Der freihändlerische Individualismus
und die organische Auffassung der Volkswirtschaft.
I.
Als vor mehr als 30 Jahren der
Reichskanzler Fürst von Bismarck mit der ihm eigenen
titanenhaften Energie den Bruch mit der Freihandelslehre in
der praktischen Politik vollzog, hat er das Schlagwort:
„Schutz der nationalen Arbeit“ geprägt.
Diese Schutzpolitik richtete sich in erster Linie gegen den
internationalen Freihandel und griff zunächst auf den
Grenzzoll zurück. Aus naheliegenden Gründen! Die
Reichsfinanzen brauchten neue Einnahmen. Die wurden am
leichtesten bei dem Güterverkehr über die
Staatsgrenzen erhoben. Die Grenzzölle sind ein uraltes
Mittel der praktischen Politik. Man konnte also bei der
Masse des Volkes an längst bekannte Vorstellungen
anknüpfen. Alles weitere werde sich dann schon —
wie man glaubte — aus dem praktischen Bedürfnis
des Lebens ergeben. Aber Fürst Bismarck wußte
damals ganz genau, daß der unheilvolle Geist des
Freihandels mit der Einführung der Grenzzölle
noch lange nicht abgetan war. Als z. B. einer der
bayerischen Staatsminister im Herbst 1887 in Bad Kissingen
vom Schreiber dieses dem Fürsten Bismarck
erzählte: daß ein Münchner Student, der als
ehemaliger Landwirt von den Zöllen nicht viel halte,
die Absicht habe, eine Studienreise durch die
landwirtschaftlichen Konkurrenzländer der Erde zu
machen, um besser geeignete Maßnahmen der praktischen
Politik anstelle der Zölle ausfindig zu machen, da
lautete die sofortige Antwort des Fürsten: „Der
Kerl gefällt mir! Ich halte auch nicht viel von meinen
Zöllen. Aber ich habe bis jetzt noch niemanden
gefunden, der mir etwas besseres hätte vorschlagen
können!“ Fürst Bismarck hat also sehr wohl
erkannt, daß er mit der Schutzzollpolitik die
Beseitigung des Freihandels nur eingeleitet, aber noch
nicht abgeschlossen hatte. Er ging deshalb in den 80 er
Jahren dazu über, die Freihandelslehre auch für
die Lohnarbeiter auf nationalem Gebiete durch eine
umfassende öffentlich-rechtliche Organisation des
Versicherungswesens wie durch den Ausbau seiner
Arbeiterschutzgesetze weiter einzuschränken. Und wenn
er auch kurz vor seinem Ausscheiden aus dem
Reichskanzleramte erfahren hatte, daß er mit dieser
Spezialgesetzgebung für die Lohnarbeiter keineswegs
das Richtige getroffen, so blieb doch für ihn die
Rückkehr zum Freihandel unter allen Umständen
ausgeschlossen. Wir werden unten darzulegen haben,
daß in der Tat die alte Bismarcksche Forderung:
„Schutz der nationalen Arbeit!“ auch damit noch
lange nicht erfüllt war.
Seit dem Rücktritt des Fürsten
Bismarck hat die Politik des Deutschen Reiches in der
Beseitigung der Freihandelslehre fast nichts mehr
geleistet. Die Handelsverträge unter Caprivi waren ein
offensichtlicher Rückfall in die Bahnen des
Freihandels. Und wenn auch Fürst Bülow die
Zollsätze wieder etwas erhöhte, seine ganze
Politik, die nach allen Seiten ihre Gaben verteilte, war
wenig geeignet, Klarheit in großen einfachen
Prinzipien aufkommen zu lassen.
Solche Schwankungen im Kampfe gegen den
Freihandel innerhalb 30 Jahren sind nur dadurch zu
erklären, daß die Entwickelung der
Nationalökonomie als Wissenschaft mit dem
praktisch-politischen Vorgehen des Fürsten Bismarck
nicht Schritt gehalten hat. Diese Wissenschaft hat sich in
den 70 er und 80 er Jahren darauf beschränkt, die
Freihandelslehre mehr negativ und mehr auf dem Gebiete der
theoretischen Nationalökonomie zu bekämpfen. In
der praktischen Nationalökonomie wie in der
Finanzwissenschaft waren die Herren Professoren — mit
wenigen Ausnahmen — unfruchtbar. Hier blieben also
die Lehrsätze des Freihandels in Geltung. Gleichzeitig
schöpfte man aus der Beschäftigung mit dem
wissenschaftlichen Sozialismus jene Anregungen, die wir
heute mit der Bezeichnung „Kathedersozialismus“
zusammenzufassen gewohnt sind. Daneben wandte man sich der
historischen Spezialforschung und der empirischen
Materialsammlung zu. So kam jenes seltsame Gemisch von
politischen Anschauungen zustande, das die heute
herrschende nationalökonomische Auffassung
charakterisiert: was im Interesse von Handel und Industrie
liegt, bezeichnet man als ein
„öffentliches“ Interesse. Was die
Lohnarbeiter angeht, ist ein „soziales“
Interesse. Was aber die übrige Menschheit angeht,
betrifft nur „private“ Interessen!
Man vergesse nicht: das
Handwörterbuch der Staatswissenschaften von Professor
Conrad, das große gemeinsame Standardwerk der
heutigen offiziellen Nationalökonomen, behandelt
über 240 verschiedene Spezialkrankheiten am
Volkskörper, die mit besonderer Vorliebe solchen
Spezialisten überlassen wurden, welche sich um die
anderen Spezialkrankheiten möglichst wenig
kümmern. Und im ganzen werden von all diesen
Spezialisten 700 bis 900 Heilmittel dem sozialen
Körper „verordnet“. Nur unter solchen
Zeitverhältnissen konnte Professor v. Schmoller in
feierlicher Rektoratsrede an der Berliner Universität
alle Theorien als etwas „Schwankendes“
bezeichnen, im Gegensatze zu den Tatsachenermittelungen,
die ihm allein „feststehende Wissenschaft“
sind. So bleiben die Theorien zwar wenig geachtet. Aber
weil keine neuen Theorien produziert wurden, herrscht im
Grunde die alte Freihandelstheorie ruhig weiter, trotz
Schutzzöllen und sozialer Gesetzgebung. Nur deshalb
konnten es in der letzten Zeit die Freihändler wagen,
sich im „neuen Hansabund“ gegen die
„bösen“ Agrarier und Konservativen noch
einmal zu organisieren. Man nennt sich zwar nicht
„eine Vereinigung von Freihändlern“.
Geheimrat und Professor Dr. Rießer sprach in seiner
Eröffnungsrede im Zirkus Schumann nur von „der
freien Bewegung und dem freien Verkehr“ als den
„Lebensinteressen der Vereinigung“ und dem
„freien Wettbewerb mit allen Staaten der Welt“
als den „Lebensbedingungen der Mitglieder des
Hansabundes“. Man ist in dem neuen
„Bauernbund“ sogar „auch
Schutzzöllner“ wie der Bund der Landwirte. Nur
die Futtergerste, welche von den Landwirten so viel gekauft
wird, soll in Zukunft weniger hoch verzollt werden. Und um
das Maß der Verwirrung voll zu machen, spricht man
dem Mittelstande in Handel und Gewerbe von der
Notwendigkeit, daß „alle Berufe sich
organisieren“. Aber diese Organisation soll nur eine
wahlpolitische sein und im Anschluß an den
führenden Hansabund erfolgen. Dazu kommen noch all
jene Verdächtigungen aus der letzten
Reichsfinanzreform, die den verflossenen Reichskanzler
Fürst Bülow zu dem Ausspruch veranlaßten:
„Ich verstehe nicht, wie die Konservativen in der
Reichserbschaftssteuer eine Prinzipienfrage erblicken
konnten!“ — Das alles sind Folgen unserer so
sehr rückständigen Nationalökonomie als
Wissenschaft. Sie hat es seit 1879 versäumt, mit dem
Freihandel auf der ganzen Linie zu brechen. Sie hat es
unterlassen, den wissenschaftlichen Gegensatz zur
Freihandelslehre systematisch klar herauszuarbeiten, und
zwar nicht nur für die Lohnarbeiter, sondern für
das ganze Gebiet der Volkswirtschaft. Deshalb haben wir
heute Vertreter unter unseren Nationalökonomen von
⅓ Freihandel und ⅔ Sozialismus oder ⅔
Freihandel mit ⅓ Sozialismus je nach den
persönlichen Neigungen des betreffenden Professors.
Was deshalb heute, bei der herrschenden Unklarheit und
Verworrenheit in der Politik, vor allem not tut, das ist
eine wissenschaftlich scharfe und präzise Antwort auf
die Frage: Was ist ein Freihändler? und was ist der
größte Gegensatz hierzu? — Nach diesen
Prinzipien müssen sich dann die Geister und Parteien
scheiden und die Reihen zum ehrlichen Kampfe
ausrichten.
II.
Was ist ein
Freihändler? Antwort: ein reiner
Individualist! Für ihn ist der Staat
nichts als die Summe seiner Staatsbürger
und die Volkswirtschaft nur die Summe der
vorhandenen Privatwirtschaften. Das einzelne Individuum ist
im Prinzip nicht nur frei, sondern auch selbstherrlich,
souverain. Jeder kann tun und lassen, was er will. Deshalb
gilt der Grundsatz: das Leben zu genießen, sich
auszuleben! Soweit Fragen des gemeinsamen Lebens zu
entscheiden sind, bestimmt die einfache
Majorität die Norm. Der Wille der
Mehrheit der einzelnen entscheidet und herrscht. Was aber
nicht ganz notwendig zu dem gemeinsamen Leben gehört,
bleibt wieder dem freien Belieben der Individuen
überlassen, so daß es selbstverständlich
dem einzelnen gestattet ist, sich seine Kunst, seine Moral,
seine Sitte und selbst seinen Herrgott zu gestalten, wie es
ihm beliebt. Die innere Wirtschaftspolitik des Staates
gefällt sich unter der Herrschaft dieser Ideen am
liebsten im „Gehen- und Geschehenlassen!“
laissez faire, laissez passer! Der handelspolitische
Grundsatz des einzelnen lautet dann: möglichst
billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen!
Das daraus entstehende Gesamtspiel der wirtschaftlichen
Kräfte nennt man die „naturgemäße
Regelung durch Angebot und Nachfrage“. Die so
gewordenen Preise sind die „natürlichen
Preise“. Wenn aber die Staatsgewalt in dieses
Getriebe eingreift, spricht man im Gegensatze zu den
natürlichen Preisen von „künstlichen
Preisen“. Treten irgendwo wirtschaftliche Krisen ein,
so muß es den Beteiligten überlassen bleiben,
sich selbst zu helfen. (Prinzip der Selbsthilfe!) Das
Eingreifen der Unbeteiligten oder des Staates könnte
die Krisis nur verschärfen oder verlängern.
Dieses Spiel des Freihandels bei Entfesselung der
individuellen Kräfte besorgt innerhalb der
Gesellschaft wie innerhalb der Völker die
„natürliche Auslese der Tüchtigsten“
(Darwinismus in der Volkswirtschaft und
Weltgeschichte!).
Das Ziel aller wirtschaftlichen
Tätigkeit ist in solchen Zeiten mit irgend welcher
Sorge für das Jenseits nicht belastet. Alles
erschöpft sich in den Ereignissen dieser Welt. Das
Ziel aller Wirtschaft ist deshalb nur darauf gerichtet,
daß sich der einzelne möglichst
bereichere. Ein jeder will möglichst
rasch möglichst reich werden (Materialismus!).
Für die gesetzliche Ordnung der volkswirtschaftlichen
Verhältnisse gelten deshalb vor allem die rein
geldwirtschaftlichen Bedürfnisse.
Naturalleistungen oder Rentenleistungen, insbesondere
soweit sie über das Leben des einzelnen hinausgehen,
werden abgeschafft. Als Geld wird Gold entschieden
bevorzugt. Mit dem zunehmenden Reichtum der einzelnen
entwickelt sich die Herrschaft der Banken.
Eine Zentralnotenbank wird nicht als „Bank des
Volkes“, sondern als „Bank der Banken und der
Reichsten“ konstruiert. Die Masse des Volkes aber
wird dazu angehalten, ihre disponiblen Geldmittel den
Kellern der Banken anzuvertrauen und alle Zahlungen
möglichst durch die Banken zu leisten. So werden die
Großbanken mehr und mehr Bewahrer der
überwiegenden Masse des in der Volkswirtschaft
vorhandenen mobilen Vermögens. Sie werden damit und
mit Hilfe der Börsen „Leiter des
Unternehmergeistes der Nationen“ (Isaac Pereire und
Dr. von Siemens). Der Bankkredit bevorzugt entschieden die
großen und größten Unternehmungen mit den
kurzfristigen Spekulationskrediten. Damit droht der
selbständige Mittelstand zu verschwinden. Das Volk
wird zur Spekulationsteilnahme systematisch erzogen, die
neue Großindustrie von den Banken zwangsweise zu
Syndikaten zusammen geschlossen (Fall Phönix u. A.)
und der Export von industriellen Produkten forciert
(Dumpingsystem). Neben dem Kreditmonopol für die
großen Privatunternehmungen teilen sich die Banken
auch in das Kreditmonopol für die Staaten und
öffentlichen Körperschaften. (Herrschaft der
Plutokratie!) Und das ist der Zeitpunkt, in dem die Banken
und Börsen Einfluß genug gewinnen, „um die
bewaffnete Macht der Staaten für ihre Interessen ins
Feld zu rufen“, die Gewinne und „Forderungen
der hohen Finanz im Auslande einzutreiben“.
(Generalfeldmarschall Graf Hellmuth von Moltke). Die
Habgier der Reichsten trachtet überall nach einer
Eroberung der Welt. Immer mehr Firmen arbeiten nach der
Devise: „Mein Feld ist die Welt!“ — Die
herrschende geldwirtschaftliche Auffassung läßt
überall die Rechtsnormen der hoch entwickelten Staaten
zur Einführung gelangen, gleichgültig, ob die
vorhandenen Verhältnisse dazu reif sind oder nicht.
Das Verhältnis des Mutterlandes zu den Kolonien und
das durch internationale Verträge gesicherte Recht der
Europäer innerhalb der anderen Länder erleichtert
so außerordentlich das Aufkommen der
Weltherrschaftstendenzen großer Unternehmungen. Die
Freihändler nennen das zwar „freien Wettbewerb
mit allen Staaten der Welt“. In Wirklichkeit aber
betrachtet man es als
„selbstverständlich“, daß der
privaten Handelsflagge die nationale Kriegsschifflagge
überall hin folgt und die nationale Wehrkraft den
immer großartiger angelegten Beutezügen der
Banken und Großkapitalisten so viel Schutz und
Ansehen gewährt, daß die zunächst
ausgebeuteten Völker im Auslande sich nicht dagegen
aufzulehnen wagen. Die unmittelbar nachfolgenden schweren
Schädigungen der heimischen produktiven Stände,
insbesondere der Landwirtschaft, werden durch die
Schlagworte von der „natürlichen Preisbildung
durch Angebot und Nachfrage“ von dem
„zunehmenden Reichtum an Kapital, das nach
Anlagegelegenheit suche“, von dem
„international gesteigerten Ansehen der
Nation“, von der „Gewerbefreiheit“ und
den „Interessen der Auswanderer“ bei heimischer
„Uebervölkerung“ abgetan.
In der internationalen Politik der
Staaten gilt Gewalt vor Recht. Es macht sich mehr und mehr
jene dumpfe Stimmung geltend, die aus der Tatsache
hervorgeht, daß die großkapitalistisch
organisierten Interessen eines Volkes immer die Interessen
aller anderen Völker zu verdrängen drohen —
eine Stimmung, die bei rasch wachsenden kriegerischen
Konflikten unaufhaltsam entweder zu einem großen
Weltbrande oder zu einer internationalen Koalition der
Großkapitalisten als Herrschaftsform über die
Völker der Welt führen muß.
Aus all diesen Gründen wachsen
jetzt die Ausgaben der Staaten für Heer und Marine
ganz allgemein. Die freihändlerische Finanztheorie
aber geht von den Grundsätzen aus: der freie Verkehr
darf unter keinen Umständen angetastet oder belastet
werden, mit anderen Worten: „die Börse muß
pfleglich behandelt werden!“ Die Mehrausgaben des
Staates sind durch „Besitzsteuern“ zu decken,
die am zweckmäßigsten als Erbschaftssteuer
erhoben werden. Weil aber hierbei
erfahrungsgemäß das Großkapital tausend
Wege findet, sich der Steuer zu entziehen, würde so
der ohnehin schon drohende Vernichtungsprozeß des
selbständigen Mittelstandes in Stadt und Land noch
wirksamer in die Wege geleitet werden. Das Ende dieser
Entwicklung aber muß sein: eine kleine Zahl
unermeßlich reicher Leute und die große Masse
des Volkes abhängige Proletarier —, ein Zustand,
den in der Weltgeschichte alle Kulturvölker kurz vor
ihrem Untergang erreicht haben.
In dieser beklagenswerten Entwicklung
wirft Nordamerika für Deutschland seine Schatten
voraus. Die 30 bis 40 000 selbständigen
Schlächtermeister, welche es noch 1876 in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika gab, sind
verdrängt worden durch die Alleinherrschaft von
früher 7 und jetzt nur noch 5
Großschlächtereien, die inzwischen schon
beginnen, auch die Schlachtungen in Argentinien zu
monopolisieren. Ebenso nimmt heute die gleiche
großkapitalistische „Vertrustung“ des
Kleinhandels in den Vereinigten Staaten unter den gleichen
großkapitalistischen Führern auf dem Gebiete der
Kurz- und Schnittwaren, der Zuckerwaren, der
Zigarrengeschäfte, des Handels mit Eis und
Brennmaterialien, mit Milch usw. seinen Fortgang. Die
Organisatoren in Deutschland machen ihre Vorstudien in
Nordamerika. Und unsere Nationalökonomie als
Wissenschaft findet fast durchweg gerade diese Art der
Entwickelung „durchaus normal“ ! —
III.
Was ist der größte
prinzipielle Gegensatz zum freihändlerischen
Individualismus? — Als Antwort auf diese Frage
verweisen unsere meisten Lehrbücher für
Nationalökonomie auf den Sozialismus. Aber diese
Antwort ist wohl unrichtig. Der Marx‘sche Sozialismus
unterscheidet sich wirtschaftspolitisch von den
Freihändlern nur dadurch, daß er für seinen
Zukunftsstaat die Gleichheit der Menschen in
der Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse
anstrebt. Bis dahin, das heißt bis zur
Errichtung des „Zukunftsstaates“, ist der
Sozialist durchaus Freihändler. Die Revisionisten gar,
welche bekanntlich die Marx‘sche Theorie ablehnen,
sind überwiegend reine Freihändler. In den
praktisch-politischen Tagesfragen gibt es deshalb innerhalb
der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion fast keine
wesentlichen Differenzen. Und die Idee eines Blocks von
„Bassermann bis Bebel“ ist gar nicht so
sinnlos, wie es manchem erscheinen mochte, denn im Grunde
ist auch der Sozialist nur ein Individualist!
In Wahrheit gibt es noch einen viel
tiefer greifenden prinzipiellen Gegensatz zum
freihändlerischen Individualismus, einen Gegensatz,
der in dem einzelnen Menschen — statt einem
selbständigen freien Mittelpunkt der Weltauffassung
— nur ein „Abgesplittertes vom Ganzen“
sieht und den „ganzen Menschen“
als den ewigen Normalmaßstab für alle
menschlichen Dinge in der „Einheit der menschlichen
Gesellschaft“ erblickt. Das ist die sogenannte
„organische Auffassung der
Volkswirtschaft“, die nicht nur eine rein subjektive
Theorie, sondern eine Wahrheit genannt werden muß,
die bei etwas tieferem Nachdenken aus den uns umgebenden
Verhältnissen uns immer und überall entgegen
tritt.
Einer der ersten Nationalökonomen
der jüngst vergangenen Zeit, Albert Schäffle, hat
in seinem unstreitig besten Werke, das er unmittelbar nach
seiner praktischen Tätigkeit als österreichischer
Handelsminister gewissermaßen als Abschluß
seiner nationalökonomischen Forscherarbeit geschrieben
(Kapitalismus und Sozialismus, 1870) auf Seite 101
wörtlich gesagt: „Ein Mensch ist kein Mensch
— unus homo, nullus homo — haben schon alte
Weltweise bemerkt. Plato insbesondere hat starke Betonung
darauf gelegt, daß das ganze volle Wesen des Menschen
erst im „großen Menschen“, der
Gesellschaft, sich darstellt. Und Platos großer
Antagonist, Aristoteles, hat darin mit seinem Gegner
übereingestimmt, indem er den Menschen das von Natur
staatlich sozial angelegte tierische Wesen nannte.
Unzählige Male hat die neuere Philosophie seit dem 16.
Jahrhundert diese Auffassung wiederholt. Man braucht nur in
irgend einem Handbuch der philosophischen oder
theologischen Moral nachzuschlagen, um die Behauptung zu
finden, daß der Mensch nur in der Gesellschaft sich
sittlich entfalten könne, daß er in Kunst,
Wissenschaft, Religion und Erziehung auf eine allumfassende
menschheitliche Vereinigung, daß er für alle
vernünftige Bestätigung auf „sittliche
Gemeinschaft“, auf umfassenden Verkehr mit allen
Seinesgleichen angewiesen sei.“ —
Schäffle hätte noch für
die Zeit nach Aristoteles und bis zum XVI. Jahrhundert
einfügen können, daß auch der Apostel
Paulus, Augustin und Thomas von Aquin und in Anlehnung an
diese auch Martin Luther diese
„organische Auffassung“ vertreten
haben. Endlich konnte Schäffle aus seinen Zeitgenossen
als Anhänger dieser Lehre die beiden Engländer
John Ruskin und Thomas Carlyle anführen. Und er
hätte für die Gegenwart darauf hinweisen
können, daß die konservativen und christlichen
Parteien aller Kulturländer diese „organische
Auffassung“ vertreten auf dem Gebiete des
Staatsrechts und der Politik für Kirche und Schule.
Wir sind heute in der Lage zu betonen, daß auch die
moderne Strafrechtswissenschaft in dem Verbrechen nicht
mehr nur das Verschulden des einzelnen, sondern das Produkt
des einzelnen und seines sozialen Milieus erblickt (Franz
von Liszt) und damit an Stelle der individualistischen
Auffassung die „organische Auffassung“ gesetzt
hat. Inkonsequent ist nur die Schlußfolgerung dieser
Schule: den einzelnen Verbrecher mit Milde zu behandeln und
dem Freihandel zuzuneigen, statt durch eine entsprechende
Aenderung unseres ganzen sozialen Milieus die Verbrechen
tunlichst zu verhüten.
Es muß mithin gesagt werden: die
„organische Auffassung des Menschen, die den
freihändlerischen Individualismus prinzipiell
ausschließt, ist seit Jahrtausenden von den besten
Denkern aller Zeiten vertreten worden. Es fehlt nur noch
die konsequente Anwendung dieser Erkenntnis auf unser
gesamtes Wirtschaftsleben. Doch hat auch hier
wieder Schäffle tüchtig vorgearbeitet.
Nachdem er an der gleichen Stelle darauf
hingewiesen, wie in der Tat überall die Menschen ihre
Zwecke in Gemeinschaft verfolgen und wie unser Leben sich
gliedert in ein nationales und internationales, wie
Wissenschaft und Kirche, wie unser Erziehungswesen, unser
Rechts- und Kunstleben diese Gliederung deutlich erkennen
lassen, und Sprache, Erinnerungsvermögen und
Akklimationsvermögen den Menschen diesem
Verkehrsbedürfnis wunderbar angepaßt haben, geht
Schäffle auf Seite 103 einen Tag seines eigenen Lebens
durch und zeigt, wie jeder vom Morgen bis zum Abend in
seinem Konsum abhängig ist von der Arbeit der ganzen
Menschheit. Seine schönen Betrachtungen
schließen mit dem Satze; „Der zivilisierte
Mensch braucht seiner Haushaltung nur die konkreten
Gütermasken abzustreifen, so belebt sich sein Haus mit
einem Stück Wirtschaftsleben der Menschheit, das an
ihn die Frage richtet: ob auch er anderen Zeiten, anderen
Völkern, anderen Ständen Produkte seiner
Lebenskraft ins Haus lege?“
Insbesondere in meinem „System der
politischen Oekonomie“, Bd. III, Seite
328 ff. war ich bemüht, den Nachweis zu erbringen,
daß die produktive Arbeit eines jeden in ihren
Resultaten vor allem das Produkt der Mithilfe der
großen sozialen Arbeitsgemeinschaft ist. So bei dem
einzelnen Lohnarbeiter in der Fabrik, bei dem einzelnen
Landwirt, bei dem Forstmann und so für alle
produktiven Stände. Wieviel mehr gilt das dann
für die Spekulanten aller Art!
Wenn aber unser täglicher Konsum
und unsere tägliche Arbeit nur im Sinne einer
„organischen“ Auffassung wissenschaftlich
richtig beurteilt werden können, dann muß auch
für die Lebensgeschichte der Völker die gleiche
Auffassung gelten. Kein geringerer als der beste Kenner des
geschichtlichen Lebens, Fürst Bismarck, hat diese
seine Ueberzeugung klar in dem Satze zum Ausdruck gebracht:
„Die logischen Revisionen der Geschichte sind noch
genauer, als die unserer Oberrechnungskammer!“ Er hat
damit, wie mit manchem anderen Ausspruch, sich nicht nur
gegen die materialistische Geschichtsauffassung von Karl
Marx, sondern auch gegen die moderne Heldenverehrung
unserer Geschichtsschreiber gewendet. Nicht die
großen Männer machen die Zeiten, sondern die
Zeiten machen die großen Männer. Immer aber wird
die „organische Geschichtsauffassung“ zu einer
streng logischen Geschichtsdarstellung kommen müssen,
wie ich das in Bd.
II meines „Systems der politischen
Oekonomie“ für fast alle Kulturvölker
nachzuweisen versucht habe.
Allgemein ist bekannt, daß wir
unsere körperliche Gesundheit und Lebenskraft vor
allem unseren Eltern und Voreltern verdanken, wie wir
wieder die Lebenskraft der künftigen Generationen in
uns tragen. Kurz: es gibt keine besser begründete
Wahrheit als die der „organischen Auffassung des
Menschen und der Volkswirtschaft“. Wenn dem aber so
ist, dann muß der freihändlerische
Individualismus ein Irrtum sein, der um so bedenklicher
ist, je weiter die Kreise reichen, die von ihm beherrscht
werden.
IV.
Die Konsequenzen der
organischen Auffassung des Menschen für die
praktische Wirtschaftspolitik lassen sich etwa
in die folgenden Sätze zusammenfassen:
A. Um die tiefere
Begründung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse
nach „organischer“ Auffassung zu
erschließen, ist es — um die Worte
Schäffles zu gebrauchen — nötig: „die
konkrete Gütermaske den Dingen abzustreifen“.
Mit anderen Worten: es ist nötig, bei den einzelnen
Gütern und Einkommensarten ihrer Herkunft aus der
großen sozialen Arbeitsgemeinschaft nachzugehen.
Unsere Nationalökonomie pflegt das nicht zu tun.
Deshalb hat schon 1860 John Ruskin öffentlich
erklärt: „In der Geschichte ist nichts so
demütigend für den menschlichen Verstand gewesen,
als unsere Anerkennung der allgemeinen
(individualistisch-egoistischen) Dogmen der
Nationalökonomie als Wissenschaft“. Und Thomas
Carlyle hat gerade diese nationalökonomischen
Abhandlungen von Ruskin als solche bezeichnet, die mit
„luchsäugiger Logik“ geschrieben seien.
Trotzdem blieb bis in die Gegenwart unsere
Nationalökonomie von der individualistischen
Auffassung beherrscht. Um also den seit 1879 vom
Fürsten Bismarck eingeleiteten Bruch mit der
Freihandelstheorie endlich konsequent durchzuführen,
ist es vor allem notwendig, das Volk fortgesetzt
darüber aufzuklären, daß — um mit
John Ruskin zu reden — „die echte Wissenschaft
der Nationalökonomie sich zu der heute immer noch
herrschenden „Bastardwissenschaft“ verhält
wie die Medizin zur Quacksalberei oder wie die Astronomie
zur Astrologie“ und daß es zu den schwersten
Schädigungen des allgemeinen Volkswohles führen
muß, wenn diese individualistische Auffassung der
Volkswirtschaftslehre noch länger fast
ausschließlich an allen Lehranstalten für die
heranwachsende Jugend gelehrt wird. Nur darf man nicht
glauben, daß die Spielereien unserer Soziologen mit
dem Begriff „organisch“ schon die
„organische Auffassung in der Volkswirtschaft“
ersetzen könnten.
B. Nach
organischer Auffassung ist unsere Volkswirtschaft
nicht die Summe der vorhandenen
Privatwirtschaften — wie heute gelehrt wird —
sondern die einheitliche Gliederung von
unselbständigen Teilen zu einem gemeinsamen
Leben. Die Einzelindividuen oder die
Einzelwirtschaften sind nur Zellenteile oder organische
Grundzellen, die vor allem dem Leben des ganzen
Volkskörpers ihr Leben verdanken. An der Leiche gibt
es kein Zellenleben mehr. Auch deshalb bleibt die Absicht
der Sozialdemokratie, in der Todesstunde der
bürgerlichen Gesellschaft ihren
„Zukunftsstaat“ aufzurichten, sinnlos.
Ebensowenig gibt es nach
organischer Auffassung Volksklassen (Arbeiterklasse,
Konsumentenklasse, Produzentenklasse), zwischen deren
verschiedenen Interessen ein Ausgleich etwa auf der
mittleren Linie gesucht werden müsse, wie noch der
verflossene Reichskanzler Fürst von Bülow so oft
meinte. Nach der organischen Auffassung gibt es nur
verschiedene Glieder an dem gleichen Volkskörper.
Heute begünstigt man allgemein die Organisation der
Klasseninteressen der Arbeiter in den
Gewerkschaften. Wenn aber im Kampfe mit den Gewerkschaften
auch andere Volkskreise, wie die Aerzte in Deutschland,
oder wie die Richter in Italien und die Beamten in
Frankreich sich organisieren, dann ruft man: „Quos
ego“! Was dem einen recht ist, muß dem anderen
billig sein. Wenn die Konsequenzen unhaltbar sind,
muß der Ausgangspunkt falsch sein. Die
Wirtschaftspolitik nach „organischer“
Auffassung wird deshalb auch den Lohnarbeitern das
Koalitionsrecht auf individualistischer Grundlage nehmen,
um ihnen ein besseres organisches Recht dafür zu
geben.
Unter der Herrschaft der falschen Lehre
des Individualismus haben die Volksglieder Handel und
Industrie die Tendenz, hypertrophisch zu wachsen,
während gleichzeitig die Landbevölkerung von der
Atrophie befallen wird. Der freihändlerische
„Hansabund“ glaubt daraus nach dem Rechte der
Majorität folgern zu können, daß
künftig Handel und Industrie die politisch
maßgebenden Faktoren im Staate sein müssen. Nach
„organischer“ Auffassung wäre das freilich
ein verhängnisvoller politischer Fehler. Die
Hypertrophie einzelner Volksglieder und die Atrophie
anderer Glieder des Volkskörpers beweist die
beginnende schwere Erkrankung unserer Volkswirtschaft, die
nur dadurch beseitigt werden kann, daß die
Ueberernährung von Handel und Industrie mit aller
Energie eingestellt wird, um der in der Entwickelung
zurückbleibenden Landbevölkerung verdoppelte
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nicht aus dem Streit, nur aus
der Harmonie der Volksglieder kann das Wohlbefinden des
Ganzen in all seinen Teilen erwartet werden (Menenius
Agrippa).
C. Nach
organischer Auffassung gilt als leitender Grundsatz:
„Das Ganze ist früher als der Teil!“ Der
Keim am Samenkorn enthält bereits alle Teile der
künftigen Pflanze. Der unförmige Embryo in seinem
intrauterinen Leben umschließt bereits alle Glieder
und Eigenschaften des künftigen Individuums. Der
streng logische Entwicklungsverlauf der
Völkergeschichte beweist, daß für die
Völker und Menschen das Gleiche gilt. Es bleibt
deshalb ein höchst gefährlicher Irrtum, mit dem
Handwörterbuch der Staatswissenschaften von Conrad an
unserem Volkskörper 240 verschiedene
Spezialkrankheiten zu unterscheiden und in der praktischen
Politik nacheinander bald die Lohnarbeiter, bald den
Mittelstand, bald Handel und Industrie, bald die
Landwirtschaft, bald die Beamten vergeblich
zufriedenstellen zu wollen, und zwar immer ohne jeden
einheitlichen Entwicklungsplan, einfach nach den
zufälligen parlamentarischen Mehrheiten. Das bedeutet
auf der ganzen Linie eine individualistische
Volkswirtschaftspolitik, was schon der Bezeichnung
nach eine contradictio in adjecto ist.
Die „organische“
Volkswirtschaftspolitik muß vor allem in den
tieferen Zusammenhang der lebendigen Wechselbeziehungen der
verschiedenen Volksglieder in ihrem Wohl und Wehe als Teile
des Ganzen eindringen. Die Lohnfrage der
Hilfsarbeiter kann im Einzelfalle nur
oberflächlich behandelt werden. Denn die Lohnhöhe
der Hilfsarbeiter bleibt ein Abgeleitetes von dem
Arbeitserfolg der Vollarbeiter, die zugleich
Eigentümer ihrer Produktionsmittel sind. Das
Gleiche sollte gelten für die Beamtengehälter.
Und der volkswirtschaftliche Arbeitserfolg bleibt ganz
allgemein wieder abhängig von der Frage: ob die
„Interessenten desarbeitslosen
Einkommens“ Herren der Volkswirtschaft sind oder
nicht? Wenn z. B. das arbeitslose Einkommen in Deutschland
jährlich um viele Milliarden zunimmt, und wenn alle
Autoritäten von Adam Smith und David Ricardo bis auf
Schäffle rückhaltlos zugegeben haben, daß
die menschliche Arbeit allein die Quelle ist, aus der alles
Einkommen geschöpft wird, dann müssen die
Milliarden, welche das arbeitslose Einkommen jährlich
mehr vereinnahmt, den volkswirtschaftlichen Arbeitserfolg
entsprechend mindern. Die volkswirtschaftliche Arbeitsfrage
läßt sich deshalb von der Beseitigung der
volkswirtschaftlichen Herrschaft der Kapitalisten
gar nicht trennen. Und dann erst kann die organische
Wechselbeziehung zwischen der Lohnhöhe der
Hilfsarbeiter und der Beamtengehälter auf der einen
Seite und dem Arbeitserfolg des Vollarbeiters auf der
anderen Seite wirklich funktionieren. Dazu dient speziell
die einheitliche Organisation der inneren
Kolonisation, und zwar nicht nur auf dem
landwirtschaftlichen Grundbesitz, sondern auch auf dem
alljährlichen Zuwachs des nationalen Arbeitsfeldes in
Handel und Industrie. Eine innere Kolonisation dieser Art
hat wieder zur Voraussetzung, daß vorher die
individuelle Gründer- und
Vergrößerungsfreiheit gebändigt wird durch
ein allgemeines Kontingentierungsgesetz und
eine planmäßige Ordnung in der Volkswirtschaft,
welche die Wiederkehr allgemeiner Krisen
verhütet. So schließt sich der Ring
einer wahrhaft sozialen Gesetzgebung für das ganze
Volk und nicht nur für die
„Arbeiterklasse“. Nur so kommen wir zu einem
wirklichen „Rechtsschutz der nationalen
Arbeit“. Damit wird endlich die Brücke gebaut
für das Aufsteigen der Tüchtigen aus
dem Verhältnis der wirtschaftlichen Abhängigkeit
in das der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit.
Diese Art von
Mittelstandspolitik bedeutet nicht nur die
Erhaltung des bestehenden, sie bedeutet eine tunlichste
Ausbreitung des Mittelstandes als Leitmotiv
unserer gesamten Wirtschaftspolitik. Und darin
liegt wieder die allein mögliche Sanierung unseres
individualistischen Wahlrechts. Nur wenn der Mann an der
Wahlurne in überwiegender Mehrheit sein Einkommen in
dem ökonomischen Zustand der Selbstverantwortlichkeit
verdient, bleibt unser politisches Leben von dem
Radikalismus der besitzlosen Massen verschont. Diese
„organische“ lebendige Wechselbeziehung aller
Teile im ganzen mag schwerer zu verstehen sein, wie der
Inhalt individualistisch isolierter Spezialuntersuchungen.
Aber diese Schwierigkeiten liegen in der Natur der Dinge,
der sich alle Theorie bedingungslos zu unterwerfen hat.
D. Unsere heutige
Wirtschaftspolitik kann fast in allen Teilen eine Billigung
durch die „organische“ Auffassung nicht finden.
Es wurde bereits auf das Koalitionsrecht der
Lohnarbeiter hingewiesen, das man jetzt sogar auf die
ländlichen Arbeiter ausdehnen will, trotzdem die
Konsequenzen dieser Politik ins Unhaltbare führen.
Dazu hat man die sozialen Versicherungsgesetze
für die Lohnarbeiter auf die Kranken-, Unfall- und
Altersversicherung und bald auch auf die Witwen- und
Waisenversicherung ausgedehnt. Aber man hat diese soziale
Gesetzgebung auf die Lohnarbeiter als Klasse
beschränkt, trotzdem es keine Volksklassen, sondern
nur Volksglieder gibt. Und man hat sich genau der falschen
sozialistischen Theorie entsprechend dabei nur an das
Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
gehalten, statt den viel größeren Prozeß
der sozialen Arbeitsgemeinschaft zu umfassen und die
Arbeitslohnfrage durch Befreiung der Arbeit des ganzen
Volkes aus der Herrschaft des „arbeitslosen“
Einkommens organisch zu lösen. Man denkt sogar noch an
eine Krisenversicherung für die
Lohnarbeiter, aber man denkt nicht daran, diese Krisen
dadurch zu beseitigen, daß man anstelle der
Oberleitung des Unternehmergeistes des Volkes durch unsere
Großbanken eine uneigennützige
Oberleitung im Interesse des ganzen Volkes setzt, deren
Aufgabe es wäre, das Volk vor der Wiederkehr solcher
allgemeinen Krisen zu bewahren.
Die drohende Vernichtung des
selbständigen Mittelstandes läßt die Zahl
der unverheirateten Mädchen aus diesen Kreisen
wachsen. Aber daraus folgert man nicht die Notwendigkeit,
der wirklichen Ursache, nämlich der drohenden
Vernichtung des selbständigen Mittelstandes,
entgegenzutreten. Man begnügt sich, Konsequenzen in
der Richtung der krankhaften volkswirtschaftlichen
Entwickelung zu ziehen. Man fördert Frauenbildung und
vermehrt die Gelegenheit einer wirtschaftlichen
Verselbständigung der Frauen und geht auf die
Anträge der emanzipierten Frauen mehr und mehr
ein.
Unsere landwirtschaftlichen
Organisationen haben wiederholt unter Mitwirkung unserer
Professoren das Problem der landwirtschaftlichen
Schuldentlastung behandelt und sind dabei zu
dem Resultat gekommen, daß es mit Hilfe besonderer
Banken und der Lebensversicherungsanstalten möglich
wäre, bei Einführung einer Verschuldungsgrenze
den einzelnen bis zu seinem Tode schuldenfrei zu machen.
Dann kann der Nachfolger wieder neue Schulden aufnehmen,
die abermals bis zu dessen Tode abgelöst sind usw. Hat
diese ganze Schuldentlastung nicht eine verblüffende
Aehnlichkeit mit der bekannten Sisyphusarbeit, die als
Strafe für den verschlagensten aller Menschen in der
Unterwelt verhängt wurde? Zu solchen Resultaten
führt die individualistische Auffassung. Die
„organische“ Auffassung sieht auch hier,
daß es sich um ein Problem der Befreiung der
produktiven Arbeit aus den Fesseln der Schuldherren handelt
und daß dieses Problem mit seiner Lösung nur als
Entwicklungstendenz in die Aufeinanderfolge der
Generationen gelegt werden kann, um eines Tages zur
Schuldenfreiheit des ganzen Volkes zu gelangen. Das alles
mag sehr schwierig scheinen; aber glaubt man denn ein
Problem dadurch besser lösen zu können, daß
man es enger formuliert, als es seiner Natur nach ist?
Seit einer Reihe von Jahrzehnten
herrscht das Schlagwort „Organisation“ in der
praktischen Politik. Aber man denkt dabei immer nur an
Spezialorganisationen auf lokaler
Grundlage: an Innungen, Genossenschaften, Gewerkschaften,
berufliche Vertretungen usw. Das alles mag für den
Anfang sehr notwendig sein. Aber nach einer
gewissen Zeit kann es doch nicht mehr umgangen werden, an
das Ganze der Volkswirtschaft zu denken, für das es
keine „Klassen“, sondern nur Volksglieder gibt.
Solche Erwägungen sind aber erst möglich, wenn
man allgemeiner aus dem Irrtum der individualistischen
Auffassung zur Wahrheit der organischen Auffassung sich
bekehrt.
Für die individualistische
Auffassung bleibt die Finanzwissenschaft eine ziemlich
selbständige Wissenschaft. Für die
„organische“ Auffassung erscheint
die Deckung des Staatsbedarfs als ein Teil der gesamten
Wirtschaftspolitik und der Steuergrund führt sich
zurück auf den Begriff der „sozialen
Arbeitsgemeinschaft“. Es bleibt deshalb in hohem
Maße verdienstlich für die
Reichstagsmajorität, daß sie der heute in der
Theorie herrschenden individualistischen Auffassung nicht
weiter gefolgt ist, sondern durch eine
Wertzuwachssteuer die Gesetzgebung gegen das
arbeitslose Einkommen eingeleitet hat.
Konsequenterweise hätte wohl eine
„allgemeine“ Wertzuwachssteuer
auch auf die mühelosen Gewinne des mobilen
Vermögens ausgedehnt werden sollen. Aber so lange die
Regierung auf dem seltsamen Grundsatze beharrt: „die
Börse muß pfleglich behandelt werden!“
—, so lange ließ sich praktisch nicht mehr
erreichen, als erreicht worden ist. Das Reichsdefizit war
da, es mußte gedeckt werden; und es ist gedeckt
worden. Aber weil unsere Finanzwirtschaft in engster
Wechselbeziehung steht mit unserer gesamten
Wirtschaftspolitik, und weil die stetig wachsenden Ausgaben
des Reiches mit einer ungewöhnlichen Begünstigung
von Handel und Industrie im Weltmarkte in direktester
Beziehung steht, weil ferner eben diese Begünstigung
bereits krankhafte Formen für unseren Volkskörper
angenommen hat, wird die Reichstagsmajorität daraus
weitere Konsequenzen ziehen müssen.
Als am 18. Januar 1871 Kaiser Wilhelm I.
sich die Kaiserkrone auf sein Haupt setzte, gab er die
feierliche Erklärung ab: daß das deutsche Volk
„den Frieden innerhalb seiner Grenzen
genießen“ solle und daß es seinen
Nachfolgern an der Kaiserkrone vergönnt sein
möge, als „Mehrer des Reiches nicht an
kriegerischen Eroberungen, sondern an Gütern und Gaben
des Friedens auf dem Gebiete der nationalen Wohlfahrt,
Freiheit und Gesittung“ sich zu betätigen. Der
Generalfeldmarschall Graf Hellmuth v. Moltke hat dann in
seiner Vorrede zur Volksausgabe der Geschichte des
deutsch-französischen Krieges darauf hingewiesen,
daß inzwischen der Einfluß der Banken und
Börsen so gestiegen ist, daß diese Kreise in der
Lage seien, „die bewaffnete Macht für ihre
Interessen ins Feld zu rufen.“ Von den 25 Kriegen
oder Gruppen von Kriegen, welche in der Welt seit 1870/71
gezählt werden können, sind mindestens 21 Kriege
als „reine Geldkriege“ neben einer großen
Zahl ernster politischer Konflikte zu bezeichnen. Das alles
mag für eine gewisse Zeit und Entwicklungsperiode
nicht zu ändern sein. Inzwischen aber zeigen sich
für die deutsche Volkswirtschaft deutlich krankhafte
Entwicklungszustände, die direkt mit der zu starken
Begünstigung von Handel und Industrie von Reichs wegen
zusammenhängen. Der internationale Wettlauf der
Völker gerade auf diesem Wege erscheint als die
eigentliche Wurzel der immer mehr wachsenden
Rüstungen. Deshalb die stetig steigenden Ausgaben auch
des Deutschen Reiches. Wie ist es möglich, diese
stetig wachsenden Ausgaben künftig zu verhüten?
Das ist natürlich für Deutschland allein nicht
möglich, ohne selbst Schaden zu leiden. Aber nach der
organischen Auffassung gibt es nicht nur nationale, es gibt
auch internationale weltwirtschaftliche Aufgaben, die durch
eine bessere Organisation gelöst werden müssen.
Die Tatsache, daß die modernen Verkehrsmittel die
Teile der Weltwirtschaft immer enger
zusammenschließen, und daß die Zeit vorbei ist,
in der die Entdeckung neuer Weltteile zur Weltherrschaft
einzelner Staaten führen konnte, deutet nach der
gleichen Richtung. Also muß auch auf dem Gebiete der
auswärtigen Politik von dem heute noch
herrschenden Individualismus der Staaten, wobei einer immer
jedem anderen den Rang ablaufen möchte, gebrochen und
der Uebergang zur „organischen“ Auffassung
vorbereitet werden, für welche der Grundsatz gilt:
„Raum für alle hat die Erde!“ Jedes
Streben nach Alleinherrschaft auf der Welt ist schon
deshalb prinzipiell zu verwerfen. Dieses Streben nach
Alleinherrschaft im Welthandel wird um so bedenklicher, je
mehr es gleichzeitig die Fundamente aller Heimatspolitik
untergräbt und je allgemeiner man die engen
Wechselbeziehungen zwischen auswärtiger Politik und
Heimatspolitik zu verkennen scheint.
E. Man hat den
Lohnarbeitern in der sozialen Gesetzgebung jährlich
viele Millionen geschenkt, man hat dem Mittelstand in einer
Reihe von Novellen zur Gewerbeordnung sein Wohlwollen
bewiesen, man hat der Landwirtschaft bei Abschluß der
letzten Handelsverträge höhere Zölle
bewilligt. Nun glaubt man auch damit wieder fortfahren zu
können, die Großbanken und Börsen mit der
Exportindustrie und dem internationalen Handel zu
begünstigen. So werden denn unter Einsetzung der
gesamten Machtmittel des Reiches immer mehr
überseeische Bankfilialen gegründet. Die
wachsende Verschuldung des Auslandes bei unseren
Großbanken erachtet man als einen Fortschritt des
nationalen Ansehens. Mit der Zunahme des Exports an
industriellen Produkten glaubt man auch den Interessen der
heimischen Lohnarbeiter gedient zu haben. In all diesen
Fällen muß deshalb unsere Diplomatie im Auslande
energisch mithelfen. Und wenn dann die
Reichstagsmajorität die wesentlich deshalb
aufgelaufenen erhöhten Ausgaben des Reiches bewilligt
durch Steuern, die vom ganzen Volke proportional seiner
Leistungsfähigkeit getragen werden, dann gründen
die Großbanken wegen ungeheurer Neubelastung mit
Steuern — deren Betrag gerade in ihrem Interesse
aufgewendet wurde — den neuen „Hansabund“
gegen die Reichstagsmajorität. Eine solche Politik
muß nach „organischer“ Auffassung als
eine Politik der unvereinbaren Widersprüche bezeichnet
werden.
Es ist ein innerer Widerspruch, die
verschiedenen Glieder des Volkes als gleichberechtigte
Klassen zu behandeln und ohne jede Rücksicht auf ihre
Proportionalität zum Ganzen der Reihe nach zu
begünstigen. Diese Art der Begünstigung ist
speziell ein „organischer“ Widerspruch, weil
jede weitere Förderung des Großkapitals den
Mittelstand, der sein erster Arbeiter und Eigentümer
seiner Produktionsmittel ist, noch mehr zu zersetzen droht
in Proletarier auf der einen, und Großkapitalisten
auf der anderen Seite. Entwickelungsgeschichtlich
schließen sich deshalb für die in Deutschland
erreichte Wirtschaftsstufe Mittelstandspolitik und
Großkapitalistenpolitik gegenseitig aus wie die
Förderung der Krankheit in der Richtung des Todes und
die Gesundheitspflege. Man kann nicht
Mittelstandspolitik treiben und gleichzeitig
Milliardäre züchten wollen! Speziell der
verhängnisvolle Uebergang zum industriellen
Exportstaat ist nicht nur nach dem Caprivi‘schen
Rezept möglich: durch Handelsverträge auf Kosten
der heimischen Landwirtschaft den industriellen Export zu
begünstigen. Das gleiche, verhängnisvolle Ziel
kann auch nach der Methode des Fürsten Bülow
erreicht werden: durch tatkräftige Begünstigung
unserer Großbanken in der inneren und
äußeren Politik mit allen Machtmitteln des
Reiches, durch die Gründer- und Spielfreiheit unserer
Börsen und die dadurch wesentlich erleichterte
großkapitalistische Vertrustung unserer Industrie.
Speziell die andauernde energievolle Förderung unseres
Großkapitals bei Erschließung einer neuen
landwirtschaftlichen Konkurrenz in Kleinasien
muß in wenigen Jahren wieder sehr
schwere Zeiten für die heimische Landwirtschaft
herbeiführen, trotz der erhöhten Zölle. Und
alle Zuwendungen an die Lohnarbeiter müssen so lange
von diesen gering geschätzt werden, so lange
gleichzeitig durch umfassende Begünstigungen der
Großunternehmungen und des arbeitslosen Erwerbs die
Brücke immer mehr abgebrochen wird, welche ein
Aufrücken der Lohnarbeiter in die Position der
ökonomischen Selbstverantwortlichkeit
ermöglichte. Man sorgt sich um Erweiterung der
Wahlrechtsfreiheiten, aber man sieht nicht, daß die
Basis aller politischen Volksrechte das Prinzip der
ökonomischen Selbstverantwortlichkeit ist, wie es im
echten Mittelstand verkörpert wird, der nicht als
„mittlere Klasse der Einkommenstufen“, sondern
als Klasse der Selbstverantwortlichkeit
zwischen den großkapitalistischen Herren und den
Proletariern betrachtet werden muß.
Der heute herrschenden internationalen
Politik fehlt endlich noch Eins: und das ist der rechte
Blick für die organischen Voraussetzungen zur
Einführung der geldwirtschaftlichen
Rechtsverhältnisse. Man hat sich förmlich
abgewöhnt, zu erkennen, daß die verschiedenen
Völker ganz verschieden ausgewachsene
Völkerindividuen darstellen. Das eine Volk ist noch
ein Kind, das Andere ein halbwüchsiger Bursche, das
Dritte ein Mann und ein Viertes ein Greis. Trotzdem will
die heute herrschende Politik all diesen Völkern den
gleichen Währungsrock mit dem gleichen
Verschuldungsrecht, der Exekutionsordnung und dem gleichen
Verfassungsrecht umhängen. Die gleichen Fehler sind
schon im Altertum gemacht worden. Und damals sind schon aus
diesen Fehlern ungezählte Kriege und Revolutionen
entstanden. Die germanische Geschichte hat uns gelehrt, wie
der wesentlichste Kulturfortschritt dadurch erreicht wurde,
daß man dem Volke einige Jahrhunderte länger
Zeit ließ, sich unter dem Schutz der
Naturalwirtschaft besser auszureifen. Darin liegt der tiefe
Sinn der lehensstaatlichen Organisation mit
Zinsverbot, Wuchergesetzen und dem Aequivalenzprinzip
für allen Tauschverkehr. Alle diese hochwichtigen
Grundsätze aus der Weltgeschichte scheint die moderne
Politik vergessen zu haben. Man gliedert einen kleinen
Jungen verfassungsmässig einem reifen Manne an und
führt sofort dessen Strafrecht, dessen Schuldrecht,
dessen geldwirtschaftliche Rechtsordnung ein — ganz
wie es unsere Großbanken wünschen — und
ist dann noch überrascht, daß die angegliederten
Völker zu Grunde gehen und den Mutterländern
ungeheure Lasten aus den Kolonialkriegen erwachsen.
Wäre es nicht auch hier richtiger,
im Interesse der künftigen Entwicklung der
Reichfinanzen aus der individualistischen
geldwirtschaftlichen Auffassung zur
„organischen“ Auffassung überzugehen und
statt einer kurzsichtigen Begünstigung der Wucherungen
des Goldkrebses eine idealere Rechtsauffassung zu
begünstigen, die Jedem das Seine gibt? Wenn schon die
Entwickelungsgeschichte der Völker durch die
Jahrtausende etwas streng Logisches ist, dann wird sich
wohl auch die Politik der Völker unserer Tage dieser
Logik nicht verschließen dürfen, ohne die
schwersten Schädigungen dafür in Kauf zu
nehmen.
Zuerst erschienen in: Deutsche
Agrarzeitung, 39. Heft 1909.
Einige Setzfehler wurden
korrigiert.
Abgedruckt in:
Ausgewählte Abhandlungen, Aufsätze
und Vorträge
von
Professor Dr. Gustav Ruhland
zu seinem 50. Geburtstage (11. Juni 1910)
herausgegeben vom
Bund der Landwirte, Berlin
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