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Der freihändlerische Individualismus
und die organische Auffassung der Volkswirtschaft.

I.

Als vor mehr als 30 Jahren der Reichskanzler Fürst von Bismarck mit der ihm eigenen titanenhaften Energie den Bruch mit der Freihandelslehre in der praktischen Politik vollzog, hat er das Schlagwort: „Schutz der nationalen Arbeit“ geprägt. Diese Schutzpolitik richtete sich in erster Linie gegen den internationalen Freihandel und griff zunächst auf den Grenzzoll zurück. Aus naheliegenden Gründen! Die Reichsfinanzen brauchten neue Einnahmen. Die wurden am leichtesten bei dem Güterverkehr über die Staatsgrenzen erhoben. Die Grenzzölle sind ein uraltes Mittel der praktischen Politik. Man konnte also bei der Masse des Volkes an längst bekannte Vorstellungen anknüpfen. Alles weitere werde sich dann schon — wie man glaubte — aus dem praktischen Bedürfnis des Lebens ergeben. Aber Fürst Bismarck wußte damals ganz genau, daß der unheilvolle Geist des Freihandels mit der Einführung der Grenzzölle noch lange nicht abgetan war. Als z. B. einer der bayerischen Staatsminister im Herbst 1887 in Bad Kissingen vom Schreiber dieses dem Fürsten Bismarck erzählte: daß ein Münchner Student, der als ehemaliger Landwirt von den Zöllen nicht viel halte, die Absicht habe, eine Studienreise durch die landwirtschaftlichen Konkurrenzländer der Erde zu machen, um besser geeignete Maßnahmen der praktischen Politik anstelle der Zölle ausfindig zu machen, da lautete die sofortige Antwort des Fürsten: „Der Kerl gefällt mir! Ich halte auch nicht viel von meinen Zöllen. Aber ich habe bis jetzt noch niemanden gefunden, der mir etwas besseres hätte vorschlagen können!“ Fürst Bismarck hat also sehr wohl erkannt, daß er mit der Schutzzollpolitik die Beseitigung des Freihandels nur eingeleitet, aber noch nicht abgeschlossen hatte. Er ging deshalb in den 80 er Jahren dazu über, die Freihandelslehre auch für die Lohnarbeiter auf nationalem Gebiete durch eine umfassende öffentlich-rechtliche Organisation des Versicherungswesens wie durch den Ausbau seiner Arbeiterschutzgesetze weiter einzuschränken. Und wenn er auch kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Reichskanzleramte erfahren hatte, daß er mit dieser Spezialgesetzgebung für die Lohnarbeiter keineswegs das Richtige getroffen, so blieb doch für ihn die Rückkehr zum Freihandel unter allen Umständen ausgeschlossen. Wir werden unten darzulegen haben, daß in der Tat die alte Bismarcksche Forderung: „Schutz der nationalen Arbeit!“ auch damit noch lange nicht erfüllt war.

Seit dem Rücktritt des Fürsten Bismarck hat die Politik des Deutschen Reiches in der Beseitigung der Freihandelslehre fast nichts mehr geleistet. Die Handelsverträge unter Caprivi waren ein offensichtlicher Rückfall in die Bahnen des Freihandels. Und wenn auch Fürst Bülow die Zollsätze wieder etwas erhöhte, seine ganze Politik, die nach allen Seiten ihre Gaben verteilte, war wenig geeignet, Klarheit in großen einfachen Prinzipien aufkommen zu lassen.

Solche Schwankungen im Kampfe gegen den Freihandel innerhalb 30 Jahren sind nur dadurch zu erklären, daß die Entwickelung der Nationalökonomie als Wissenschaft mit dem praktisch-politischen Vorgehen des Fürsten Bismarck nicht Schritt gehalten hat. Diese Wissenschaft hat sich in den 70 er und 80 er Jahren darauf beschränkt, die Freihandelslehre mehr negativ und mehr auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie zu bekämpfen. In der praktischen Nationalökonomie wie in der Finanzwissenschaft waren die Herren Professoren — mit wenigen Ausnahmen — unfruchtbar. Hier blieben also die Lehrsätze des Freihandels in Geltung. Gleichzeitig schöpfte man aus der Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus jene Anregungen, die wir heute mit der Bezeichnung „Kathedersozialismus“ zusammenzufassen gewohnt sind. Daneben wandte man sich der historischen Spezialforschung und der empirischen Materialsammlung zu. So kam jenes seltsame Gemisch von politischen Anschauungen zustande, das die heute herrschende nationalökonomische Auffassung charakterisiert: was im Interesse von Handel und Industrie liegt, bezeichnet man als ein „öffentliches“ Interesse. Was die Lohnarbeiter angeht, ist ein „soziales“ Interesse. Was aber die übrige Menschheit angeht, betrifft nur „private“ Interessen!

Man vergesse nicht: das Handwörterbuch der Staatswissenschaften von Professor Conrad, das große gemeinsame Standardwerk der heutigen offiziellen Nationalökonomen, behandelt über 240 verschiedene Spezialkrankheiten am Volkskörper, die mit besonderer Vorliebe solchen Spezialisten überlassen wurden, welche sich um die anderen Spezialkrankheiten möglichst wenig kümmern. Und im ganzen werden von all diesen Spezialisten 700 bis 900 Heilmittel dem sozialen Körper „verordnet“. Nur unter solchen Zeitverhältnissen konnte Professor v. Schmoller in feierlicher Rektoratsrede an der Berliner Universität alle Theorien als etwas „Schwankendes“ bezeichnen, im Gegensatze zu den Tatsachenermittelungen, die ihm allein „feststehende Wissenschaft“ sind. So bleiben die Theorien zwar wenig geachtet. Aber weil keine neuen Theorien produziert wurden, herrscht im Grunde die alte Freihandelstheorie ruhig weiter, trotz Schutzzöllen und sozialer Gesetzgebung. Nur deshalb konnten es in der letzten Zeit die Freihändler wagen, sich im „neuen Hansabund“ gegen die „bösen“ Agrarier und Konservativen noch einmal zu organisieren. Man nennt sich zwar nicht „eine Vereinigung von Freihändlern“. Geheimrat und Professor Dr. Rießer sprach in seiner Eröffnungsrede im Zirkus Schumann nur von „der freien Bewegung und dem freien Verkehr“ als den „Lebensinteressen der Vereinigung“ und dem „freien Wettbewerb mit allen Staaten der Welt“ als den „Lebensbedingungen der Mitglieder des Hansabundes“. Man ist in dem neuen „Bauernbund“ sogar „auch Schutzzöllner“ wie der Bund der Landwirte. Nur die Futtergerste, welche von den Landwirten so viel gekauft wird, soll in Zukunft weniger hoch verzollt werden. Und um das Maß der Verwirrung voll zu machen, spricht man dem Mittelstande in Handel und Gewerbe von der Notwendigkeit, daß „alle Berufe sich organisieren“. Aber diese Organisation soll nur eine wahlpolitische sein und im Anschluß an den führenden Hansabund erfolgen. Dazu kommen noch all jene Verdächtigungen aus der letzten Reichsfinanzreform, die den verflossenen Reichskanzler Fürst Bülow zu dem Ausspruch veranlaßten: „Ich verstehe nicht, wie die Konservativen in der Reichserbschaftssteuer eine Prinzipienfrage erblicken konnten!“ — Das alles sind Folgen unserer so sehr rückständigen Nationalökonomie als Wissenschaft. Sie hat es seit 1879 versäumt, mit dem Freihandel auf der ganzen Linie zu brechen. Sie hat es unterlassen, den wissenschaftlichen Gegensatz zur Freihandelslehre systematisch klar herauszuarbeiten, und zwar nicht nur für die Lohnarbeiter, sondern für das ganze Gebiet der Volkswirtschaft. Deshalb haben wir heute Vertreter unter unseren Nationalökonomen von ⅓ Freihandel und ⅔ Sozialismus oder ⅔ Freihandel mit ⅓ Sozialismus je nach den persönlichen Neigungen des betreffenden Professors. Was deshalb heute, bei der herrschenden Unklarheit und Verworrenheit in der Politik, vor allem not tut, das ist eine wissenschaftlich scharfe und präzise Antwort auf die Frage: Was ist ein Freihändler? und was ist der größte Gegensatz hierzu? — Nach diesen Prinzipien müssen sich dann die Geister und Parteien scheiden und die Reihen zum ehrlichen Kampfe ausrichten.

II.

Was ist ein Freihändler? Antwort: ein reiner Individualist! Für ihn ist der Staat nichts als die Summe seiner Staatsbürger und die Volkswirtschaft nur die Summe der vorhandenen Privatwirtschaften. Das einzelne Individuum ist im Prinzip nicht nur frei, sondern auch selbstherrlich, souverain. Jeder kann tun und lassen, was er will. Deshalb gilt der Grundsatz: das Leben zu genießen, sich auszuleben! Soweit Fragen des gemeinsamen Lebens zu entscheiden sind, bestimmt die einfache Majorität die Norm. Der Wille der Mehrheit der einzelnen entscheidet und herrscht. Was aber nicht ganz notwendig zu dem gemeinsamen Leben gehört, bleibt wieder dem freien Belieben der Individuen überlassen, so daß es selbstverständlich dem einzelnen gestattet ist, sich seine Kunst, seine Moral, seine Sitte und selbst seinen Herrgott zu gestalten, wie es ihm beliebt. Die innere Wirtschaftspolitik des Staates gefällt sich unter der Herrschaft dieser Ideen am liebsten im „Gehen- und Geschehenlassen!“ laissez faire, laissez passer! Der handelspolitische Grundsatz des einzelnen lautet dann: möglichst billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen! Das daraus entstehende Gesamtspiel der wirtschaftlichen Kräfte nennt man die „naturgemäße Regelung durch Angebot und Nachfrage“. Die so gewordenen Preise sind die „natürlichen Preise“. Wenn aber die Staatsgewalt in dieses Getriebe eingreift, spricht man im Gegensatze zu den natürlichen Preisen von „künstlichen Preisen“. Treten irgendwo wirtschaftliche Krisen ein, so muß es den Beteiligten überlassen bleiben, sich selbst zu helfen. (Prinzip der Selbsthilfe!) Das Eingreifen der Unbeteiligten oder des Staates könnte die Krisis nur verschärfen oder verlängern. Dieses Spiel des Freihandels bei Entfesselung der individuellen Kräfte besorgt innerhalb der Gesellschaft wie innerhalb der Völker die „natürliche Auslese der Tüchtigsten“ (Darwinismus in der Volkswirtschaft und Weltgeschichte!).

Das Ziel aller wirtschaftlichen Tätigkeit ist in solchen Zeiten mit irgend welcher Sorge für das Jenseits nicht belastet. Alles erschöpft sich in den Ereignissen dieser Welt. Das Ziel aller Wirtschaft ist deshalb nur darauf gerichtet, daß sich der einzelne möglichst bereichere. Ein jeder will möglichst rasch möglichst reich werden (Materialismus!). Für die gesetzliche Ordnung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse gelten deshalb vor allem die rein geldwirtschaftlichen Bedürfnisse. Naturalleistungen oder Rentenleistungen, insbesondere soweit sie über das Leben des einzelnen hinausgehen, werden abgeschafft. Als Geld wird Gold entschieden bevorzugt. Mit dem zunehmenden Reichtum der einzelnen entwickelt sich die Herrschaft der Banken. Eine Zentralnotenbank wird nicht als „Bank des Volkes“, sondern als „Bank der Banken und der Reichsten“ konstruiert. Die Masse des Volkes aber wird dazu angehalten, ihre disponiblen Geldmittel den Kellern der Banken anzuvertrauen und alle Zahlungen möglichst durch die Banken zu leisten. So werden die Großbanken mehr und mehr Bewahrer der überwiegenden Masse des in der Volkswirtschaft vorhandenen mobilen Vermögens. Sie werden damit und mit Hilfe der Börsen „Leiter des Unternehmergeistes der Nationen“ (Isaac Pereire und Dr. von Siemens). Der Bankkredit bevorzugt entschieden die großen und größten Unternehmungen mit den kurzfristigen Spekulationskrediten. Damit droht der selbständige Mittelstand zu verschwinden. Das Volk wird zur Spekulationsteilnahme systematisch erzogen, die neue Großindustrie von den Banken zwangsweise zu Syndikaten zusammen geschlossen (Fall Phönix u. A.) und der Export von industriellen Produkten forciert (Dumpingsystem). Neben dem Kreditmonopol für die großen Privatunternehmungen teilen sich die Banken auch in das Kreditmonopol für die Staaten und öffentlichen Körperschaften. (Herrschaft der Plutokratie!) Und das ist der Zeitpunkt, in dem die Banken und Börsen Einfluß genug gewinnen, „um die bewaffnete Macht der Staaten für ihre Interessen ins Feld zu rufen“, die Gewinne und „Forderungen der hohen Finanz im Auslande einzutreiben“. (Generalfeldmarschall Graf Hellmuth von Moltke). Die Habgier der Reichsten trachtet überall nach einer Eroberung der Welt. Immer mehr Firmen arbeiten nach der Devise: „Mein Feld ist die Welt!“ — Die herrschende geldwirtschaftliche Auffassung läßt überall die Rechtsnormen der hoch entwickelten Staaten zur Einführung gelangen, gleichgültig, ob die vorhandenen Verhältnisse dazu reif sind oder nicht. Das Verhältnis des Mutterlandes zu den Kolonien und das durch internationale Verträge gesicherte Recht der Europäer innerhalb der anderen Länder erleichtert so außerordentlich das Aufkommen der Weltherrschaftstendenzen großer Unternehmungen. Die Freihändler nennen das zwar „freien Wettbewerb mit allen Staaten der Welt“. In Wirklichkeit aber betrachtet man es als „selbstverständlich“, daß der privaten Handelsflagge die nationale Kriegsschifflagge überall hin folgt und die nationale Wehrkraft den immer großartiger angelegten Beutezügen der Banken und Großkapitalisten so viel Schutz und Ansehen gewährt, daß die zunächst ausgebeuteten Völker im Auslande sich nicht dagegen aufzulehnen wagen. Die unmittelbar nachfolgenden schweren Schädigungen der heimischen produktiven Stände, insbesondere der Landwirtschaft, werden durch die Schlagworte von der „natürlichen Preisbildung durch Angebot und Nachfrage“ von dem „zunehmenden Reichtum an Kapital, das nach Anlagegelegenheit suche“, von dem „international gesteigerten Ansehen der Nation“, von der „Gewerbefreiheit“ und den „Interessen der Auswanderer“ bei heimischer „Uebervölkerung“ abgetan.

In der internationalen Politik der Staaten gilt Gewalt vor Recht. Es macht sich mehr und mehr jene dumpfe Stimmung geltend, die aus der Tatsache hervorgeht, daß die großkapitalistisch organisierten Interessen eines Volkes immer die Interessen aller anderen Völker zu verdrängen drohen — eine Stimmung, die bei rasch wachsenden kriegerischen Konflikten unaufhaltsam entweder zu einem großen Weltbrande oder zu einer internationalen Koalition der Großkapitalisten als Herrschaftsform über die Völker der Welt führen muß.

Aus all diesen Gründen wachsen jetzt die Ausgaben der Staaten für Heer und Marine ganz allgemein. Die freihändlerische Finanztheorie aber geht von den Grundsätzen aus: der freie Verkehr darf unter keinen Umständen angetastet oder belastet werden, mit anderen Worten: „die Börse muß pfleglich behandelt werden!“ Die Mehrausgaben des Staates sind durch „Besitzsteuern“ zu decken, die am zweckmäßigsten als Erbschaftssteuer erhoben werden. Weil aber hierbei erfahrungsgemäß das Großkapital tausend Wege findet, sich der Steuer zu entziehen, würde so der ohnehin schon drohende Vernichtungsprozeß des selbständigen Mittelstandes in Stadt und Land noch wirksamer in die Wege geleitet werden. Das Ende dieser Entwicklung aber muß sein: eine kleine Zahl unermeßlich reicher Leute und die große Masse des Volkes abhängige Proletarier —, ein Zustand, den in der Weltgeschichte alle Kulturvölker kurz vor ihrem Untergang erreicht haben.

In dieser beklagenswerten Entwicklung wirft Nordamerika für Deutschland seine Schatten voraus. Die 30 bis 40 000 selbständigen Schlächtermeister, welche es noch 1876 in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gab, sind verdrängt worden durch die Alleinherrschaft von früher 7 und jetzt nur noch 5 Großschlächtereien, die inzwischen schon beginnen, auch die Schlachtungen in Argentinien zu monopolisieren. Ebenso nimmt heute die gleiche großkapitalistische „Vertrustung“ des Kleinhandels in den Vereinigten Staaten unter den gleichen großkapitalistischen Führern auf dem Gebiete der Kurz- und Schnittwaren, der Zuckerwaren, der Zigarrengeschäfte, des Handels mit Eis und Brennmaterialien, mit Milch usw. seinen Fortgang. Die Organisatoren in Deutschland machen ihre Vorstudien in Nordamerika. Und unsere Nationalökonomie als Wissenschaft findet fast durchweg gerade diese Art der Entwickelung „durchaus normal“ ! —

III.

Was ist der größte prinzipielle Gegensatz zum freihändlerischen Individualismus? — Als Antwort auf diese Frage verweisen unsere meisten Lehrbücher für Nationalökonomie auf den Sozialismus. Aber diese Antwort ist wohl unrichtig. Der Marx‘sche Sozialismus unterscheidet sich wirtschaftspolitisch von den Freihändlern nur dadurch, daß er für seinen Zukunftsstaat die Gleichheit der Menschen in der Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse anstrebt. Bis dahin, das heißt bis zur Errichtung des „Zukunftsstaates“, ist der Sozialist durchaus Freihändler. Die Revisionisten gar, welche bekanntlich die Marx‘sche Theorie ablehnen, sind überwiegend reine Freihändler. In den praktisch-politischen Tagesfragen gibt es deshalb innerhalb der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion fast keine wesentlichen Differenzen. Und die Idee eines Blocks von „Bassermann bis Bebel“ ist gar nicht so sinnlos, wie es manchem erscheinen mochte, denn im Grunde ist auch der Sozialist nur ein Individualist!

In Wahrheit gibt es noch einen viel tiefer greifenden prinzipiellen Gegensatz zum freihändlerischen Individualismus, einen Gegensatz, der in dem einzelnen Menschen — statt einem selbständigen freien Mittelpunkt der Weltauffassung — nur ein „Abgesplittertes vom Ganzen“ sieht und den „ganzen Menschen“ als den ewigen Normalmaßstab für alle menschlichen Dinge in der „Einheit der menschlichen Gesellschaft“ erblickt. Das ist die sogenannte „organische Auffassung der Volkswirtschaft“, die nicht nur eine rein subjektive Theorie, sondern eine Wahrheit genannt werden muß, die bei etwas tieferem Nachdenken aus den uns umgebenden Verhältnissen uns immer und überall entgegen tritt.

Einer der ersten Nationalökonomen der jüngst vergangenen Zeit, Albert Schäffle, hat in seinem unstreitig besten Werke, das er unmittelbar nach seiner praktischen Tätigkeit als österreichischer Handelsminister gewissermaßen als Abschluß seiner nationalökonomischen Forscherarbeit geschrieben (Kapitalismus und Sozialismus, 1870) auf Seite 101 wörtlich gesagt: „Ein Mensch ist kein Mensch — unus homo, nullus homo — haben schon alte Weltweise bemerkt. Plato insbesondere hat starke Betonung darauf gelegt, daß das ganze volle Wesen des Menschen erst im „großen Menschen“, der Gesellschaft, sich darstellt. Und Platos großer Antagonist, Aristoteles, hat darin mit seinem Gegner übereingestimmt, indem er den Menschen das von Natur staatlich sozial angelegte tierische Wesen nannte. Unzählige Male hat die neuere Philosophie seit dem 16. Jahrhundert diese Auffassung wiederholt. Man braucht nur in irgend einem Handbuch der philosophischen oder theologischen Moral nachzuschlagen, um die Behauptung zu finden, daß der Mensch nur in der Gesellschaft sich sittlich entfalten könne, daß er in Kunst, Wissenschaft, Religion und Erziehung auf eine allumfassende menschheitliche Vereinigung, daß er für alle vernünftige Bestätigung auf „sittliche Gemeinschaft“, auf umfassenden Verkehr mit allen Seinesgleichen angewiesen sei.“ —

Schäffle hätte noch für die Zeit nach Aristoteles und bis zum XVI. Jahrhundert einfügen können, daß auch der Apostel Paulus, Augustin und Thomas von Aquin und in Anlehnung an diese auch Martin Luther diese organische Auffassung“ vertreten haben. Endlich konnte Schäffle aus seinen Zeitgenossen als Anhänger dieser Lehre die beiden Engländer John Ruskin und Thomas Carlyle anführen. Und er hätte für die Gegenwart darauf hinweisen können, daß die konservativen und christlichen Parteien aller Kulturländer diese „organische Auffassung“ vertreten auf dem Gebiete des Staatsrechts und der Politik für Kirche und Schule. Wir sind heute in der Lage zu betonen, daß auch die moderne Strafrechtswissenschaft in dem Verbrechen nicht mehr nur das Verschulden des einzelnen, sondern das Produkt des einzelnen und seines sozialen Milieus erblickt (Franz von Liszt) und damit an Stelle der individualistischen Auffassung die „organische Auffassung“ gesetzt hat. Inkonsequent ist nur die Schlußfolgerung dieser Schule: den einzelnen Verbrecher mit Milde zu behandeln und dem Freihandel zuzuneigen, statt durch eine entsprechende Aenderung unseres ganzen sozialen Milieus die Verbrechen tunlichst zu verhüten.

Es muß mithin gesagt werden: die „organische Auffassung des Menschen, die den freihändlerischen Individualismus prinzipiell ausschließt, ist seit Jahrtausenden von den besten Denkern aller Zeiten vertreten worden. Es fehlt nur noch die konsequente Anwendung dieser Erkenntnis auf unser gesamtes Wirtschaftsleben. Doch hat auch hier wieder Schäffle tüchtig vorgearbeitet.

Nachdem er an der gleichen Stelle darauf hingewiesen, wie in der Tat überall die Menschen ihre Zwecke in Gemeinschaft verfolgen und wie unser Leben sich gliedert in ein nationales und internationales, wie Wissenschaft und Kirche, wie unser Erziehungswesen, unser Rechts- und Kunstleben diese Gliederung deutlich erkennen lassen, und Sprache, Erinnerungsvermögen und Akklimationsvermögen den Menschen diesem Verkehrsbedürfnis wunderbar angepaßt haben, geht Schäffle auf Seite 103 einen Tag seines eigenen Lebens durch und zeigt, wie jeder vom Morgen bis zum Abend in seinem Konsum abhängig ist von der Arbeit der ganzen Menschheit. Seine schönen Betrachtungen schließen mit dem Satze; „Der zivilisierte Mensch braucht seiner Haushaltung nur die konkreten Gütermasken abzustreifen, so belebt sich sein Haus mit einem Stück Wirtschaftsleben der Menschheit, das an ihn die Frage richtet: ob auch er anderen Zeiten, anderen Völkern, anderen Ständen Produkte seiner Lebenskraft ins Haus lege?“

Insbesondere in meinem „System der politischen Oekonomie“, Bd. III, Seite 328 ff. war ich bemüht, den Nachweis zu erbringen, daß die produktive Arbeit eines jeden in ihren Resultaten vor allem das Produkt der Mithilfe der großen sozialen Arbeitsgemeinschaft ist. So bei dem einzelnen Lohnarbeiter in der Fabrik, bei dem einzelnen Landwirt, bei dem Forstmann und so für alle produktiven Stände. Wieviel mehr gilt das dann für die Spekulanten aller Art!

Wenn aber unser täglicher Konsum und unsere tägliche Arbeit nur im Sinne einer „organischen“ Auffassung wissenschaftlich richtig beurteilt werden können, dann muß auch für die Lebensgeschichte der Völker die gleiche Auffassung gelten. Kein geringerer als der beste Kenner des geschichtlichen Lebens, Fürst Bismarck, hat diese seine Ueberzeugung klar in dem Satze zum Ausdruck gebracht: „Die logischen Revisionen der Geschichte sind noch genauer, als die unserer Oberrechnungskammer!“ Er hat damit, wie mit manchem anderen Ausspruch, sich nicht nur gegen die materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx, sondern auch gegen die moderne Heldenverehrung unserer Geschichtsschreiber gewendet. Nicht die großen Männer machen die Zeiten, sondern die Zeiten machen die großen Männer. Immer aber wird die „organische Geschichtsauffassung“ zu einer streng logischen Geschichtsdarstellung kommen müssen, wie ich das in Bd. II meines „Systems der politischen Oekonomie“ für fast alle Kulturvölker nachzuweisen versucht habe.

Allgemein ist bekannt, daß wir unsere körperliche Gesundheit und Lebenskraft vor allem unseren Eltern und Voreltern verdanken, wie wir wieder die Lebenskraft der künftigen Generationen in uns tragen. Kurz: es gibt keine besser begründete Wahrheit als die der „organischen Auffassung des Menschen und der Volkswirtschaft“. Wenn dem aber so ist, dann muß der freihändlerische Individualismus ein Irrtum sein, der um so bedenklicher ist, je weiter die Kreise reichen, die von ihm beherrscht werden.

IV.

Die Konsequenzen der organischen Auffassung des Menschen für die praktische Wirtschaftspolitik lassen sich etwa in die folgenden Sätze zusammenfassen:

A. Um die tiefere Begründung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse nach „organischer“ Auffassung zu erschließen, ist es — um die Worte Schäffles zu gebrauchen — nötig: „die konkrete Gütermaske den Dingen abzustreifen“. Mit anderen Worten: es ist nötig, bei den einzelnen Gütern und Einkommensarten ihrer Herkunft aus der großen sozialen Arbeitsgemeinschaft nachzugehen. Unsere Nationalökonomie pflegt das nicht zu tun. Deshalb hat schon 1860 John Ruskin öffentlich erklärt: „In der Geschichte ist nichts so demütigend für den menschlichen Verstand gewesen, als unsere Anerkennung der allgemeinen (individualistisch-egoistischen) Dogmen der Nationalökonomie als Wissenschaft“. Und Thomas Carlyle hat gerade diese nationalökonomischen Abhandlungen von Ruskin als solche bezeichnet, die mit „luchsäugiger Logik“ geschrieben seien. Trotzdem blieb bis in die Gegenwart unsere Nationalökonomie von der individualistischen Auffassung beherrscht. Um also den seit 1879 vom Fürsten Bismarck eingeleiteten Bruch mit der Freihandelstheorie endlich konsequent durchzuführen, ist es vor allem notwendig, das Volk fortgesetzt darüber aufzuklären, daß — um mit John Ruskin zu reden — „die echte Wissenschaft der Nationalökonomie sich zu der heute immer noch herrschenden „Bastardwissenschaft“ verhält wie die Medizin zur Quacksalberei oder wie die Astronomie zur Astrologie“ und daß es zu den schwersten Schädigungen des allgemeinen Volkswohles führen muß, wenn diese individualistische Auffassung der Volkswirtschaftslehre noch länger fast ausschließlich an allen Lehranstalten für die heranwachsende Jugend gelehrt wird. Nur darf man nicht glauben, daß die Spielereien unserer Soziologen mit dem Begriff „organisch“ schon die „organische Auffassung in der Volkswirtschaft“ ersetzen könnten.

B. Nach organischer Auffassung ist unsere Volkswirtschaft nicht die Summe der vorhandenen Privatwirtschaften — wie heute gelehrt wird — sondern die einheitliche Gliederung von unselbständigen Teilen zu einem gemeinsamen Leben. Die Einzelindividuen oder die Einzelwirtschaften sind nur Zellenteile oder organische Grundzellen, die vor allem dem Leben des ganzen Volkskörpers ihr Leben verdanken. An der Leiche gibt es kein Zellenleben mehr. Auch deshalb bleibt die Absicht der Sozialdemokratie, in der Todesstunde der bürgerlichen Gesellschaft ihren „Zukunftsstaat“ aufzurichten, sinnlos.

Ebensowenig gibt es nach organischer Auffassung Volksklassen (Arbeiterklasse, Konsumentenklasse, Produzentenklasse), zwischen deren verschiedenen Interessen ein Ausgleich etwa auf der mittleren Linie gesucht werden müsse, wie noch der verflossene Reichskanzler Fürst von Bülow so oft meinte. Nach der organischen Auffassung gibt es nur verschiedene Glieder an dem gleichen Volkskörper. Heute begünstigt man allgemein die Organisation der Klasseninteressen der Arbeiter in den Gewerkschaften. Wenn aber im Kampfe mit den Gewerkschaften auch andere Volkskreise, wie die Aerzte in Deutschland, oder wie die Richter in Italien und die Beamten in Frankreich sich organisieren, dann ruft man: „Quos ego“! Was dem einen recht ist, muß dem anderen billig sein. Wenn die Konsequenzen unhaltbar sind, muß der Ausgangspunkt falsch sein. Die Wirtschaftspolitik nach „organischer“ Auffassung wird deshalb auch den Lohnarbeitern das Koalitionsrecht auf individualistischer Grundlage nehmen, um ihnen ein besseres organisches Recht dafür zu geben.

Unter der Herrschaft der falschen Lehre des Individualismus haben die Volksglieder Handel und Industrie die Tendenz, hypertrophisch zu wachsen, während gleichzeitig die Landbevölkerung von der Atrophie befallen wird. Der freihändlerische „Hansabund“ glaubt daraus nach dem Rechte der Majorität folgern zu können, daß künftig Handel und Industrie die politisch maßgebenden Faktoren im Staate sein müssen. Nach „organischer“ Auffassung wäre das freilich ein verhängnisvoller politischer Fehler. Die Hypertrophie einzelner Volksglieder und die Atrophie anderer Glieder des Volkskörpers beweist die beginnende schwere Erkrankung unserer Volkswirtschaft, die nur dadurch beseitigt werden kann, daß die Ueberernährung von Handel und Industrie mit aller Energie eingestellt wird, um der in der Entwickelung zurückbleibenden Landbevölkerung verdoppelte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nicht aus dem Streit, nur aus der Harmonie der Volksglieder kann das Wohlbefinden des Ganzen in all seinen Teilen erwartet werden (Menenius Agrippa).

C. Nach organischer Auffassung gilt als leitender Grundsatz: „Das Ganze ist früher als der Teil!“ Der Keim am Samenkorn enthält bereits alle Teile der künftigen Pflanze. Der unförmige Embryo in seinem intrauterinen Leben umschließt bereits alle Glieder und Eigenschaften des künftigen Individuums. Der streng logische Entwicklungsverlauf der Völkergeschichte beweist, daß für die Völker und Menschen das Gleiche gilt. Es bleibt deshalb ein höchst gefährlicher Irrtum, mit dem Handwörterbuch der Staatswissenschaften von Conrad an unserem Volkskörper 240 verschiedene Spezialkrankheiten zu unterscheiden und in der praktischen Politik nacheinander bald die Lohnarbeiter, bald den Mittelstand, bald Handel und Industrie, bald die Landwirtschaft, bald die Beamten vergeblich zufriedenstellen zu wollen, und zwar immer ohne jeden einheitlichen Entwicklungsplan, einfach nach den zufälligen parlamentarischen Mehrheiten. Das bedeutet auf der ganzen Linie eine individualistische Volkswirtschaftspolitik, was schon der Bezeichnung nach eine contradictio in adjecto ist.

Die „organische“ Volkswirtschaftspolitik muß vor allem in den tieferen Zusammenhang der lebendigen Wechselbeziehungen der verschiedenen Volksglieder in ihrem Wohl und Wehe als Teile des Ganzen eindringen. Die Lohnfrage der Hilfsarbeiter kann im Einzelfalle nur oberflächlich behandelt werden. Denn die Lohnhöhe der Hilfsarbeiter bleibt ein Abgeleitetes von dem Arbeitserfolg der Vollarbeiter, die zugleich Eigentümer ihrer Produktionsmittel sind. Das Gleiche sollte gelten für die Beamtengehälter. Und der volkswirtschaftliche Arbeitserfolg bleibt ganz allgemein wieder abhängig von der Frage: ob die „Interessenten desarbeitslosen Einkommens“ Herren der Volkswirtschaft sind oder nicht? Wenn z. B. das arbeitslose Einkommen in Deutschland jährlich um viele Milliarden zunimmt, und wenn alle Autoritäten von Adam Smith und David Ricardo bis auf Schäffle rückhaltlos zugegeben haben, daß die menschliche Arbeit allein die Quelle ist, aus der alles Einkommen geschöpft wird, dann müssen die Milliarden, welche das arbeitslose Einkommen jährlich mehr vereinnahmt, den volkswirtschaftlichen Arbeitserfolg entsprechend mindern. Die volkswirtschaftliche Arbeitsfrage läßt sich deshalb von der Beseitigung der volkswirtschaftlichen Herrschaft der Kapitalisten gar nicht trennen. Und dann erst kann die organische Wechselbeziehung zwischen der Lohnhöhe der Hilfsarbeiter und der Beamtengehälter auf der einen Seite und dem Arbeitserfolg des Vollarbeiters auf der anderen Seite wirklich funktionieren. Dazu dient speziell die einheitliche Organisation der inneren Kolonisation, und zwar nicht nur auf dem landwirtschaftlichen Grundbesitz, sondern auch auf dem alljährlichen Zuwachs des nationalen Arbeitsfeldes in Handel und Industrie. Eine innere Kolonisation dieser Art hat wieder zur Voraussetzung, daß vorher die individuelle Gründer- und Vergrößerungsfreiheit gebändigt wird durch ein allgemeines Kontingentierungsgesetz und eine planmäßige Ordnung in der Volkswirtschaft, welche die Wiederkehr allgemeiner Krisen verhütet. So schließt sich der Ring einer wahrhaft sozialen Gesetzgebung für das ganze Volk und nicht nur für die „Arbeiterklasse“. Nur so kommen wir zu einem wirklichen „Rechtsschutz der nationalen Arbeit“. Damit wird endlich die Brücke gebaut für das Aufsteigen der Tüchtigen aus dem Verhältnis der wirtschaftlichen Abhängigkeit in das der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit.

Diese Art von Mittelstandspolitik bedeutet nicht nur die Erhaltung des bestehenden, sie bedeutet eine tunlichste Ausbreitung des Mittelstandes als Leitmotiv unserer gesamten Wirtschaftspolitik. Und darin liegt wieder die allein mögliche Sanierung unseres individualistischen Wahlrechts. Nur wenn der Mann an der Wahlurne in überwiegender Mehrheit sein Einkommen in dem ökonomischen Zustand der Selbstverantwortlichkeit verdient, bleibt unser politisches Leben von dem Radikalismus der besitzlosen Massen verschont. Diese „organische“ lebendige Wechselbeziehung aller Teile im ganzen mag schwerer zu verstehen sein, wie der Inhalt individualistisch isolierter Spezialuntersuchungen. Aber diese Schwierigkeiten liegen in der Natur der Dinge, der sich alle Theorie bedingungslos zu unterwerfen hat.

D. Unsere heutige Wirtschaftspolitik kann fast in allen Teilen eine Billigung durch die „organische“ Auffassung nicht finden. Es wurde bereits auf das Koalitionsrecht der Lohnarbeiter hingewiesen, das man jetzt sogar auf die ländlichen Arbeiter ausdehnen will, trotzdem die Konsequenzen dieser Politik ins Unhaltbare führen. Dazu hat man die sozialen Versicherungsgesetze für die Lohnarbeiter auf die Kranken-, Unfall- und Altersversicherung und bald auch auf die Witwen- und Waisenversicherung ausgedehnt. Aber man hat diese soziale Gesetzgebung auf die Lohnarbeiter als Klasse beschränkt, trotzdem es keine Volksklassen, sondern nur Volksglieder gibt. Und man hat sich genau der falschen sozialistischen Theorie entsprechend dabei nur an das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gehalten, statt den viel größeren Prozeß der sozialen Arbeitsgemeinschaft zu umfassen und die Arbeitslohnfrage durch Befreiung der Arbeit des ganzen Volkes aus der Herrschaft des „arbeitslosen“ Einkommens organisch zu lösen. Man denkt sogar noch an eine Krisenversicherung für die Lohnarbeiter, aber man denkt nicht daran, diese Krisen dadurch zu beseitigen, daß man anstelle der Oberleitung des Unternehmergeistes des Volkes durch unsere Großbanken eine uneigennützige Oberleitung im Interesse des ganzen Volkes setzt, deren Aufgabe es wäre, das Volk vor der Wiederkehr solcher allgemeinen Krisen zu bewahren.

Die drohende Vernichtung des selbständigen Mittelstandes läßt die Zahl der unverheirateten Mädchen aus diesen Kreisen wachsen. Aber daraus folgert man nicht die Notwendigkeit, der wirklichen Ursache, nämlich der drohenden Vernichtung des selbständigen Mittelstandes, entgegenzutreten. Man begnügt sich, Konsequenzen in der Richtung der krankhaften volkswirtschaftlichen Entwickelung zu ziehen. Man fördert Frauenbildung und vermehrt die Gelegenheit einer wirtschaftlichen Verselbständigung der Frauen und geht auf die Anträge der emanzipierten Frauen mehr und mehr ein.

Unsere landwirtschaftlichen Organisationen haben wiederholt unter Mitwirkung unserer Professoren das Problem der landwirtschaftlichen Schuldentlastung behandelt und sind dabei zu dem Resultat gekommen, daß es mit Hilfe besonderer Banken und der Lebensversicherungsanstalten möglich wäre, bei Einführung einer Verschuldungsgrenze den einzelnen bis zu seinem Tode schuldenfrei zu machen. Dann kann der Nachfolger wieder neue Schulden aufnehmen, die abermals bis zu dessen Tode abgelöst sind usw. Hat diese ganze Schuldentlastung nicht eine verblüffende Aehnlichkeit mit der bekannten Sisyphusarbeit, die als Strafe für den verschlagensten aller Menschen in der Unterwelt verhängt wurde? Zu solchen Resultaten führt die individualistische Auffassung. Die „organische“ Auffassung sieht auch hier, daß es sich um ein Problem der Befreiung der produktiven Arbeit aus den Fesseln der Schuldherren handelt und daß dieses Problem mit seiner Lösung nur als Entwicklungstendenz in die Aufeinanderfolge der Generationen gelegt werden kann, um eines Tages zur Schuldenfreiheit des ganzen Volkes zu gelangen. Das alles mag sehr schwierig scheinen; aber glaubt man denn ein Problem dadurch besser lösen zu können, daß man es enger formuliert, als es seiner Natur nach ist?

Seit einer Reihe von Jahrzehnten herrscht das Schlagwort „Organisation“ in der praktischen Politik. Aber man denkt dabei immer nur an Spezialorganisationen auf lokaler Grundlage: an Innungen, Genossenschaften, Gewerkschaften, berufliche Vertretungen usw. Das alles mag für den Anfang sehr notwendig sein. Aber nach einer gewissen Zeit kann es doch nicht mehr umgangen werden, an das Ganze der Volkswirtschaft zu denken, für das es keine „Klassen“, sondern nur Volksglieder gibt. Solche Erwägungen sind aber erst möglich, wenn man allgemeiner aus dem Irrtum der individualistischen Auffassung zur Wahrheit der organischen Auffassung sich bekehrt.

Für die individualistische Auffassung bleibt die Finanzwissenschaft eine ziemlich selbständige Wissenschaft. Für die organische“ Auffassung erscheint die Deckung des Staatsbedarfs als ein Teil der gesamten Wirtschaftspolitik und der Steuergrund führt sich zurück auf den Begriff der „sozialen Arbeitsgemeinschaft“. Es bleibt deshalb in hohem Maße verdienstlich für die Reichstagsmajorität, daß sie der heute in der Theorie herrschenden individualistischen Auffassung nicht weiter gefolgt ist, sondern durch eine Wertzuwachssteuer die Gesetzgebung gegen das arbeitslose Einkommen eingeleitet hat. Konsequenterweise hätte wohl eine „allgemeine“ Wertzuwachssteuer auch auf die mühelosen Gewinne des mobilen Vermögens ausgedehnt werden sollen. Aber so lange die Regierung auf dem seltsamen Grundsatze beharrt: „die Börse muß pfleglich behandelt werden!“ —, so lange ließ sich praktisch nicht mehr erreichen, als erreicht worden ist. Das Reichsdefizit war da, es mußte gedeckt werden; und es ist gedeckt worden. Aber weil unsere Finanzwirtschaft in engster Wechselbeziehung steht mit unserer gesamten Wirtschaftspolitik, und weil die stetig wachsenden Ausgaben des Reiches mit einer ungewöhnlichen Begünstigung von Handel und Industrie im Weltmarkte in direktester Beziehung steht, weil ferner eben diese Begünstigung bereits krankhafte Formen für unseren Volkskörper angenommen hat, wird die Reichstagsmajorität daraus weitere Konsequenzen ziehen müssen.

Als am 18. Januar 1871 Kaiser Wilhelm I. sich die Kaiserkrone auf sein Haupt setzte, gab er die feierliche Erklärung ab: daß das deutsche Volk „den Frieden innerhalb seiner Grenzen genießen“ solle und daß es seinen Nachfolgern an der Kaiserkrone vergönnt sein möge, als „Mehrer des Reiches nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete der nationalen Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung“ sich zu betätigen. Der Generalfeldmarschall Graf Hellmuth v. Moltke hat dann in seiner Vorrede zur Volksausgabe der Geschichte des deutsch-französischen Krieges darauf hingewiesen, daß inzwischen der Einfluß der Banken und Börsen so gestiegen ist, daß diese Kreise in der Lage seien, „die bewaffnete Macht für ihre Interessen ins Feld zu rufen.“ Von den 25 Kriegen oder Gruppen von Kriegen, welche in der Welt seit 1870/71 gezählt werden können, sind mindestens 21 Kriege als „reine Geldkriege“ neben einer großen Zahl ernster politischer Konflikte zu bezeichnen. Das alles mag für eine gewisse Zeit und Entwicklungsperiode nicht zu ändern sein. Inzwischen aber zeigen sich für die deutsche Volkswirtschaft deutlich krankhafte Entwicklungszustände, die direkt mit der zu starken Begünstigung von Handel und Industrie von Reichs wegen zusammenhängen. Der internationale Wettlauf der Völker gerade auf diesem Wege erscheint als die eigentliche Wurzel der immer mehr wachsenden Rüstungen. Deshalb die stetig steigenden Ausgaben auch des Deutschen Reiches. Wie ist es möglich, diese stetig wachsenden Ausgaben künftig zu verhüten? Das ist natürlich für Deutschland allein nicht möglich, ohne selbst Schaden zu leiden. Aber nach der organischen Auffassung gibt es nicht nur nationale, es gibt auch internationale weltwirtschaftliche Aufgaben, die durch eine bessere Organisation gelöst werden müssen. Die Tatsache, daß die modernen Verkehrsmittel die Teile der Weltwirtschaft immer enger zusammenschließen, und daß die Zeit vorbei ist, in der die Entdeckung neuer Weltteile zur Weltherrschaft einzelner Staaten führen konnte, deutet nach der gleichen Richtung. Also muß auch auf dem Gebiete der auswärtigen Politik von dem heute noch herrschenden Individualismus der Staaten, wobei einer immer jedem anderen den Rang ablaufen möchte, gebrochen und der Uebergang zur „organischen“ Auffassung vorbereitet werden, für welche der Grundsatz gilt: „Raum für alle hat die Erde!“ Jedes Streben nach Alleinherrschaft auf der Welt ist schon deshalb prinzipiell zu verwerfen. Dieses Streben nach Alleinherrschaft im Welthandel wird um so bedenklicher, je mehr es gleichzeitig die Fundamente aller Heimatspolitik untergräbt und je allgemeiner man die engen Wechselbeziehungen zwischen auswärtiger Politik und Heimatspolitik zu verkennen scheint.

E. Man hat den Lohnarbeitern in der sozialen Gesetzgebung jährlich viele Millionen geschenkt, man hat dem Mittelstand in einer Reihe von Novellen zur Gewerbeordnung sein Wohlwollen bewiesen, man hat der Landwirtschaft bei Abschluß der letzten Handelsverträge höhere Zölle bewilligt. Nun glaubt man auch damit wieder fortfahren zu können, die Großbanken und Börsen mit der Exportindustrie und dem internationalen Handel zu begünstigen. So werden denn unter Einsetzung der gesamten Machtmittel des Reiches immer mehr überseeische Bankfilialen gegründet. Die wachsende Verschuldung des Auslandes bei unseren Großbanken erachtet man als einen Fortschritt des nationalen Ansehens. Mit der Zunahme des Exports an industriellen Produkten glaubt man auch den Interessen der heimischen Lohnarbeiter gedient zu haben. In all diesen Fällen muß deshalb unsere Diplomatie im Auslande energisch mithelfen. Und wenn dann die Reichstagsmajorität die wesentlich deshalb aufgelaufenen erhöhten Ausgaben des Reiches bewilligt durch Steuern, die vom ganzen Volke proportional seiner Leistungsfähigkeit getragen werden, dann gründen die Großbanken wegen ungeheurer Neubelastung mit Steuern — deren Betrag gerade in ihrem Interesse aufgewendet wurde — den neuen „Hansabund“ gegen die Reichstagsmajorität. Eine solche Politik muß nach „organischer“ Auffassung als eine Politik der unvereinbaren Widersprüche bezeichnet werden.

Es ist ein innerer Widerspruch, die verschiedenen Glieder des Volkes als gleichberechtigte Klassen zu behandeln und ohne jede Rücksicht auf ihre Proportionalität zum Ganzen der Reihe nach zu begünstigen. Diese Art der Begünstigung ist speziell ein „organischer“ Widerspruch, weil jede weitere Förderung des Großkapitals den Mittelstand, der sein erster Arbeiter und Eigentümer seiner Produktionsmittel ist, noch mehr zu zersetzen droht in Proletarier auf der einen, und Großkapitalisten auf der anderen Seite. Entwickelungsgeschichtlich schließen sich deshalb für die in Deutschland erreichte Wirtschaftsstufe Mittelstandspolitik und Großkapitalistenpolitik gegenseitig aus wie die Förderung der Krankheit in der Richtung des Todes und die Gesundheitspflege. Man kann nicht Mittelstandspolitik treiben und gleichzeitig Milliardäre züchten wollen! Speziell der verhängnisvolle Uebergang zum industriellen Exportstaat ist nicht nur nach dem Caprivi‘schen Rezept möglich: durch Handelsverträge auf Kosten der heimischen Landwirtschaft den industriellen Export zu begünstigen. Das gleiche, verhängnisvolle Ziel kann auch nach der Methode des Fürsten Bülow erreicht werden: durch tatkräftige Begünstigung unserer Großbanken in der inneren und äußeren Politik mit allen Machtmitteln des Reiches, durch die Gründer- und Spielfreiheit unserer Börsen und die dadurch wesentlich erleichterte großkapitalistische Vertrustung unserer Industrie. Speziell die andauernde energievolle Förderung unseres Großkapitals bei Erschließung einer neuen landwirtschaftlichen Konkurrenz in Kleinasien muß in wenigen Jahren wieder sehr schwere Zeiten für die heimische Landwirtschaft herbeiführen, trotz der erhöhten Zölle. Und alle Zuwendungen an die Lohnarbeiter müssen so lange von diesen gering geschätzt werden, so lange gleichzeitig durch umfassende Begünstigungen der Großunternehmungen und des arbeitslosen Erwerbs die Brücke immer mehr abgebrochen wird, welche ein Aufrücken der Lohnarbeiter in die Position der ökonomischen Selbstverantwortlichkeit ermöglichte. Man sorgt sich um Erweiterung der Wahlrechtsfreiheiten, aber man sieht nicht, daß die Basis aller politischen Volksrechte das Prinzip der ökonomischen Selbstverantwortlichkeit ist, wie es im echten Mittelstand verkörpert wird, der nicht als „mittlere Klasse der Einkommenstufen“, sondern als Klasse der Selbstverantwortlichkeit zwischen den großkapitalistischen Herren und den Proletariern betrachtet werden muß.

Der heute herrschenden internationalen Politik fehlt endlich noch Eins: und das ist der rechte Blick für die organischen Voraussetzungen zur Einführung der geldwirtschaftlichen Rechtsverhältnisse. Man hat sich förmlich abgewöhnt, zu erkennen, daß die verschiedenen Völker ganz verschieden ausgewachsene Völkerindividuen darstellen. Das eine Volk ist noch ein Kind, das Andere ein halbwüchsiger Bursche, das Dritte ein Mann und ein Viertes ein Greis. Trotzdem will die heute herrschende Politik all diesen Völkern den gleichen Währungsrock mit dem gleichen Verschuldungsrecht, der Exekutionsordnung und dem gleichen Verfassungsrecht umhängen. Die gleichen Fehler sind schon im Altertum gemacht worden. Und damals sind schon aus diesen Fehlern ungezählte Kriege und Revolutionen entstanden. Die germanische Geschichte hat uns gelehrt, wie der wesentlichste Kulturfortschritt dadurch erreicht wurde, daß man dem Volke einige Jahrhunderte länger Zeit ließ, sich unter dem Schutz der Naturalwirtschaft besser auszureifen. Darin liegt der tiefe Sinn der lehensstaatlichen Organisation mit Zinsverbot, Wuchergesetzen und dem Aequivalenzprinzip für allen Tauschverkehr. Alle diese hochwichtigen Grundsätze aus der Weltgeschichte scheint die moderne Politik vergessen zu haben. Man gliedert einen kleinen Jungen verfassungsmässig einem reifen Manne an und führt sofort dessen Strafrecht, dessen Schuldrecht, dessen geldwirtschaftliche Rechtsordnung ein — ganz wie es unsere Großbanken wünschen — und ist dann noch überrascht, daß die angegliederten Völker zu Grunde gehen und den Mutterländern ungeheure Lasten aus den Kolonialkriegen erwachsen.

Wäre es nicht auch hier richtiger, im Interesse der künftigen Entwicklung der Reichfinanzen aus der individualistischen geldwirtschaftlichen Auffassung zur „organischen“ Auffassung überzugehen und statt einer kurzsichtigen Begünstigung der Wucherungen des Goldkrebses eine idealere Rechtsauffassung zu begünstigen, die Jedem das Seine gibt? Wenn schon die Entwickelungsgeschichte der Völker durch die Jahrtausende etwas streng Logisches ist, dann wird sich wohl auch die Politik der Völker unserer Tage dieser Logik nicht verschließen dürfen, ohne die schwersten Schädigungen dafür in Kauf zu nehmen.

Zuerst erschienen in: Deutsche Agrarzeitung, 39. Heft 1909.

Einige Setzfehler wurden korrigiert.

Abgedruckt in:

Ausgewählte Abhandlungen, Aufsätze und Vorträge
von
Professor Dr. Gustav Ruhland
zu seinem 50. Geburtstage (11. Juni 1910)
herausgegeben vom
Bund der Landwirte, Berlin


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