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Gustav Ruhland

Über die Grundprinzipien aktueller
Agrarpolitik.

Vortrag

gehalten vor der
staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich
zur Erlangung der
venia legendi

Titelblatt der Erstausgabe von 1893     ⇓


Titelblatt der Erstausgabe       





Widmung     ⇓


Widmung       


Herrn Dr. Georg Ratzinger

zur Erinnerung

an unser zehnjähriges Kämpfen für die Durchführung
einer zeitgemäßen Agrarreform

freundschaftlichst gewidmet.



 

Buchseite 5 Meine Herren !

Die Agrarfrage, wie sie seit Ende der 70er Jahre in die politische Bewegung eingetreten ist, entspringt nach allgemeiner Annahme einer Notlage der Landwirte. Der Rückgang der Preise hat es bedingt, daß die Produktionskosten nicht mehr zurückerstattet wurden. Deshalb die Zunahme der Verschuldung und der Vergantungen.

Zur Beseitigung des Notstandes verlangt man: Schutzzölle, Minderung der Steuern und Umlagen, Übernahme der Hypotheken durch den Staat, Rückkehr zur Doppelwährung, Änderung der Eisenbahntarifpolitik u. drgl. m. Man erkennt sofort: hier ist der notleidende Landwirt Mittelpunkt sowohl der pathologischen wie therapeutischen Erwägungen. Auf seine Bedürfnisse sind die einzelnen Programmpunkte ausschließlich zugeschnitten. Und soweit damit in der That die Interessen der Industrie, des Handels und der Arbeiter bedroht sind, erwächst naturgemäß aus diesen Kreisen eine scharfe Opposition. Der Staat hat sich deshalb nur zur Einführung von Schutzzöllen, zu Konzessionen in der Eisenbahntarifpolitik und zu einigen Steuerreformen verstehen können. In der Hauptsache — und darüber kann niemand im Zweifel sein — ist die Agrarfrage heute sowenig gelöst, wie im Jahre 1879.

Und warum?

M. H.! ich zögere nicht, darauf in ganz bestimmter Weise zu antworten, indem ich sage: weil die Grundprinzipien, nach Buchseite 6 denen man die Agrarfrage beurteilt und Agrarpolitik treibt, m. E. falsch sind. Zur Begründung dieses Satzes bietet sich gerade jetzt ein vortreffliches Beispiel.

Die anhaltende Dürre im heurigen Frühjahre bis in den Sommer hinein hat in großen Teilen Mitteleuropas eine Futter und Streunot erzeugt. Sofort haben die beteiligten Regierungen energisch eingegriffen: die Eisenbahntarife für Futter- und Streumittel herabgesetzt, Futter- und Streuankäufe von staatswegen vermittelt, Staatsgelder flüssig gemacht, um notleidenden Landwirten unverzinsliche Darlehen zu gewähren, die Staatsforsten umfassend zur Verfügung gestellt u. s. w. Und all’ das geschah ohne jede Opposition und im vorhinein mit der Überzeugung, daß die gewählten Mittel ihre Wirkung nicht verfehlen. Wenn im nächsten Jahre sich eine gute Futterernte einstellt, ist bald alles wieder vernarbt und vergessen.

Das der Verlauf eines landwirtschaftlichen Notstandes. Und wie grundverschieden hiervon unsere agrarische Bewegung!

Hier bei allseitger Zustimmung des Volkes ein zielbewußtes, rasches und energisches Eingreifen der Staatsregierung — dort eine tiefgehende leidenschaftliche Agitation, die zersetzend wirkt bis auf’s Mark, die alten großen politischen Parteien zerstört und die Regierungen in der Hauptsache ratlos findet. Hier eine literarische Bewegung, die sich in kleinen technischen Arbeiten erschöpft — dort eine fast unübersehbare Fülle von Literatur, die heute noch in immer breiterem Strome dahinfließt, immer neue Gegensätze erzeugt und immer häufiger in die traurige Resignation ausklingt, daß man ins Unvermeidliche sich zu fügen habe. Und diese beiden Bewegungen sollten wirklich in Natur und Wesen einander gleich und nur quantitativ unterschieden sein?

Nein! m. H. ! hundertmal nein ! Die Agrarfrage hat ihrer wahren Natur nach mit einem spezifisch landwirtschaftlichen Buchseite 7 Notstande recht wenig gemein. Es ist deshalb m. E. unrichtig, den notleidenden Landwirt zum Mittel- und Ausgangspunkt der aktuellen Agrarpolitik zu machen. Das eigentliche agrarische Übel ist keine nur lokale Erkrankung, der durch kleine Hausmittelchen beizukommen wäre. Das agrarische Übel ist eine konstitutionelle Krankheit des sozialen Körpers, tiefgreifend wie die Bewegung, die sie erzeugte und in ihrem Verlauf über Sein und Nichtsein ganz unbedingt entscheidend. Die eigentliche Agrarfrage ist eine Frage grundlegender sozialer Organisation, die ich erst dann begreife, wenn ich einen Standpunkt einzunehmen weiß, von dem aus ich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unseres Volkes gleich gut überschaue und so die labyrinthischen Gänge des Irrtums von der Wahrheit zu scheiden weiß. Und welches ist dieser Standpunkt? M. H. ! ich glaube, darauf kann es nur eine Antwort geben und diese lautet: die eigentliche Agrarfrage ist die Frage nach der Funktion von Grund und Boden im Leben des Volkes.

Als die Germanen zur Zeit der Völkerwanderung ihre alte Heimat verließen und westwärts zogen, da war der Ruf nach „Land“ Losung und Feldgeschrei m. a. W. der Hunger war es, der jene gewaltige Völkerbewegung beherrschte und „Brod für das Volk“ das Ziel, dem sie entgegenstrebte. Die gesellschaftliche Organisation, wie wir sie später dann bei ihnen kennen lernen, hat dieser Brodversorgung Aller im Ganzen bekanntlich in vorzüglicher Weise Rechnung getragen. Und auch die Staaten, wie sie im Laufe der Geschichte sich politisch herausgebildet, hielten an dem Grundsatze fest, daß der Jahresbrodbedarf des Volkes durch die Jahresernte des Landes gedeckt werden müsse. War dies einmal nicht der Fall, so wurde das allgemein als ein großes nationales Unglück betrachtet, das die tiefgehendsten Gefahren für die Gesammtheit in sich trug: den Revolutionen unserer Vergangenheit waren immer Mißernten mit hohen Getreidepreisen vorausgegangen.

Buchseite 8 Da kommt nun das sechste und siebente Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Durch die gewaltige Entwicklung der Verkehrswege werden die verschiedenen Teile der Erde zu einem wirtschaftlichen Ganzen zusammengeschweißt. Getreide wird in vorher ungeahnten Massen nach den europäischen Konsumtionszentren geworfen. Das Volk erscheint auf einmal in seiner Ernährung von der heimischen Landwirtschaft emanzipiert. An die Stelle der nationalen Volkswirtschaft tritt die Weltwirtschaft, an die Stelle der alten engherzigen Naturalpolitik der Freihandel. Man kauft sein Getreide, wo es am billigsten ist, gleichviel ob es an der Elbe Strand oder an den Ufern des Missuri oder des Ganges gewachsen. Und wenn die Landwirte dabei ihre Rechnung nicht finden, nun so ist das ihre Sache, den Betrieb entsprechend zu reorganisieren. Der Reichtum ist es, nach dem die Völker streben und England das Land, das uns dabei als Vorbild vor Augen steht.

Ob mit Recht oder Unrecht?

M. H. ! Es sind jetzt reichlich 14 Jahre her, daß ich mich dieser Frage zugewendet habe. Herausgewachsen aus bäuerlichen Kreisen, war ich 7 Jahre hindurch in Deutschland und Österreich in der kleinen und großen Praxis als Landwirt thätig, habe nach Beendigung meiner wissenschaftlichen Studien England bereist und Indien, war in Rußland, Australien, Nordamerika und den Donauländern und habe unterwegs mit mehr als 1000 Fachleuten über alle hiemit zusammenhängenden Fragen gesprochen. Und jetzt — da ich damit beschäftigt bin, in dickleibigen Bänden das Alles geordnet niederzulegen, jetzt komme ich zu der Überzeugung, daß die agrarpolitischen Ideen von dem Freihandel und der Weltwirtschaft vielleicht zu den gefährlichsten Irrtümern gehören, die der menschliche Geist je geboren.

Es ist nichts als Irrtum, sich die industrielle Ausfuhrent-Buchseite 9wicklung Englands zum Muster zu nehmen, denn die Vorausetzung hierzu ist nicht gegeben. Die heute noch überwiegend ackerbautreibenden Staaten verzichten ausgesprochenermaßen auf die hiermit beabsichtigte internationale Arbeitsteilung und mit einer Energie, die an Rücksichtslosigkeit nichts zu wünschen übrig läßt, emanzipieren sie sich bereits von der europäischen Industrie. Es ist aber ein geradezu verhängnisvoller Irrtum, diesen Weg des industriellen Reichtums zu betreten mit dem Glauben, die Interessen der getreidebauenden Landwirte mißachten zu können, weil heute die auswärtige Konkurrenz Brodgetreide in genügenden Massen liefert; denn diese heutige auswärtige Konkurrenz im Getreidebau ist eine sehr vorübergehende Erscheinung.

Diese sogenannten „riesigen Getreidemassen auf dem Weltmarkt“ sind in Wirklichkeit unbedeutend genug. Kaum 6% Roggen und 14 % Weizen kommen von der Jahresernte der Erde international zum Austausch. Noch im Jahre 1876 waren nur 4 % Roggen und 8 % Weizen in der Hand des Weltmarkts. In weiteren 15 Jahren kann die Entwicklung wieder bei der gleichen Quantität angelangt sein. Und noch einige Zeit und die Staaten sind in der Versorgung mit Brodgetreide wieder auf sich angewiesen. Die Verschiebung der Verhältnisse auf diesem Punkte ist eine geradezu verblüffend rasche!

Deutschland war ein Getreideexportland und hat noch im Jahre 1872 c. 100,000 Tonnen Weizen mehr ausgeführt. Heute beträgt seine Einfuhr an Weizen und Roggen zusammen 1 1⁄2 Millionen Tonnen. Ungarn war in der ersten Hälfte der 60er Jahre das gefürchtetste Weizenexportland der Welt. Heute liegt eine Arbeit des ungarischen Agrarstatistikers Dr. Pólya vor, wonach mit Ablauf unseres Jahrhunderts die österreich-ungarische Weizenausfuhr als beendet zu betrachten ist. Die ostindische Weizenausfuhr hat mit Anfang der 80er Jahre ihren Höhepunkt Buchseite 10 erreicht und ich werde demnächst umfassend die Gründe darzulegen haben, daß und warum von da ab die Entwicklung langsam aber stetig zurückgehen muß. Für Nordamerika kommt selbst Sering zu dem Resultate, daß die Zukunft entschieden auf eine rückläufige Bewegung der Getreideausfuhrziffer zu rechnen habe. Und auf der ganzen übrigen Welt ist nur für Rußland die Möglichkeit gegeben, eine ganz wesentliche Exportsteigerung eintreten zu lassen. Wenn aber dieses Land eines Tages in der That noch allein über einen größeren Getreideüberschuß verfügt, um welchen Preis wird es denselben den mitteleuropäischen Industriestaaten überlassen? oder — wenn dann Rußland die Ausfuhr sperrt, woher will nachher England vielleicht 8⁄10 seines Brodbedarfs beziehen, wenn seine eigene Landwirtschaft nur mehr 2⁄10 davon liefert? Und wenn es diese 8⁄10 nicht beziehen kann, welche Macht der Erde will dann den Untergang dieses heute so vielbeneideten Englands abwenden? —

Ich kenne sehr wohl die Einwendungen, die man mir auf diesem Punkte entgegenhalten wird. Auf der ganzen Erde sollen, ich weiß nicht wieviel Quadratmeilen gutes Getreideland teils überhaupt noch nicht, teils nur mangelhaft bebaut sein. Ganz richtig! die Entwicklung der wirtschaftlichen Welt ist gewiß noch nicht an ihrem Ende. Wir haben überall und auch in Mitteleuropa noch unübersehbare Reserven vor uns. Das Alles will und kann ich an dieser Stelle nicht bestreiten. Aber — was ich hier mit allem Nachdruck und mit voller Entschiedenheit betonen muß, das ist die Thatsache, daß die heutige Entwicklung in all ihren Linien auf das baldige Verschwinden der auswärtigen Konkurrenz hindeutet. Der Getreidebau wird damit gewiß nicht in seinen Erträgnissen stehen bleiben, aber er wird dem Bedarf nicht mehr vorauseilen. An die Stelle der Konkurrenz der Getreideexportländer wird die Konkurrenz der GeBuchseite 11treideimportländer treten. Es wird nicht mehr so sein, daß zuerst Amerika die heimischen Landwirte und nachher Indien Amerika und endlich Rußland Indien unterbietet, sondern die mitteleuropäischen Industriestaaten werden sich gegenseitig überbieten. Die Initiative des Handels kommt damit aus der Hand des Angebots in die der Nachfrage. Das Alles bedingt natürlich entschieden aufwärts steigende Getreidepreise. Das bedingt aber auch eine tiefgehende politische Gefahr, die für den einzelnen Staat von geradezu vernichtender Wirkung sein kann deshalb, weil Rußland in nicht ferner Zukunft das den Getreidemarkt beherrschende Land sein dürfte.

Ganz offenbar m. H. ! die Selbständigkeit eines Staates ist kein bloß juristischer Begriff. Die Selbstständigkeit eines Staates muß einen wirtschaftlichen Kern umschließen, der der feste Körper ist, um den sich das Imperium schlingt. Und dieser Körper braucht, wie ein gutes Haus, stabile Basis auf Grund und Boden. Eine inproportionale Überwucherung und Ausbreitung der oberen Stockwerke für Industrie und Handel muß, namentlich bei gleichzeitiger Rückbildung des landwirtschaftlichen Parterres, über kurz oder lang unbedingt die Statik durchbrechen und das ganze Gebäude zerstören. Nicht der Reichtum und insbesondere nicht der industrielle Reichtum, sondern die harmonische Entwicklung des Ganzen in Selbständigkeit bewahrt das Glück den Völkern. Und nicht eine einseitige Überwucherung von Industrie und Handel, sondern der gleichmäßige Fortschritt beider mit der Landwirtschaft bildet die eigentliche und höchste Aufgabe aller Wirtschaftspolitik. Für die Einhaltung dieser Harmonie in der Entwicklung aber giebt es nur einen untrüglichen Maßstab: das ist das Verhältnis zwischen Produktion und Bedarf an Brodgetreide. Deshalb m. H.! bin ich der Meinung, daß alle agrarpolitische Weisheit der Menschen nicht über den Buchseite 12 alten einfachen Satz hinauskommen wird: das Land soll in der Regel das Brodgetreide für das Volk bauen.

Die Konsequenzen für die praktische Politik sind aus diesem Grundsatze leicht und einfach abzuleiten, wobei ich der Kürze halber mich auf Deutschland beschränken will.

Der Getreideschutzzoll ist heute noch unbedingt beizubehalten. Dadurch und durch eine entsprechende Eisenbahntarifpolitik wird die heimische Getreideproduktion nach außen geschützt. Sie muß indessen auch gefördert werden, um mit der konsumierenden Bevölkerung harmonisch fortschreitend sich zu entwickeln. Wo Staatsforsten sich auf gutem oder gar vorzüglichem Getreideboden erheben, da soll ein Austausch gemacht werden gegen Flächen, auf denen sich die Landwirte umsonst abmühen, Getreide ohne Verlust zu bauen. Wo Privatgrundbesitzer ihre guten Getreideböden dieser Produktion entziehen, da muß der Staat die Macht haben, den kurzsichtigen Eigensinn des Einzelnen zu brechen. Des weiteren kommen hier namentlich die allgemeinen Fortschritte in Saat, Pflege und Ernte in Betracht, in welcher Richtung der deutschen Landwirtschaftsgesellschaft ungeschmälert das Verdienst gebührt, in geradezu bewundernswerter Weise Wissenschaft und Praxis im Dienste des Vaterlandes vereint zu haben. Unter Leitung unserer besten Fachleute werden systematische Getreideanbauversuche durch ganz Deutschland ausgeführt, um so für jede Gegend die ertragreichste und wertvollste Art zu ermitteln und die Kenntnis ihrer rationellsten Kultur zu verbreiten. Hand in Hand damit geht der Kampf gegen die Getreidekrankheiten, dessen erfolgreiche Durchführung nach Wollny allein schon genügen würde, die Getreidezufuhr nach Deutschland überflüssig zu machen. Und auf dieser Basis endlich erwächst auch die Möglichkeit, den Getreidehandel zeitgemäß zu reorganisieren.

Hier m. H.! stehen wir in der That noch vor einer Buchseite 13 hoffnungsfreudigen Zukunft. Wenn die Politik der mitteleuropäischen Kontinentalstaaten in der angedeuteten Weise energisch einsetzt, dann wird es bald gelingen, nicht nur das Versäumte nachzuholen, sondern auch für fernere Zeiten das richtige Verhältnis zwischen Produktion und Konsum von Brodgetreide zu sichern. Nur ein Hindernis muß gleichzeitig noch hinweggeräumt werden, das drohend und hemmend zugleich den Weg beengt: die Verschuldung des Grundbesitzes. Was nützen die besten technischen Fortschritte, wenn der Bauer kein Betriebskapital hat, sie durchzuführen? Und was nützen Schutz und Förderung der Getreideproduktion, wenn der Landwirt von einer stetig wachsenden Schuldenlast aus seiner Scholle erdrückt wird? Unzweifelhaft m. H.! die Verschuldungsfrage des landwirtschaftlichen Grundbesitzes ist mit der Ernährungsfrage des Volkes auf’s engste verflochten. Sie bildet gewissermaßen den zweiten großen Teil unserer heutigen agrarpolitischen Aufgabe. Und niemand darf glauben, die Agrarfrage erfaßt zu haben, so lange er nicht auch diesen zweiten Teil vollkommen beherrscht und erkannt hat. Und welcher Art ist dieses Verschuldungsproblem? Die Antwort muß auch hier zunächst der herrschenden Auffassung entgegentreten.

Wir alle haben oft den Satz gehört: die auswärtige Konkurrenz sei die Ursache von der Verschuldung des Grundbesitzes. Das ist unrichtig! In Süddeutschland z. B. hatten wir schon Mitte der 20er Jahre eine landwirtschaftliche Kreditkrisis von genau dem gleichen Charakter wie die heutige. Dann war eine zweite Ende der 40er Jahre und endlich eine dritte nach 1866. Ich habe die Verhältnisse von England und Frankreich, von Italien, der Schweiz und Osterreich-Ungarn, von Amerika und Australien auf diesem Punkte miteinander verglichen und ich bin heute in der Lage nachzuweisen, daß auf der ganzen Erde, wo Freiheit des Grundeigentums besteht, genau die gleichen Buchseite 14 landwirtschaftlichen Verschuldungserscheinungen auftreten: die Verschuldungs- und Vergantungsgefahr wächst im umgekehrten Verhältnis zur Besitzgröße, und die Schulden sind zum weitaus überwiegendsten Teile — bis zu 90 % — bei der Wirtschaftsgründung als Restkaufschillinge und Erbschaftsgelder entstanden. In unmittelbarer Verbindung damit steht eine sehr starke Überzahlung des Grundwertes, ein Mangel an Betriebskapital und Kapitalreserve. Und wenn ungünstige äußere Verhältnisse eintreten, dann ist die Krisis da! Die sog. auswärtige Konkurrenz kann deshalb gar nicht Ursache der landwirtschaftlichen Kreditnot sein, weil die Wirkung nicht älter sein kann als die Ursache und auch deshalb, weil sie in den Getreideexportländern mit junger Kultur ebenso scharf vertreten ist, wie in den alten mitteleuropäischen Staaten.

Die landwirtschaftliche Verschuldungsfrage ist ein Problem für sich, das ich hier am Besten vielleicht an der Hand eines typischen Entwicklungsbeispiels erläutern kann.

Ein Landwirt A hat im Jahre 1830 in Mitteldeutschland einen landwirtschaftlichen Besitz, nach den Grundsätzen eines billigen Ertragswertanschlags, für 10,000 erworben. Das Jahreseinkommen für Arbeit und Kapital betrug 1300. Davon entfielen nach dem damals üblichen Lohnsatze 1000 auf das Arbeitseinkommen des Landwirts. Bewirtschaftet wurde das Gut nach den Regeln der alten Dreifelderwirtschaft. Da kommen die bekannten technischen Fortschritte. A macht sich dieselben zu Nutzen. Er geht von der alten Dreifelderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft über. Auf den Wiesen wird Ent- und Bewässerung durchgeführt. Die Viehhaltung wird nach besseren Grundsätzen umgestaltet, sie rückt in das System des Betriebs ein und wird eine gute Einnahmequelle. Schließlich ist auch noch eine Eisenbahn gebaut worden. Käufer melden sich. Und A verkauft im Jahre 1862 an den Landwirt B um einen Preis von 100,000. Das Buchseite 15 Jahreseinkommen des A als Landwirt und Kapitalbesitzer war, in Folge der gesteigerten Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit von 1300 auf 4000 angewachsen. Neben den Ausgaben für Instandhaltung hat A 5000 neu, rationell und dauernd investiert. B konnte nur 50,000 anzahlen. Die Hälfte des Kaufpreises wurde deshalb hypothekarisch sicher gestellt und mit 4 1⁄2 % verzinst.

Es kommen weitere technische Fortschritte namentlich in der Viehzucht, in der Milchwirtschaft und auch im Ackerbau. Die Erträgnisse des Waldes werden zu gesteigerten Preisen abgesetzt. Eine in der Nähe gegründete Zuckerrübenfabrik ermöglicht den Zuckerrübenbau. Die Wirtschaft kommt trotz der hohen Hypothekarbelastung vorwärts. Eine selten günstige Verkaufsgelegenheit bietet sich im Jahre 1873 und B verkauft an den Landwirt C um den Preis von 300,000. Das Jahreseinkommen für Kapital und Arbeit des Landwirts war inzwischen auf 7000 gestiegen. Auch B hatte 5000 neu, rationell und dauernd investiert. Das Barvermögen des C betrug inklusive Mitgift seiner Frau 140,000. Der Restkaufschilling war also mit 160,000 intabuliert worden, die im Ganzen mit 5 % verzinst werden mußten.

Auch C gibt sich redlich Mühe, den Betrieb in der bisherigen intensiven Weise weiter zu führen, aber er hat Unglück: die Geschäfte gehen nicht mehr! Die Dienstboten sind nicht mehr so wie früher. Die Maul- und Klauenseuche kommt wiederholt in seinen Stall. Dazu epidemisches Kälbersterben und schlechte Ernten gegen Ende der 70er Jahre. Die Zuckerfabrik kommt in Konkurs. Der Rückgang der Preise und ein starker Hagelschlag bringen C schließlich im Jahre 1886 von Haus und Hof und Vermögen. Bei der Subhastation wird das Gut vom Eigentümmer der ersten Hypothek für 100,000 erstanden.

Das m. H.! wäre ein typisches Entwicklungsbeispiel, wie ich es seiner Art nach Jedermann überall als zutreffend nachBuchseite 16 zuweisen bereit bin. Und was sagt die herrschende agrarpolitische Auffassung dazu ?

Man sagt: zunächst sei natürlich der Rückgang der Preise an dem Unglück schuld. Bei hohen und höheren Preisen hätte sich der C halten können. Dann sei der Mangel an geeigneten und billigen Versicherungsinstituten verantwortlich zu machen. Ferner fehle es an der Kreditorganisation und an der Konkursordnung. An Stelle der kündbaren Hypotheken sollten unkündbare Rentenbriefe treten und dem Landwirt im Notfalle und wenn die Wucherer ihn bedrängen, eine „Heimstätte“ gesichert bleiben. Auch die modernen Verhältnisse sind mitschuldig, weil sie die Dienstboten verdorben haben. Außerdem hätte der Mann diese und jene Betriebsveränderungen vornehmen müssen und sich in seiner Lebenshaltung mehr einschränken sollen, statt seinen Kummer über den unaufhaltsam fortschreitenden Verlust seines Vermögens beim Wein zeitweilig zu vergessen. Er hatte auch zu teuer gekauft! Und schließlich sind vor Allem die den Landwirten aufgebürdete Steuern und Umlagen viel zu hoch. Man sieht es ja: die Landwirte können sie nicht mehr bezahlen! —

Das etwa nennt man heute die richtige praktische Auffassung der Agrarfrage. M. H.! ich nenne das eine in den Symptomen hängen gebliebene Betrachtungsweise. Das landwirtschaftliche Verschuldungsproblem liegt unendlich viel tiefer. Es reicht hinab bis in die letzte Tiefe jenes großen Gegensatzes, der die ganze moderne wirtschaftliche Welt bewegt, den man immer im Munde führt, wenn es sich um die industrielle Arbeit oder um die Sozialdemokratie handelt, den man aber merkwürdiger Weise sofort vollständig vergessen hat, wenn es sich um agrarische Dinge handelt, trotzdem gerade hier dieser Gegensatz am greifbarsten und augenscheinlichsten ist — ich meine den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit bei fortschreitender ProBuchseite 17duktivität. An der Hand unseres Entwicklungsbeispieles wird das sofort klar sein.

Als A im Jahre 1830 mit der Wirtschaft begann, da war der Kapitalwert des Gutes 10,000, der jährliche Wirtschaftsertrag 1300 und das Arbeitseinkommen 1000. Bis zum Jahre 1873 war in Folge fortschreitender Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit der jährliche Wirtschaftsertrag auf 7000 gestiegen. In Folge guter und dauernder Investitionen war das Kapitalkonto des Gutes um 10,000 erhöht worden, so daß der Buchwert des Hofes im Jahre 1873 mit 20,000 aufscheint. Nach dem Grundsatze von suum cuique berechnet sich deshalb das jährliche Arbeitseinkommen des Landwirts auf 6400. Und wenn C nach diesem Grundsatze den Hof übernommen hätte, so wäre er, bei seinem Vermögen von 140,000 heute noch ein sorgenfreier wohlhabender und unabhängiger Mann, trotz all seines Unglücks und trotz mangelhafter Schutzzölle, und ohne Doppelwährung, ohne staatliche Versicherungsanstalten, ohne Rentenbriefe, ohne Heimstätten und wie diese kleinen Hausmittelchen alle heißen mögen und es wäre ihm zum Lachen, wenn ihm Jemand sagen wollte: „Deine Steuern und Umlagen sind viel zu hoch, die müssen wesentlich erniedrigt und zum Teil auf andere Schultern abgewälzt werden, damit Du existieren kannst!“ —

Aber — unser Wahngebilde von der Freiheit des Grundeigentums will solch glückliche landwirtschaftliche Zustände nicht haben. Deshalb muß der freie Grundmarkt mit der freien Verschuldung dafür Sorge tragen, daß die freie auf eigenem Grund und Boden thätige landwirtschaftliche Arbeit bei jeder Handänderung in ihrem Arbeitseinkommen immer wieder bis unter das Existenzminimum herabgedrückt wird, während der ganze Produktivitätszuwachs kapitalisiert zum Grundpreis geschlagen und mit Hypotheken festgelegt wird. Und diesen so gebildeten Grundpreis, der in der That in Buchseite 18 unserem Beispiel zu 14⁄15 seiner Substanz nichts anderes ist, als „Raub an dem Arbeitsertrag“, nennt dann die herrschende Meinung, mit Hülfe einer unglaublichen Fülle von Theorien, den „Grundwert“. Wenn aber wieder einmal magere Jahre kommen, in denen sich die ausgeraubte landwirtschaftliche Arbeit natürlich ökonomisch widerstandslos zeigt, dann rennt das Volk und läuft zu Hauf’ und betet zu den Göttern, daß sie Regen und Sonnenschein und gute Ernten mit besseren Preise, schicken möchten, denn — vielmehr läßt sich da, nach der Ansicht unserer Politiker, nicht machen!

Wir m. H.! sind anderer Meinung. Wir sind der Meinung, daß sich die Frage der landwirtschaftlichen Kreditnot so gut und sicher lösen läßt, wie irgend eine andere wirtschaftliche Aufgabe. Und diese Lösung ergibt sich ganz von selbst, wenn wir in unser Agrarrecht den so natürlichen Grundsatz einführen: Der freien Arbeit auf eigenem Grund und Boden ungeschmälert ihren Arbeitsertrag als Arbeitslohn.

Verwirklicht wird diese Forderung in folgender Weise: Bei jeder Handänderung von landwirtschaftlichem Grund und Boden bleibt der wahre Wert unbedingt maßgebend. Und dieser wahre Wert deckt sich mit dem Ertragswert nur bei extensivem Betrieb. Bei intensivem Betrieb ist dieser Wert gleich dem ursprünglichen Rentenwert plus des inzwischen rationell und dauernd investierten Kapitals. Handelt es sich nun um einen Erbfall, so wird die Frage nach der Persönlichkeit des Erwerbers erbrechtlich entschieden. Ist es eine freihändige Veräußerung, so bieten sich die einzelnen Bewerber — immer unter Anerkennung des wahren Wertes als Zahlungsverpflichtung — in jenem Betrage ab, den sie aus Eignem bar zu erlegen im Stande sind. Der Bewerber mit dem geringsten Restkaufschilling erhält den Zuschlag. Damit aber das Kapital seinen Raub an dem Arbeitsertrag nicht durch ein Hintertürchen fortsetzen kann, wird Rückenbesitz und Selbstbearbeitung Buchseite 19 gefordert, ferner werden die Hypothekenbücher geschlossen, der Realkredit wird Monopol einer berufsgenossenschaftlichen Zusammengliederung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes — Schäffle’s Inkorporation! — die vorhandenen Hypotheken werden nach bestimmten Grundsätzen übernommen, während der Personalkredit der freien genossenschaftlichen Vereinigung überlassen bleibt.

Ich kenne sehr wohl die Einwendungen, die man auf diese Vorschläge vor allem macht: sie sollen viel zu weitgehend sein und ihnen gegenüber wäre deshalb eine Weiterbildung des bäuerlichen Erb- und Verschuldungsrechts einschließlich des Subhastationsrechts wesentlich vorzuziehen. Die Antwort darauf kann hier recht kurz sein.

Aus den vorausgeschickten Darlegungen geht für jedes unbefangene Urteil klar hervor, daß sich Anerbrechts- und Heimstättegesetze nur charakterisieren lassen als aussichtsloser Versuch, einem absterbenden Körper künstliches Leben einzuhauchen. Soweit aber die Herrn Juristen sich dabei auf das hohe Roß setzen und die hier vertretenen Vorschläge als „Projektenmacherei“ bezeichnen, muß ich erklären, daß ich sie bei dem heutigen Stand der Agrarfrage nicht im Geringsten zum Mitreden als legitimiert betrachten kann. Denn: was ist ein Jurist? Ein Apotheker, bei dem der Sozialpolitiker als Arzt sein Rezept abgiebt, um es nach den Grundsätzen der Arzneimittellehre zusammengestellt zu erhalten. Wenn nun ein Apotheker sich erkühnen würde, einem Arzt in Diagnose und Behandlung eines Kranken d’reinzureden, so würde das überall als eine Ungehörigkeit zurückgewiesen werden. Wenn aber ein Apotheker gar das Rezept gleich selbst schreibt, so wird er in vielen Staaten wegen gemeiner Kurpfuscherei empfindlich bestraft, unter allen Umständen aber bleibt er eventuell wegen Körperverletzung mit nachgefolgtem Tod strafrechtlich haftbar. Was hier für den Apotheker recht ist, ist für den Juristen mindestens billig. Es wäre deshalb besser, wenn sich diese Herren vorläufig ihre Buchseite 20 Mühe und Arbeit ersparen würden bis zu jenem Zeitpunkte, an dem die sozialpolitische Bewegung das Rezept fertig gestellt hat.

Was aber endlich den Vorwurf des Zuweitgehens betrifft, so muß ich ihm gegenüber vor allem auf die Thatsache hinweisen, daß in allen Geschichtsperioden von aufsteigender Entwicklung die Rechtsordnung für landwirtschaftlichen Grund und Boden eine solche von ausgeprägt sittlichem Charakter war. Und wie man gegenüber dem sittlichen Gebote: „Du sollst nicht stehlen!“ nicht etwa sagen kann: „Das geht nicht! das geht zuweit! Gestohlen wird überall! Wir dürfen deshalb dieses Prinzip nicht als solches in unsere Rechtsordnung aufnehmen!“ so werde ich stets die allergeringste abschwächende Konzession rundweg ablehnen, wenn es sich um die Verwirklichung des Grundsatzes handelt: der freien Arbeit auf eigenem Grund und Boden ungeschmälert ihren Arbeitsertrag als Arbeitslohn.

Das m. H.! sind die beiden großen Grundprinzipien aktueller Agrarpolitik: der Arbeit ihren Lohn! und dem Volke sein Brod! Wenn Sie diese politisch durchführen, dann wird die heutige Agrarfrage gelöst sein und wieder Lebensfrische und Sonnenschein herrschen in der Zukunft der Völker. Und in dem Sinne betrachte ich diese beiden Grundprinzipien als den agrarpolitischen Inhalt jenes Gedanken, den der Dichter in die sinnigen Worte gefaßt hat:

„Es sproßt der Stamm der Riesen“
„Aus Bauernmark hervor!“


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