, welche seit 1870/71 gezählt werden können, dürfen höchstens der russisch-türkische Krieg (1877/78) der serbisch-bulgarische Krieg (1886), der griechisch-türkische Krieg (1897) und vielleicht noch die Sansibar-Blockade mit dem Araberaufstand nicht als reine „Geldkriege“ bezeichnet werden. Bei allen kriegerischen Konflikten liegen die Interessen des Geldsackes nur zu offen zu Tage. Die spanisch–kubanischen Kämpfe, welche etwa 1868 begonnen haben und ihren Abschluss 1898 im spanisch–amerikanischen Kriege fanden, wurden von den kubanischen Spekulanten und von dem nordamerikanischen Zuckersyndikat geführt. Angesehene nordamerikanische Blätter haben inzwischen verkündet, dass kubanische Revolutionäre einen Teil des Senats in Washington mit 157 Millionen baar für den Krieg gegen Spanien geneigt gemacht hatten. Das nordamerikanische Zuckersyndikat soll sich diesen Krieg weit über hundert Millionen Mark haben kosten lassen. Die ungestörte Beherrschung der kubanischen Zuckerproduktion war dieser Interessengruppe so viel Wert. Der Salpeterkrieg zwischen Chile und Peru (1877/78) wurde um die reichen Salpeterfelder geführt. Europäische Bankiers hatten Garantien für die chilenischen Anleihen übernommen, welche diese Kriegsführung gestatteten. Und diese Bankiers hatten wieder besondere Vorrechte in der Ausbeutung der chilenischen Salpeterfelder erhalten. Der Buchseite 202 Krieg Englands gegen die Buren (1899/1902), welcher England 4300 Millionen Mark kostete, soll ein Entwicklungskrieg für die englischen Besitzungen in Südafrika gewesen sein. Jedenfalls hat seinerzeit die „Kölnische Zeitung“ den Einfluss des baren Geldes jenes Goldminensyndikates unter Cecil Rhodes bei Ausbruch und Fortführung dieses Krieges genügend klar gelegt. Es war ferner auffallend, dass die Partei der „Geldmänner“ damals in Paris wie in Petersburg, in Berlin wie in London gleich energisch und gleich wirksam für die Fortführung des Krieges gegen die Buren eingetreten ist. Aus den Entwicklungsbedürfnissen der englischen Besitzungen in Südafrika lässt sich diese Tatsache kaum erklären. Der Volkswitz wird deshalb wohl das Richtige getroffen haben, wenn er den Krieg der Engländer gegen die Buren als einen Krieg der „Börsen gegen die Buren“ bezeichnete. Die sogenannten Wirren in China mit dem Boxeraufstande (1900/1901) war hervorgerufen worden durch die Reaktion des chinesischen Volkes auf das Eindringen des beutegierigen Kapitals von Europa und Nordamerika. Es drohte die allgemeinere Einführung von Eisenbahnen und Dampfschiffen durch fremde Kapitalisten, denen ausserdem die Schätze der chinesischen Bergwerke ausgeliefert wurden. Die chinesischen Lastenträger und Barkenführer sahen sich in ihrem primitiveren Erwerbe bedroht. Und da gleichzeitig die neuen europäischen Erwerbsgesellschaften das religiöse Gefühl der Volksmassen in China aufs Schwerste verletzten, kam es zum Aufstand gegen die Europäer. Zu dem Kriege Deutschlands gegen Venezuela (1903) schreibt ein deutscher Kaufmann aus Mexiko in der „Deutschen Tageszeitung“ vom 18. Februar 1903, dass es sich hier um wilde Kapitalsanlagen, um ein paar Gründermillionen der Berliner Diskontogesellschaft gehandelt habe. Der Buchseite 203 blutige russisch–japanische Krieg (1904/05) ist hervorgerufen worden durch die Beutezüge des russischen Kapitals in der Mandschurei und Korea. Diese Gebiete aber braucht der aufstrebende Industriestaat Japan als nächstliegenden und deshalb wichtigsten Absatz für seine industriellen Produkte. Dazu kommen seit 1870/71 die fast unzähligen Kolonialkriege der Italiener in Abessinien, der Engländer in Egypten, in Zentral- und Südafrika, in Nordindien und in Australien, der Franzosen in Madagaskar, in Indochina und Nordafrika, der Holländer gegen die Atschinesen, der Deutschen auf ihren verschiedenen kolonialen Gebieten. Das Schema der Entstehung all dieser Kolonialkriege lässt sich — wie schon Tolstoi in seiner Abhandlung über das Geld richtig erkannt hat — in folgende Form zusammenfassen: Zunächst werden durch einen kühnen Forschungsreisenden bei solenner Festlichkeit sogenannte Freundschaftsverträge geschlossen, deren Inhalt und Bedeutung den Häuptlingen der Eingeborenen kaum bekannt ist. Dann erscheinen europäische Händler und Handelsgesellschaften, welche mit den Eingeborenen Tauschgeschäfte machen, neue Bedürfnisse bei ihnen wachrufen. Die verkauften Waren, wie Waffen, Munition, Spirituosen, werden auf Kredit angeschrieben. Diese Händler und Handelsgesellschaften sind gewohnt, mit ihrem Kapital pro Jahr 100, 200% und mehr Gewinn zu erzielen. So wachsen die Schulden der Eingeborenen ungeheuer rasch an. In kurzer Zeit gehört den Gläubigern alles, was die Eingeborenen besitzen. Nun greift die Staatsgewalt ein und hilft den Gläubigern, ihre Gewinne zu realisieren. Das ist dann für die Eingeborenen das Signal zum blutigen Aufstand mit furchtbaren Grausamkeiten. Jetzt bleibt der Kolonialkrieg unvermeidlich, der Land und Leute den Europäern zur Ausbeutung ausliefert, den europäischen Staaten aber eine Buchseite 204 Reihe von Milliarden als Kriegskosten aufbürdet. Nach einem neuesten Zeitungstelegramm vom 17. Juli 1907 über Beilegung des Konflikts zwischen Japan und Nordamerika scheint es Sitte zu werden, auch bei Ausgleichsverhandlungen der Staaten einen Vertreter von Rothschild zuzuziehen.

g) Die Zahl der Reichen wird immer kleiner — die
der Besitzlosen immer grösser.

Die weitaus best verarbeitete Statistik über Vermögensbewegung verdanken wir dem wiederholt zitierten Statistiker Georg Evert. Siehe dessen „Sozialstatistische Streifzüge durch die Materialien der Ergänzungssteuerveranlagung in Preussen“ (Zeitschrift des preuss. statistischen Büros 1901, S. 217 ff.)

Die ergänzungssteuerpflichtige, also vermögenssteuerpflichtige Bevölkerung in Preussen macht von Jahr zu Jahr einen geringeren Bruchteil der Gesamtbevölkerung aus. Sie war im Jahre 1895 noch 14,14 vom Hundert der Gesamtbevölkerung und ist inzwischen mit unheimlicher Stetigkeit zurückgegangen auf

13,97  im   Jahre  1896,
13,93 " " 1897,
13,92 " " 1899,
13,81 " " 1902,
13,78 " " 1905.

Die vermögende Schicht ist auf dem Lande ausgedehnter und in mässiger Ausbreitung begriffen. In den Städten war sie von Anfang an enger und hat sich seitdem noch weiter zusammengezogen. Es waren die Ergänzungssteuerpflichtigen in Hundertteilen der Gesamtbevölkerung: Buchseite 205

  Auf dem 
Lande:
In den
Städten: 
In den
grösseren
Städten:
In
Berlin: 
1895 14,33 12,85 11,91 8,91
1896 14,30 13,49 11,81 8,92
1897 14,38 13,29 11,58 8,62
1899 14,55 13,08 11,25 7,80
1902 14,45 12,98 11,21 7,69
1905 14,66 12,69 10,96 7,62

Der fortschreitende Prozess der Vereinigung des Vermögens in immer weniger Händen spielt sich am raschesten in den grösseren und grössten Städten ab und muss notwendigerweise um so schneller fortschreiten, je mehr sich das städtische Leben ausbreitet und die Wohlhabenheit des Landes zurückgeht.

Das Nettovermögen der ergänzungssteuerpflichtigen Bevölkerung in Preussen mit mehr als 3000 Mark Jahreseinkommen betrug:

im Jahre 1895  :  42,45 Milliarden Mark
" " 1896  :  42,66 " "
" " 1897  :  44,29 " "
" " 1899  :  48,36 " "
" " 1902  :  53,22 " "
" " 1905  :  58,79 " "

Diese Vermögenszunahme erreichte mithin in den 11 Jahren 1895 bis 1905 = 16,25 Milliarden Mark oder 1,47 Milliarden Mark pro Jahresdurchnitt.

Dieser Vermögenszunahme geht auch bei der vermögenden Schicht ein beträchtliches Anwachsen der Schulden parallel. Es war der Kapitalwert der Schulden der Zensiten mit über 3000 Mark Jahreseinkommen in Preussen in Milliarden Mark:

1895  :  9,73  
1896  :  10,32  
1897  :  10,78 Buchseite 206
1899  :  12,23  
1902  :  14,42  
1905  :  16,76  

Das wäre für diese Zensiten eine Schuldenzunahme von 7,03 Milliarden Mark innerhalb 11 Jahren, oder von 0,64 Milliarden Mark im Jahresdurchschnitt. Wir haben weiter oben Ziffern kennen gelernt, aus welchen hervorgegangen ist, dass die Schulden zu ihrem überwiegenden Teile von den weniger Bemittelten getragen werden.

Die Form der Vermögenspyramide der preussischen Steuerzahler kommt in folgenden Ziffern zum Ausdruck. Von den reichsten Zensiten besassen:

1896 1899 1902 1905
Die 1. Milliarde 26 17 17 13
" 2. " 75 58 50 41
" 3. " 123 93 78 65
" 4. " 171 135 113 91
" 5. " 223 174 147 122
" 6. " 286 222 189 150
" 7. " 384 276 231 192
" 8. " 400 346 286 223
" 9. " 602 400 342 286
" 10. " 667 498 400 317
Die ersten 10 Milliarden  2957 2129 1853 1500

Die Zahl der Beteiligten an den ersten 10 Milliarden Vermögen ist mithin in 10 Jahren (1896 bis 1905) auf etwa die Hälfte herabgesunken. Das Heer des bäuerlichen Mittelstandes setzte in dieser Milliardenreihe

1896  bei  der  44. Milliarde
1899  " " 51. "
1902  " " 57. "
1905  " " 63. "

ein und überwiegt dann allerdings den parallelen Vermögensbesitz in der Stadt. Der eigentliche Stamm der mittleren Buchseite 207 Vermögen ist auf dem Lande zu suchen. In den Städten verschwindet der selbständige Mittelstand. Aber dieser ländliche Mittelstand wird in raschem Tempo nach abwärts gedrängt von dem rasch wachsenden Reichtume der Reichsten in den Städten. Die Landwirtschaft hat nach diesen Ziffern keinen Anteil an der zunehmenden Wohlhabenheit im Lande.

In dem Maasse aber, als das Vermögen sich in immer wenigeren Händen zusammenfindet, in gleichem Maasse muss die Zahl der Vermögenslosen wachsen. Dieses betrübende Entwicklungsbild kann und darf durch die Resultate der Einkommensteuerstatistik nicht verdeckt werden. Dem wachsenden Einkommen stehen die wachsenden Kosten der Lebenshaltung und der gesellschaftlichen Ansprüche gegenüber. Und wer, ohne Vermögen, nur auf sein Einkommen angewiesen ist, steht mit jedem Wechsel der Ereignisse der Verarmung und dem Elend gegenüber, denen nicht immer durch Versicherungen vorgebeugt ist oder auch nur vorgebeugt werden kann.

Die rasche Konzentration des Vermögens in immer wenigeren Händen, welche in den vorstehenden Ziffern zum Ausdruck kommt, verschärft sich noch sehr wesentlich, wenn wir fragen: wie viele Personen über die ökonomische Verwaltung des Vermögens verfügen? Dann werden die ersten 10 Milliarden Mark, welche 1905 noch 1500 Personen gehörten, vielleicht von nur 30 Personen verwaltet! Wir haben oben von der Konzentrationsbewegung der Grossbanken erfahren, dass die vier Berliner Grossbankgruppen, welche zu Anfang der 70er Jahre etwa über ein Volksvermögen von 200 Millionen verfügten, heute mindestens auf eine Kapitalsherrschaft von 20 Milliarden Mark herabschauen. Mit diesen Grossbanken hatten sich 1905 385 deutsche Buchseite 208 industrielle Syndikate mit 12'000 beteiligten Betrieben verbunden. Schon im Jahre 1903/04 waren nach Dr. O. Jeidels sechs Berliner Grossbanken für 1350 industrielle Gesellschaften und Kreditbanken die Zahlstellen für Zinsen, Dividenden, ausgeloste Schuldverschreibungen usw. Das Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte 1904/5 zeigt, dass einzelne Personen bis 35 Aufsichtsratsstellen in sich vereinigen. Zwischen den leitenden Personen der Grossbanken und der grossindustriellen Syndikate ist in den letzten Jahren ein umfassender Austausch von Aufsichtsratsstellen durchgeführt worden, so dass in der Bankwelt wie in der industriellen Welt zuletzt immer die gleichen Personen das Heft in Händen haben. Schon 1903 verfügten nach Franz Eulenburg die damals noch sechs Berliner Grossbanken durch ihre Direktoren und eigenen Aufsichtsräte über 750 Aufsichtsratsstellen anderer grosser Aktiengesellschaften. Nach dem „Deutschen Oekonomist“ vom 17. August 1907 ist im Jahre 1906 diese Zahl der Verwaltungsämter bei 67 Berliner Bankgewaltigen schon auf 1231 gestiegen. Die eigentliche Verwaltungsherrschaft für gewiss die Hälfte des deutschen Volksvermögens liegt so heute tatsächlich in den Händen von vielleicht 150 Personen. Die ganz überwiegende Masse der Reichen begnügt sich mit der Position eines arbeitslosen Rentners, der höchstens sich darauf beschränkt, fortlaufend den Börsenkurszettel bei seinem Morgenkaffee zu studieren. Die ungleich grössere Masse der fast Vermögenslosen (in Preussen heute wohl 86 1⁄2% der Gesamtbevölkerung!) ist mit ihrem Lebensunterhalt auf Dienstleistungen bei diesen 150 führenden Kapitalisten angewiesen, soweit sie nicht im Staats- oder Kommunaldienst Unterkunft gefunden haben.

Buchseite 209 h) Der herrschende Luxus.

Zu allen Zeiten der Geschichte hat die Ansammlung eines masslosen Reichtums mit „heidenmässig viel Geld“ einen nicht minder masslosen Luxus hervorgerufen. So auch heute.

Nach einer englischen Zeitschrift haben die Schönheitsspezialisten des Londoner Westends unter ihren Kundinnen solche, die für die Vorbereitungen zu einem Gesellschaftsabende 200, 300, ja 400 Mark für ihren Schönheitsdoktor ausgeben. Die betreffende Dame wird mit Dampf behandelt und massiert, ihr Haar wird gebürstet und parfümiert, gegebenenfalls neu gefärbt. Hände, Arme und Nacken werden mit grösster Sorgfalt behandelt, mit allerlei geheimnisvollen Salben gebleicht; dann schreitet man zum Aufbau der Frisur, Locken und Löckchen werden kunstvoll arrangiert. Besonders schwierig ist ein geschicktes Schnüren. Bei all diesen Manipulationen darf die „Schöne“ nur leichte Nahrung geniessen. Besondere Droguen verleihen den Augen Glanz und Helligkeit. Eine reiche Dame der Londoner Gesellschaft hat es sich zur Gewohnheit gemacht, bei all ihren Reisen sich von einem ganzen Stabe von Schönheitsspezialisten begleiten zu lassen. Ein anderer englischer Fachmann berechnete die Toilettenkosten der reichen Amerikanerinnen in England in folgender Weise: Die Ausstattung an Kleidern, Wäsche usw. kostet bis 200'000 Mark. Dazu kommt ein „anständiger“ Schmuck für etwa 300'000 Mark. Die teuerste aller Toiletten ist die Kurrobe zur Vorstellung bei Hofe. Billiger wie für 100'000 Mark lässt sie sich, wenn sie Aufsehen erregen soll, kaum herstellen. Hat doch die Kurrobe der Herzogin von Marlborough, geborene Vanderbilt, rund eine halbe Million Mark gekostet. Sehr teuer ist auch die Winterausrüstung mit Pelzwerk. Seine AnBuchseite 210fertigung in Paris bei sorgfältiger Auswahl der einzelnen Pelzteile wird immerhin 30'000 Mark beanspruchen. Für ein Ballkleid rechnet dieser Statistiker durchschnittlich 1600 Mark. Davon muss die reiche Amerikanerin dreissig parat haben. Ueber dem Ballkleid trägt sie wohl einen Abendmantel mit Hermelin bis zu 20'000 Mark. Für Hüte müssen jährlich etwa 4000 Mark ausgesetzt werden. Für Spitzenwäsche jährlich 14'000 Mark. Dagegen sollen für Schuhe und Strümpfe 5000 Mark, für Handschuhe und Taschentücher höchstens 6000 Mark genügen. Alles in allem muss darnach eine reiche Amerikanerin jährlich 120'000 Mark haben, um sich ihrem Range entsprechend kleiden zu können.

Von oben herab sickert dann das Gift des übermässigen Luxus in das Volk. Englische Zeitschriften brachten jüngst zwei Schneiderrechnungen für junge Damen des englischen Mittelstandes, die eine vom Jahre 1875, die andere vom Jahre 1905.

Die Rechnung von 1875 führte an:

   ein im Hause genähtes Kleid  .  .  .  .  .  .  Mk.    50
   für eine Abendtoilette   .   .  .  .  .  .  .   „     84
   für einen mit Pelz besetzten Wintermantel.  .   „     63
   für 2 Winterhüte .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „     30
   für einen Flanellunterrock   .  .  .  .  .  .   „     17
   für einen seidenen Unterrock .  .  .  .  .  .   „     21
   für Schuhe und Handschuhe .  .  .  .  .  .  .   „     21
   für Wäsche und Korsets .  .  .  .  .  .  .  .   „     70
   für 1 Pelzmuff   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „     10
                                                   ---------
                                   Im Ganzen:     Mk.   366

Die Rechnung für 1905 lautete:

   2 Schneiderkleider  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Mk.   217
   2 Besuchskostüme .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „    252
   2 Abendtoiletten .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „    275
                                                   ---------
                               Zu übertragen:     Mk.   744
Buchseite 211
                                   Uebertrag:     Mk.   744
   seidene Unterröcke  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „    110
   1 Abendmantel .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „     70
   6 Hüte  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „    166
   Wäsche und Korsets  .  .  .  .  .  .  .  .  .   „    158
   für Pelzkragen und Pelzmuff  .  .  .  .  .  .   „    210
   für Handschuhe, Schuhe, Gürtel, Bänder   .  .   „    105
                                                   ---------
                                   Im Ganzen:     Mk.  1563

Wie passen diese so rasch gewachsenen Ansprüche zu dem Rückgang des städtischen und ländlichen Mittelstandes im Vermögen wie im Einkommen?

Was eine Wohnung in Berlin-Westend heute enthalten muss, erfährt man aus einer Ankündigung im Mai 1907: „Hochherrschaftliche 8 bis 9-Zimmerwohnungen mit grosser Diele, Bad, 3 Klosetts, geschmackvoll ausgebaut, Warmwasserheizung, Warmwasserversorgung, Fahrstuhl, elektrische und Gasbeleuchtung, Vacuum-Reinigung, Müllschacht, Stahlpanzer-Safes, Mottenkammer, in jeder Wohnung eine Normaluhr, Roll- und Plättstube und Teppichklopfmaschine.“ Eine solche Wohnung kostet Jahresmiete 10'000 bis 12'000 Mark und mehr!

Die reichen Leute wollen indes nicht nur eine Wohnung in der Stadt, sie streben auch nach einem Luxusbesitz auf dem Lande und kaufen zu diesem Zwecke Rittergüter und Bauernhöfe im Lande zusammen. Der Antrag der Abgeordneten Dr. Hahn und Engelbrecht im preussischen Abgeordnetenhause gegen die Aufsaugung des bäuerlichen Grundbesitzes durch das Grosskapital (Session 1906/07) führte folgende Zitate aus den Jahresberichten der landwirtschaftlichen Vereine und Landwirtschaftskammern an: Jahresbericht des landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreussen 1893, Seite 5: „Das Grosskapital, welches sich durch die Industrie in einzelnen Händen angesammelt hat, bemächtigt sich allmählich eines BauernBuchseite 212hofes nach dem anderen und verpachtet diese wieder meistens an auswärtige Leute.“ — 1897, Seite 10: „Auch im Kreise Lennep macht sich die Erscheinung geltend, dass Grosskapitalisten Grund und Boden, wie auch ganze Landgüter, aufkaufen, um einen Teil ihres Reichtums anzulegen und ihre Macht und ihr Ansehen zu erweitern und zu befestigen. Vielfach wird auch Ackerland aufgeforstet. Die Ausübung der Jagd scheint hierbei eine gewisse Rolle zu spielen.“ — „Aus dem Kreise Bergheim wird berichtet, dass in geradezu erschreckender Weise die Latifundienbildung durch Landankauf seitens hier ansässiger Kapitalisten zunimmt. In einzelnen Gemeinden sind die genannten Kapitalisten bereits völlig Herr der Lage geworden. Nicht nur kleine, auch mittlere und grössere Landwirte werden nach und nach ausgekauft und sinken grösstenteils zu Arbeitern herab, die dann in den sich stets mehrenden Fabriken ihr Brot suchen müssen.“ 1899, Seite 9: „Der Aufkauf bäuerlichen Eigentums durch Industrielle und Grossgrundbesitzer nimmt weiteren Fortgang.“ Seite 104: „Die Gründe der steigenden Bodenpreise sind darin zu suchen, dass Grosskapitalisten ihre in industriellen Unternehmungen verdienten Kapitalien in Grund und Boden anzulegen streben.“ Jahresbericht der Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz 1905 S. 119: Einmal legen manche Industrielle ihr Geld in Grundbesitz an. Da ihnen weniger an der Rentabilität des Betriebes gelegen ist, zahlen sie höhere Preise, die nun auch auf die Grundpreise der nächsten Umgebung einwirken.“ Jahresbericht der Landwirtschaftskammer für die Provinz Westfalen 1905, Seite 79: „Die Zahl der Eigenbetriebe geht bei den grossen Ankäufen der Industrie immer mehr zurück und die Pachtungen nehmen zu, weil die Industrie die angekauften Besitzungen zunächst noch verpachtet.“ S. 99 Sauerland: „Die Ankäufer sind bei ganzen Gütern Buchseite 213 meist Grossgrundbesitzer und Kapitalisten, die letzteren namentlich dann, wenn dadurch eigene Jagdberechtigung erworben wird.“

All die Vorkommnisse wirken natürlich auf die Preisbewegung der landwirtschaftlichen Grundstücke ein, welches Thema in den Jahren 1906 und 1907 häufig in besonderen Artikeln der „Deutschen Tageszeitung“ und der „Deutschen Agrarkorrespondenz“ von Edmund Klapper erörtert worden. Von diesen Angaben interessieren hier etwa die folgenden:

Der Marktpreis des landwirtschaftlichen Besitzes war mit den Caprivi’schen Handelsverträgen so ausserordentlich gesunken, dass nach den Erhebungen der Buchführungsstelle der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (Dr. Stieger) für 100 Güter in Ostpreussen, Westpreussen, Brandenburg, Pommern, Posen und Schlesien, nach Abzug des Versicherungswertes der Gebäude, des lebenden und toten Inventars wie der Erntehagelversicherung vom Kaufpreise für den Kulturwert des Bodens rund 120 Mark pro Hektar von den Kaufpreisen aus 1894 bis 1898 entfielen. Diesem Tiefstande der Grundpreise ist in den letzten Jahren in bestimmten Gegenden von Deutschland ein erhebliches Anziehen der Preise gefolgt. Die von der Königlichen Ansiedelungskommission in Westpreussen und Posen gekauften Grundbesitzungen haben in dem bezahlten Preise das Vielfache des Grundsteuerreinertrages vergütet:

  bei Gütern    bei Bauern-
wirtschaften
1886  69,7  71,0
1887  75,7  58,3
1888  74,7  67,8
1889  73,9  57,2
1890  71,5  80,7
1891  73,3 Buchseite 214
1892  75,4  52,4
1893  66,7  53,8
1894  59,0
1895  64,0  46,0
1896  70,5
1897  72,6  84,5
1898  76,1 123,8
1899  78,4 130,8
1900  80,0 102,2
1901  77,9 104,0
1902  99,7  97,7
1903  99,0 102,0
1904 112,0 114,0
1905 125,0 124,0

Diese Güterpreissteigerung führt sich in Westpreussen und Posen zurück auf die Konkurrenz der Ansiedlungskommission, des Domänenfiskus, der polnischen Parzellierungsbanken und anderer Grundstücksspekulanten im Ankauf von landwirtschaftlichen Besitzungen.

Wie bedeutend diese prozentuale Steigerung ist, zeigt ein Vergleich mit den Grundpreissteigerungen in der Stadt Charlottenburg. Nach einer neuesten Untersuchung des städtischen statistischen Amtes ist der Preis pro Quadratmeter bebauten Grundes in der ganzen Stadt gestiegen von 113,52 Mark 1898 auf 161,56 Mark 1906. Das ist eine Preissteigerung um etwa 50% in 8 Jahren. Ungefähr ebenso gross ist die Preissteigerung für unbebauten Grund und Boden, nämlich von 13,87 Mark 1898, auf 19,86 1906. In den einzelnen Bezirken der Stadt ist die Preisbewegung natürlich eine recht verschiedene. So hat allein in den letzten drei Jahren 1903 bis 1906 das Schlossviertel 3 eine Preissteigerung um 94,6%, das Schlossviertel 1 um 79,4%, am Litzensee Buchseite 215 61,7%, am Spandauerberg 61,4%, im Hochschulviertel 7 volle 57,2% erreicht. Die Preisbewegung hat damit in zwei Stadtbezirken 400 Mark pro Quadratmeter überschritten.

Eine andere Art von Preissteigerung der landwirtschaftlichen Besitzungen ist in der Umgegend von Berlin und namentlich auch an der Strecke Dresden—Görlitz—Breslau eingetreten. Reich gewordene Industrielle, Grosskaufleute und Bankiers lieben es, bei der zunehmenden Reiselust im Volke, ihren Sommeraufenthalt auf eigenem Besitze zu verbringen. Eine wesentliche Rolle spielen bei diesen Luxuskäufen die Jagd und das Wohnhaus mit Park. Das Automobil hat die Vorliebe für einen solchen Luxusbesitz wesentlich gefördert. Auf eine Ueberzahlung der Besitzung um 100'000 Mark und mehr kommt es diesen neuen Erwerbern nicht an. So werden die alteingesessenen Landwirte durch hohe Preise von ihren Besitzungen weggelockt. Wo keine entsprechenden Rittergüter zu haben sind, werden Bauernhöfe in entsprechender Zahl für diese Luxuszwecke zusammengekauft.

Der Aufkauf der Bauernhöfe als Luxusbesitz für das Grosskapital tritt seit Jahrzehnten besonders scharf in den landschaftlich so schönen österreichischen Ländern hervor. Nach dem statistischen Jahrbuch des kk. Ackerbauministeriums umfassten in Oesterreich die herrschaftlichen Eigenjagden:

1885 eine Fläche von Millionen ha
1905 " " " 8,2 " "

Nach dem bei Walter Schiff (Oesterreichische Agrarpolitik seit der Grundentlastung 1898) zusammengestellten Material (Band I, S. 649 ff.) ist dieser Flächenzuwachs der Eigenjagd um 2,2 Millionen ha zum wesentlichen Teile auf den Ankauf von Bauernhöfen und Almen zurückzuführen. In Salzburg umfasst das Jagdgebiet von Buchseite 216 sechs Mitgliedern fürstlicher Häuser, sechs Grafen, sieben Freiherren, acht adligen Jagdgesellschaften und sechs Bürgerlichen 52% der ganzen Landesfläche. In Oberösterreich umspannen die vierzehn grössten Jagdreviere 30% der Landesfläche. Aehnliche Verhältnisse finden sich in Kärnten, Tirol, Voralberg, Böhmen, Mähren, Niederösterreich, Schlesien, aber auch in den Sudeten- und Karpatenländern. Die bäuerliche Besitzfläche und mit ihr die Viehhaltung geht zurück, um dem Jagdsport der reichen Leute Raum zu geben.

In Grossbritannien kaufen die reichen Amerikaner berühmte englische Familiensitze auf. So hat Carnegie „Skribo Castle“ erworben, das durch Lord Lytton bekannt geworden ist. Ein anderer Amerikaner hat vom Herzog von Westminster „Clivenden“ abgekauft u.s.w.

Diese Handänderungen scheinen jedoch sozial weniger bedenklich, weil schliesslich hier nur ein Personen- und Familienwechsel im Luxusbesitz in Frage kommt, keine Umwandlung sozial produktiver Ländereien in einen reinen Luxusbesitz des Grosskapitals.

i) Die Arbeiterversicherung und die Armenlasten.

Nach dem ausgezeichneten „Leitfaden zur Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches“ von Dr. Zacher (1906) stellten sich die Beitragslasten der gesamten deutschen Arbeiterversicherungen im Jahresdurchschnitt wie folgt:

                           Arbeitgeber:  Arbeitnehmer:  Reich:    Zusammen:
   Krankenversicherung      5,15 Mk.      10,30 Mk.         —      15,45 Mk.
   Unfallversicherung       6,08 "            — "           —       6,08 "
   Invalidenversicherung    4,65 "         4,65 "        2,88 Mk.  12,18 "
                           ================================================  
               Zusammen:   15,88 Mk.      14,95 Mk.      2,88 Mk.  33,71 Mk.

Buchseite 217 Demgemäss haben die Arbeiter noch nicht die Hälfte des Gesamterfordernisses aufzubringen (von 33,71 Mk. nur 14,95 Mk.) und erhalten an Entschädigung regelmässig mehr ausgezahlt, als sie an Beiträgen einzahlen.

Auf Grund dieser Gesetzgebung sind in den Jahren 1885 bis 1905 bereits folgende Entschädigungen gewährt worden:

                   Krankenversicherung:
                        (seit 1885)

        Krankengeld              1'114'629'489 Mk.
        Arzt                       514'803'920  „
        Heilmittel                 402'757'651  „
        Anstaltspflege             303'061'148  „
        Sterbegeld                  83'763'839  „
        Wochenbett                  36'543'672  „
        Sonstige Leistungen         38'414'074  „
                                 ================= 
        1885 bis 1904:           2'493'973'793 Mk.
        Dazu 1905:                 205'000'000  „
                                 ================= 
        Summa:                   2'744'000'000 Mk.


                   Unfallversicherung:
                       (seit 1885)

        Unfallrente                759'172'928 Mk.
        Hinterbliebenen-Rente      191'777'559  „
        Heilverfahren               34'275'716  „
        Anstaltspflege              55'010'333  „
        Sterbegeld                   6'927'990  „
        Witwen-Abfindungen           7'747'570  „
        Ausländer-Abfindungen        2'846'489  „
                                 ================= 
        1885 bis 1904:           1'057'758'585 Mk.
        Dazu 1905:                 136'000'000  „
                                 ================= 
        Summa:                   1'194'000'000 Mk.
Buchseite 218
                   Invalidenversicherung:
                          (seit 1891)

        Invaliden-Rente            560'486'961 Mk.
        Altersrente                336'472'378  „
        Heilverfahren               55'371'747  „
        Beitragserstattungen:
          a) bei Heirat             38'025'117  „
          b) bei Tod                13'422'508  „
          c) bei Unfall                171'201  „
                                 ================= 
             1891 bis 1904:      1'003'949'912 Mk.
                 Dazu 1905:        162'000'000  „
                                 ================= 
                     Summa:      1'166'000'000 Mk.

so dass bis Ende 1905 im ganzen rund 70 Millionen Personen (Erkrankte, Unfallverletzte, Invalide und deren Angehörige) 5 Milliarden Mark an Entschädigung erhielten. Dabei haben die Arbeiter nur die kleinere Hälfte an Beiträgen aufgebracht und bereits 2 Milliarden Mark mehr an Entschädigung erhalten, als an Beiträgen gezahlt. Gegenwärtig werden für diesen Zweig der Arbeiterfürsorge in Deutschland schon täglich 1,5 Millionen Mark aufgewendet, während die angesammelten Vermögensbestände bereits 1,7 Milliarden erreichen. Davon sind 500 Millionen Mark für den Bau von Arbeiterwohnungen, Kranken- und Genesungshäusern, Volksheilstätten, Volksbädern und ähnliche Wohlfahrtseinrichtungen verwendet worden.

Durch die Wohltaten dieser Versicherungsgesetze ist zweifelsohne jener Teil der Armenlasten, welcher früher für die verarmten Arbeiter aufgebracht wurde, wesentlich gemindert worden. Trotzdem sind die Armenlasten seit 1885 weiter gewachsen, wie namentlich das „statistische Jahrbuch der Stadt Berlin“ bestätigt. Die mittlere Zahl der Almosenempfänger, Pflegekinder und Extraunterstützten war in Berlin: Buchseite 219

                                                             Der Gesamt-
                                                             betrag der ge-
                                                             währten Unter-
                                                             stützungen
                                                             war pro Kopf:
       1885 : 25'365 Personen oder 1,97 % der Bevölkerung     118,12 Mark
       1890 : 29'117     "     "   1,86 "        "            128,33  "
       1895 : 39'077     "     "   2,38 "        "            140,77  "
       1900 : 44'564     "     "   2,41 "        "            155,66  "
       1905 : 50'489     "     "   2,25 "        "            168,24  "

Von diesen Almosenempfängern standen 1906 im Alter von über sechzig Jahren 72,50% aller erwachsenen Unterstützten, im Alter von über siebzig Jahren noch 37,65%, im Alter von über 80 Jahren 7,92%, mehr als 80 Jahre zählten 93 oder 0,28%!

Pro Kopf der Bevölkerung war der Zuschuss zu den Kosten der Armenpflege der Stadt Berlin

1895/6 = 7,3 Mark,  
1899/0 = 7,71 "  
1904/5 = 9,69 " .

Die Gesamtkosten der städtischen Armenpflege erreichten 1905/6 23'988'119 Mk.

In städtischer Fürsorgeerziehung waren Minderjährige untergebracht:

1903/4 : 1948,
1904/5 : 2502,
1905/6 : 2835.

Die städtischen Ausgaben für diese Fürsorgeerziehung sind gestiegen:

von 44'624 Mark 1900
auf 188'027 " 1902
und 400'000 " 1905

Neben den vielen gut ausgestatteten städtischen Anstalten, welche der Armenpflege dienen, gab es in Berlin 1905 noch 107 Wohltätigkeitsvereine der verschiedensten Art mit zum Teil ansehnlichen Einkommen und Vermögen. Buchseite 220 Die städtische Kasse hat den weniger bemittelten Wohltätigkeitsvereinen 1905 Geldunterstützungen im Betrage von 1'179'264 Mark gewährt.

Also: trotz des Milliardenaufwandes der staatlichen Arbeiterversicherungsanstalten ein rasches Anwachsen der Armenlasten! Der Oberbürgermeister Dr. Adickes hat vor kurzem im Frankfurter Stadtparlament diese Entwicklung in folgende Worte zusammengefasst: „Hier (in Deutschland) will man darauf hinaus, sukzessive alles dem Einzelnen abzunehmen und der Allgemeinheit aufzubürden. Dadurch geht das Verantwortlichkeitsgefühl verloren, wie sich das in den vielen Simulationen bei den Krankenkassen zeigt. Bei den Schulen heisst es zuerst: „Schafft unentgeltliche Lehrmittel!“ dann fordert man Frühstück und Mittagessen für die Schulkinder, Kleider und Schuhe und schliesslich vielleicht noch Petroleum und Heizung, denn die Kinder sind schlecht genährt und zu Hause fehlt es ihnen an Licht und Wärme. Wo bleibt da die Pflicht des Einzelnen, für sich und die Seinen zu sorgen? Ich muss deshalb davor warnen, aus prinzipiellen Gründen, Wohltaten auszustreuen.“

k) Weitere Degenerationserscheinungen und
wachsender Unfriede im Volke.

Die Familie, der Hort der Erhaltung unserer bisherigen Gesellschaft, zeigt fast allerwärts bedenkliche Auflösungserscheinungen. Für die Proletarierfamilie hat uns Werner Sombart das in seinem „Proletariat“ anschaulich geschildert. Die Ehestatistik in der modernen Romanwelt bestätigt dieselbe Erscheinung auf jeder Seite. Die anBuchseite 221ständig verheiratete Frau erfreut sich bei den Romanschreibern der Gegenwart keiner grossen Beliebtheit mehr. Ein englischer Kritiker hat kürzlich eine Statistik aufgestellt, aus der sich ergibt, dass aus achtzig englischen Romanen siebzehn die Ehe als eine überlebte Institution lächerlich machen, elf von der Nützlichkeit der Ehescheidung handeln, zweiundzwanzig die freie Liebe verteidigen, sieben sich über die eheliche Treue lustig machen und dreiundzwanzig sogar von der Ehe in geradezu skandalöser Weise sprechen. Was aber das Sonderbarste ist, alle diese Romane sind von — Frauen geschrieben worden.

Auf den bedenklichen Rückgang der Geburten und die wachsende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder selbst zu stillen, ist oben bereits verwiesen worden.

Fast unsere ganze moderne Geistesrichtung zeigt einen decadenten Charakter. Schriftsteller, die kaum der Schule entwachsen sind, vertreten den nackten Materialismus als Weltanschauung. Der Ichkultus des Adelsmenschen Ibsen’s und des Uebermenschen Nietzsche’s wird noch übertrumpft. Dieses Leben geht mit dem Tode zu Ende. Deshalb muss man dieses Leben möglichst zu geniessen trachten. Friedrich Paulsen beginnt seine jüngst („Woche“ vom 30. November 1907) erschienenen Betrachtungen „Zum Kapitel der geschlechtlichen Sittlichkeit“ mit folgendem Satze: „Es ist, als ob alle Dämonen losgelassen wären, den Boden des deutschen Volkslebens zu verwüsten. Im geschäftlichen Grossbetrieb wird unter dem Titel des Problems der „«Homosexualit»“ die Sache eines abscheulichen Lasters geführt, als ob es sich um eine gleichberechtigte Spielart des Geschlechtslebens handle. Rasende Weiber verkünden in Traktaten und Romanen das „«Recht auf Mutterschaft»“, auch wenn ein Vater für das Kind nicht zu haben sein sollte. Irrende Poeten predigen reiferen jungen Mädchen die Notwendigkeit und Buchseite 222 das Recht, sich am „«Heckenweg»“ einstweilen die Freuden zu suchen, die ihnen sonst vorenthalten bleiben möchten. Fanatische Gläubige der Aufklärung beiderlei Geschlechts fordern mit Ungestüm die Einführung der Jugend in die Geheimnisse des Geschlechtslebens durch naturhistorischen Anschauungsunterricht. Und dass die „«freie Liebe»“ bestimmt sei, das System der alten unerträglich gewordenen „«Zwangsehe»“ zu ersetzen, ist in den Kreisen freier Literaten und unverantwortlicher Politiker längst ausgemachtes Dogma.“

Neben dem Recht „sich auszuleben“, steht das andere Recht, „sich die dazu erforderlichen Mittel zu beschaffen.“ In rücksichtsloser Erwerbssucht wird jede Konkurrenz nieder zu treten versucht. Unsere laxen gesetzlichen Bestimmungen über den unlauteren Wettbewerb und der noch laxere Schutz der Privatehre des Einzelnen erleichtern diese raubtierartige Erwerbspolitik ganz wesentlich. Das alles muss die Gesundheit des Volkes ungünstig beeinflussen.

Nach den Veröffentlichungen des preussisch-statistischen Landesamtes waren die Fichtennadelbäder und Kaltwasserheilanstalten in Preussen besucht worden im

    Jahre       1870    1880     1890     1900
                ============================== 
    von          383    6336    17513    36963 Personen.

Die in den Anstalten für Geisteskranke verpflegten Personen waren nach der gleichen Quelle in Preussen:

             1881/90       1891/1900       1904
             ==================================
              34781          57191        92720

Die Summe der behandelten Krankheitsfälle in den allgemeinen Heilanstalten des preussischen Staates war: Buchseite 223

           1877       1890       1900       1904
          =======================================
          216016     455605     748686     960815

Trotzdem in der gleichen Zeit die Zahl der privaten Heilanstalten ganz wesentlich zugenommen hat. Denn es gab in Preussen auf 10'000 Einwohner Aerzte und Wundärzte:

                 1825        1898       1905
                 ===========================
                 4,6         4,7        5,5

in dem gleichen Jahre in Berlin 14,0, Schleswig-Holstein 5,8, Rheinpreussen 5,2, Westpreusssen 3,5.

Der moderne „Ich-Mensch“ kennt natürlich nichts von einer Aufopferung für andere. Vergleiche die Berichte über das Verhalten der Pariser Bonvivants während des berühmten Bazarbrandes im Mai 1897! Jedenfalls hat unter dem Einfluss unserer allgemeinen Wirtschaftsverhältnisse die Prostitution stark zugenommen. Nach von Boltenstern gibt es heute in Berlin z. B. 20'000 Prostituierte, wovon jedoch — nach dem ausgezeichneten „Handbuch der medizinischen Statistik“ von Prinzing (1906) — nur der kleinste Teil auf „abnorme Veranlagung“ zurückzuführen ist. Die Masse der Prostituierten geht meist im Elend zu Grunde. Aber Einzelnen gelingt es allerdings, durch „Verhältnisse“ mit der „jeunesse dorée“, sich und ihre Kinder reichlich zu versorgen. Daneben zeigt sich eine bedenkliche Zunahme der Geschlechtskrankheiten. Nach Prinzing wurden am 30. April 1900 in Preussen über 40'000 syphilitische Erkrankte in Behandlung gezählt. Diese Seuche muss mit dem Alkoholismus und dem „Nachtleben“ auch nach Prinzing zur Entartung der Bevölkerung in den Grossstädten führen. Die allgemeine Zunahme der Kurzsichtigkeit kann nicht mehr bestritten werden. Wo, wie in Paris, raffinierteste Genusssucht sich materiell sicher gestellt fühlt, paart sich der hervorstechende Zug der Sinnlichkeit mit dem Mystizismus und erzeugt Buchseite 224 die Buddhisten- und Brahminen-Gemeinden, die Jünger des Zoroaster, die Gnostiker, Satanisten, die Isisgemeinde u.s.w.

Weil es nach der modernen Auffassung kein Jenseits gibt, erfährt das Diesseits eine übertriebene Wertschätzung. Und wo dem materialistischen Streben keine genügenden Erfolge zufallen, findet sich die Unzufriedenheit mit dem Pessimismus und einer falschen Sentimentalität ein. Aus Nordamerika wurde jüngst von „Selbstmordepidemien“ berichtet. Junge Damen, welche gemeinsam das Gymnasium absolvierten, schlossen sich zu einem „Selbstmordklub“ zusammen, um sich gemeinsam zu vergiften.

Unsere deutsche Litteratur feiert heute in Kellnerinnen- und Dirnenromanen wahre Orgien. Professor Eulenburg hat kürzlich einen Vortrag über Schülerselbstmorde in Preussen gehalten, dessen Daten dem amtlichen Material der preussischen Schulbehörden entnommen wurden. Danach sind in den Jahren 1880 bis 1903 1152 Schülerselbstmorde in Preussen vorgekommen. Hiervon entfielen 956 auf männliche Schüler, 196 auf Schülerinnen.

Bei Abwägung der Schuldfrage senkt sich nach dem Referenten die Wagschale tief zu Ungunsten des Hauses. In viel zu zahlreichen Fällen zeigte sich die Familie der ihr gestellten erzieherischen Aufgabe nicht im mindesten gewachsen. Als besondere Motive werden angeführt: erbliche Belastung, verkehrte Lebenshaltung und Erziehung, unverdaute Lektüre, religiöse Zweifel, Frühreife, geschlechtliche und alkoholische Ausschweifungen.

Diese decadente Richtung unserer Zeit ist unzertrennbar verbunden mit unserer Presse, unserer Litteratur Buchseite 225 und unserer Kunst. Martin Luther sagt einmal, rein referierend auf Grund eigner Beobachtung seiner Zeitverhältnisse: „Wenn Du etwas schreibst in der Meinung: „«warte Publikum, ich will Dir zeigen, was Du lesen sollst, um Dich zu bessern und fortzubilden»“, so wirst Du kaum ökonomischen Erfolg haben. Willst Du aber Erfolg haben, so gehe hinaus auf den Hof und schaue den Mägden auf das Maul und so wie die reden, so schreibe, dann wird Dein Buch sicher gekauft werden!“ Ein wesentlicher Teil unserer modernen Literatur und ein gut Teil unserer Zeitungen scheinen heute auf dem Hofe den Mägden auf das Maul zu schauen, um zu schreiben, „so wie die reden.“ Eine Reihe von Witzblättern erfreuen sich aus diesem Grunde international eines recht bedenklichen Rufes. In immer weiteren Kreisen erkennt man, dass es sich hier um Machwerke einer gewöhnlichen Geldspekulation handelt. Der materielle Erfolg dieser Witzblätter lässt die modernen Dichter und Schriftsteller nicht ruhen. Den gleichen Spuren folgt die moderne Zeitungsberichterstattung. Nicht genug, dass wir täglich von scheusslichen Verbrechen der verschiedensten Art lesen, die Aburteilung dieser Verbrecher muss mit einer hingebenden Sorgfalt verfolgt werden, als handle es sich um ein welterschütterndes Ereignis. Daneben spielen ungeheuerliche Versuche, die Richter zu beinflussen. Inzwischen ist der Verbrecher, der seiner wohlverdienten Strafe zugeführt werden soll, ein international berühmter Mann geworden. Die herrschende Profitwut unserer Zeit prägte den Wucherbegriff um, führte die Wucherfreiheit ein und hat nur für den missglückten, nicht aber für den erfolgreichen Raubzug Worte der Verurteilung. Die gleiche Profitwut widmet sich in der Presseberichterstattung der „Bestie im Menschen“ und versteht es fast regelmässig, für diese Bestie eine durchaus perverse Art Buchseite 226 von Sympathie in der Bevölkerung wachzurufen. Dieser Verbrecherruhm muss bei unserem so systematisch verbildeten Volksempfinden notwendigerweise zu neuen Verbrechen führen. Ganz gleichgültig! Die Erwerbssucht der Zeitungen flüchtet sich hinter das Schlagwort „Pressfreiheit“ und darf darin nicht gestört werden. Den gleichen Weg im Dienste der Menschenbestie beschreitet die Reproduktion und Verbreitung gewisser Kunstwerke. Das Reichsgericht scheint vergessen zu haben, dass Eines sich nicht für Alle schickt und dass das gleiche Kunstwerk, verschiedenen Personen in verschiedenen Entwicklungsaltern zugänglich gemacht, ungemein verschiedene Wirkungen hervorrufen muss. Die Sittlichkeitsverbrechen, speziell begangen an Mädchen unter 14 Jahren, nehmen in Deutschland rasch zu. Von den im Jahre 1904 wegen Sittlichkeitsverbrechen 5385 Verurteilten waren 1064 Jugendliche im Alter von 12 bis 14 Jahren. Man sollte denken, dass unter solchen Umständen alles verhütet wird, was die Sinnlichkeit in öffentlichen Lokalen und an den Strassen und Plätzen zu erregen geeignet wäre. Aber — dadurch würden ja alle jene „Geschäfte“ leiden, welche aus der Spekulation auf die Sinnlichkeitserregung ein Gewerbe gemacht haben. Und da Presse und Litteratur nur zu vielfach auch vom „Bestiendienst“ Vorteile ziehen, ist flugs das Schlagwort zur Hand: „Ein vom künstlerischen Standpunkt nicht unzüchtiges Bild kann durch die subjektive Willensrichtung des Verbreitenden nicht zu einem Unzüchtigen werden“. Und „die Kunst muss frei sein“! Im gleichen Sinne haben sich die Römer noch für ihr Recht begeistert, als schon ihre Welt zu Grunde ging

Bei allen Völkern hat das kapitalistische Zeitalter eine stark ausgeprägte Vorliebe für die Form, statt für die Sache, für das Formale, statt für das Materielle, für die Buchseite 227 Paragraphen, statt für die Prinzipien der Gesetze gehabt. „Kein Verbrechen ohne Gesetz, keine Strafe ohne Gesetz!“ Wenn aber der Verbrecher es versteht, mit Hülfe eines raffinierten, teuer bezahlten Rechtsanwalts nachzuweisen, dass seine Handlung unter keinen der geltenden Paragraphen fällt, dann geht das Verbrechen straffrei aus und der Verbrecher erntet heute noch Ruhm und Ehre. Ein gewerbsmässiger internationaler Hoteldieb lernt bei einer Dirne in Paris, die vorher ein reicher Lord in einem Institut hat erziehen lassen, die sogenannten besseren Umgangsformen und heiratet dann die Tochter aus einer deutschen standesherrlichen Familie. Solange dieser Mann mit gestohlenem Gelde seine Börse gut füllen konnte, verkehrte er in den Grossstädten von Mitteleuropa in den ersten gesellschaftlichen Kreisen, wobei ein selbst zugelegter Prinzen- oder Grafentitel die vorausgegangenen Verurteilungen als gemeiner Verbrecher verdecken half. Und als diese Verbrecherlaufbahn ihren Abschluss gefunden zu haben schien, hat eine hochangesehene Verlagsanstalt es rentabel genug gefunden, die Selbstbiographie dieses Mannes, die aus den unglaublichsten Uebertreibungen sich zusammensetzt, gegen reiches Honorar zu übernehmen. Fast alle Zeitungen brachten lange Besprechungen. Inzwischen ist eine ganze Literatur diesem Manne gewidmet. Und der Verbrecher zieht daraus in seinen alten Tagen ein reiches Einkommen. In den Lokalblättern der Grossstädte liest man heute immer wieder, dass ein Hochstapler oder ein Revolverjournalist Töchter aus hochachtbaren reichen Familien geheiratet haben. In Spaa, Monte Carlo, an der Riviera, in Ostende u.s.w. findet sich die Aristokratie der Geburt und des Geldes mit der internationalen Verbrecherwelt zu einer echt modernen Gesellschaft zusammen. Wer über eine gefüllte Börse und gute Manieren verfügt, hat Zutritt. Buchseite 228 Der innere Inhalt des einzelnen Menschen und die Herkunft des Geldes, das aufgewendet wird, bleiben gleichgültig — bis zur nächsten Verhaftung durch die Polizei. Die tüchtigsten, ehrlichsten Leute, die über geringere Barmittel verfügen und womöglich gar noch mit dem Messer essen oder die Serviette an ihrem Halskragen befestigen, werden in solchen Kreisen selbstverständlich nicht geduldet.

Bei der Jahrhundertfeier des Leipziger Korps „Lusatia“ (1907) hielt Hofrat Dr. Klemm-Dresden eine Festrede, der folgende treffende Sätze zu entnehmen sind: „Wie oft bei rasch aufsteigenden Völkern droht auch bei uns der Moloch eines goldsatten und doch goldgierigen Protzentums banausischer Emporkömmlinge die edlen Regungen der Volksseele zu ersticken. Gleichzeitig verschärft sich der Kampf ums Dasein auf allen Gebieten des bürgerlichen Lebens. Nicht zum geringsten unter dem verderblichen Einfluss jener Banausen und ihres zur Schau getragenen Wohllebens zeitigt dieser Kampf ein wüstes Strebertum. Durch Vetternschaft und Cliquenwesen sucht er sich der Futterkrippen zu bemächtigen und vertritt der ehrlichen Pflichterfüllung, die nur auf sich selbst gestellt ist, und auf die Gediegenheit ihrer Leistungen, dreist und gewissenlos den Weg.“ Dr. Klemm berührt hier das uralte Problem aller demokratischen Verfassungen, die Tüchtigkeit sachlicher Leistungen durch persönliche Beziehungen zum Schaden der Gesamtheit zu unterdrücken. Kleisthenes hat in seiner Verfassungsreform für Athen diese Gefahr für so gross gehalten, dass er lieber dem blinden Zufall der Auslosung die Ernennung zu den Staatsämtern anvertraute, als der Vetternschaft und dem Cliquenwesen. In welchem Masse heute unsere ganze öffentliche Meinungsfabrik durch solche persönlichen Beziehungen gefälscht wird, hat der Streit zwischen Ferdinand Bonn und dem Buchseite 229 „Berliner Tageblatt“ recht gut beleuchtet. Bonn schrieb damals: „Man muss nämlich wissen, dass, wenn man irgend einem Schmock eine Ohrfeige gibt, so ist das „die“ Presse. Wenn man lachend in einen Revolver schaut, und sagt: „Ich führe Deine Stücke nicht auf“, dann wiederholen sämtliche Zeitungen das Modegeschrei: „Bonn hat die Presse beleidigt.“ Bei den bevorstehenden Gerichtsverhandlungen wird man erkennen, dass die Behörde sich manchmal übel von den Zeitungen treiben lässt (!) und so furchtbaren Schaden anrichtet an dem Besitz des deutschen Volkes. Französische Dirnenstücke, Unzucht und Anarchie jederart können sich jederzeit sehen lassen. Am sogenannten Deutschen Theater wird ein Stück gegeben, das direkt im Bordell spielt. Es gibt viele, die der literarischen Schreckensherrschaft des Gemeinen und Hässlichen müde sind. Nicht alle Menschen sind pervers und verfault. Und wenn die Gesunden und Guten wüssten, dass es nur ein winziger Konvent von Schreckensmännern ist, die fortwährend das öffentliche Gefühl verfälschen, dann wären nicht gute ideale Künstler und Dichter zertreten worden, während die Geilen, Zersetzenden, Verneinenden zu Modegötzen hinauf geschwindelt wurden.“ Die Redaktion der „Deutschen Tageszeitung“ bemerkt zu diesen Sätzen: „Was Bonn hier sagt, sind durchweg unantastbare Wahrheiten.“

Dieses Vettern- und Cliquenwesen in seinem Kampfe gegen tüchtigere Leistungen reicht bis in die Kreise der „reinen“ Wissenschaft. Schon der Philosoph Locke hat in dem Ansehen der älteren Universitätsprofessoren eines der bedenklichsten Hemmnisse im Fortschritt der menschlichen Erkenntnis erblickt. Denn, wenn ein solcher Professor zugeben müsste, dass er so viele Jahre von seinem Katheder herab einen Irrtum vertreten habe, so müsste ja „sogar sein roter Talar erröten.“ Also bleibt der Professor Buchseite 230 im Zweifel ein Gegner neuer Wahrheiten. Als der englische Arzt William Harvey (1578—1658) mit seiner Entdeckung des Blutkreislaufs bei Menschen und Tieren vor die Oeffentlichkeit trat, wurde er von den Fachprofessoren seiner Zeit mit Spott und Hohn überschüttet. Man nannte Harvey den „Zirkulator“. Erst die Philosophen Bacon und Descartes, welche der neuen Entdeckung unbefangener gegenüberstanden, sind für die Anerkennung der Harveyschen Lehre eingetreten und heute wird dessen Name neben dem eines Galilei, Kepler und Newton genannt. Als Friedrich List in den zwanziger, dreissiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Freihandelslehre des Adam Smith bekämpfte, den deutschen Zollverein gründete, die Hauptlinien unseres deutschen Eisenbahnsystems schuf, und eine deutsche Handelsflotte, eine deutsche Kriegsflotte, deutsche Kolonien und eine deutsche Industrie forderte, um den Engländern nicht dauernd die ökonomische Welt zur alleinigen Ausbeutung zu überlassen, da wurde er von den damaligen deutschen Professoren für Nationalökonomie als „ungenügend gebildeter Dilettant“, als „Mann mit einer überhitzten Phantasie, dem die ordentliche Ausbildung fehle“, verhöhnt und auf das heftigste angefeindet. Die Presse der damaligen Zeit hat ihn noch mit persönlichen Verdächtigungen als Spekulant verfolgt. Bald wollte niemand mehr mit einem politisch so unruhigen Geiste etwas zu tun haben. Ueberarbeitet und verärgert griff List am 30. November 1846 zur Pistole. Dann hat die damalige Professorenliteratur die List’schen Lehren „verhüttet“, bis sie von Eugen Dühring wieder ausgegraben wurden. Heute setzte man diesem selben List schon das fünfte oder sechste Denkmal als dem „grössten deutschen Nationalökonomen.“ Deutschland aber ist mit einer Verspätung um Buchseite 231 eine Reihe von Jahrzehnten in die industrielle und koloniale Entwicklung eingetreten. Etwa um die Zeit, als der vielgequälte List mit der Pistole seinem Leben ein Ende machte, hat Dr. Semmelweis in Wien das Wesen des Kindbettfiebers, dem früher so viele Wöchnerinnen zum Opfer gefallen sind, richtig erkannt und darauf seine korrekte antiseptische Behandlung aufgebaut. Aber die medizinischen Professoren in Wien liessen die Neuerung nicht zu. Das Wiener Kultusministerium hat sich auf seiten der Professoren gegen den jungen Forscher Semmelweis gestellt. Seine epochemachende Entdeckung wurde totgeschwiegen. Und als dann Semmelweis von Budapest aus sein fundamentales Werk über das Kindbettfieber 1861 veröffentlichte, begegnete es bei seinen wissenschaftlichen Fachkollegen einer so abfälligen, persönlich gehässigen Kritik, dass dieser Bahnbrecher wenige Jahre später aus Gram und Aerger darüber im Irrenhause gestorben ist. Ein Vierteljahrhundert später, nachdem inzwischen noch Tausende und Abertausende von Wöchnerinnen sterben mussten, deren Erkrankung nach der neuen Lehre sicher verhütet worden wäre, hat die neue Erkenntnis durch Vermittluug eines Lister, Pasteuer, Helmholtz, Koch und Bruns sich endlich Bahn gebrochen. Inzwischen hat man ja auch Semmelweis ein Denkmal in Budapest errichtet.

Robert Mayer, der Galilei des 19. Jahrhunderts und Philipp Reis, der Erfinder des Telephons, fanden bei dem Berliner Professor und Herausgeber der „Annalen für Physik und Chemie“ Poggendorf mit der Bitte um Veröffentlichung ihrer epochemachenden Arbeiten, nur einen abweisenden Bescheid. Das Telephon musste deshalb im Auslande noch einmal entdeckt werden, um dann erst seinen Weg nach Deutschland zu finden und die Robert Mayersche Lehre musste erst im Auslande anerkannt werden, bevor die deutsche Wissenschaft sie als gültig akzeptieren konnte.

Buchseite 232 Und noch in den letzten Jahren hat Professor August Bier, jetzt in Berlin, nachdem er die „Stauungsbehandlung als Heilmittel“ erkannt hatte, und ein grosses Gebiet der Chirurgie an die Gummibinde, den trockenen Schröpfkopf und den Heissluftkasten verwiesen hat, anderthalb Jahrzehnte gebraucht, bis seine Entdeckung endlich allgemeine Anerkennung gefunden. Die hierbei gemachten Beobachtungen haben den ersten Assistenten von Bier, Professor Klapp, veranlasst, in einer Veröffentlichung für die Lebensgeschichte neuer Ideen drei charakteristische Epochen zu unterscheiden: erste Epoche: die neue Idee wird von den Fachleuten todgeschwiegen; zweite Epoche: die neue Idee wird von den Fachleuten scharf ablehnend kritisiert; dritte Epoche: verschiedene Fachleute führen den Prioritätsstreit und wollen die neue Idee schon früher entdeckt haben. Jedenfalls birgt diese Herrschaft der persönlichen Beziehungen über den Fortschritt in der Erkenntnis eine eminente soziale Gefahr in einer Zeit, in welcher sich die Degenerationserscheinungen im Volke so häufen, wie das heute der Fall ist und die verzögerte Anerkennung neuer wichtiger Ideen um mehrere Jahrzehnte unter Umständen über Sein oder Nichtsein des ganzen Volkes entscheidet.

Eine weitere Gruppe von Degenerationserscheinungen, die gleichzeitig den wachsenden Unfrieden in der Gesellschaft erkennen lässt, bieten uns die Ziffern der Kriminalstatistik.

Kein geringerer als Professor von Liszt vertritt die Anschauung: wie das Fieber oder bösartige Neubildungen auf tieferliegende, das Leben selbst bedrohende Erkrankungen hinweisen, so sei auch die Kriminalität unserer Zeit als eine pathologische Erscheinung zu betrachten und zu behandeln. Leider bietet auch hier nur die deutsche Statistik ein gutes Material. Und nach Buchseite 233 diesem hat die Zahl der Verurteilten seit 1882 beträchtlich zugenommen. Auf 100'000 strafmündige Angehörige der Zivilbevölkerung wurden wegen Verbrechen und Vergehen verurteilt:

1882 = 1040,
1885 = 1062,
1890 = 1105,
1895 = 1249,
1900 = 1198,
1904 = 1214.

Die Gesamtzahl der Verurteilten ist von 1882 bis 1904 von 315'849 auf 505'158 gestiegen.

Wer wurde hier verurteilt? Darauf gibt die Reichsstatistik folgende Auskunft:

  Auf 100'000 Verurteilte straf- 
mündige Personen:
Auf 100'000 jugendl. Personen
(Alter von 12 bis 18 Jahren):
  männliche: weibliche: Verurteilte: männl.: weibl.:
1882 1667 379 568   901 235
1885 1708 364 560   897 221
1890 1787 373 663 1082 243
1895 2067 406 702 1158 244
1900 2039 357 745 1248 239
1904 2118 378 708 1181 233

Ueberwiegend waren also die Männer an den Verurteilungen beteiligt und zwar zu einem stetig wachsenden Prozentsatz als jugendliche Verbrecher, wobei zu beachten ist, dass die scheinbare Verbesserung der Ziffern seit 1900 auf die Einführung der Fürsorge-Erziehung seit dieser Zeit zurückgeführt werden muss. Die Zunahme der Verurteilten überhaupt hat von 1882 bis 1904: 59,9% erreicht. In der gleichen Zeit war die Zunahme der verurteilten Erwachsenen 59,6%, der verurteilten Jugendlichen 62,8%, während die strafmündige Bevölkerung überhaupt nur um 31,2%, die Zahl der Erwachsenen um 31,4%, die der Buchseite 234 Jugendlichen um 30,6% zugenommen hat. Im Jahre 1901 kamen auf 100'000 strafmündige Personen der Zivilbevölkerung derselben Altersklasse und desselben Geschlechts Verurteilte:

  männliche:  weibliche: 
12 bis unter 15 Jahre alt 770,4 144,8
15 " " 18 " " 1733,7 345,7
18 " " 21 " " 4845,2 437,2
21 " " 25 " " 4022,5 431,5
25 " " 30 " " 3263,7 461,5
30 " " 40 " " 2492,4 517,3
40 " " 50 " " 1806,4 485,0
50 " " 60 " " 1129,6 312,4
60 " " 70 " " 596,9 152,9
70 und mehr Jahre alt 222,0 53,9

Die Verbrechen der männlichen Bevölkerung sind mithin im wesentlichen eine Erscheinung des jugendlichen Alters, während die weibliche Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 50 Jahren die grössere Energie zum Verbrechen zeigt.

Was die Art der Verbrechen betrifft, so hat Liszt schon betont, dass die Verbrechen der rohen Gewalt, wie Bandenraub, Raubmord in den Hintergrund treten, feinere Vermögensdelikte, wie Betrug, Unterschlagung, Urkundenfälschung häufiger werden. Speziell die Diebstahlskurve schliesst sich an die wirtschaftliche Lage der gewerblichen Arbeiter an. Wenn die Bauhandwerker streiken, nehmen die Einbruchsdiebstähle rasch zu. Die harten Interessenkämpfe lassen ferner die Zunahme der Beleidigungen, Körperverletzungen, Hausfriedensbrüche, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung rasch zunehmen. Die Reichstatistik bietet hierzu folgende Ziffern:

Buchseite 235 Verurteilt wurden wegen Verbrechen und Vergehen:

I. gegen den Staat, öffentliche Ordnung und Religion:

                                  Personen:             Handlungen:
              1882/1891            58'892                 63'293
              1892/1901            78'405                 85'902

II. gegen Personen und zwar Beleidigung und Körperverletzung:

                    Personen:             Beleidigung:       Körperverletzung:
                Pers.:    Handlg.:      Pers.:  Handlg.:      Pers.:   Handlg.:
  1882/1891     131'672    104'053      42'575    53'487      74'129     63'501
  1892/1901     191'743    210'453      53'104    73'413     114'997    101'991

III. gegen das Vermögen und zwar Diebstahl überhaupt, Betrug und Untreue:

                     Vermögen:              Diebstahl:          Betrug, Untreue:
                Pers.:    Handlg.:      Pers.:    Handlg.:      Pers.:   Handlg.:
1882/1891       162'999    240'895      108'405    158'951      16'516    36'636
1892/1901       188'101    258'544      115'740    154'834      24'993    48'365

                       Urkundenfälschung,               Verletzung fremder
                     Strafbarer Eigennutz:                 Geheimnisse:
                   Personen:      Handlungen:        Personen:     Handlungen:
1882/1891             3'287          7'585              9'926          8'869
1892/1901             5'010          9'300             10'453          9'278.

Speziell die Verhältniszahl der Verurteilung Jugendlicher hat im Durchschnitt von 1882/91 bis 1892/1901 zugenommen bei:

  Gewalt und Drohungen gegen Beamte + 43,6%
  Hausfriedensbruch + 72,8%
  Meineid + 44,9%
  Fahrlässiger Falscheid + 44,4%
  Falsche Anschuldigung + 40,9%
  Religionsvergehen + 28,6%
  Widernatürliche Unzucht + 18,8%
  Beleidigung + 58,3%
  Fahrlässige Tötung + 20,9%
Buchseite 236 Leichte Körperverletzung + 35,7%
  Gefährliche Körperverletzung + 60,3%
  Fahrlässige Körperverletzung + 74,2%
  Einfacher Diebstahl + 6,8%
  Einfacher Diebstahl in wiederholt. Rückfalle  + 9,1%
  Schwerer Diebstahl + 29,3%
  Schwerer Diebstahl im Rückfalle + 22,9%
  Unterschlagung + 26,9%
  Raub usw. + 27,3%
  Erpressung + 70,6%
  Einfache Hehlereien + 28,6%
  Betrug im Rückfalle + 38,8%
  Urkundenfälschung + 46,9%
  Sachbeschädigung + 37,5%
  Vorsätzliche Brandstiftung + 4,0%
  Fahrlässige Brandstiftung + 34,5%

Die Kriminalität unserer Jugend ist mithin stetig ungünstiger geworden.

Den Störungen des gesellschaftlichen Friedens durch die Verbrecher stehen zur Seite die Lohnkämpfe der Arbeiter mit ihren „Angriffstreiks“, „Abwehrstreiks“, Aussperrungen, Streikposten, Kämpfen gegen die Arbeitswilligen usw. Nach dem „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ forderte die Streikbewegung in Deutschland innerhalb der letzten sechs Jahre:

  Verlust an
Arbeitszeit:
Verlust an
Arbeitsverd.:
Zahl der Zu-
sammen
   Aus-
 ständig: 
 Aus-
 gesp.: 
1900 1'223'702 Tage 4'412'850 Mk. 121'803 9'385 131'888
1901  1'194'553 " 3'997'082 " 55'262 5'414 60'676
1902  965'317 " 3'759'350 " 53'912 10'305 56'217
1903  2'622'232 " 7'675'937 " 85'603 35'273 120'876
1904  2'120'145 " 7'825'369 " 113'480 23'760 137'240
1905  7'362'902 " 28'869'200 " 408'145 118'665 526'810

Buchseite 237 Die Baraufwendungen der Arbeiterorganisationen für diese Kriegsführung waren nach der gleichen Quelle:

1895 = 424'231 Mark
1900 = 2'936'030 "
1905 = 10'933'724 "

Das „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften“ bemerkt hierzu wörtlich: „Dennoch waren die Kämpfe des Jahres 1905 nur ein Vorpostengefecht eines seiner Entwicklung entgegengehenden grossen schweren Kampfes. Das Proletariat muss noch gewaltige Opfer bringen, um bereit zu sein. Wir müssen die strategischen Bewegungen unserer Gegner, der Unternehmerorganisationen, genau beobachten und unsere Massnahmen danach einrichten. Wir stehen dauernd im Kampfe“. Inzwischen haben sich die persönlichen Beziehungen zwischen den Unternehmern und Arbeitern wesentlich verschlechtert und die Unternehmerorganisationen machen solche Fortschritte, dass sie binnen wenigen Jahren jeder Streikbewegung der Arbeiter unbedingt gewachsen zu sein hoffen. Das alles spielt sich täglich vor den Augen der Staatsgewalt ab, welche zumeist die Rolle des ganz unbeteiligten Zuschauers übernimmt. Aber es handelt sich hier in Wahrheit doch um nichts anderes, als um einen fortwährend sich verschärfenden Bürgerkrieg, wie das neuerdings auch von so hervorragenden Fachleuten, wie Geheimrat Dr. Zacher und Nicholas P. Gilman ausgesprochen wurde.

Damit in diesem Bilde der wachsenden Friedensstörungen auch die Unruhen auf dem Lande nicht fehlen, sei aus neuester Zeit an die Bauernaufstände in Rumänien, Bessarabien, Russland und Frankreich erinnert. Dazu kommen die fast ständigen Agrarrevolten in Ungarn, Italien und Spanien, die allerdings mehr den Charakter von Lohnbewegungen der ländlichen Arbeiter tragen.

Buchseite 238 Den wachsenden gährenden Friedensstörungen entspricht eine stetige Ausbreitung der politischen Partei der Unzufriedenen, der Sozialdemokratie. Bei den deutschen Reichstagswahlen wurden sozialdemokratische Stimmen gezählt:

1871  :  101'927,
1874  :  351'670,
1877  :  493'447,
1878  :  437'158,
1881  :  311'961,
1884  :  549'990,
1887  :  763'128,
1890  :  1'427'298,
1893  :  1'786'738,
1898  :  2'107'076,
1903  :  3'010'771,
1907  :  3'259'020.

Die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten im deutschen Reichstage war:

1871 : 1,
1881 : 12,
1890 : 35,
1898 : 56,
1903 : 81,
1907 : 43.

Die „rote Internationale“ fasst in ihrem vorbereitenden Bericht für den Stuttgarter Sozialistenkongress 1905 durch den belgischen Sozialisten Vandervelde ihre Fortschritte während der letzten Jahre in folgende Ziffern: In Frankreich gehören dem Parlamente 52 Sozialisten an. In England sitzen im Unterhause 50 Handarbeiter, von denen 29 sich der Arbeiterpartei zuzählen. In Belgien stieg die Zahl der Abgeordneten der Arbeiterpartei von 28 auf 30 unter 166 Mitgliedern, in Buchseite 239 Dänemark von 16 auf 28 unter 114 Mitgliedern, in Schweden von 4 auf 15, in Norwegen von 3 auf 10. Endlich hat in jenen Ländern, wo die Arbeiterklasse zum ersten Male Gelegenheit hatte, zum Parlament zu wählen, nämlich in Finnland, Russland und Oesterreich, der Sozialismus sofort einen stärkeren Anteil an der Volksvertretung errungen, als in jedem anderen Lande. In Italien, der Schweiz und Deutschland ist zwar auch die Zahl der sozialistischen Stimmen weiter gewachsen, aber die Zahl der Gewählten ist gesunken. Wer will angesichts der fast allgemeinen Verschlimmerung der Krankheitssymptome am Volkskörper ernstlich behaupten, dass durch diese wenigen „besseren“ Wahlen aus letzter Zeit ein innerer Gesundungsprozess schon eingeleitet worden wäre?



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