Was ist ein Agrarier
im wissenschaftlichen Sinne ?
Freihändler behaupten vielfach: ein Agrarier sei
ein Schutzzöllner. Es mag sein, daß diese
Freihändler wünschten, dem wäre so. Dann
würde ihr Kampf gegen die Agrarier wesentlich
leichter sein. Aber schon ein kurzes Nachdenken
lässt erkennen, daß doch das alte System des
Freihandels noch um vieles mehr bedeutet, als nur den
zollfreien Handel über die Staatsgrenzen. Der
Freihandel fordert freies Handeln für jeden nach
Maßgabe seiner Privatinteressen auf allen Gebieten.
Der Freihändler im wissenschaftlichen Sinne ist
deshalb prinzipieller Individualist. Das freie Individuum
gestaltet sich nach dieser Auffassung alles nach seinem
Belieben, sogar auch seinen Gottesbegriff. Und von dieser
unterschiedslosen freien egoistischen Betätigung
erwartet der freihändlerische Glaube die beste
Harmonie aller Interessen. Wenn aber der Freihandel eine
solch systematische Weltanschauung vertritt, dann
müssen doch auch die prinzipiellen Gegner des
Freihandels, die „Agrarier“ mehr vertreten,
als nur die Forderung eines Zolles an den
Staatsgrenzen.
Diese Vermutung findet durch folgende Tatsachen ihre
Bestätigung: Vom Fürsten von Bismarck, dem
ersten Kanzler des Deutschen Reiches, ist uns der
Ausspruch erhalten: „Ich weiß, daß die
vorgeschlagene Zollerhöhung die Frage der Erhaltung
des Bauernstandes nicht lösen wird, aber ich habe
bis jetzt noch niemand gefunden, der mir ein besseres
Mittel hätte vorschlagen können!“
(Ruhland: System der politischen Oekonomie, Bd. I, S.
35.) Hier bezeichnet Fürst Bismarck ganz
deutlich die Zölle als unzureichenden Inhalt der
agrarischen Bewegung.
Als der Geheimrat und Universitätsprofessor Dr.
Riesser seine Eröffnungsrede bei Gründung des
neuen Hansabundes im Zirkus Schumann hielt, da hatte er
das Bedürfnis, Hansabund und agrarische Bewegung
nach ihrem tieferen prinzipiellen Inhalte zu formulieren.
Und das tat Riesser unter ausdrücklicher Bezugnahme
auf Ruhlands „System“ etwa mit den Worten:
„Zurück von der ganzen Richtung des modernen
Liberalismus zu dem nationalen geschlossenen Agrar- und
Polizeistaat!“ Der Hansabund aber, dessen
Lebensinteresse die freie Bewegung und der freie Verkehr,
dessen Lebensbedingungen der mit allen Staaten der Welt
in freiem Wettbewerb stehende Rechts- und
Verfassungsstaat ist, kennt nur die Parole:
„Vorwärts auf diesem
Wege!“ In diesen Worten liegt offenbar mehr, als
nur die Unterscheidung „Schutzzölle —
oder keine!“ Die Unterscheidung lautet vielmehr
nach Riesser: hier immer weiter im freien liberalen
Verfassungs- und Rechtsstaat — und dort zurück
zu dem national gebundenen und geschlossenen Agrar- und
Polizeistaat! — Aber Riesser hat sich bei dieser
Formulierung geirrt. Den „geschlossenen
Agrarstaat“ will niemand. Und der alte
„Polizeistaat“ war eine Organisation des
Volkes im Interesse des absoluten Fürsten. Die
agrarische Bewegung aber will — wissenschaftlich
gesprochen — eine neuzeitliche Organisation des
ganzen Volkes auf der Basis einer besseren idealeren
Gerechtigkeit!
Diese ganz andere Formulierung dessen, was ein
Agrarier im wissenschaftlichen Sinne ist, bietet sich an
Hand der Schriften von Professor Dr. Gustav Ruhland, die
unser Verlag von fünf verschiedenen
Verlagsbuchhandlungen — H. Laupp’sche
Buchhandlung in Tübingen, Paul Parey in Berlin,
Ernst Hofmann & Co. Berlin, Wilhelm Issleib in Berlin
und Puttkammer & Mühlbrecht in Berlin —
zusammen erworben, um diese Veröffentlichungen allen
Interessenten leichter zugänglich zu machen.
Ruhland gehört zu jenen vereinzelten
Nationalökonomen, die ihre Schriften in der
Hauptsache nicht aus Büchern Anderer, sondern aus
Selbsterlebtem schöpfen. Für den
Entwicklungsgang seiner Ideen lassen sich deshalb drei
Perioden unterscheiden:
- bis zum Besuch der Universität (1886),
- die Verarbeitung der Studien seiner Weltreise
(1893/95) und
- seit seinem Eintritt in den Bund der Landwirte als
„wissenschaftlicher Berater“ (von 1895 ab)
und damit in eine Tätigkeit, welche die Vorteile
der innigsten Berührung mit der praktischen
Politik der Gegenwart gewährleistete.
In der ersten Periode verarbeitet der Bauernsohn
Ruhland seine Erfahrungen bei den Versuchen, sich als
Landwirt selbständig zu machen. Seine
Erstlingsschrift:
1. „Agrarpolitische Versuche vom Standpunkt der
Sozialpolitik“ (1882/83 erschienen 168 S.) zeigen
ihn sofort als prinzipiellen Gegner des Freihandels. Er
schließt sich der organischen Auffassung der
Volkswirtschaft an, wie sie schon Plato und Aristoteles
und nach ihnen alle großen Denker der folgenden
Jahrtausende bis auf Trendelenburg und
Albert Schäffle vertreten haben. Unus homo nullus
homo! Deshalb erklärt es Ruhland von Anfang an als
irrig, den einzelnen Landwirt aus seinem sozialen Milieu
heraus zu reißen und in seiner Isoliertheit
politisch zu betrachten. Innerhalb dieses sozialen Milieu
aber zwingt nach Ruhland der herrschende
freihändlerische Geist unserer Gesetze den einzelnen
Landwirt in bäuerlichen Gegenden zur Ueberzahlung
seiner Grundstücke und zur Ueberschuldung derselben.
Nicht der einzelne Landwirt, sondern der
freihändlerische Geist der geltenden Gesetze ist
deshalb für die zu hohen Grundpreise und die zu
hohen Grundschulden verantwortlich zu machen. Und die
rechte Abhilfe kann nur darin bestehen, daß dieser
soziale Irrtum der Freihandelslehre beseitigt wird durch
eine öffentlich rechtliche Organisation des Marktes
der landwirtschaftlichen Grundstücke wie durch eine
öffentlich rechtliche Organisation des
landwirtschaftlichen Kredits. Nur so könnte die
beste Bewegung der Grundbesitzverteilung gesichert und
ein schuldenfreier Bauernstand in absehbarer Zukunft
erreicht werden. Das alles ruhte auf seinem neuen
Wertbegriff: dem Buch- oder Sachwert „unter
Brüdern“. Und damit war der konstruktive
Ausgangspunkt für ein neues System der politischen
Oekonomie schon gefunden, das sofort in der Lehre von dem
Arbeitseinkommen der selbständigen Landwirte als
„volkswirtschaftlicher Lohnregulator“ seinen
markanten Ausdruck fand. So das Erstlingsbuch von
Ruhland, das ohne jede Universitätsbildung hinter
dem Pflug und der Sense entstanden war.
Kein Geringerer als Minister Albert Schäffle
veranlaßte die Veröffentlichung dieser
Erstlingsarbeit und nannte sie in seiner bald darauf
erschienenen „Inkorporation des
Hypothekarkredits“ (1883) (S. 11, Anm. 2)
„grossgedachte und weitblickende
Abhandlungen“. Schäffle selbst akzeptierte in
dieser seiner „Inkorporation“ die Forderungen
einer öffentlich rechtlichen Organisation des
Grundmarktes (S. 35) wie der Grundverschuldung.
Schäffle akzeptierte ferner den Gedanken, daß
der naturgemäße Arbeitslohn nur bei dem
Vollarbeiter, der zugleich Eigentümer seiner
Produktionsmittel ist, erkannt werden könne (S.
71).
Ruhland schrieb jetzt vor seinem Besuch der
Universität noch:
2. „Das natürliche Wertverhältnis des
landwirtschaftlichen Grundbesitzes in seiner agrarischen
und sozialen Bedeutung“ (1885, 156 Seiten) eine
mehr philosophische Begründung seiner Wertlehre, die
Minister Buchenberger als „die beste Schrift dieser
Art in unserer Literatur“ bezeichnete und
als Bericht einer Kommission, der auch Schäffle und
Buchenberger angehörten:
3. „Die Lösung der landwirtschaftlichen
Kreditfrage im System der agrarischen Reform“ 1886.
— Dieser dritten Schrift widmete Schäffle in
der Beilage der „Münchner Allgemeinen
Zeitung“ zwei Leitartikel, von welchem der
einleitende Absatz (28. Mai 1886) wie folgt lautet:
„Eine Kommission hat die landw. Kreditfrage
vorzubereiten gehabt. Dieser Arbeit verdankt man eine
Schrift von Ruhland, die wie keine zweite geeignet ist,
über den ganzen Umfang der schwebenden Agrarfragen
und Agraragitationen Jedermann eine Fülle von
Aufklärung und vollständige Orientierung zu
geben. Durchaus gemeinverständlich, dabei knapp,
gleichwohl schön geschrieben und leicht zu lesen,
schneidig in der Sache, maßvoll und niemals
verletzend in der Form, ohne Furcht vor Vorurteilen, die
hüben und drüben walten, ohne Wohldienerei
gegen die landläufigen Parteischlagworte und gegen
die volkstümlichen Glücksverheißungen,
verdient die Schrift die allgemeinste Beachtung,
besonders die Beachtung der praktischen Politiker, der
Staatsmänner und Gesetzgeber und die volle Beachtung
der Tagespresse. Nirgends ist für die neuesten
Agrarfragen auf so engem Raume so viel Material so
unparteiisch wie scharfsinnig dargestellt und beurteilt,
so gründlich und so unpersönlich den
einseitigen Standpunkten und egoistischen
Klassenbestrebungen heimgeleuchtet, wie in der
vorliegenden nur 160 Seiten fassenden
Broschüre.“
Während der Universitätsjahre Ruhlands war
zu der nordamerikanischen und russischen Konkurrenz rasch
diejenige der unteren Donauländer, sowie die
ostindische und australische Konkurrenz noch
hinzugekommen. Die Preise der landwirtschaftlichen
Produkte sind damit immer tiefer gefallen. Das agrarische
Problem war nicht mehr nur ein Problem der
öffentlich-rechtlichen Ordnung des
Grundstückverkehrs und des landwirtschaftlichen
Kredits, es war auch ein Problem der Preisbildung der
landwirtschaftlichen Produkte geworden. Um diese neue
Seite der Agrarfrage kennen zu lernen, war vor allem
genaue Kenntnis dieser auswärtigen
Konkurrenzländer erforderlich. Deshalb waren
Ruhlands Universitätsjahre hauptsächlich der
Vorbereitung dieser Weltstudienreise gewidmet, wozu der
Reichskanzler Fürst Bismarck ihm ein
Reichsstipendium gewährte. Die erste Verarbeitung
dieser Studien findet sich niedergelegt, in
4. Ruhlands Habilitationsrede an der
Universität Zürich über „die
Grundprinzipien aktueller Agrarpolitik“ vom 4.
August 1893 (20 Seiten). In dieser Rede heißt es
vor allem: „Die agrarpolitischen Ideen des
Freihandels und der internationalen Arbeitsteilung
gehören vielleicht zu den gefährlichsten
Irrtümern, die der menschliche Geist je geboren (S.
8). Es gibt keine Ueberproduktion in Getreide und es gibt
noch weniger auf der ganzen Welt ein Agrarland, das die
Absicht hätte, dauernd seine Ueberschüsse an
landwirtschaftlichen Produkten an die
mitteleuropäischen Industriestaaten gegen
industrielle Produkte auszutauschen. Es ist deshalb ein
geradezu verhängnisvoller Irrtum, politisch den Weg
des industriellen Reichtums zu betreten mit dem Glauben,
die Interessen der getreidebauenden Landwirte missachten
zu können (S. 9). Jedes höher
entwickelte Kulturland muß seine Brotversorgung im
eigenen Lande unter allen Umständen zu erhalten
suchen. Dazu bedarf es einer neuzeitlichen Ordnung
des Getreideverkehrs und einer Beseitigung des
Freihandels im Grundstücksverkehr wie im
Grundkreditwesen. Einstweilen aber ist, bis zu diesen
Reformen der Getreideschutzzoll noch unbedingt
beizubehalten (S. 12).
Die gleichen Ideen wurden noch umfassender
ausgeführt in seinem
5. „Leitfaden zur Einführung in das Studium
der Agrarpolitik“ (61 Seiten), 1894, der
gleichzeitig auch eine motivierte Ablehnung der Theorien
des Sozialismus enthält.
Im Sommer 1894 lernte Ruhland durch einen Zufall die
nationalökonomischen Theorien der ersten Theologen
des Mittelalters kennen und fand darin zu seiner Freude
eine Bestätigung seines Wertbegriffes (Sach- oder
Buchwert) und seiner organischen Auffassung der
Volkswirtschaft. Beides schien den modernen Theologen
verloren gegangen zu sein. Um darauf die Theologen
aufmerksam zu machen, schrieb Ruhland die kleine Schrift
(87 Seiten):
6. „Die Wirtschaftspolitik des
Vaterunser“, welche nach einer Kritik im
„Deutschen Reichsanzeiger“ eine Verschmelzung
des echt christlichen Geistes mit dem
nationalökonomischen Denken bedeutet. Der Mangel
solcher Aeußerungen in unserer Literatur ist erst
noch auf dem jüngsten Evangelisch-Sozialen Kongress
zu Heilbronn bitter beklagt worden.
Im Oktober 1894 trat Ruhland zu dem Bund der Landwirte
in engere Beziehungen als „wissenschaftlicher
Berater“. In seiner Habilitationsrede vom 4. August
1893 hatte er der Ueberzeugung Ausdruck verliehen,
daß die auswärtige Getreidekonkurrenz eine nur
vorübergehende Erscheinung sei. In seinem Leitfaden
hieß es: „Die Getreideernte der Erde ist auf
dem besten Wege, unter den Getreidebedarf der Völker
herabzusinken.“ Und gerade jetzt, in den Jahren
1894 und 1895 war der Getreidepreis durch die neueste
argentinische Konkurrenz auf einen so unerhörten
Tiefpunkt herabgedrückt worden, daß selbst
Landwirte, welche einen ganz schuldenfreien Grundbesitz
ihr Eigen nannten, bei einem Andauern dieser Preislage zu
verarmen drohten. Was war die Ursache? Eine
internationale Ueberproduktion in Getreide war auch jetzt
nicht nachweisbar. Das wurde auf dem ersten
internationalen Agrarkongress in Budapest (September
1896) von allen Seiten bestätigt. Zur Erforschung
dieser ungemein wichtigen Frage wollte Ruhland eine
internationale Aufklärungsvereinigung der Landwirte
aller Länder zustande bringen. Von Berlin aus
versagte dieser Versuch. Besser ging es von Freiburg in
der Schweiz aus. So kam die Getreidepreiswarte zu
Freiburg in der Schweiz (1898) zustande, welche im Sommer
1900 zu einer internationalen landwirtschaftlichen
Vereinigung in Paris führte, eine Fachzeitschrift
zur Information über den Getreidemarkt in deutscher,
französischer und englischer Sprache erscheinen
ließ, auf Grund von Korrespondenten in den
wichtigsten Weltteilen und unter Mithilfe von
tüchtigen Hilfsarbeitern im Zentralbureau. Die sehr
erheblichen Kosten dieser Getreidepreiswarte mit ihren
täglichen Beobachtungen der wichtigsten
Getreidemärkte wurden zunächst namentlich vom
Bund der Landwirte, ferner vom Kanton Freiburg (Schweiz),
von der Organisation der französischen Landwirte
usw. aufgebracht. Als später nur noch die deutsche
Zeitschrift übrig geblieben war und die
Uebersiedlung dieser Preiswarte nach Berlin erfolgte,
wurde dieses Institut lediglich vom Bund der Landwirte,
bezw. aus Bundeskreisen unterhalten. Und die Antwort auf
die gestellte Frage lautete:
„Die argentinische Konkurrenz ist in
besonderem Maße das Resultat der Oberleitung des
Unternehmergeistes der Nationen durch die
Großbanken, wobei alle Beteiligte schwere Verluste
zu tragen hatten und nur die Banken reiche Gewinne
einheimsten. Auf diese Tätigkeit der internationalen
Gründerbanken führt sich die ganze Erscheinung
der internationalen landwirtschaftlichen Konkurrenz seit
1856/7 zurück.“
Das wurde zunächst an der Hand von
Spezialforschungen der Getreidepreiswarte in deren
Fachorgan erwiesen, die zum Teil zusammengefaßt
wurden in der Schrift:
7. „Die internationale landwirtschaftlichen
Konkurrenz ein kapitalistisches Problem“ 1901 (58
Seiten). Die wirkliche Beseitigung dieses schweren
Mißstandes gelingt nur mit der Beseitigung des
Freihandels im Gold-, Geld- und Kreditverkehr durch
öffentlich-rechtliche Organisationen. Die zweite
Ruhland’sche Schrift dieser Art, welche speziell
darauf berechnet war, die öffentlich-rechtliche
Organisation des Getreideverkehrs vorzubereiten, ist
8. „Die Lehre von der Preisbildung für
Getreide“ (179 Seiten) 1904, ein Buch, das
inzwischen in italienischer, französischer,
ungarischer und russischer Uebersetzung erschienen ist,
und zwar ist die russische Uebersetzung von Alexander
Wolkoff, Geschäftsführer des allrussischen
Getreidemüllerverbandes und der Petersburger
Getreidebörse. In Deutschland wurde auch dieses Buch
von der nicht agrarischen Presse systematisch
totgeschwiegen oder verhöhnt.
9. Endlich ist in den Jahren 1902 bis 1908 das
dreibändige „System der politischen
Oekonomie“ von Ruhland erschienen, von dem Minister
Buchenberger nach dem Erscheinen des 1. Bandes gesagt
hatte: es werde nie fertig werden, weil es zu gross
angelegt sei.
Faßt man nach den Resultaten dieser mehr als
26jährigen Forscherarbeit Ruhlands die Antwort auf
die Frage: was ist ein Agrarier im wissenschaftlichen
Sinne? zusammen, so lauten diese wie folgt:
„Der herrschende freihändlerische Geist
unserer Gesetzgebung führt deutlich sichtbar zur
plutokratischen Entwicklung auch in Deutschland.
Nordamerika wirft in dieser Richtung seine Schatten
voraus. Der selbständige Mittelstand in Stadt und
Land droht mehr und mehr vernichtet zu werden. Damit wird
unser liberaler Rechtsstaat zu einer inneren Unwahrheit.
Wenn wir also nicht Schrittmacher der Sozialdemokratie
werden wollen, muss endlich an die Stelle des
herrschenden „Individualismus“ die
„organische“ Auffassung jedes Einzelnen wie
der ganzen Volkswirtschaft treten. Wir arbeiten alle mit
anvertrauten Gütern und mit den produktiven
Kräften der sozialen Arbeitsgemeinschaft. Deshalb
ist jede Art des wirtschaftlichen Erwerbs ein
quasi–Amt, das die egoistischen Privatinteressen
den dauernden Interessen der Gesamtheit unbedingt
unterordnen und eingliedern muss! Unseren grösseren
politischen Freiheiten für jeden Staatsbürger
kann nur eine konsequente echte Mittelstandspolitik in
Stadt und Land entsprechen, welche zu den Rechten des
Einzelnen das Prinzip der ökonomischen
Selbstverantwortlichkeit in möglichst zahlreichen
Fällen gesellt. Ein wachsendes Proletariat auf der
einen und wenige Plutokraten auf der anderen Seite, wie
sie die heutige Entwicklungstendenz zeitigt, hat noch
immer zum Verderben der Völker geführt.
Mit der grösseren Zahl der selbständigen
Mittelstandsleute aber verknüpft sich notwendiger
Weise die Forderung einer neuzeitlichen Organisation der
ganzen Volkswirtschaft nach Zentralisation wie
Dezentralisation, um die höchst möglichen
Leistungen zu erzielen und Krisen in aller Zukunft zu
verhüten. Die Art von volkswirtschaftlicher
Organisation, die wir heute besitzen, ist eine
kapitalistisch-plutokratische, die uns nach immer 7 bis 9
Jahren eine grosse allgemeine Krisis in der
Volkswirtschaft bescheert, die Kapitalisten unmässig
bereichert und den Fortschritt auf die Dauer hemmt. Wir
brauchen deshalb eine Beseitigung dieser kapitalistischen
Organisation unserer Volkswirtschaft durch eine
wesentlich idealere Organisation, die von einer wahrhaft
sozialen Auffassung in Rechten und Pflichten getragen
wird und nach möglichster harmonischer Entfaltung
aller Glieder des Volkes strebt.“
Wer diese politische Auffassung für Gegenwart und
Zukunft vertreten will, ist ein Agrarier im
wissenschaftlichen Sinne.
Die agrarische Parole heisst deshalb nicht
„Rückwärts zum Polizeistaat“,
sondern „Vorwärts zu einer ganz modernen
sozialen Gesetzgebung für das ganze Volk“
statt, wie bisher nur für die Arbeiterklasse, was
nach organischer Auffassung ein Unding ist!
Wer — Freund oder Feind — über diese
wissenschaftliche Auffassung der Agrarbewegung besser
orientiert sein will, als es heute die grosse Mehrzahl
der Tageszeitungen mit den anerkannten
nationalökonomischen Lehrbüchern
ermöglichen, der lese die Schriften von Professor
Ruhland.
…