Vorwort.
„Mit den Waffen des positiven Christentum, unter
dem Banner des Reichs, gegen den Umsturz!“ —
so lautet die Losung seit der denkwürdigen
Königsberger Rede Seiner Majestät des Kaisers.
Schon sammeln sich die Massen und Parteien. Was wird
daraus werden? Und sind sich jene, welche dem
Allerhöchsten Aufrufe gefolgt sind, auch über
Ziel und Zweck und Mittel vollkommen klar und einig? Kein
Zweifel! Es handelt sich hier um die Lösung eines
der schwierigsten Probleme, über welches heute die
Meinungen in einer mehr als gewöhnlichen Weise noch
auseinander gehen.
Da ist vor Allem die Masse jener Unglücklichen,
welche mit den bestehenden Verhältnissen mehr oder
minder vollkommen unzufrieden sind. Sie haben ihr
Christentum fast Alle aufgegeben, weil es ihnen wertlos
geschienen hat, oder sie haben niemals ein Christentum
besessen. Nun soll eben dieses Christentum die Waffen
liefern, sie zu bekämpfen. Mit welchem Erfolge? Und
wenn das Ziel zuletzt doch nur darauf gerichtet sein
kann, auch diese Unglücklichen wieder in Christen zu
verwandeln, wie führt der Kampf mit Waffen zu
solchem Siege? —
Da ist eine zweite kleinere Gruppe. Sie fürchtet
vor Allem für ihr Geld und für ihren Besitz.
Das Christentum ist ihr ein längst überwundener
Standpunkt. Das hat sie ihrer Wissenschaft zu verdanken.
Aber für jene, die keinen Reichtum besitzen,
für die Masse des Volkes also, betrachtet man das
Christentum als ein durchaus geeignetes Mittel, um den
Gehorsam gegen die Gesetze, die
Zufriedenheit und die Ordnung im Staate zu erhalten.
Diese Gruppe ist deshalb durchaus bereit, zum Kampfe
gegen den Umsturz alles beizutragen — nur darf
dabei ihr persönliches Heidentum nicht berührt
werden. Sind solche Männer in der That berechtigt,
den ersten Stein auf jene Unglücklichen zu werfen,
die die ganze Bitterkeit des Lebens in die Reihen der
Umsturzparteien hineingedrängt hat? Halten sie
wirklich das Christentum für feil und schwach genug,
um zum Hüter ihres Besitzes herab zu sinken? Und
scheiden sich nicht „Christentum“ und
„Erhaltung eines Besitz- und Einkommenstandes, der
eine wachsende allgemeine Unzufriedenheit
hervorruft“, wie Wasser und Feuer? —
Da ist — last but not
least — die Schar der Christen. Sie haben die
Überzeugung niemals verloren, daß die
evangelischen Wahrheiten, die den ganzen Menschen
umfassen, ohne jeden Zweifel auch die Lösung jenes
Problems bereits enthalten, das von Tag zu Tag die Zahl
der Unzufriedenen wachsen läßt. Aber mit dem
bloßen Festhalten an dieser Überzeugung kann
die Mission derer nicht erfüllt sein, zu denen
gesagt worden ist: „Gehet hin und lehret alle
Völker, daß Christus der Weg, die Wahrheit und
das Leben!“ Freilich — über die
Erkenntnis dieses Weges gehen die Meinungen auch in
diesem Lager weit auseinander. Die Nationalökonomie
der Adam Smith, Malthus und Ricardo haben mit dem
heidnischen römischen Recht die Köpfe verwirrt.
Und nur deshalb war es möglich, daß von
Anhängern des positiven Christentum die
Einführung der Koalitionsfreiheit für die
landwirtschaftlichen Arbeiter in Deutschland gefordert
werden konnte! —
Was uns hier vor Allem Not thut, das
ist: eine Nationalökonomie im Geiste des
Christentum. Der Kampf gegen den Umsturz ist
deshalb im Wesentlichen ein Kampf auf dem Gebiete der
Wissenschaft und der Erkenntnis. Es handelt sich darum zu
zeigen, daß selbst die Nationalökonomie als
die exakteste der Wissenschaften —
weil nur innerhalb ihrer Grenzen das subjektive Empfinden
mit dem objektiven Vorgang zusammenfällt —
sich erst dann zur wahrhaft fruchtbringenden Erkenntnis
durchzuringen vermag, wenn sie vom Born der evangelischen
Wahrheiten geschöpft hat. Es handelt sich darum zu
erkennen, daß die heute herrschende Schule der
Nationalökonomie weder „ethisch“ noch
„organisch“ noch „wahrhaft
historisch“ ist, und wie man nur deshalb so
gründlich verkennen konnte, daß die
Vorgänge in England die Begleiterscheinungen eines
Absterbeprozesses des volkswirtschaftlichen Körpers,
nicht aber die einer höheren Stufe
volkswirtschaftlicher Entwicklung sind. Es handelt sich
darum festzustellen, daß die „soziale
Frage“ für Deutschland die Frage nach der
Erhaltung und Förderung des Mittelstandes und mithin
im Grunde eine „agrarische Frage“ ist.
Nur wenn es so gelingt, vor allem Volk zu zeigen,
daß der Geist des Christentum allein uns auf den
Weg zum Heile führt schon auf dieser
Erde, werden wir die Unzufriedenen von heute nicht
bloß erfolgreich bekämpfen, sondern auch in
des Wortes bestem Sinne besiegen, und
Carlyle wird Recht behalten, wenn er gesagt
hat: „Die Zukunft Deutschlands ist die
Zukunft der Welt!“
Berlin, im November 1894
Der Verfasser
I.
Einleitung.
Wie komme ich als Nationalökonom dazu, über
das „Vaterunser“ zu schreiben? Diese Frage
kann verschieden beantwortet werden. Zunächst hat
Stapfer in seiner Dissertation de nexu
et sensu orationis dominicae prophetico das
Herrengebet als Historiker benutzt, indem er zeigte,
daß in den sechs Bitten die Perioden der
christlichen Kirchengeschichte enthalten seien. Dann hat
Professor Sietze in seinem „Grundbegriffe
preußischer Rechts- und Staatsgeschichte“ den
Nachweis versucht, daß in den Bitten des Vaterunser
die Perioden der Weltgeschichte sich ausgedrückt
finden. Es kann also nichts Überraschendes an sich
tragen, dieses Gebet auch einmal nationalökonomisch
bearbeitet zu sehen. Daß dabei der
Nationalökonom etwas in das theologische Gebiet
hinüber greift, müssen die Theologen schon
deshalb dulden, weil eine ganze Reihe von Theologen
bereits nationalökonomische Schriften geschrieben
haben. Und schließlich habe ich ja auch auf diesem
Pfade keinen geringeren Vorgänger als Dr. Alb.
Schäffle. Schäffle hat nämlich in seinem
großem Werke „Bau und Leben des socialen
Körpers“ und zwar im ersten
Bande auch „die geistige Anlage des Menschen zur
Gesellschaft“ eingehender behandelt. Und hier
heißt es u. A.: „Warum sollten wir jene
Symbolik der religiösen Metaphysik herabsetzen,
welche das Jenseitige als ein geistiges
‚Reich‘ darstellt und das Verhältnis
Gottes zu den Menschen unter dem Bilde des Vaters zu den
Kindern symbolisiert? Es wäre nicht folgerichtig,
die höchste Entfaltung des Empirischen in den
sittlich geistigen Beziehungen des socialen Körpers
zu finden und nicht gleichzeitig das vergeistigste
sociale Verhältnis als das erreichbar reinste
Sinnbild für das Verhältnis Gottes zur Welt
anzuerkennen. ‚Unser Vater in dem Himmel, zu uns
komme dein Reich‘ muß nach dem Standpunkt
dieses Werkes als die religiös wahrste und
einfachste Gebetssymbolik erscheinen, welche sich finden
läßt“ . . . . Und
ferner: „Nach allem Bemerkten ist die
Religiosität unmittelbare, nicht reflektierte
Beziehung des Sinnlichen auf das Übersinnliche. Sie
wird daher richtig auch mit ‚Glauben‘
gleichbedeutend genommen. Nur ist der Glaube nicht ein
empirisches Fürwahrhalten, sondern in erster Linie
gottbegeistertes Gefühl. Allerdings verlangt dieses
Gefühl auch innerhalb des Vorstellungskreises den
Unterbau einer metaphysisch, symbolisch einfachen
Weltanschauung und verbreitet sich in die
Willenssphäre als Liebe, Berufstreue und Richtung
auf ideale Vollendung, d. h. als religiöse Moral.
Glaube ist Ergriffensein vom Idealen innerhalb aller drei
Sphären des menschlichen Geisteslebens.“
„Betrachtet man die christliche
Religiosität, so ist auch ihr
eigentlicher Mittelpunkt ein unmittelbares Ergriffensein
des Gefühls durch das Höchste, mit der Folge
der Wertschätzung des Höchsten (Verehrung) und
Verabscheuung alles Ungöttlichen. Unvermeidliche
Begleiterscheinung nach der Sphäre des Vorstellers
ist eine unmittelbare Metaphysik, welche im Sinnbilde
vollkommenster Idealisierung des empirisch Höchsten
(‚Reich Gottes‘, ‚Vater‘) das
Verhältnis des Sinnlichen zum Übersinnlichen
symbolisiert. Notwendiger Ausfluß ist die Forderung
der Geltung göttlichen Willens auch für das
praktische Leben, d. h. der religiösen Moral mit der
Konsequenz teils der fruchtbaren positiven Bewährung
im alltäglichen Leben, teils der Vermeidung und
Sühnung des Ungöttlichen und Lieblosen, sowie
mit der thatsächlichen Aushebung des Übels und
der mächtigen, herrlichen Ausbreitung des
göttlichen Reiches.“
„Die nüchternste psychologische Analyse des
zum religiösen Leben hinführenden
transcendenten Grundzuges der menschlichen Seele kommt so
für den einfachsten, volksverständlichen
Ausdruck auf die schlichte Gliederung und Gedankenfolge
der Anrufungen und Bitten des ‚Vaterunser‘
zurück, namentlich vom soziologischen Gesichtspunkte
aus läßt sich keine ächtere Formulierung
des Religiösen denken.“ — So
Schäffle. Erasmus bezeichnet das Gebet des Herrn als
die forma evangelicae
precationis, welche Christus seinen Jüngern
gegeben. Und Tertullian hat das Vaterunser ein breviarium totius evangelii genannt. Das
sind hochbedeutsame Sätze. Denn wenn das Herrengebet
in der That in einer unvergleichlichen Vollkommenheit die
Fülle der christlichen Ideen
umspannt, dann ist es auch weit wichtiger, sich
wirtschaftspolitisch in dieses Gebet zu vertiefen, als
den sozialpolitisch ziemlich wertlosen Satz noch
länger zu wiederholen: „Wenn die zehn Gebote
von Allen befolgt würden, dann wäre die soziale
Frage gelöst.“ —
Trotzdem verdanken die nachfolgenden Ausführungen
einer anders gearteten Erwägung ihr Dasein. Es war
am Untermain. Ich hatte Freunde heimgesucht. Mein
Grundriß für agrarpolitische Vorlesungen
(Verlag von Paul Parey in Berlin), der in nuce ein neues selbstständiges
System der Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
enthält, lag als Manuskript fertig vor mir. Aber ich
war mir nur zu klar darüber, daß damit noch
lange nicht die Arbeit gethan sei. Die Geschichte der
Ideen zeigt uns ja immerfort, daß es sich nicht so
sehr darum handelt, eine neue Idee zuerst erkannt zu
haben, als vielmehr darum, diese Idee in einer solchen
Form zur Darstellung zu bringen, welche von der, in einem
spezifischen Bildungsgrad lebenden Generation am besten
verstanden wird. Welch' blühender Unsinn ist nicht
zu allen Zeiten gerade von autoritativer Seite neuen
Ideen gegenüber als Einwand vorgebracht worden. Und
wie oft ging die Geschichte über eine neu erkannte
Wahrheit hinweg, bis sie endlich jene Art der Bearbeitung
gefunden hatte, die dem Volksmunde und dem Volksgeschmack
in seiner gegebenen Entwicklung wirklich entsprochen hat.
Also handelt es sich auch für mich
hauptsächlich darum, den schon 14 Jahre alten
Gedanken immer wieder in neue Formen zu gießen. Und
während ich, darnach
suchend, einsame Waldwege durchwanderte, begegnete mir
zufällig eine kleine Schar von Kindern. Sie beteten
das Vaterunser und im Vorbeigehen hörte ich die
Worte: „Unser tägliches Brot gieb uns
heute!“ — Das war es, was ich suchte! Ich
hatte eine neue Form der Darstellung für mein
wirtschaftspolitisches System.
Wenn aber das Vaterunser, wie mir das bald immer
klarer und klarer wurde, in der That sich in solcher
Weise auffassen läßt, dann mußte sich
doch auch in der reichen theologischen Litteratur eine
mehr oder minder große Zahl von Belegstellen
für die Richtigkeit meiner wirtschaftspolitischen
Ideen auffinden lassen. Aus der Prüfung dieser
Vermutung entstand die nachfolgende Arbeit, für
welche ich das Wort eines Görres zum Motto
wähle: „Der Wahrheit, wo sie herkomme,
soll niemand sich verschließen.“
—
II.
Die Fragestellung.
Christus hat das „Vaterunser“ wohl
aramäisch gebetet. Dieser ursprünglich
aramäische Text ist dann ins Syrische und
Hebräische und aus diesen Sprachen ins Griechische
und Lateinische übersetzt worden. Je mehr man nun
bei all' diesen Übersetzungen ganz offenbar bestrebt
war, mit möglichst absoluter Genauigkeit zu Werke zu
gehen, desto mehr sprachliche Schwierigkeiten sind
naturgemäß daraus erwachsen. Und so war schon
für die griechischen Patristen der Aufwand einer
gewaltigen Summe philologischer Gelehrsamkeit
erforderlich, um zur Erfassung des reinen Urtextes
vorzudringen. Vom Standpunkt der
nationalökonomischen Methode erscheinen mir für
meine Zwecke diese philologischen Kenntnisse von recht
zweifelhaftem Werte. Es genügt mir zu wissen,
daß das Vaterunser, so wie es Christus seinen
Jüngern in der Bergpredigt beten gelehrt hat, in
einer Bitte vom täglichen Brote
handelt. Ein darüber hinausgehendes Suchen nach der
exakten Übereinstimmung des Urtextes mit der
heutigen kirchlichen Sitte, Silbe für Silbe, ist
meines Erachtens reiner Formalismus. Der geistige Gehalt der Bitte kann darin
nie gefunden werden. Hierzu führt uns ein ganz
anderer Weg.
Seitdem es Christen giebt, hat man auch immer das
gleiche Vaterunser gebetet. Aber man hat keineswegs stets
das gleiche darunter verstanden. Aus naheliegenden
Gründen! Die Erläuterungen des Einzelnen finden
ihre Wahrheitsgrenze nach innen an der Bildungsart des
Erklärers, nach außen an dem Horizont der
Bedürfnisse und der geistigen Entwicklung seiner
Zeit. Verschiedene Personen zu verschiedenen Zeiten
mußten deshalb auch das Vaterunser
verschieden verstehen und gleich geartete Personen
konnten zu relativ gleichen Zeiten relativ gleiche
Erklärungen geben. Die verschiedenen Auslegungen
erscheinen deshalb als das, im jeweiligen Hohlspiegel der
Zeit reflektierte Bild des Herrengebets, getrübt
oder geklärt von der persönlichen
Befähigung des Experimentators. Wenn ich also vom
Standpunkte des Nationalökonomen aus mich heute in
den Geist des Vaterunser vertiefen will, so kann es in
unserem Zeitalter der historischen Forschung gar keinem
Zweifel unterliegen, daß ich all' diese
verschiedenen Bilder des Vaterunser in einer solchen
Weise zusammenfassen muß, daß ich daraus das
allgemeine Gesetz jener Darstellungsänderungen
erkenne, die wir seit fast zwei Jahrtausenden beobachten
können, um auf Grund dieser Erkenntnis dann zu dem
tieferen und dauernden Sinn dieses Gebetes weiter
vorzudringen. So nach der nationalökonomischen
Methode. Aber auch nach der mathematischen Methode
würde ich in ganz der gleichen Weise zu Werke gehen
müssen, weil es sich offenbar hier zunächst darum handelt, eine
empirische Formel zu finden, wo eine rationelle der Natur
der Sache nach ausgeschlossen scheint.
Wenn ich nun in solcher Weise die berühmtesten
Erläuterungen des Vaterunser, soweit mir dieselben
bekannt geworden sind, zusammenfasse, dann ist vor allem
die eine wichtige Thatsache festzustellen: Centralpunkt
all' dieser Darstellungen ist der Begriff
„Brot“. Von hier aus löst sich jede, wie
immer geartete Kontroverse. Und selbst wo man an dem
äußersten Saum grammatisch-historischer
Exegese zu forschen geglaubt hat, richtet sich der
tiefere geistige Gehalt der Interpretation nach der
Linie, welche nach dem zentralen Brotbegriff gezogen
wird. Unsere Frage lautet deshalb von Anfang bis zu Ende:
was haben wir unter dem „Brot“ zu verstehen,
um das wir im Vaterunser bitten? —
III.
Aus der theologischen Litteratur.
Kann und darf unter „Brot“ nur das
geistige, das überwesentliche Brot verstanden
werden, oder ist damit auch das materielle Brot
umschlossen? Zu den entschiedenen Vertretern der ersteren
Auffassung gehören von den Kirchenlehrern namentlich
Origenes, Cassian und Hieronymus und aus dem Mittelalter
insbesondere Erasmus und Zwingli. Zu den Vertretern der
Auffassung, daß sich diese Bitte auf das geistige
und materielle Brot zugleich beziehe,
gehören Tertullian, Cyprian, Gregor von Nyssa,
Augustin, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Calvin, Graf
Zinzendorff u. s. w. Welche von diesen beiden
Auffassungen scheint nun die richtigere zu sein? Die
Antwort ist kaum zweifelhaft. Sobald wir nämlich die
zuerst genannte Personenreihe näher anschauen, wird
es sofort erklärlich, warum dieselben im einzelnen
einer solch engeren Begriffsfassung zugeneigt haben.
Speziell Origenes, aber auch Hieronymus waren Vertreter
einer übertriebenen Askese. Wie sollte es also
überraschen, daß sie auch in der Bitte um das
tägliche Brot das fleischliche Bedürfnis
auszumerzen versuchten? Cassian war
seiner frühesten Veranlagung nach ein Klostermann,
der nur innerhalb der Klostermauern sich wohl fühlen
konnte. Im Kloster aber ist, wie namentlich die heilige
Theresia in einer so natürlichen Weise betont,
für das tägliche leibliche Brot ja ohnehin
schon gesorgt. Für die Klosterleute bleibt deshalb
nur die Sorge um das überwesentliche Brot. Zwingli
ist zur gleichen Einseitigkeit ganz ohne Zweifel durch
seinen reformatorischen Übereifer geführt
worden. Und bei Erasmus bleibt hier, wie für so
manche andere seiner Äußerungen, seine
Vorliebe für philologische Spitzfindigkeiten,
gepaart mit einer weniger tiefen philosophischen
Schulung, verantwortlich.
Wie ganz anders lesen sich die betreffenden Stellen
namentlich bei Gregor von Nyssa und insbesondere bei
Augustin. Hier tritt uns in jeder Zeile ein zu seltener
Harmonie durchgebildeter ganzer Mann entgegen. Hier ist
keinerlei Übertreibung weder nach der einen noch
nach der andern Seite. Und ausgerüstet mit dem
vollen Wissen seines Jahrhunderts gelangt die Auslegung
namentlich bei Augustin zu einem solchen Grade von
Vollkommenheit, daß selbst ein Thomas von Aquin
fast 900 Jahre später nichts wesentliches mehr zu
verbessern weiß. Wir beginnen deshalb unsere
Zusammenstellung der wichtigsten Auslegungen mit Gregor
von Nyssa und Augustin.
IV.
Gregor von Nyssa insbesondere.
Wie ist es nur möglich — so fragt
Gregor von Nyssa in seiner großen Rede
über das Gebet des Herrn — daß
diejenigen, denen ein fleischliches Leben zu Teil
geworden, die Reinheit der körperlosen Mächte
erringen, da doch die Seele, der körperlichen
Bedürfnisse wegen, fortwährend in
unzählige Sorgen versenkt wird?
Die Antwort lautet: Durch
Genügsamkeit und Mäßigung in Bezug auf
die Beherrschung der Leidenschaften. „Nicht die
Engel bitten Gott in ihren Gebeten um Gaben von Brot,
weil sie ihrer Natur gemäß kein Bedürfnis
nach solchen Dingen haben. Der Mensch aber wird
beauftragt, um das zu bitten, was zur Erhaltung auch der
leiblichen Natur hinreicht, indem wir zu Gott sagen: Gieb
uns unser Brot! Nicht Üppigkeit noch Reichtum, nicht
schimmernde Purpurkleider, nicht Goldschmuck, nicht
glänzende Edelsteine, nicht silberne
Gefäße, nicht reichliche Ländereien,
nicht Heeresbefehl, nicht Oberleitung in den Kriegen und
über die Völkerschaften, nicht Herden von
Pferden und Rindern und viele Scharen anderen Viehes,
nicht eine Überzahl von Sklaven, nicht Glanz auf
öffentlichen Märkten, nicht
Bildsäulen, nicht Gemälde, nicht Seidengewebe
noch sonst ähnliches, wodurch die Seele von der
göttlicheren und vorzüglicheren Sorge abgezogen
wird, gieb uns, sondern nur unser Brot“.
„Siehst Du die Fülle der Weisheit und der
Lehren, die in diesen kurzen Worten enthalten sind? Fast
offen ruft Gott in diesen Worten uns zu: höret auf,
ihr Menschen, eitlen Dingen in euren Begierden
nachzuhängen. Eure naturgemäßen
Bedürfnisse sind ja gering. Ihr braucht Nahrung
für eure Fleischnatur, was leicht zu beschaffen ist,
wenn ihr nur auf das Notwendige sehet. Warum
vervielfältigt ihr eure eignen Lasten? Warum habt
ihr euch aus eignem Antriebe so viel Schulden
aufgebürdet, indem ihr Silber suchtet, nach Gold
gegraben habt und nach glänzenden Stoffen forschet?
Ihr ziehet zu den Indern und setzt euch der Gefahr auf
fremden Meeren aus. Ihr unternehmt jahrelange Seefahrten,
um mit den von dort her bezogenen Waren eure Nahrung zu
würzen, ohne zu bedenken, daß die Empfindung
des Wohlgeschmacks nicht über den Gaumen
hinausreicht. Und ebenso gewährt auch das, was
schön leuchtet, süß duftet und ein
schönes Aussehen hat, den Sinnen nur einen sehr
hinfälligen und kurzen Genuß. Bittet um das
Brot für das Bedürfnis eures Leibes. Das
schuldet ihr von Natur aus eurem Körper. Aber alles
was die Schwelger noch erfunden haben, das gehört
zum Unkraut. Die Saat des Hausvaters ist der Weizen. Aus
dem Weizen wird das Brot bereitet. Die Schwelgerei aber
ist das Unkraut, das vom Feinde unter den Weizen
gesät wurde, um die Menschen durch eitle Bestrebungen zu ersticken und
nicht zur Reife kommen zu
lassen“ . . . . . .
„Überschreite nicht das Bedürfnis!
Denn wenn du erst von der unentbehrlichen Nahrung zu den
Leckerbissen übergegangen bist, dann wirst du auch
nach dem verlangen, was dem Auge angenehm ist und
glänzende Gefäße, stattliche Bedienten,
silberne Ruhebetten, weichliche Lager, glänzende und
goldgewirkte Kleider, Thronsessel, Dreifüße,
Badewannen, Mischkrüge, Trinkgefäße,
Kühlgefäße, Schöpfkannen, Leuchter,
Weihrauchgefäße und Ähnliches suchen.
Damit kommt dann die Begierde nach Vermehrung des
Besitzes. Und daher muß Mancher weinen und der
Nachbar seufzen und viele müssen durch den Verlust
ihres Eigentums unglücklich werden, damit in Folge
dieser Thränen Jener durch Prunksucht seiner Tafel
die Augen auf sich ziehe. Und wenn erst das erreicht ist,
dann hat die zügellose Wut der menschlichen
Leidenschaften keine Grenzen mehr.“
„Darum beschränke dich auf den Genuß
des Brotes und nimm als Zukost, was die Natur bietet.
Laß das gute Gewissen und den Hunger die Würze
deiner Speisen sein. Laß den Schweiß der
Gebote deiner Nahrung vorausgehen. Es ist für dich
genug, bis zu diesem notwendigen Bedarf dich
abzumühen, damit der Hauptteil deiner Kraft deiner
höheren Bestimmung gewidmet bleibt. Aber auch bis
dahin quäle deine Seele nicht mit Brotsorgen,
sondern sage zu dem, der das Brot aus der Erde
hervorbringt: von dir habe ich mein Leben. Von dir werde
mir auch der Unterhalt des Lebens zu Teil. Gieb mir das
Brot d. h. durch gerechte
Arbeit möge ich mir meine Nahrung
verschaffen. Denn wenn Gott die Gerechtigkeit ist,
dann hat von Gott nicht das Brot, wer mit Habsucht sich
die Nahrung verschafft. Du hast deshalb die
Erfüllung deiner Bitte selbst in der Hand. Wenn
nicht fremdes Gut dir Reichtum bringt, wenn du nicht von
Thränen erntest, wenn deiner Sättigung halber
niemand Hunger leidet, wenn niemand seufzt, weil du
schwelgst, dann genießt du Gottes Brot, die Frucht
der Gerechtigkeit, die Ähre des Friedens, ungemischt
und unbefleckt von dem Samen des Unkrauts. Wenn du aber
fremdes Ackerland pflügest, wenn du beständig
auf Ungerechtigkeit sinnst und den ungerechten Besitz dir
auch noch verbriefen läßt und dann zu Gott
sagst: Gieb mir Brot!, dann ist es ein anderer, der diese
deine Worte hört und nicht Gott“.
„Und wenn du um das Brot bittest, dann sollst du
wissen, wie vergänglich und hinfällig unser
irdisches Leben ist. Welchen Gewinn zog jener Reiche aus
seinen umfassenden Zurüstungen, der in seiner
Torheit sich eitlen Hoffnungen hingab,
niederreißen, ausbauen, sammeln, schwelgen und eine
lange Reihe von Jahren mit seinen thörichten
Hoffnungen sich in seine Vorratskammern vergraben wollte?
Hat nicht eine einzige Nacht all jene Hoffnungen
zerstört? Offenbar: Das leibliche Leben gehört
nur der Gegenwart an. Das Leben, das sich in der Hoffnung
bewegt, ist der Seele eigen. Aber der menschliche
Unverstand weiß von beiden nicht den rechten
Gebrauch zu machen. Er stellt sich das leibliche Leben
länger in seinen Erwartungen vor und beschränkt
das Seelenleben auf den Genuß der
Gegenwart. Darum wird die Seele, indem ihre
Thätigkeit fast allein auf die vergänglichen,
materiellen Dinge gerichtet ist, notwendiger Weise von
dem ewig dauernden Reiche idealster Hoffnungen abgezogen.
Und indem sie so ihr Sinnen dem Unbeständigen
widmet, verliert sie die Herrschaft auch über diese
materiellen Dinge, ohne das Reich des Ewigen gewonnen zu
haben“.
V.
Augustin insbesondere.
Wenn ich die bei Augustin leider an
verschiedenen Stellen zerstreuten Äußerungen
über das tägliche Brot
zusammenfasse, so gelange ich etwa zu dem folgenden
Ideengange:
„Du hast uns dein Reich versprochen und uns in
deinem Gebete gelehrt, darum zu bitten, o schlage uns,
die wir gebrechliche und bedürftige Menschen sind,
den nötigen Rückhalt und die nötigen
Hülfsmittel nicht ab: gieb uns Brot! d. h. gieb uns
körperliches Brot, wie wir es nötig haben
für unsere Fleischesnatur, die täglich erwacht,
sich täglich sättigt und doch auch täglich
wieder hungert. Gieb uns Nahrung und Kleidung und Obdach.
Aber laß uns auch nie vergessen, daß dieses
körperliche Brot nur Mittel zu einem höheren
Zwecke ist, daß wir damit unseren Körper
erhalten, um unsere Seele im diesseitigen Leben mit jener
geistigen Speise immer fort und fort zu stärken, so
daß sie einst würdig und wert befunden werde,
in Dein Reich zu kommen. Wir verstehen deshalb unter dem
Brot, um welches wir bitten, nicht bloß Nahrung,
Kleidung und Obdach, wir
verstehen darunter auch die Lektionen der Kirche, die
Hymnen, welche wir hören und mitsingen, die guten
Bücher und Schriften, an denen wir uns erbauen, und
nicht zuletzt die Eucharistie — das alles ist Brot
weil es für Leib und Seele unentbehrlich
ist.“
„Indes ist dieses Brot eine Speise, die
wir nur in dieser Welt genießen. Im Jenseits finden
wir ewige Ausstattung. Dann wird es nicht mehr
heißen ‚täglich‘, sondern immer
nur ‚heute‘. Jetzt heißt es noch
‚täglich‘, so lange ein Tag den andern
ablöst. Was aber wird dort
‚täglich‘ genannt werden können, wo
nur ein ewiger Tag gegeben ist? Einst werden wir also
keine körperliche Speise mehr benötigen, denn
unser Körper bleibt in dieser Welt. Wir werden aber
dann auch keine geistige Speise der hier gewohnten Art,
keine Lektionen, keine Bücher, ja selbst keine
Eucharistie mehr nötig haben, denn dann
sehen wir die Wahrheit selbst und sättigen uns an
ihrer Quelle, woher wir jetzt nur Tröpfchen erhalten
haben. Brot ist also das Unentbehrliche für Leib und
Seele in dieser Welt.“
Aber — warum bitten wir um das
tägliche Brot, nachdem doch Gott den Gerechten wie
den Ungerechten, denen, die ihn loben, wie denen, die ihn
schmähen, es gleichmäßig giebt, auch ohne
daß sie darum bitten? Nicht schon der Genuß
einer Speise an sich macht dieselbe zum Brot im Sinne des
Vaterunser, sondern erst das bessere Verständnis,
mit welchem wir dieselbe genießen; mit anderen
Worten der Geist ist es, der die Speise in Brot
verwandelt. Wer selbst die Eucharistie
genießt, nur um seinen Magen damit zu füllen, hat als Christ nichts
genossen. Zum Brot des Lebens wird sie erst, wenn auch
die Seele sich damit erquickt und wir der Einheit mit
Gott uns dabei bewußt werden. So muß es auch
mit dem bürgerlichen Brote in seiner Art gehalten
werden. Denn es ist offenbar ein Anderes, ob du deine
materiellen Güter zum Großthuen brauchst, und
wieder ein Anderes, ob du dieselben nur als
Lebensbedingung auffassest für deine höhere und
idealere Mission. Wir beten deshalb nicht bloß:
Gieb uns unser täglich Brot! wir beten auch: Gieb
uns Deinen göttlichen Segen zum Brote, damit wir es
in einer Dir wohlgefälligen Weise genießen!
Wir bitten also dabei um die Einsicht in das
göttliche Wort selbst, die uns nötig ist zur
Aufrechterhaltung unserer sinkenden Seele. Wir bitten um
die Kraft, durch welche diejenigen, welche hungern und
dürsten nach der Gerechtigkeit, selig werden. Der
Gottlose aber, dem dieser Segen mangelt, kennt nur den
vergänglichen Genuß an der körperlichen
Speise und leidet ewigen Schaden an seiner Seele.
Brot ist also das Unentbehrliche für Leib und
Seele in dieser Welt, genossen in der persönlichen
Weihe für das Ewige.
Und wer giebt uns das Brot? Es steht ein Bettler vor
der Thüre des Reichen und er erhält sein Brot
von dem Reichen. Aber auch der Reiche steht vor der
Thüre eines noch größeren Reichen und
bittet. Und wessen bedarf der Reiche? Ich wage es zu
sagen: auch er bedarf des täglichen Brotes. Weshalb
hat er Überfluß an allem? Woher, wenn nicht
und weil Gott es ihm giebt? Was wird er noch haben, wenn
Gott seine Hand ihm entzieht? Sind
nicht schon Reiche nieder gegangen und haben sich nicht
schon Arme aufgerichtet? Was jenem nicht fehlt, das hat
er dem Erbarmen Gottes und nicht seiner eigenen Kraft zu
verdanken. Wenn wir also beten: unser tägliches Brot
gieb uns heute, so bekennen wir uns alle als Bettler und
arm vor Gott.
Wenn wir nun aber alle unser Brot von Gott erhalten
und als Kinder Gottes es im Sinne des Herrengebets
genießen sollen, so wird auch der rechte Beter die
Bitte um das leibliche Brot nicht weit in die Länge
ausdehnen, sondern dem evangelischen Rate folgen, wo es
heißt: „Sorget nicht für das Morgen,
denn der morgige Tag wird selbst für sich
sorgen.“ Und so ermahnt ja auch der Apostel:
„Haben wir Nahrung und Kleidung, so seien wir damit
zufrieden.“ Das Notwendige für die Gegenwart
ist es, auf das sich die Bitte um das tägliche Brot
bezieht.
Dieses Notwendige ist für die einzelnen Personen
verschieden je nach Gewohnheit, nach Stellung und je nach
der besonderen Lage. Dieser Unterschied ist gerecht und
billig. Wer aber in seinem Gebete die Grenze des für
ihn Notwendigen überschreitet, wer da betet:
„Gieb mir meine Reichtümer vielfach!“
oder „Gieb mir, so viel du diesem und jenem gegeben
hast!“ oder „Vermehre meine Ehren und mache
mich in dieser Zeit mächtig und berühmt!“
— ich glaube nicht, daß ein solcher im
Herrengebet etwas finden wird, woran er diese seine Worte
anpassen könnte.
Das tägliche Brot im Sinne des Vaterunser sollst
du deshalb auch nicht mit hastiger Gier und Habsucht
erwerben. Wohl aber sollst du dabei
der Unsicherheit und der Vergänglichkeit alles
Irdischen eingedenk sein. Wie thöricht ist es, das
Brot auf viele Jahre im voraus sichern zu wollen oder
auch nur heute schon für den morgigen Tag zu
fordern, da doch dein Leben schon über Nacht zu Ende
sein kann? Und wem wird es dann gehören, was du so
schön bereitet hast?
Reich werden wollen ist deshalb kein wahrhaft
christlicher Gedanke. Ein anderes aber ist es: reich zu
sein. Gott hat die Reichen erschaffen, er hat aber auch
die Armen erschaffen. Sie gehen einen Weg miteinander:
der Reiche belastet durch seinen Besitz, der ihn
drückt, der Arme bekümmert durch das, was ihm
an seiner Lebensnotdurft mangelt. Du also, der du
überladen bist, gieb von dem, was du
überflüssig hast, nähre damit den Andern
und mache es dir selber leichter. Alles
Überflüssige ist eigentlich schon fremdes Gut,
insofern wir es nach dem rechten Gebrauche anderen widmen
sollen. Der ächte Christ erstrebt nur, was er in der
Gegenwart notwendig braucht. Und wenn er deshalb spricht:
„Armut und Reichtum gieb mir nicht!“ was sagt
er anders, als: „Unser tägliches Brot gieb uns
heute!“
In diesem Sinne aber beten wir das Vaterunser nicht
bloß für uns und unsern Nächsten, sondern
auch für die Fremden und selbst für unsere
Feinde. —
VI.
Albertus Magnus und Thomas von Aquin.
Was die beiden hervorragendsten Kirchenlehrer der
Scholastik Albertus Magnus und Thomas von Aquin über
das Vaterunser geschrieben haben, steht in der Hauptsache
auf dem Boden augustinscher Ideen. Die Verbesserungen
sind kaum wesentlich zu nennen. Im einzelnen hat Albertus
Magnus nicht einmal die augustinsche Gedankentiefe
erreicht. So z. B. wenn er sagt, daß wir um das
Brot nur für uns bitten, weil es Vermessenheit
wäre, wenn derjenige noch für andere bitten
wollte, der kaum ausreichend für sich bitten kann.
Besonders charakteristisch sind etwa die folgenden
Ideen:
Albertus Magnus ist in seinem Kommentar
zum Lucas der Ansicht, daß auch die materielle
Notlage dieser gegenwärtigen Zeit uns zum Beten des
Vaterunser zwingt und daß deshalb der Vater im
Himmel will, daß wir uns auch mit unserer
materiellen Sorge an ihn klammern. Das Brot, um welches
wir dabei bitten, ist das der Mäßigung. Um
Reichtum bitten wir nicht, damit wir nicht
übersättigt fragen: wer ist der Herr? Und wir
bitten, daß die Armut uns nicht beschieden werde,
auf daß wir nicht, durch Mangel
getrieben, den Namen Gottes schmähen. Wer also reich
ist, der zieht nur dann daraus den rechten Gewinn, wenn
er den Reichtum im Sinne des Vaterunser verwendet. Dem
Gottlosen und Frevler aber gereicht er zum Unheil.
Dieses Brot erwerben wir in erster Linie durch
verdienstvolle Arbeit als Lohn, dessen der Arbeiter wert
ist. Zu arbeiten ist eine christliche Pflicht. Wer nicht
arbeiten will, soll auch nicht essen. Weiter
können wir unser Brot erwerben durch Kauf und
endlich auch als Einkünfte aus
Grundstücken.
Unser ist das Brot, insofern es dem
Bedürfnis der einzelnen Personen angepaßt ist.
Das Brot ist deshalb für die Einzelnen verschieden;
denn was dem Einen genügt und entspricht,
genügt und entspricht dem Andern nicht. Man kann
deshalb das Brot niemals ein uns geschuldetes, wohl aber
ein unseren Bedürfnissen angepaßtes
nennen.
Thomas von Aquin geht von der
Erwägung aus, daß oft selbst ein
wissenschaftlich gebildeter und weiser Mann schwach
werde. Deshalb sei auch ihm eine Stärkung
nötig. Diese Stärkung giebt uns der heilige
Geist, so daß das Menschenherz nicht nachgiebt
unter der Angst und Sorge um notwendige Dinge, sondern
darauf vertraut, daß Alles, was wir notwendig
brauchen, uns von Gott dargeboten wird.
Indem wir nun bitten: „Unser tägliches Brot
gieb uns heute!“ — bitten wir, daß wir
vor Allem vor der Sünde der Begierde bewahrt
bleiben. Unser Brot ist ein unseren Bedürfnissen
entsprechendes und deshalb ein
verschiedenes, je nachdem wir Soldat, Offizier oder
König sind. Diese Begierde zieht die Menschen vom
Geistigen ab gerade so weit, als allzu heftiges Verlangen
nach Zeitlichem ihnen anklebt. Wir bitten damit ferner,
daß wir vor der Sünde, uns fremdes Brot
anzueignen, bewahrt werden. Die Diebe essen nicht ihr
eigenes Brot. Indem wir weiter um das nach unseren
Bedürfnissen bemessene Brot bitten, bitten wir auch,
daß wir vor übermäßiger Sorge
bewahrt bleiben. Es kann das jedoch keineswegs so
verstanden werden, als ob wir sorglos in die
Zukunft schauen sollten. Wir bitten aber auch, uns vor
der Sünde der Verschwendung zu bewahren, denn wer
schon an einem Tage auszehren wollte, was für
mehrere Tage genügt, ißt das Brot nicht im
Sinne des Vaterunser. Und endlich soll uns die vierte
Bitte vor Undankbarkeit gegen Gott behüten. Denn
Alles, was wir besitzen, sei es geistig, sei es
körperlich, kommt von Gott. Wir bitten also auch,
daß wir unser Brot recht genießen, damit es
sich in unserem Magen nicht in Schlangengift verwandle.
„Gieb uns das Brot!“ heißt auch so viel
als „Heilige uns das Brot!“, ganz so wie wir
einem Priester das Brot geben, daß er es weihe. Und
indem wir so beten, wird es wirklich geheiligt.
VII.
Martin Luther, Calvin und Graf Zinzendorff.
Eine nicht unwesentliche Ergänzung erfährt
die Auslegung des Vaterunser dann durch Martin
Luther, welcher m. W. zum ersten Male die
wirtschaftspolitischen Verhältnisse des Staates als
zum täglichen Brote gehörige bezeichnete. Der
augustinschen Definition nach unterliegt es zwar gar
keinem Zweifel, daß auch der Staat mit seinen
verschiedenen Gebieten zum Brote gerechnet werden
muß. Aber ein Anderes ist es, die Definition so zu
fassen, daß auch dieser Teil mit umspannt ist, und
wieder ein Anderes, diesen Teil ausdrücklich als
einen sehr wichtigen Bestandteil zu
bezeichnen. Es scheint, als ob Luther schon früh
sich mit politischen Erwägungen getragen habe, denn
seine noch als Augustinermönch abgefaßte
„Auslegung des Vaterunser für die
einfältigen Layen“ (1518) enthält bereits
die folgende Stelle: „Dann das sollst du wissen,
daß Gott die Welt noch nie schwerlicher geplagt
hat, denn mit blinden ungelehrten Regenten, durch welche
das Wort Gottes und unser Brot muß
zurückbleiben und wir verderben. Laß
Türken Türken sein, diese Plag ist
größer. Wehe uns, daß
wir sie nicht erkennen und abbitten! Wiederum ist Gott
der Welt nie gnädiger gewesen, denn wenn er gelehrte
und sehende Prälaten gegeben hat, durch welche sein
Wort in großen Vorrat und täglichen Gebrauch
gebracht wurde“. Im großen Katechismus wird
das dann weiter dahin ausgeführt, daß die
vierte Bitte in Summa das häusliche und nachbarliche
oder bürgerliche Wesen und Regiment
einschließe. „Denn wo diese zwei gehindert
werden, daß sie nicht gehen, wie sie gehen sollen
da ist auch des Lebens Notdurft gehindert. Und es ist
wohl das allernötigste, für weltliche Obrigkeit
und Regiment zu bitten, als durch welche uns Gott
allermeist unser täglich Brot und alle Gemach dieses
Lebens erhält. Denn ob wir gleich alle Güter
von Gott die Fülle haben; so können wir doch
keines behalten, noch sicher und fröhlich brauchen,
wo er uns nicht ein beständig friedlich Regiment
gebe. Denn wo Unfriede, Hader nnd Krieg ist, da ist das
tägliche Brot schon genommen. Darum möchte man
billig in eines jeglichen frommen Fürsten Schild ein
Brot setzen, für einen Löwen oder
Rautenkranz“. Und in seinen Tischgesprächen
heißt es endlich: „Die vierte Bitte
fasset gleich wie in einem Büschel die ganze Polizei
und Ökonomie, das weltliche und häusliche
Regiment und alles was zeitlich und leiblich ist,
so zu diesem Leben von Nöten zusammen,
was die Fürsten und Herrn wohl beachten
möchten, auf daß sie das gemeine Gebet nicht
verlieren und nicht einst die vierte Bitte im Vaterunser
gegen sie zeugt!“
Sonst findet sich bei Luther eine eigentlich zu
erwartende Schwankung in der Auffassung
des Brotes. In seiner noch als Augustinermönch
geschriebenen Auslegung pflegt er unter
„Brot“ „fürnehmlich“ das
geistige Brot der Seelen zu verstehen. Später
verlegt er den Schwerpunkt auf das weltliche Brot und
sagt in seinem kleinen Katechismus: „Brot ist
Alles, was zur Leibes Nahrung und Notdurft gehört,
als Essen und Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker,
Vieh, Geld, Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm
Gesinde, fromme und getreue Oberherrn, gut Regiment, gut
Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde,
getreue Nachbarn und dergleichen.“ —
Calvin schließt sich in seiner
Auslegung des Vaterunser im Wesentlichen der
späteren Auffassung Luthers an. Ludwig Graf
von Zinzendorff, der Gründer der
Herrnhutergemeinde, nähert sich in einer Ihrer
Majestät der Königin von Preußen
gewidmeten Schrift vom Jahre 1738 wieder mehr der alten
augustinschen Auffassung, jedoch mit dem
ausdrücklichen Hinzufügen, daß die im
Gebet geforderte Sorglosigkeit sich nur auf die eigne
Versorgung beziehe, während, wenn einem Kinde Gottes
die Pflege der Nebenmenschen anvertraut sei, man darin
nicht Sorgfalt genug beweisen könne.
VIII.
Alban Stolz, F. H. Chase und Kamphausen.
Aus der neueren und neuesten Zeit besitzt die
katholische Theologie m. W. nur eine
allgemeiner verbreitete Bearbeitung des Vaterunser aus
der Feder von Alban Stolz. Das mir
vorliegende Werk ist vom Jahre 1858 datiert und dessen
hierher gehörenden charakteristischen Ideen sind
etwa die folgenden: „Kauft man nicht zwei Sperlinge
um einen Pfennig und doch fällt keiner derselben vom
Dache ohne Wissen und Willen Gottes. Gott wird also auch
dir helfen, wenn du vertrauensvoll zu ihm betest. Mit
Inständigkeit werden die Reichen von ihm angehalten,
daß sie barmherzig sind, denn — so steht
geschrieben — was sie den Armen thuen, das thuen
sie ihm. Aber wenn auch Menschen wegen schwachen Glaubens
und starken Geizes dabei im Rückstand bleiben, so
bleibt doch Gott nicht im Rückstand. Bist du aber
arm und zwar grimmig arm, so ist eins von zwei schuld:
entweder du selber oder Gott.
Du bist schuld, wenn du nicht fleißig arbeitest,
denn wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Oder du
bist schuld, weil du ein Sonntagsschänder bist und
den Tag des Herrn im Wirtshaus verbringst und
womöglich auch am Montag blau machst. Oder deine
Verschwendung und Üppigkeit ist schuld daran, weil
du jeden Tag Kaffee, Fleisch und Wein genießest und
Kleiderhoffart treibst und Märkte besuchst. Wir
beten nicht: ‚Unser täglichen Kaffee, unser
tägliches Rindfleisch und Kalbfleisch, unseren
täglichen Wein gieb uns!‘ sondern:
‚Unser tägliches Brot!‘ Oder du bist
schuld, weil du dein Geschäft auf eigne Faust
getrieben und dich nicht mit Gott associiert hast. Oder
du bist schuld, weil du nicht den reichen himmlischen
Vater, sondern die Hohen dieser Welt um Brot gebeten
hast.“
„Wenn dennoch da und dort unverschuldete Not
vorkommt und auch schon vorgekommen ist, so sollen wir
doch vor allem fest am Glauben halten. Wir kennen die
wunderbaren Wege Gottes nicht. Wen Gott lieb hat, den
züchtigt er und schlägt einen Jeden, den er als
Kind annimmt. Der wahre Christ lobt deshalb Gott auch in
größter irdischer Not. Wenn es demnach im
Zeitlichen nicht mehr mit dir geht, dann hat dich Gott
erst recht nicht vergessen, nein er liebt dich sogar noch
mehr als viele andere. Was liegt also daran, wenn du
sterben mußt. Der Leib ist ja nur das
Handwerksgeschirr der Seele.“
„In dem Sätzchen: ‚Gieb uns
Brot!‘ ist das ‚uns‘
ein Probierstein für ächtes Christentum. Wer
alles allein essen will, um selbst fett zu werden, der
lügt, wenn er das Vaterunser betet. Und wenn so der
Eigennutz erst einmal im Menschenherzen Platz genommen
hat, dann folgen Neid und Mißgunst bald nach. Gott
hat bei den Reichen ein Lagerhaus
für Arme eingerichtet, indem er ihnen mehr gab, als
sie verzehren können. Der Reiche soll deshalb Gottes
Kornmesser, Großkellner und Almosenspender sein.
Deshalb ist das ‚Uns‘ ein Klingelbeutel, den
Gott den Wohlhabenden vorhält, ein Forderungszettel
und Mahnbrief an den Beter selbst.“
„Brot, das nicht unser ist, ist das der
Ungerechtigkeit. Spitzbuben essen gottloses Brot, ebenso
die Wucherer der verschiedensten Art und jene, welche am
Leibgeding Abzüge machen.“
In der Litteratur der protestantischen
Theologie lassen sich aus unserer Zeit zwei
Richtungen unterscheiden: die eine zielt
ausschließlich auf die Erforschung des Urtextes ab,
die andere bringt neben einer ebenfalls umfassenden
Berücksichtigung der sogenannten
grammatisch-historischen Exegese wenigstens einige Citate
aus der ältesten patristischen Litteratur vor
Augustin. In keiner von beiden aber wird auch nur der
leiseste Versuch gemacht, den Geist des Vaterunser auf
die praktischen Bedürfnisse der Gegenwart
anzuwenden. Als anerkannte Leistung der ersteren Richtung
dürfen die neuesten Cambridge-Forschungen bezeichnet
werden und zwar speziell Frd. Henr. Chase „The Lord's Prayer in the early
Church“, veröffentlicht
in dem Sammelwerke: „Texts and
Studies“ herausgegeben von J. Armitage
Robinson, 1891. Als Beleg für die zweite Richtung
nenne ich die Monographie von Professor
Kamphausen, „Das Gebet des Herrn“,
1889. —
IX.
Kritik der theologischen Litteratur.
Was folgt nun aus all diesen verschiedenen Auslegungen
des Vaterunser, wie wir sie in den vorhergehenden
Kapiteln kennen gelernt haben?
Zunächst wohl der Satz, daß zu einer
erfolgreichen Auslegung bloße
Büchergelehrsamkeit — und sei sie die
umfassendste der Welt — ungenügend bleibt,
wenn ihr nicht breiteste Kenntnis des Lebens zur Seite
steht. Deshalb hat ein Origenes weniger geleistet als ein
Gregor von Nyssa, ein Augustin mehr als selbst ein Thomas
von Aquin, und deshalb stehen auch Luthers
Ausführungen, trotz ihrer Schwächen im
Einzelnen, viel höher als die der modernen
protestantischen Theologen. Die thatsächlichen
Verhältnisse um uns her sind die Zeichen, welche an
der Hand des Vaterunser in der rechten Weise gedeutet
sein wollen. Wer sich aber von der lebendigen
Wirklichkeit abwendet, dem fehlt für seine Worte der
Anschluß an das Leben. Und niemand darf sich
wundern, daß für solche Worte die Lebenden
dann recht wenig Interesse zeigen. Das gilt für
Origenes wie für Cassian, für die heilige
Theresia ebenso wie für Chase. Was
bei dem einen die Klostermauern sind, das ist bei dem
andern die Studierstube. Denn ob ich nur vom
überwesentlichen Brote oder nur vom Urtext rede,
bleibt für die Lösung der großen
praktischen Aufgaben unserer Zeit doch gleich
bedeutungslos.
Aber auch dort, wo der Einzelne Theorie und Praxis,
Wissenschaft und Leben in seltenem Maße beherrscht,
zeigt es sich, daß alles menschliche Erkennen doch
nur eine relative Vollkommenheit besitzt. Wie wäre
es sonst möglich, daß ein Augustin nicht
hätte sehen sollen, daß die vierte Bitte des
Vaterunser die Quintessenz aller Wirtschaftspolitik
enthält? Der Grund liegt nahe. Auch ein Augustin war
nur der Mann seiner Zeit. Und seine Zeit war hier noch
nicht reif zur Erkenntnis. Die Völkerwanderung war
hereingebrochen. Die alten staatlichen Gebilde fielen
morsch zusammen. Was daraus alles noch werden würde,
konnte niemand wissen. Deshalb einte und stärkte
Augustin vor allem die in verschiedene Teile zerrissene
christliche Kirche. Der christliche Staat war damals noch
Idealstaat, über den gerade wieder Augustin so
schön gedacht und geschrieben hat. Das war mit dem
Mittelalter anders geworden. Der christliche Staat hatte
ein reales Dasein gewonnen. Der Flügelschlag einer
neuen Zeit begann sich zu regen. Reformatorische
Erwägungen tauchten auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens auf. Und jetzt konnte Luther
erkennen, wie die vierte Bitte „gleich wie in einem
Büschel die ganze Polizei und Okonomie
zusammenfaßt, was die Fürsten und Herren
wohl beachten möchten, auf daß sie das gemeine
Gebet nicht verlieren
und nicht einst diese Stelle im Vaterunser gegen sie
zeugt.“
Auch Alban Stolz kannte unzweifelhaft die Dinge und
Verhältnisse um sich her ganz genau. Aber — er
lebte in einer sehr kurzlebigen Zeit. In den
fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts konnte man in
Mitteldeutschland in der That bei der Auslegung des
Vaterunser von dem Grundsatze ausgehen: wer nicht
arbeitet, soll auch nicht essen! Und wenn du dennoch
grimmig arm bist, so bist du höchstwahrscheinlich
selbst daran schuld. Damals war es in der That mit
Fleiß und Sparsamkeit leicht, sein ächtes
christliches Brot zu finden. Das ist inzwischen anders
geworden! Die Zahl der Reichen hat sich gewaltig vermehrt
und ebenso deren Reichtümer. In gleichem Maße
wurde die Übung der christlichen Pflichten
vernachlässigt. Und die Zahl derer, die
„weinen und seufzen und durch den Verlust ihres
Eigentums unglücklich geworden sind, damit durch die
Prunksucht der Tafel eine kleine Zahl die Augen auf sich
lenke“ — ist immer größer
geworden. Wenn man nun aber diesen Unglücklichen mit
Alban Stolz jetzt sagt: „Ihr seid entweder selbst
an eurer bitteren Armut schuld, oder wenn ihr es nicht
seid, dann tröstet euch mit dem Glauben, daß
Gott diejenigen züchtet, die er
lieb hat!“ — dann gehört der Erfolg den
sozialdemokratischen Rednern, welche im Anschluß
daran den selben Unglücklichen zurufen: „Werft
doch euer wertloses Christentum über Bord; denn die
christlichen Priester sind ja doch nichts anderes, als
bezahlte Diener des Kapitalismus, die euch um euren
berechtigten Anteil betrügen wollen mit einem
Wechsel auf's Jenseits!“ Die
Alban Stolzsche Auslegung des Vaterunser ist deshalb
heute im Munde eines Predigers eine
höchst gefährliche Sprache, die im Interesse
der Erhaltung des christlichen Glaubens im Herzen der
Volksmassen besser nie mehr gesprochen würde.
Wir brauchen heute eine neue, den
gegenwärtigen Verhältnissen und
Bedürfnissen entlehnte Auslegung des Vaterunser. Und
indem ich es versuche, unter Zusammenfassung des bisher
Gesagten mit meiner siebenjährigen
praktisch-landwirtschaftlichen Erfahrung, mit meinen
wissenschaftlichen Studien und mit meinen Reisen durch
die Getreideproduktionsländer der Erde diese Aufgabe
zu lösen, bin ich mir der ganz
außerordentlichen Schwierigkeiten wohl
bewußt. Die Bitte „Unser tägliches Brot
gieb uns heute!“ führt mich, als
Nichttheologen, in das schwierigste theologische Problem
von der Gnade mitten hinein. Es versteht sich von selbst,
daß ich in diesem Sinne die vorliegende Aufgabe
nicht behandeln kann. Ich erfasse dieselbe unter dem
Gesichtswinkel des wirtschaftspolitischen Problems von
der Willensfreiheit. In welch' innigem Zusammenhange aber
beide stehen, das hat uns ja gerade wieder Augustin
gezeigt, der gewiß nicht zufällig so
schön über die Gnade geschrieben und auch am
besten die geistige Tiefe des Vaterunser uns
enthüllt hat.
X.
Der Geist des Christentums und die
Nationalökonomie.
Auch die Sprache der Menschen ist bekanntlich einer
fortwährenden Um- und Neubildung unterworfen.
Für die selbe Sache hat man vor hundert und mehr
Jahren ein anderes Wort gebraucht, als heute. Und mit
diesem anderen Worte sind, entsprechend seiner
spezifischen Entstehungsgeschichte, oft eine Reihe von
Nebenbegriffen einbezogen worden, die der früheren
Auffassung fern lagen oder die sie längst
abgestreift hatte. So geht es auch mit dem, was zur
Befriedigung der Bedürfnisse von Leib und Seele
dient. Die Lehrer des Christentums haben im
Anschluß an den Urtext des Vaterunser dafür
das Wort „Brot“ gebraucht. Und die
fortschreitende Vertiefung dieses Begriffs im Geiste des
Christentums und anschließend an die sich
ändernden Zeitverhältnisse ist es, was wir als
die Geschichte der Auslegung des Vaterunser bezeichnen.
Die im Laufe des vorigen Jahrhunderts unter dem
Einfluß wirtschaftspolitischer Bedürfnisse neu
entstandene nationalökonomische
Wissenschaft beschäftigt sich mit genau dem
gleichen Objekte und
gebraucht dafür das Wort „Gut“.
„Gut“ im Sinne der
Nationalökonomie ist nämlich alles das, was ein
menschliches Bedürfnis befriedigen kann. Und im
Sinne der großen Kirchenlehrer ist
„Brot“ alles das, was für Leib und Seele
unentbehrlich ist. Nur die Bezeichnung ist also eine
verschiedene, die Sache ist die gleiche.
Nun ist aber die Nationalökonomie eine sehr
stolze Wissenschaft. Fast in die Verhältnisse eines
jeden Einzelnen greifen ihre Theorien in durchaus
maßgebender Weise ein. Auf ihrem Gebiete namentlich
werden die großen Schlachten des Materialismus
gegen das Christentum geschlagen und die Frage nach Sein
und Nichtsein der einzelnen Völker entschieden. Wir
finden deshalb auch in hundert Büchern eingehend
erörtert, wie wir es doch in unserer Zeit so
herrlich weit gebracht, während die früheren
Jahrhunderte auch nicht eine Ahnung von der
nationalökonomischen Wissenschaft hatten. Dringt man
aber in die nationalökonomische Literatur tiefer
ein, dann findet man — mit sehr wenigen Ausnahmen
— einen solchen Mangel an großen, klaren,
feststehenden Prinzipien und eine solche Zerfahrenheit in
den Grundbegriffen, daß man in jeder anderen, von
mathematischem Geiste auch nur einigermaßen
durchwehten Wissenschaft einen solchen Zustand als
geradezu „unglaublich“ bezeichnen würde.
Soll und darf ein derartiger Zustand weiter dauern? Und
wenn die vitalsten Interessen der Völker fordern,
daß er gebessert werde, wo findet sich der Weg zur
Besserung? Die Antwort auf diese Frage kann kaum
zweifelhaft sein. Die Nationalökonomie wird gut
daran thun, vom hohen Roß herabzusteigen und sich
zu erinnern, daß
das gleiche Objekt, mit dem sie sich bis heute in einer
ziemlich unfruchtbaren Weise abgemüht hat, bereits
seit fast zwei Jahrtausenden von den gewaltigsten
Geistern der christlichen Kirche beherrscht wurde und
zwar beherrscht wurde in demütiger Vertiefung in
jenes Gebet, das Christus selbst uns als
sein Gebet gegeben hat. Was also der
Nationalökonomie Not thut, das ist eine Revision
ihrer Grundprinzipien und Grundbegriffe im Geiste des
Herrengebetes. Und indem wir diese Revision der
nationalökonomischen Lehren vornehmen, gelangen wir
zu einer modernen Auslegung der vierten Bitte des
Vaterunser.
XI.
Brot und Gut.
Schon der kleine Unterschied zwischen der Definition
„Gut“ und der Definition
„Brot“ zeigt die Schwäche
auf Seiten der Nationalökonomie. „Gut ist
alles, was ein menschliches Bedürfnis befriedigen
kann.“ „Brot ist, was für Leib und Seele
unentbehrlich ist.“ Der schulgerechte
Nationalökonom nimmt den Menschen, wie er ihn
findet. Eine Unterscheidung zwischen
einer edleren und weniger edlen Hälfte des Menschen
kennt er ebenso wenig, wie die Unterscheidung zwischen
„gut“ und „bös“.
Der Definition „Gut“ fehlt
deshalb jede und jegliche sittliche Qualität. Der
Mensch gebraucht es, also ist es ein Gut. Deshalb mangelt
auch unserer Nationalökonomie jeder über die
nackten Quantitäten hinausgehende leitende
Gesichtspunkt. Man begnügt sich, die Thatsachen zu
registrieren, wie man sie findet, ohne sich dabei in
seinem historisch-ethischen Gewissen verletzt zu
fühlen. Und ganz analog ist die Stellung zum Luxus.
Nach einer mehr oder minder lückenhaften
Zusammenstellung der Ereignisse bringt man die
Gründe für und gegen den Luxus, um im
übrigen die Dinge gehen zu lassen, wie
sie mögen. An dieser aufgelegten Einseitigkeit
schließen dann die kommunistischen und
sozialistischen Schwärmer der verschiedensten
Richtungen an, deren Irrtümer nachher von den
Nationalökonomen im einzelnen umfassend nachgewiesen
werden, ohne jedoch die eigene Einsicht zu
fördern.
Wie ganz anders erscheint uns die Lehre eines Gregor
von Nyssa, eines Augustin, eines Albertus Magnus und
eines Thomas von Aquin! Für sie ist der Mensch nicht
bloß Mensch, sondern Seele und Leib. Und nicht das,
was Seele und Leib thatsächlich
gebrauchen, sondern nur was Seele und Leib
notwendig brauchen, nur was für beide
unentbehrlich ist, das ist
„Brot“. Damit gewinnt von
Anfang an der Grundbegriff seine sittliche Weihe. Und
welche Konsequenzen ich daraus auch immer ableiten mag,
die klare und scharfe Unterscheidung zwischen dem, was
„gut“, und dem, was „böse“
ist, kann nirgends mehr fehlen. Denn nicht schon der
Genuß eines Gutes an sich, sondern erst das
geistige Verständnis, mit welchem ich es, im
Hinblick auf unseren idealeren Zweck in dieser Welt,
genieße, macht es zum Brot. Und nur das Brot ist
eine des Menschen würdige Speise. Das tiefere
geistige Verständnis aber in dem Genuß der
körperlichen Dinge führt uns von selbst wieder
zur Einhaltung der Grenze des Notwendigen, wie eine
reiche Fülle moderner pathologischer und
physiologischer Thatsachen bestätigt.
Nun ist aber der Mensch so sehr das Produkt von
außer seines Selbst liegenden Verhältnissen,
daß das Notwendige bei dem Einzelnen
naturgemäß ein Verschiedenes
ist. Der Offizier hat andere notwendige Bedürfnisse
für Leib und Seele, wie der Soldat, und der
König wieder andere, als der Offizier. Insofern
daraus für den Einzelnen ein berechtigter
Mehrverbrauch von Brot fließt, können wir von
einem berechtigten Luxus reden. Was aber
über das standes- und umständengemäß
Notwendige hinausgeht, ist kein Brot mehr und deshalb im
Selbstverbrauch ein sittlich durchaus verwerflicher
Luxus. Nach genau der gleichen Linie richtet sich auch
der Begriff des berechtigten Reichtums. Das
Überflüssige ist eigentlich schon fremdes Gut
und gehört von Gott und Rechts wegen dorthin, wo Not
ist, d. h. wo nicht erworben werden konnte,
was für Leib und Seele notwendig
ist.
Mit welch bewundernswerter Klarheit wird hier von
allem Anfange an jeder, wie immer gearteten
kommunistischen Schwärmerei der Entwicklungsboden
entzogen. Und wie absolut sicher beherrscht diese Lehre
die materiellen Güter als Mittel zum Zweck für
ein immer menschenwürdigeres Dasein
Aller, während die heutige
Schulnationalökonomie am letzten Ende doch immer
nichts anderes zu thun weiß, als vor dem
größeren Geldbeutel die größere
Verbeugung zu machen.
XII.
Von den Motiven der wirtschaftlichen Handlungen.
Oder betrachten wir einmal die
nationalökonomische Lehre von den Motiven der
wirtschaftlichen Handlungen. Auch hier nimmt die
Wissenschaft die Welt so gut und so schlecht sie eben
ist, um die daraus abgeleiteten Regeln dann als
wissenschaftliche Gesetze zu betrachten. Und deshalb
zeigt sich vor allem, daß innerhalb der freien
wirtschaftlichen Gestaltung der Egoismus die fast allein
maßgebende Triebfeder ist. Was daneben von
idealeren Motiven getragen wird, spielt für die
Verhältnisse im allgemeinen keine wesentliche Rolle.
Ja es giebt sogar eine ganze Reihe hoch angesehener
Nationalökonomen, welche den Egoismus kurzweg als
die Triebfeder aller Wirtschaftlichkeit
betrachten. Das Ziel der auf dem Fundament des Egoismus
sich aufbauenden Wirtschaft aber ist
selbstverständlich nur das Ansammeln von
möglichst viel Geld. Deshalb löst sich unsere
volkswirtschaftliche Weisheit für die
Privatwirtschaftslehre in die Sätze auf:
möglichst billig einkaufen und möglichst teuer
verkaufen!
möglichst billig produzieren und möglichst viel
gewinnen! Und deshalb diese allgemeine
nationalökonomische Bewunderung für die
arbeitsamste Stadt und den arbeitsamsten Industriebezirk,
wo die Menschen Tag und Nacht hasten und jagen nach
Reichtum, wo unter dem schärfsten Konkurrenzkampf
und unter der gefühl- und rücksichtslosesten
gegenseitigen Ausbeutung in unersättlicher Geldgier
Riesenreichtümer aufgehäuft werden und wo die
Überreichen nicht wissen, was sie vor Übermut
anfangen sollen und die Masse der arbeitenden Menschen in
den Stumpfsinn des Proletariats hineingerissen wird. Das
sind dann ideale Zustände für unsere, aus dem
Prinzip des Egoismus sich aufbauende
Volkswirtschaftslehre. Und deshalb zeigt man heute ganz
allgemein auf das industrielle England als die
höhere Stufe volkswirtschaftlicher Entwicklung hin,
die Deutschland mit allen Kräften zu erstreben habe.
Wenn aber unter solchen Umständen die Arbeitermassen
über rücksichtsloseste Ausbeutung durch den
Kapitalismus klagen, wenn sie darauf hinweisen, daß
sie doch auch Menschen und als solche nicht dazu da
seien, um binnen kürzester Zeit wie eine Zitrone
ausgepreßt und dann als wertlos bei Seite geworfen
zu werden, dann giebt die offizielle
Nationalökonomie folgende Antwort :
„Namentlich für die erwachsenen
männlichen Arbeiter darf der Staat nicht
intervenieren, sonst wird die Konkurrenzfähigkeit
des Staates den anderen gegenüber geschädigt.
Deshalb bleibt nur die Selbsthilfe übrig. Die
Arbeiter müssen sich zusammenthun und dann in
organisierten Verbänden um ihre
egoistischen Interessen mit dem Kapital kämpfen. Aus
diesem Kampf wird dann
ein regelrechter Industriekrieg, den man in der
Wissenschaft ‚Strike‘ nennt. Im Kriege bleibt
der Stärkere Sieger. Und dem Sieger gehört die
Beute. Einen anderen Weg, um z. B. zur Abkürzung der
Arbeitszeit und damit zu einem menschenwürdigeren
Dasein für die Arbeitermassen zu gelangen, giebt es
nicht.“ Soweit aber wirklich aus diesem Ideengange
heraus der einzelne Nationalökonom sich zu einer
Befürwortung kürzerer Arbeitszeit
entschließt, soweit geschieht das ausdrücklich
mit der eingehenden Motivierung, daß das auch im
Interesse des Unternehmers gelegen sei, weil bei
kürzerer Arbeitszeit die Arbeiter
erfahrungsgemäß mehr leisten. Also: auch
für das beste Recht hat man nur dann den Mut
einzutreten, wenn es mit dem höchst zu verehrenden
Egoismus im Einklang steht.
Wie unvergleichlich tiefer greift auch hier wieder die
Nationalökonomie eines Augustin und Thomas von
Aquin. Ausgangspunkt ist nicht die Frage: wie kann man
die größten Reichtümer ansammeln?
Ausgangspunkt ist der Mensch und zwar der Mensch in
seiner Bestimmung, schon auf dieser Welt soviel als
möglich die Reinheit körperloser Mächte zu
erringen. Das ist schwer, namentlich deshalb, weil
für unsere Fleischesnatur, die täglich erwacht,
sich täglich sättigt und doch auch täglich
wieder hungert, der Verbrauch materieller Dinge ganz
unentbehrlich ist. Dieses unabweisbare Bedürfnis
läßt selbst wissenschaftlich gebildete und
weise Männer schwach werden, indem sie sich ganz der
Sorge um die Güter dieser Welt für ihren Leib
hingeben und deshalb Nahrung und Pflege für ihre
Seele vergessen, wofür
sie nie wieder gut zu machenden Schaden leiden. Und darum
hat uns Christus sein Gebet gegeben und uns darin
gelehrt, unser Herz nicht mit Angst und Sorge um
notwendige Dinge zu belasten, sondern vertrauensvoll
täglich unser Brot von Gott zu erbitten. Ein jeder
Tag hat seine Plage und soll auch seine Plage haben.
Bezähme also die in dir schlummernden Begierden. Sei
zufrieden, wenn du heute dir erarbeitet hast, was du an
Nahrung, Kleidung und Wohnung notwendig brauchst, und
widme deine übrige Zeit und deine übrige Kraft
deiner edleren und idealeren Bestimmung. Und wenn in
diesem Sinne alle Mitglieder einer christlichen Gemeinde
beten und handeln, dann wird der Segen Gottes sichtbar
auf diesem Gemeinwesen ruhen. Wenn du aber in ruheloser
Hast all dein Streben nur auf den Reichtum richtest und
wenn du dann in deiner unersättlichen Gier bald
nicht mehr zufrieden bist mit dem, was du dir mit
Anspannung deiner vollen Kräfte erarbeiten kannst,
und deshalb deine Hand auch nach fremdem Gute ausstreckst
und es dir aneignest, wenn du dann von Thränen
Anderer erntest, wenn deiner Sättigung halber Andere
hungern müssen, wenn Andere seufzen, weil du
schwelgst, dann verwandelt sich der Segen des gemeinen
Gebets in Fluch auf deinem Haupte. Und wenn ein solcher
Geist in einem Gemeinwesen die Herrschaft erlangt, dann
wird die Spur dieses Volkes von der Erde vertilgt werden,
wie Griechenland und Rom vertilgt worden ist.
Also: Zufriedenheit, Mäßigung und
Arbeitsamkeit in voller Hingabe an die edlere
menschheitliche Bestimmung — die ächten
Bürgertugenden aller Zeiten und Völker,
die sind es, welche auch innerhalb
der Welt der wirtschaftlichen Gestaltungen allein
maßgebend sein sollten, damit dem
Volke ewige Jugendkraft beschieden werde. Kommt aber der
Egoismus erst zur Alleinherrschaft und erschöpft
sich die Thätigkeit der Menschen im Tanz um's
goldene Kalb, dann steht das Ende mit Schrecken vor der
Thüre, so gewiß als Christus uns
ausdrücklich gelehrt hat, nur um das tägliche
Brot zu bitten.
Das Ziel der wirtschaftlichen
Thätigkeit des Menschen ist nicht die Ansammlung von
Reichtum, sondern eine möglichst
menschenwürdige Entfaltung Aller. Die
höhere Stufe volkswirtschaftlicher
Entwicklung finden wir nicht in jenem Lande, welches die
größten Geld- und Gütervorräte
angehäuft hat, sondern in jenem Lande, in welchem es
am leichtesten ist, durch redliche Arbeit
sich sein tägliches Brot zu verdienen. Und die
Nationalökonomie, welche sich mit den
Mitteln und Wegen zu diesem Ziele beschäftigt, ist
nicht etwa die Lehre von dem Nationalreichtum, und auch
nicht die Lehre von den wirtschaftlichen Erscheinungen,
wie man in der Schule heute zu sagen pflegt, sondern die
Lehre von der Materie als Entwicklungsgrundlage der
Menschheit.
XIII.
Die Lehre von der Güter erzeugenden Kraft der
Arbeit.
Ein anderes sehr wichtiges Kapitel der modernen
Nationalökonomie beschäftigt sich mit der
Lehre von der Güter erzeugenden Kraft der
Arbeit. Seitdem Adam Smith sein berühmtes
Werk über den Nationalreichtum geschrieben hat,
betrachtet man ganz allgemein die Arbeit als die
eigentliche Güterquelle. Deshalb schien die
Arbeitsteilung einen so gewaltigen Fortschritt zu
bedeuten, weil dadurch die Arbeitskraft der Einzelnen
besser ausgenutzt werde. Und schließlich kam man
auch zu dem Satze: Die Arbeit allein erzeugt Werte. Karl
Marx hat dann daraus gefolgert: also ist auch das
Arbeitsprodukt der allein gerechte Arbeitslohn.
Lange konnte freilich die Beobachtung der
thatsächlichen Verhältnisse bei dieser
selbstgefälligen Betrachtung der menschlichen Arbeit
nicht verweilen. Die Zeit ließ ja niemals lange auf
sich warten, in der der Markt mit Arbeitsprodukten
überfüllt schien, und niemand mehr kaufen
wollte, weil er nicht kaufen konnte. Damit trat dann
periodisch ein Stillstand in der arbeitsteiligen
Volkswirtschaft ein, mit
Arbeiterentlassungen und Hunger und Elend ohne Ende. Was
ist die Ursache dieser merkwürdigen Erscheinungen in
einer Welt, in der doch die Arbeit die Quelle der
Güter und Werte sein soll? Malthus gab auf diese
Frage die erste schulgerechte Antwort mit seiner
Übervölkerungstheorie. Darnach sollen alle
Plätze an der reich gedeckten Tafel der Natur
bereits besetzt sein, während die
Bevölkerungszunahme die Tendenz habe, eine noch
größere Zahl von Menschen unterzubringen,
für die dann leider kein Platz mehr zu finden ist.
Diese armen Unglücklichen, die zu spät gekommen
sind, müssen dann in Not verderben. Da nütze
alles nichts. Das sei eine naturgesetzliche Erscheinung.
Und die Verabfolgung von Almosen könne die Krisis
nur verschärfen. Wie dem nun auch sei, so viel ist
jedenfalls sicher, daß wir es hier mit Krisen zu
thun haben, durch welche eine mehr oder minder
große Zahl gerade von Arbeitern unverschuldet in
Not kommt, aus der sie sich nicht aus eigner Kraft
befreien können. Die Sozialdemokratie namentlich hat
dann diese Krisentheorie noch weiter ausgebaut und den
Satz von der Wiederkehr in immer kürzeren Perioden
bei steigender Intensität aufgestellt, bis endlich
eines Tages der große Kladderadatsch kommt, der
dann mit einem Schlage die heute auf dem Prinzip des
Individualismus und Egoismus sich aufbauende
volkswirtschaftliche Organisation in eine solche, auf
sozialistischer Basis verwandelt. Lassen wir nun auch die
Richtigkeit dieser Ansicht dahin gestellt sein, so viel
ist sicher, daß schon durch die Malthus'sche
Krisentheorie der oberste nationalökonomische
Lehrsatz von der Arbeit
als Güterquelle eine sehr bedeutende
Einschränkung erfahren hat.
Dem folgte bald eine zweite nicht minder wichtige
Einschränkung nach mit der sogenannten Ricardo'schen
Rententheorie, welche die überraschte Welt damit
bekannt machte, daß unter den bestehenden
Rechtsverhältnissen jemand ein sehr bedeutendes
Einkommen beziehen kann, das sich weder auf Arbeit noch
auf Ersparnisse zurückführt und mithin im
vollen Sinne des Wortes ein arbeitsloses
Einkommen ist. Die Sozialisten haben auch diese Theorie
sich sofort angeeignet und noch erweitert durch
Hinzurechnung der breiten Masse des unredlichen Erwerbs
jeglicher Art. Und nachdem beide eine so hervorragende
Rolle in der heutigen Vermögensbildung spielen, hat
man daraus die Folgerung abgeleitet: „Eigentum ist
Diebstahl!“ Wir wollen auch diese Ideenentwicklung
mit ihren Licht- und Schattenseiten auf sich beruhen
lassen, um uns der Frage zuzuwenden: wie kann heute noch
der Satz von der Güter erzeugenden Kraft der Arbeit
nationalökonomisch aufrecht erhalten werden, nach
dem doch einerseits bei volkswirtschaftlichen Krisen
gerade die Arbeiter unverschuldetermaßen sich durch
Arbeit keine Güter mehr erwerben können und
andererseits durch Rentenbezug und unredlichen Erwerb
große Vermögensbildungen eintreten, welche dem
Begriff der sittlichen Arbeit direkt in's Gesicht
schlagen? Die heute herrschende Nationalökonomie
hilft sich damit, daß sie den Begriff
„Arbeit“ auf den Begriff
„wirtschaftliche Arbeit“ verengt, d. h. man
verlangt heute von der Güter erzeugenden Arbeit,
daß sie sich in die Bedürfnisse des Marktes
eingliedere. Diese Aufgabe richtig zu lösen,
hängt nach der Theorie von der besseren Einsicht ab.
In der Praxis aber erzählt jeder erfolgreiche
Spekulant, daß er am meisten dann verdient habe,
wenn er sich zuerst genau überlegte, was wohl das
Richtige sei, um dann gerade das Gegenteil davon zu thun.
Von Baron Rothschild, der hier gewiß zum Urteilen
kompetent ist, hat man den Ausspruch registriert:
„Es ist nicht möglich Millionär zu
werden, ohne mit dem Ärmel das Zuchthaus zu
streifen.“ Und von einem
ungarischen Finanzminister stammt der Satz „Wer
sich schämt, wird nicht reich!“ Die Theorie
kümmert sich um diese und ähnliche Dinge in der
Regel nichts, um dann mit desto mehr Behagen bei den
Besitzern großer Vermögen zu verweilen und
dieselben als glänzende Muster thätiger Arbeit
zu feiern. Mit welchem Recht? Giebt es nicht
glücklicher Weise noch eine größere Zahl
von Menschen, die eine weit tiefere Bildung besitzen, als
alle unsere Millionäre bei mindestens ebensoviel
Energie, die aber nach der Sicherung eines bestimmten
Einkommens sich edleren Aufgaben gewidmet haben, weil sie
den Reichtum verachten? Und wer zählt die Tausende
und aber Tausende, die mit ganz der gleichen Begabung und
mit der gleichen Geldgier die Jagd nach dem irdischen
Glück mitgemacht haben und dabei elend zugrunde
gegangen sind? Man lese doch die Geschichte all dieser
berühmten reichen Leute und man wird finden, wie
eines Tages bei jedem der ganze Erfolg wie an einem
Fädchen hing. Es war wie ein Wunder, daß das
Fädchen nicht gerissen ist. Andere nennen es
Glück, wieder andere Zufall. Bei
dem Einen also hat dieses Fädchen gehalten. Bei
hundert Anderen ist dieses Fädchen gerissen. Wie
darf dieser eine Erfolgreiche sich
erkühnen, zu sagen: „Ich habe meinen Reichtum
nur mir selbst zu verdanken!“ Und wie verblendet
zeigt sich unsere Nationalökonomie, daß sie
eine solche Behauptung glaubt!
Weit eher hätte die Sozialdemokratie recht,
welche sagt: nur das Arbeitsprodukt ist der gerechte
Arbeitslohn. Der Arbeiter, der an einer Maschine
Bänder macht, sollte darnach alles das als Lohn
erhalten, was nach Deckung der notwendigen Auslagen von
dem Gesamtwert des durch ihn erzeugten Bandes übrig
bleibt; denn eben dieser Mehrwert ist ja doch das Produkt
seiner Arbeit. In der That? Ist das Band wirklich nur das
Produkt der Thätigkeit des Arbeiters? Hat die
Mitbeteiligung der Maschine gar keine Bedeutung? Oder hat
der Arbeiter auch diese Maschinen gemacht? Ein englisches
Sprichwort sagt, daß in England heute kein Nagel
geschmiedet wird, der sich nicht auf die Eroberung des
Landes durch die Normannen zurückführe. Wer
will bezweifeln, daß unsere ganze moderne
technische Entwicklung ohne die Einführung des
Christentums undenkbar ist? Und hat denn der Arbeiter
das, was er ist und wie er es ist, nur sich selbst zu
verdanken? Sind seine Schulkenntnisse und seine
technischen Fertigkeiten wirklich auch alle sein Produkt?
oder haben nicht vielmehr alle vorausgegangenen
Generationen in ihrer Art daran mitgearbeitet? Ganz
offenbar; sobald wir die Faktoren alle zusammensuchen,
welche mitwirken, damit heute ein Arbeiter an einer
Maschine ein Band erzeugen
kann, sobald haben wir die ganze Entwicklungsgeschichte
der Menschheit und schließlich auch den Ursprung
des Menschengeschlechtes zusammenzufassen. Wer will es
ergründen? Es ist also pure Unkenntnis und
große Oberflächlichkeit, wenn der Arbeiter
sagt, dieses Band sei nur seiner Arbeit zu verdanken. Und
es ist ebenso pure selbstgefällige Überhebung,
wenn der Reiche sagt, daß er sich seinen Reichtum
selbst erarbeitet habe. Auch innerhalb der
wirtschaftlichen Welt ist der Einzelne nichts als ein
Sonnenstäubchen, das der Wind verweht, wie er will.
Und ob dabei der Eine in die Lage kommt, hier an einer
Felsbildung mitzuhelfen, während der Andere dort auf
der Düne bleibt, es stehen Beide gleich sehr in der
Hand jener Allmacht, die alles Sein und alles Werden
beherrscht. Wenn also die heutige Nationalökonomie
in der üblichen Weise mit dem Satze beginnt:
„Die Arbeit ist die Quelle der Güter“
und dann in dieser Arbeit nichts anderes sieht, als den
konkreten Arbeitsprozeß, der sich nach seiner
aktiven Seite rasch in den Arbeiter verdichtet, so
beginnt sie mit einem groben Irrtum. Wenn sie aber den
Begriff Arbeit in der rechten Weise vertieft und darin
die Bethätigung der ganzen Menschheit sieht, wobei
der zufällig anwesende Arbeiter nur das lebendige
Bindeglied zwischen Geist und Materie darstellt, dann
wird auch sie in Zukunft dem hundertfachen Millionär
ebensowenig Weihrauch streuen, wie sie sich berechtigt
halten darf, den hungernden Arbeiter mit dem Vorwurf der
Selbstverantwortung zu belasten.
Der Einzelne mit all seinem Besitz und all seinem
wirtschaftlichen Thun und Lassen
steht also in der absoluten Gewalt einer höheren
geistigen Macht. Und Augustin behält wieder einmal
Recht, wenn er sagt: „Woher hat der Reiche seinen
Überfluß, wenn nicht und weil Gott es ihm
giebt? Was wird er noch haben, wenn Gott seine Hand ihm
entzieht? Sind nicht schon Reiche nieder gegangen und
haben sich nicht schon Arme wieder aufgerichtet? Was
jenem nicht fehlt, das hat er dem Erbarmen Gottes und
nicht seiner eigenen Macht zu verdanken.“
Die Arbeit, welche die Güter erzeugt, ist nicht
die Arbeit des Arbeiters, sondern die Arbeit
der großen Menschengemeinschaft. Diese
Gemeinschaft ist zunächst eine solche im Geiste und
umschließt damit auch jeden einzelnen lebenden
Arbeiter. Sie ist aber auch eine Gemeinschaft in der
Materie, die z. B. in der Bändermaschine ebenso
unzweifelhaft, wie in dem soeben erzeugten Bande gegeben
ist. Die Arbeit selbst aber ist der
Vereinigungsprozeß von Geist und Materie. Und was
ist der Arbeitslohn? Im Sinne der Nationalökonomie
des Geldbeutels: der Preis für die Arbeit, der durch
Angebot und Nachfrage bestimmt wird — im Sinne der
sozialistischen Theorien: der Anteil des Arbeiters an dem
Gesamtwert des Arbeitsprodukts — im Sinne des
Vaterunser: der gütermäßige Ausdruck
für den Grad der Entfaltung, den die menschheitliche
Entwicklung in der Geschichte jeweils erreicht hat.
—
XIV.
Von dem Wertbegriff.
Ein weiteres Hauptstück der Nationalökonomie
beschäftigt sich mit dem
Wertbegriff.
Wie man bei den Begriffen „Gut“,
„Reichtum“, „Luxus“,
„Wirtschaft“ u. s. w. sich fast immer mit der
rein quantitativen Erfassung der Erscheinungen
begnügte, wie man den Arbeiter in den Begriffen
„Arbeit“ und „Arbeitslohn“ zu
einer Sache degradieren zu können glaubte einfach
deshalb, weil den egoistischen Interessen des Geldbeutels
eine andere Auffassung fehlt, so ist auch der
„Wert“ der herrschenden Schulmeinung zuletzt
nur ein anderer Ausdruck für die Thatsache,
daß auf dem freien Markte so und so viel Geld
gezahlt wird. Der Preis, wie er durch Angebot und
Nachfrage bestimmt wird, bleibt Mittelpunkt aller hierher
gehörenden Erwägungen. Und der Wertbegriff ist
eigentlich nur dazu da, um dem thatsächlich
vereinbarten Preise nachträglich eine gewisse
sittliche Weihe zu verleihen. Der freie Markt bleibt die
erste und letzte Instanz. Die
unpersönliche freie Konkurrenz ist der Richter und
der Egoismus das Gesetzbuch. Und was in diese Formeln
nicht hineinpassen will, das
muß!
Der landwirtschaftliche Grundbesitz z. B. ist in
seiner Fläche gegeben und in seinen Teilen
unbeweglich. Er ist also seiner Natur nach der
vollständige Gegensatz zur beliebig vermehrbaren und
beliebig übertragbaren Ware. Weil aber die freie
Konkurrenz alles uneingeschränkt richten und
schlichten soll, wird der Grundbesitz
einfach zur Ware gesetzlich dekretiert. Die Folge ist,
daß bei der fortwährenden Zunahme der
Bevölkerung und bei dem Andrang der Besitzlosen als
Bewerber für die kleinsten Grundstücke die
Grundpreise die Tendenz haben, so hoch zu steigen,
daß der ganze Ertrag der Arbeit davon aufgezehrt
wird. Da aber gleichzeitig diese enormen Preise mit
Hypotheken festgelegt sind, müssen bei
jedem ungünstigen Wechsel der Konjunktur tausende
von landwirtschaftlichen Existenzen zugrunde gehen. Wie
ist da zu helfen? Diese Frage ist sehr schwer zu
beantworten. Denn an dem grundlegenden Irrtum, daß
der landwirtschaftliche Grundbesitz keine Ware ist, darf
bei Leibe nicht gerüttelt werden. Die freie
Konkurrenz auf dem Grundmarkte muß namentlich
hinsichtlich der Preisbildung geradezu als ein
unantastbares Etwas betrachtet werden. Die Erscheinungen,
welche damit zusammenhängen, sind für alle
Zukunft durch die berühmte Grundrententheorie
kodifiziert. Und — ganz nebenbei bemerkt —
würde es auch garnicht durchführbar sein, in
die geheiligten egoistischen Interessen der
Grundpreisspekulanten sich einen Eingriff zu erlauben. So bleibt denn aus lauter
Ehrfurcht vor der freien Konkurrenz und dem Egoismus der
Grundbesitzer der Grundwertbegriff unerörtert und
der Hauptsitz des inneren agrarischen Übels
unangetastet. Der Grundpreis ist der schulgerechte
Grundwert.
Das vaterlandslose Geldkapital hat es bei dem Ausbau
der Eisenbahnen verstanden, die Grundsätze seiner
egoistischen Interessen dem Geiste der Tarifpolitik
einzuhauchen. Dadurch ist es mit Hülfe der Ausfuhr-,
Durchfuhr-, Einfuhr- und Konkurrenztarife möglich
geworden, Getreide aus kulturell zurückgebliebenen
Ländern nach kulturell hochstehenden Staaten
massenhaft zu transportieren und dadurch die
Getreidepreise zu werfen. Diese Getreideeinfuhr erfolgte
nicht etwa, weil die betreffenden Länder einen
Bedarf an Getreide gehabt hätten, sondern lediglich
deshalb, weil dieser Ausgleich der Preise, unter
Benutzung der äußerst billigen
Transportkosten, dem betreffenden Unternehmer einen
Gewinn versprach. So hat das internationale Geldkapital
von Ungarn, Rußland, Indien und den
Donauländern aus nacheinander operiert. Damit nicht
zufrieden schuf man kapitalistische Gründungen
allergrößten Stils in Nord- und
Südamerika, indem man europäische Spargelder in
Milliarden heranzog, damit die Verkehrswege in die
Wildnis hinein baute, dann durch geschickte
Börsenmanöver große Beträge davon
zur „Abschreibung“ brachte und
schließlich so die Produkte der gleichfalls
künstlich herangezogenen Bevölkerungsmassen
möglichst billig auf den mitteleuropäischen
Markt warf. Die Fäden für all diese
Vorgänge laufen an der Börse zusammen, die durch ihre spezifische
Ordnung eine Spielhölle geschaffen hat, in der das
Brotgetreide als Einsatz dient. Dieses Spiel tendiert
vorläufig aus ganz bestimmten Gründen noch
à la baisse. In nicht
ferner Zeit wird dieses Spiel ebenso entschieden der
Hausse-Partei zum Siege verhelfen müssen. Heute
leiden deshalb namentlich die Landwirte sehr unter den
niedrigen Getreidepreisen. Man hat daraus die Frage der
auswärtigen Getreidekonkurrenz abgeleitet, die
natürlich auch einer glücklichen Lösung
entgegengeführt werden sollte. Man hat mit
Schutzzöllen einen Heilungsversuch gemacht —
die Preise gingen dabei zurück. Unter dem
Einfluß einer vorübergehenden Hausse hat man
die Zölle herabgesetzt — die Preise sanken
noch weiter. Und die Wissenschaft? — steht ratlos
zur Seite. Sie hat in ihren dickleibigsten Bänden
noch nicht einmal daran gedacht, die verschiedenen
Erscheinungen der auswärtigen Konkurrenz auf
ausbeutende kapitalistische Interessen als ihre
eigentliche Wurzel zurückzuführen. Die
Schattenseiten der Entwicklung des Weltverkehrs macht man
verantwortlich. Man hat ebenso noch gar nicht daran
gedacht, daß deshalb die niedrigen Getreidepreise
in nicht ferner Zukunft von dauernd hohen Preisen
abgelöst werden müssen. Noch weniger hat man
erkannt, daß diese Ausgleichung der Getreidepreise
zwischen den verschieden hoch stehenden
Kulturländern nur unter dem
Gesichtswinkel privater Profitmacherei vom nationalen
Standpunkte aus ebenso verwerflich ist, wie ein von den
gleichen Motiven getragener Ausgleich der
Arbeitslöhne, oder wie etwa ein beliebiger Ausgleich
der Fauna und Flora der
verschiedenen Länder. Und endlich hat man die vom
allgemeinen Volksgefühl so energisch geforderte
Börsenreform in den wissenschaftlichen Wunsch
ausklingen lassen, die Börse möchte selbst ihre
größten Schäden abstellen. Als ob es dem
Wolf vergönnt wäre, aus eigner Initiative sich
in eine Schafsnatur zu verwandeln! Ganz offenbar; all
diese Sätze sind nur der Ausdruck einer
durchlaufenden Ratlosigkeit, die deshalb eine so
gründliche ist, weil man in dem Getreidepreis
den schulgerechten Getreidewert erblickt.
Auf dem Gebiete der Währungsverhältnisse hat
die Sucht nach Reichtum auch die Sucht nach Gold zur
herrschenden gemacht. Verschiedene Staaten sind deshalb
zur Goldwährung in einer Zeit übergegangen, in
der ihre Verhältnisse noch nicht reif dazu waren.
Dazu kamen Störungen in dem Bereiche der
Edelmetallproduktion und endlich auch alle jene
verhängnisvollen Konsequenzen, welche die Börse
durch außerordentliche Kreditüberspannungen
einzelner Länder mehr als
begünstigt hat. All diese wirtschaftspolitischen
Fehler wirken auf die einzelnen nationalen Glieder des
weltwirtschaftlichen Verkehrs um so empfindlicher
zurück, je größer der Einfluß ist,
den man der freien Konkurrenz und dem freien Markte
überantwortet hat. In der wissenschaftlichen
Litteratur gehen über das daraus fließende
Währungsproblem zum Mindesten die Ansichten heute so
weit auseinander, daß die Einigung der Fachleute
noch in weiter Ferne liegt. Der wichtigste
Erklärungsgrund aber auch für diese Thatsache
liegt unzweifelhaft in der Behandlung
des Geldpreises als Geldwert.
Wo möglich noch hülfloser ist unsere
nationalökonomische Schulweisheit gegenüber dem
Problem von der Steigerung des Arbeitslohnes. Der
zunehmende Reichtum der Völker hat als grellen
tiefen Schatten die Massenarmut zur Seite. Die Ausbeutung
der Arbeiter durch das Kapital kennt nur die Grenzen des
Strafgesetzbuchs. Und so haben sich denn innerhalb des
modernen Rechtsstaats zwei große feindliche
Parteien gebildet: Kapital und Arbeit. Der
fortwährende Streit beider führte
naturgemäß hüben wie drüben zu einer
kampfsdienlichen Organisation. Und die möglichst
vollkommene Durchbildung dieser Organisation hat man
merkwürdiger Weise als ein Mittel zur Beendigung des
Kampfes bezeichnet! ! ! Im übrigen
bestimmt sich nach der Theorie die Lohnhöhe durch
Angebot und Nachfrage. Daß der Arbeitslohn der
einzig sichere Maßstab für die kulturelle
Entwicklung eines Volkes ist, weil darin der Anteil zum
Ausdruck kommt, welcher der Masse des arbeitenden Volkes
von den Gütern dieser Welt zufällt und
daß es deshalb die wichtigste Aufgabe aller
gesunden Wirtschaftspolitik ist, im Interesse und im
Dienste der menschheitlichen Entwicklung diesen Anteil zu
steigern, das mußte schon deshalb der herrschenden
Lehre unbekannt bleiben, weil sie den Arbeiter
versachlicht hat. Die Versachlichung des Arbeiters aber
führte naturgemäß wieder zu der
Auffassung: Der Arbeitslohn ist als Arbeitspreis
auch der Arbeitswert.
So sehen wir, wie auf den verschiedenen großen
Gebieten der aktuellen
Wirtschaftspolitik das Problem sich zuletzt immer wieder
auf die Wechselbeziehung zwischen Preis und Wert
zurückführt. Der Preis ist dabei stets der
Ausdruck der Dinge wie sie sind und geworden sind, der
Wert aber offenbar der Ausdruck der Dinge wie sie sein
sollen. Der Preis ist deshalb ein rein
thatsächlicher und rein quantitativer Begriff,
während der Wert ein, von der thatsächlichen
Preisbildung unabhängiges qualitatives Etwas
besitzt. Man hat nicht mit Unrecht von einem objektiven
Charakter des Wertes gesprochen. Trotzdem muß
offenbar auch der Wertbegriff eines Gutes sein Subjekt
haben und dieses Subjekt ist die volkswirtschaftliche
Gemeinschaft, im Gegensatze zum Preis, dessen Subjekt in
der Vereinigung von Käufer und Verkäufer
gegeben ist. Wir sagen deshalb: der Wert ist der
gütermäßige Ausdruck für die
Beziehungen eines Objektes zur volkswirtschaftlichen
Gemeinschaft.
Von diesem Begriff ausgehend lösen sich die
Fäden der verschiedenen volkswirtschaftlichen
Probleme in einer ebenso klaren wie bestimmten Weise. Der
Egoismus ist für die Wirtschaftspolitik des
Vaterunser überhaupt kein berechtigtes Motiv.
Zufriedenheit, Mäßigung und Arbeitsamkeit
unter voller Hingabe an die edleren menschheitlichen
Bestimmungen: das sind die wirtschaftlichen Motive im
christlichen Staate und für christliche Gesetze
innerhalb der Staaten. Es erscheint deshalb selbst
die Möglichkeit
ausgeschlossen, daß die vom Egoismus beherrschte
freie Konkurrenz auf dem Warenmarkte alles richten und
schlichten könnte. Daß aber der
freie Markt für die
Grundstücke das wirtschaftspolitisch
Wünschenswerte wäre, davon kann auch nicht im
Entferntesten die Rede sein.
Die heutige freie Grundpreisbildung ist nichts anderes
als die gesetzliche Anerkennung der Wucherfreiheit auf
dem Gebiete des Grundmarktes. Der Grundverkäufer
wuchert heute nach allen Regeln der Kunst den
Grundkäufer aus und der letztere läßt es
sich gefallen, in der Hoffnung, seinen Nachfolger
mindestens ebenso auswuchern zu können. Der sozialen
Gesamtheit wird aber bei Eintritt einer Agrarkrisis
zugemutet, die ausgewucherten bäuerlichen Existenzen
zu „erhalten“. Auch hier kann nur durch
Beseitigung der Wucherfreiheit geholfen werden, durch
eine Ordnung des Verkehrs mit Grundstücken nach
Maßgabe des wahren Wertes. Wucherfreiheit ist in
einem christlichen Staate ebenso vollkommen
ausgeschlossen wie Verbrecherfreiheit. Aber die
Wucherfreiheit nur für den Geldverkehr aufheben,
für den Grundverkehr dagegen beibehalten wollen,
heißt das Übel in der Nebensache beseitigen,
in der Hauptsache fortbestehen lassen.
Daß die Getreideeinfuhr nach Mitteleuropa nur
aus dem Motive der Profitmacherei, ohne Rücksicht
auf das Bedürfnis und auf die bisherigen
Getreidepreise durchaus antichristlich ist, unterliegt
gar keinem Zweifel. Daß nach den Prinzipien der
Wirtschaftspolitik des Vaterunser das zügellose
Börsenspiel mit Brotgetreide niemals gebilligt
werden kann, bedarf ebenfalls keines besonderen Beweises.
Aber auch die großen kapitalistischen
Gründungen im Norden und Süden Amerikas
können nicht als Handlungen im Sinne des
Christentums bezeichnet werden. Das
werden diese Völker noch am eignen Körper
erfahren müssen. Denn es kann unmöglich auf die
Dauer ohne schlimme Folgen bleiben, wenn lediglich im
Interesse des Geldbeutels die etwa hundertjährige
Kultur eines Volkes in wenigen Jahren auf künstliche
Weise in eine tausendjährige Kultur verwandelt
wird.
Daß die Nationalökonomie auf christlicher
Grundlage weder eine einseitige Vorliebe für Gold
noch eine solche für Silber besitzt, versteht sich
von selbst. Desto mehr ist sie einer vorurteilslosen
Behandlung des leider sehr vielseitigen
Währungsproblems geneigt.
Was aber die menschliche Arbeit betrifft, so muß
jede analoge Behandlung mit der Ware auf das
entschiedenste abgewiesen werden. Denn wenn es schon eine
verblüffende Oberflächlichkeit verrät, den
Grundbesitz der Ware gleich zu behandeln, so bedeutet die
Betrachtung der Arbeit als Ware eine so gröbliche
Verletzung aller menschheitlichen Ideale, wie sie nur der
Wissenschaft der Geldsacksinteressen möglich ist.
Der Mensch bleibt Mittelpunkt und Zweck aller Wirtschaft,
ob nun der einzelne Kapitalist oder Arbeiter ist. Wenn es
auf der heutigen Entwicklungsstufe der
mitteleuropäischen Völker den Eindruck macht,
als ob auch der Arbeitslohn durch Angebot und Nachfrage
bestimmt würde, und wenn unter dem Einfluß
wachsenden Angebots die Löhne schwanken, dann darf
erst recht nicht vergessen werden, daß der Lohn
mehr als alles andere das Produkt der gesamten
volkswirtschaftlichen Verhältnisse ist. Es wird
deshalb notwendig sein, zu untersuchen, woher dieses
wachsende Angebot von Arbeitskräften kommt. Und
sobald man zu diesem
Zwecke die Statistik der Bevölkerungsbewegung
hervorholt, kann heute die allgemeine Wanderung vom
platten Lande nach der Stadt garnicht mehr übersehen
werden. Und warum dauert diese Bevölkerungsflucht
nach den Städten fort? Die oben angedeuteten
Probleme der aktuellen Wirtschaftspolitik geben die
Antwort darauf: die Agrarfrage, die Frage der
auswärtigen Konkurrenz, die Währungsfrage u. s.
w. haben die Landwirtschaft zu einem unrentablen und
deshalb mehr und mehr gemiedenen Gewerbe gemacht. Wir
haben ebenfalls bereits angedeutet, wie die Lösung
all dieser Fragen auf die Lösung des Wertproblems
gegenüber der thatsächlichen Preisbildung
abzielt. Wenn aber durch die Anerkennung des wahren
Wertes im Verkehr die landwirtschaftliche Arbeit ihre
volle Produktivität wieder gewinnt, dann wird auch
die heutige Bevölkerungsflucht vom Lande nach der
Stadt aufhören, das Arbeiterangebot gemindert und
der Lohn erhöht. Also erscheint der wahre Wert
der Güter als die volkswirtschaftliche Basis der
Bildung des Arbeitslohns.
Die Richtigkeit dieser mehr abstrakten Formulierung
ist leicht zu erkennen. Alle Welt weiß, daß
der redliche Erwerb immer dann seinen goldenen Boden
verliert, wenn der unredliche Erwerb sich ausbreitet.
Diese wucherische Ausbeutung der verschiedensten Art aber
hängt sich an die verschiedenen Güter im
Verkehr: an die Grundstücke, an das Getreide, an das
Geld, an die übrigen Waren und auch an die Arbeiter,
wo sie zur Sache degradiert sind. Das Wucherinteresse
bestimmt dann den Preis, der sich mehr oder minder weit
vom Werte entfernt. Man beseitige also
diese Art der durchaus unchristlichen Preisbildung durch
eine Rechtsordnung, in der der Preis der Güter sich
nach seinem wahren Werte bestimmt, und der unredliche
Erwerb wird verschwinden, während die redliche
Arbeit ihren Gott gewollten Segen wieder findet.
XV.
Die Wirtschaftspolitik des Vaterunser
und der Sozialismus.
Wie die herrschende nationalökonomische Schule,
trotzdem sie sich „ethisch“
nennt, in ihren Grundbegriffen „gut“ und
„bös“ nicht zu unterscheiden weiß,
so kennt sie auch — trotzdem in ihren Werken so
viel von einer „organischen“
Auffassung die Rede ist — nichts von einer
Unterscheidung zwischen „gesund“ und
„krank“. Auch das hat offenbar jene
einseitige historische Methode verschuldet, welche
bekanntermaßen die Dinge nur behandelt, wie sie
sind und geworden sind, nicht aber wie sie sein sollen.
Einer solchen rein quantitativen und prinzipienlosen
Behandlung der ökonomischen Erscheinungen
mußte die Erkenntnis der
Qualitäten verschlossen bleiben. Und deshalb ist die
wirtschaftliche Kanaille zum Normalmenschen der
Nationalökonomie geworden. Und die im Absterben
begriffenen volkswirtschaftlichen Körper betrachtet
man heute in unseren Schulen als höhere Stufe
volkswirtschaftlicher Entwicklung. Aus einer solchen
Zerfahrenheit kann nur die Rückkehr zu den
großen einfachen
Wahrheiten des Vaterunser retten. Und wie lauten
dieselben?
Wenn Albertus Magnus sagt: „Um Reichtum bitten
wir nicht, damit wir nicht übersättigt fragen:
wer ist der Herr? Und wir bitten, daß uns die Armut
nicht beschieden werde, auf daß wir nicht durch
Mangel getrieben den Namen Gottes schmähen
—“ und wenn ein Augustin ausführt:
„Wer da spricht: Armut und Reichtum gieb mir nicht!
was sagt der anders, als: Unser tägliches Brot gieb
uns heute!“ und „Alles Überflüssige
ist eigentlich schon fremdes Gut!“ — so
bedeutet das, in die Sprache der Nationalökonomie
übersetzt, nichts anderes als: die
Wirtschaftspolitik des Vaterunser ist die Politik des
breitesten Mittelstandes! Wir werden also, bei
sonst gleichen Verhältnissen, jenes Land als auf der
höheren Stufe volkswirtschaftlicher Entwicklung
stehend zu bezeichnen haben, in welchem der Mittelstand
am meisten vertreten ist. Wo aber der Mittelstand sich in
fortschreitender Auflösung befindet, dort haben wir
eine dem Verderben direkt entgegenreifende Entwicklung
vor uns und zwar um so sicherer, je größer der
Reichtum ist, welcher diesen Auflösungsprozeß
des Mittelstandes begleitet.
Damit ist auch die soziale Physiologie und soziale
Pathologie ihrem Inhalte nach sofort begrenzt. Denn wenn
die normale gesunde Entwicklung sich mit der
fortschreitenden Ausbreitung des Mittelstandes deckt,
dann finden wir die anormale krankhafte Entwicklung dort,
wo das Volk in die Überreichen und Allzuarmen sich
fortschreitend zersetzt. Die soziale Physiologie hat
deshalb den Arbeiter, der zugleich
Eigentümer seiner Produktionsmittel ist, als
grundlegende Kategorie zu betrachten. Die in
der heute herrschenden Nationalökonomie aber
übliche Aufteilung in Grundrente, Kapitalzins und
Arbeitslohn ist eine solche nach durchaus
pathologischen Kategorien, die nur dort am
Platze ist, wo sich die breite Masse des Mittelstandes
bereits in Grundherren, Kapitalisten und Arbeiter
gespalten hat. Und nun bedarf es eigentlich nur einer
Anwendung dieser Ideen auf einen konkreten Fall, um
sofort wieder zu erkennen, welch tiefen inneren
Zusammenhang die Ausbreitung des Mittelstandes mit
unserem täglichen Brote hat.
England ist ja bekanntlich nach allgemeiner
Überzeugung das reichste Land der Welt. Deshalb
sieht die Nationalökonomie des Geldbeutels in dessen
Zuständen ganz durchweg eine höhere Stufe
volkswirtschaftlicher Entwicklung, die ihr Licht und ihre
Schatten Deutschland vorauswerfe. Wie sind nun die
Verhältnisse in diesem berühmten und
vielbewunderten England?
Der bäuerliche Mittelstand ist vollständig
verschwunden. An Stelle der Gemeindefluren und
Bauerndörfer sind Schlösser mit Parks und
Villen mit Gärten getreten. Das städtische und
industrielle Großkapital hat den
landwirtschaftlichen Grundbesitz ganz aufgekauft. Dem
bäuerlichen Mittelstand ist der gewerbliche
Mittelstand nachgefolgt. Überall finden wir den
Auflösungsprozeß des Volkes in Kapitalisten
und Arbeiter fast vollständig durchgeführt. Das
platte Land ist entvölkert. Dafür sind die
Städte mit desto größeren Menschenmassen
angefüllt. Der Erwerb des Volkes hat sich unter
der Leitung des egoistischen
Kapitalismus fast ganz der Industrie und dem Handel
zugewendet. Da aber im Inland für die industriellen
Produkte ein ganz ungenügender Absatz ist, hat man
sich in die Politik der Handelsverträge und der
Kolonisation im weitesten Umfange hineindrängen
lassen. Gleichzeitig wird das Brotgetreide für das
Volk zum weitüberwiegenden Teile heute aus fremden
Ländern bezogen. Die Jahresernte von England reicht
nicht mehr zur Ernährung des Volkes auf drei
Monate.
Vorläufig scheint das alles noch zu gehen, obwohl
die Konkurrenz für Industrie und Handel sich von
allen Seiten bemerkbar macht und ganze Industriezweige
aus England nach den Ländern der Rohproduktion
übersiedeln. Aber die noch ungleich
größere Gefahr droht von Seiten der
Brotversorgung des Volkes. Das beginnt heute bereits den
englischen Handel, welcher die Aufgabe der
Brotbeschaffung hauptsächlich übernommen hat,
mit ernster Sorge zu erfüllen. In den letzten
Verhandlungen der vereinigten englischen Handelskammern
wurde einstimmig ein Beschluß angenommen, wonach
die englische Flotte soweit noch vergrößert
werden müßte, daß sie nicht nur die
Offensive gegen die eventuell vereinigte russische und
französische Flotte zu ergreifen im Stande
wäre, sondern gleichzeitig auch sämmtliche
englischen Getreideschiffe auf allen Meeren der Welt zu
schützen vermöchte. Und im Verlaufe dieser
Verhandlungen wurde nachdrücklichst betont,
daß in einer bestimmten Zukunft das Brotgetreide
für das englische Volk voraussichtlich nur noch aus
Indien bezogen werden könnte.
Es dürfe deshalb nichts versäumt werden, was
zur Sicherung dieses Landes als englische Kolonie
beitragen könne. Was aber dann, wenn Indien trotzdem
eines Tages nicht mehr zu England gehört? oder wenn
das Kriegsglück im Ernstfalle der englischen Flotte
nicht treu bleibt? Mit Bändern und Maschinen wird
man dann den Magen des hungernden Volkes nicht
füllen. Und die Abrechnung zwischen dem im Hunger
verzweifelnden Volke und den reichen Kapitalisten kann
dann unmöglich eine friedliche sein.
Man täuscht sich nicht durch die momentane Lage
des Getreidemarktes über diese tiefernste,
unmittelbar drohende Gefahr hinweg. Denn die Einbeziehung
des landwirtschaftlichen Grundbesitzes in den
weltwirtschaftlichen Verkehr hat es dem ausbeutenden
Kapitalismus nur für die Übergangszeit
ermöglicht, eine gewisse Überfüllung des
Marktes herbeizuführen. Diese Übergangszeit ist
heute bereits mehr als zur Hälfte vorbei. Die Liste
der zur Ausbeutung geeigneten Länder ist so ziemlich
erschöpft. Gleichzeitig feiert die industrielle
Entwicklung überall ihre Erfolge. So scheidet
verhältnismäßig rasch ein Land nach dem
andern aus der Reihe der
Getreideexportstaaten aus, um ein
Getreideimportland zu werden. Deutschland
hat im Jahre 1872 noch über 100'000 Tonnen Weizen
ausgeführt, heute beträgt seine Gesamteinfuhr
an Weizen und Roggen durchschnittlich 1 1⁄2 Millionen Tonnen pro Jahr. Ungarn
drohte Anfangs der 60er Jahre ganz Europa mit Weizen zu
überschwemmen. Aber schon mit dem ersten Jahrzehnt
des nächsten Jahrhunderts wird
Österreich-Ungarn keinen Weizen mehr
auszuführen haben. In Nordamerika betrug zu Ausgang
der siebziger Jahre die Weizenproduktion 9,16 Bushels pro
Kopf der Bevölkerung. Diese Ziffer ist bis heute auf
6,3 zurückgegangen. Auf die gleiche Einheit
berechnet, beträgt der heimische Jahresbedarf
5 1⁄2 Bushels. Wie nahe
ist also für Nordamerika der Tag gerückt, an
dem es keinen Weizen mehr abgeben kann. Und wenn so die
allgemeine Jagd nach Reichtum auf dem Gebiete der
Industrie und des Handels in ganz bestimmter Zeit zu
einem internationalen Defizit an
Brotgetreide führen muß und wenn dann die
einzelnen Staaten selbstverständlich sofort wieder
zu dem Mittel der Grenzsperre greifen, dann wird einem
Staate, wie England, der Boden seiner Existenz auf einmal
entzogen.
Die heutige wirtschaftspolitische Situation Englands
ist deshalb einem Gebäude vergleichbar, dessen
landwirtschaftliches Parterre immer mehr und mehr
reduziert worden ist, während dem ersten und zweiten
Stockwerk für Industrie und Handel immer neue
Zubauten angefügt wurden, die durch Säulen auf
fremden Grund und Boden gestützt sind. So lange das
den Interessen des fremden Grundherrn entspricht, so
lange mag die Geschichte dauern. Wenn aber dieses
Interesse eines Tages nicht mehr vorhanden ist und dann
die Säulen umgestoßen werden, muß nach
allen Gesetzen der Statik das ganze Gebäude
rettungslos zusammenbrechen. Das ist das unabweisbare
Ende einer Politik, die den Mittelstand und das
tägliche Brot dem Egoismns und dem Reichtum geopfert
hat.
Aus all diesen Gründen muß
aber auch die Bedeutung des Sozialismus in
einer anderen als in der üblichen Weise beurteilt
werden. Die Karl Marxschen Theorien sind ja
hervorgewachsen aus dem Interessengesichtspunkt der
industriellen Arbeiter in England. Und die
Einführung des sozialdemokratischen Zukunftsstaates
hat ausdrücklich die Thatsache zur Voraussetzung,
daß das Volk sich in die Großkapitalisten auf
der einen und in das Massenproletariat auf der anderen
Seite aufgelöst habe. Der Mittelstand ist dann
vollständig verschwunden. Wenn aber diese
Voraussetzungen erfüllt sind, dann erscheint mir die
Durchführung des sozialdemokratischen
Zukunftsstaates in der That ebenso notwendig, wie
möglich. Denn die Krisen, in welche der heute
herrschende Kapitalismus die Volkswirtschaft immer tiefer
hineinreitet, können nur dadurch behoben werden,
daß der Egoismus mit dem korrelaten Begriff der
freien Konkurrenz aus dem Herzen des Volkes
herausgerissen wird. Leider daß der Patient diese
Operation nach dem sozialistischen Rezept erst dann an
sich vornehmen läßt, wenn der Todeskampf
bereits begonnen hat. Und deshalb wird eine
„Rettung“ der Gesellschaft auf diese Weise
höchstens ein letztes Aufflackern der noch
vorhandenen Lebenskräfte bewirken können. Denn
der sozialdemokratische Staat kann von keiner Dauer sein,
weil er sich nicht auf dem Prinzip des täglichen
Brotes aufbaut. Und was die sozialdemokratischen
Führer eines Tages auch immer versuchen mögen,
sie werden aus den städtischen Proletariern keinen
Bauernstand mehr herausschnitzen.
XVI.
Die Willensfreiheit
und die ökonomische Verantwortlichkeit.
Wer es gewohnt ist, die wirtschaftlichen Erscheinungen
und Debatten von einem höheren allgemeinen
Gesichtspunkte aus zu betrachten, auf den macht es einen
merkwürdigen Eindruck, zu sehen, in welcher Weise
die Nationalökonomie des Geldbeutels es fertig
bringt, sich ein sittliches Kleid anzulegen. Ihr
Ausgangspunkt ist ja zugestandenermaßen das
thierische Element in dem Menschen: der Egoismus im Kampf
um's Dasein, der vor keiner noch so gröblichen
Verletzung des Strafgesetzbuchs zurückschreckt.
Dieser Egoismus der Einzelnen wird auf einmal dadurch
eine sittliche Potenz, daß man die Behauptung
aufstellt: ein jeder ist seines Glückes Schmied!
„Sehet diesen reichen Mann. Er ist von Jugend auf
fleißig, sparsam und unternehmend gewesen. Deshalb
ist er so wohlhabend geworden. Sehet diesen Bettler. Er
hatte von seinen Vätern ein großes
Vermögen geerbt. Aber er war nicht
haushälterisch, er war ein Verschwender und deshalb
ist er arm und elend geworden. Das freie Spiel der
Kräfte spannt die in dem Einzelnen
schlummernden Fähigkeiten an, zwingt fleißig
zu sein, giebt einem jeden die Möglichkeit, sich
selbst zu helfen und wird so zur Quelle des Reichtums und
damit der Wohlhabenheit der Völker. Wem es aber bei
freier Konkurrenz schlecht geht, der ist faul und
träge. Und — wer nicht arbeitet, soll auch
nicht essen.“ — Also: dieselbe
Nationalökonomie, welche für Tausende von
Arbeitern nach der Malthus'schen Bevölkerungstheorie
nichts als ihr Bedauern bereit hat darüber,
daß sie auf die Welt gekommen, nachdem bereits
sämtliche gedeckten Plätze besetzt waren
— dieselbe Nationalökonomie, welche in dem
Ricardoschen Grundrentengesetz, in der Börsen- und
Wucherfreiheit dem arbeitslosen Erwerb eine solche
Ausdehnung zuweist, daß der redlichen Arbeit fast
nichts mehr verbleibt, hat auch den Mut, jene
Vermögensmassen, welche in der Atmosphäre des
Zuchthauses „verdient“ worden sind, mit der
sittlichen Pflicht zur Arbeit zu decken. Warum aber macht
man dann nie auf die Richtigkeit des Satzes: „wer
nichts zu essen hat, hat nichts gearbeitet!“ einmal
durch Umkehren die Probe, indem man den Satz aufstellt:
wer aber ißt, soll auch arbeiten!? Und warum
verschweigt man so regelmäßig, daß es
bei dem Völkerapostel nicht
heißt: wer nicht arbeitet — sondern: wer
nicht arbeiten will, soll auch nicht essen!?
—
Die Wirtschaftspolitik des Vaterunser hat mit solchen
Gedankenverdrehungen nichts gemein. Für sie ist und
bleibt der Egoismus und das freie Spiel der Kräfte
ein durchaus verwerfliches Prinzip. Für sie ist die
Arbeitsamkeit eine sittliche Forderung nur soweit,
als es sich um den Erwerb des
täglichen Brotes handelt und die idealen Güter
der Menschheit darunter keinen Schaden leiden. Tag- und
Nachtarbeit im Dienste von Riesenreichtümern z. B.
ist vom Standpunkte des Christentums ganz gewiß zu
verwerfen. Für sie bleibt der Besitz und das
Vermögen eines jeden Einzelnen durchaus ein Besitz
und ein Vermögen von Gottes Gnaden. Und wenn gesagt
werden darf: „Ein Jeder ist seines Glückes
Schmied!“ so ist es doch gerade auch im Interesse
des Christentums sehr wichtig, die Begrenzung zu kennen,
innerhalb welcher allein dieser Satz mit Recht gebraucht
werden kann.
Wenn wir nämlich in die Welt der wirtschaftlichen
Erscheinungen in der rechten Weise hineinschauen, dann
findet sich das Gebiet der sittlichen Freiheit weit mehr
eingeengt, als man so allgemein erwarten sollte. In dem
Bereiche des Besitzes und zwar speziell in der Verwendung
des Besitzes zum individuellen Genießen, da gilt
unzweifelhaft die sittliche Freiheit vollständig.
Aber in dem Bereich des Erwerbs ist der Einzelne fast
unfrei und wird beherrscht durch die Gesetze und die
volkswirtschaftliche Ordnung der Gesamtheit. Wenn der
Staat, als die Rechtsquelle der Gesamtheit, die Freiheit
des Grundeigentums einführt und damit für den
Verkehr mit Grundstücken die Wucherfreiheit
anerkennt, dann ist selbst der Vater, als der doch
eigentlich unbeteiligte Dritte, gezwungen, seinen Sohn im
Übergabsvertrage des Gutes zu Gunsten der weichenden
Geschwister auszuwuchern, weil auf Grund der geltenden
Gesetze alle Welt es nicht anders weiß. Im Handel
ist die einzelne Firma im Interesse der
Selbsterhaltung gezwungen, die unlauteren
Börsenmanöver mitzumachen, nachdem unter dem
Schutze der Börsenfreiheit eine mehr oder minder
große Zahl von Konkurrenten sich dem unredlichen
Spielerwerbe zugewendet haben. Und auch in der Industrie
bleibt dem Einzelnen nichts übrig, als dem schlimmen
Beispiele der Anderen zu folgen und auch
Tag- und Nachtarbeit, Frauen- und Kinderarbeit
einzuführen und Fälschungen vorzunehmen, oder
mit seinem Unternehmen zu Grunde zu gehen. Die
offiziellen Erhebungen aller Länder sind
angefüllt mit solchen Mitteilungen, welche die
sittliche Unfreiheit des Einzelnen im Erwerb
bestätigen. Das Alles gilt für den Erwerb der
Besitzenden. Die sittliche Unfreiheit der
Besitzlosen auf ökonomischen Gebiete
ist natürlich noch eine weit vollkommenere. Für
sie ist kurzweg die Konjunktur entscheidend. Kommen sie
in eine günstige Konjunktur, dann geht es nach
aufwärts und mit dem Besitz wächst auch die
sittliche Freiheit. Kommen sie in eine ungünstige
Konjunktur, dann geht es nach abwärts und die Not
treibt sie der Sünde in den verschiedensten Formen
in die Arme, wie die Strafrechtsstatistik aller
Länder nur zu grell belegt.
In dem Satze: ein jeder ist seines Glückes
Schmied! steckt also nur ein ganz kleines Körnchen
Wahrheit, soweit das Wort Glück im christlichen
Sinne gedeutet werden darf und muß. Nur soweit ich
Besitzer bin und meinen Besitz genieße, habe ich
die sittliche Freiheit, das Gute zu thun und das
Böse zu meiden. Sobald ich aber mit meinem Besitz
erwerbe oder als Arbeiter
durch meiner Arbeit Kraft mein Brot verdienen will,
soweit ist meine sittliche Freiheit bedingt durch die
Rechts- und Wirtschaftsordnung im Rahmen des
volkswirtschaftlichen Ganzen. Herrscht in dieser Ordnung
der echt christliche Geist, dann wird es einem Jeden
leicht sein, durch redliche Arbeit sein Brot zu verdienen
und ein menschenwürdiges Dasein zu leben. Herrscht
aber in dieser Ordnung der antichristliche Geist und sind
darin die tierischen Empfindungen des Egoismus und der
Habsucht zur allgemeinen Anerkennung gelangt, dann
hält der arbeitslose, der wucherische Erwerb seine
reichen Ernten, während der redlichen Arbeit in
ihrer bitteren Not kein anderer Ausweg bleibt, als mit
den Wölfen zu heulen und mit den Sündern zu
sündigen.
Diese Sünden des Einzelnen, unter dem Zwang der
Selbsterhaltung begangen, können offenbar seine
Schuld kaum belasten. Sie fallen auf die verantwortlichen
Schultern des Staates bezw. auf die Schultern der
verantwortlichen Träger der Staatsgewalt. Die
Sünden der Menschen, in sittlicher Unfreiheit
begangen, sind also die Sünden der gesetzgebenden
und verwaltenden Obrigkeit, die kein Priester lossprechen
kann, so lange nicht die Reue zur That ohne Rückfall
geführt hat. Denn die Strafe des Verderbens folgt
hier der Sünde auf der Ferse nach. Und nach einem
bestimmten Sündenmaß kann die reumütigste
Rückkehr vor dem Untergang nicht mehr erretten.
Es ist deshalb meines Erachtens ein großer und
verhängnisschwerer Fehler, den Staat dem Geiste nach
von der christlichen Kirche zu trennen. Denn
das Christentum allein führt zum Leben. Es ist aber
auch nicht minder irrig zu glauben, es sei dem
Christentum im Staate Genüge geschehen, wenn man die
Priester in der Kirche und im Religionsunterricht in der
Schule ihres Amtes walten läßt. Nein! es
handelt sich darum, daß das ganze Leben des Volkes,
soweit es in der verantwortlichen Hand der Staatsgewalt
ruht, im Geiste des positiven Christentums geordnet und
geleitet wird. Es genügt keineswegs, daß der
Staat sich als ein christlicher Staat bekenne, sondern
erst dann, wenn der Staat durch all sein Thun und Lassen
bekundet, daß er vom Geiste des positiven
Christentums durchdrungen und beseelt ist, kann von einem
wahrhaft christlichen Staate die Rede sein.
Das arme arbeitende Volk in den unchristlichen Staaten
ist inzwischen freilich tief zu bedauern. Auf redliche
Weise sich sein Brot zu verdienen, wird schwerer und
schwerer. Immer härter wird der Druck der Not zum
sündhaften Erwerb. Und wenn der Arme dann im Kleinen
thut, was die Überreichen so oft im Großen
gethan haben, dann reißt und schleppt man ihn vor
den Richter, um ihn von Staatswegen empfindlichst zu
bestrafen. Hier wird dann das Verbrechen ohne Schuld
durch den eigentlich Schuldigen an dem Schuldlosen
bestraft und so die Sünden des Staates verdoppelt.
Es ist nicht schwer zu begreifen, daß daraus der
Geist des Aufruhrs und selbst des Anarchismus mit immer
schwereren Sünden entspringen
muß.
Trotzdem bleibt für diese bejammernswerten
Völker kein
besserer Trost als das Gebet. Denn das Vaterunser, in der
rechten Weise gebetet, wird für sie zum gewaltigsten
Agitator und die dazu in der Kirche versammelte Gemeinde
zur fruchtbarsten politischen Volksversammlung, um alles
Übel auf dem einen Wege zu beseitigen,
der uns allein zu unserem Heile gegeben ist: auf dem Wege
der Rückkehr des Staates zum Christentume.
XVII.
Das Gesetz der normalen
volkswirtschaftlichen Entwicklung.
Wir befinden uns heute in Deutschland in einer
merkwürdigen Zeit. Von England hat man die soziale
Frage und die sozialistischen Theorien herüber
geholt. Und bei der Vorliebe der Deutschen für
spekulatives Denken und der herrschenden Unzufriedenheit
mit den verschiedenen Parteien ist die Sozialdemokratie
in rascher Progression gewachsen. Das hat
naturgemäß die öffentliche Aufmerksamkeit
für die soziale Frage verstärkt. Das Reich
begann allen Ernstes die Lösung derselben in Angriff
zu nehmem Und gewiß sind all' diese Gesetze und
Maßnahmen in höchstem Grade verdienstvoll und
segensreich. Aber — und darüber kann im Ernste
niemand zweifelhaft sein — die Lösung der
sozialen Frage umschließen sie nicht. Und warum?
Nicht deshalb, weil das Mögliche nicht geschehen
wäre, sondern deshalb, weil die soziale Frage als
„soziale“ Frage überhaupt nicht zu
lösen ist. Wenn erst der volkswirtschaftliche
Körper auf der Basis des Egoismus und der Habsucht
sich in Kapitalisten und Arbeiter aufzulösen beginnt
und unaufgehalten sich immer weiter
auflöst, dann kann nur eine oberflächliche
Betrachtungsweise an ein friedliches Ende dieses
Auflösungsprozesses glauben. Auch diese Krankheit
wird nur dadurch geheilt, daß es gelingt, in einem
nicht zu späten Stadium die Krankheitsursache zu
beseitigen, daß dadurch der Spaltungsprozeß
des volkswirtschaftlichen Körpers in Kapitalisten
und Arbeiter zum Stillstand kommt und daß eine
gesunde und friedliche Vereinigung von Kapital und Arbeit
in einer immer kräftigeren Entfaltung des
Mittelstandes herbeigeführt wird.
Diese Auffassung beginnt heute, unter der Macht der
realen Vorgänge, sich langsam zum Bewußtsein
durchzuringen. Während nämlich alle Welt mit
den Sozialisten und mit der sozialen Frage sich
befaßte, hat die kapitalistische Spekulation sich
der Grundpreise bemächtigt und in der Grundrente
sich eine reiche Quelle arbeitslosen Einkommens
erschlossen. Gleichzeitig war das ausbeutende Augenmerk
der goldenen Internationalen auf das Getreide, auf die
Edelmetalle und auf große nationale
Neugründungen gerichtet. Und als der Umschwung der
auf solche Weise künstlich geschaffenen Konjunktur
eintrat, sah sich namentlich der Mittelstand — der
landwirtschaftliche wie der gewerbliche — in seiner
Existenz schwer bedroht. Die moderne kapitalistische
Entwicklung hatte ihr Zerstörungswerk auch an dem
deutschen Mittelstand begonnen. Und damit ist auf einmal
neben der sogenannten sozialen Frage ganz unerwartet die
gewerbliche und namentlich die Agrarfrage
aufgetaucht.
Und welche Stellung nimmt die herrschende
nationalökonomische Schule diesen Erscheinungen
gegenüber ein? Sie
behandelt die soziale Frage in der üblichen Weise
ruhig weiter, nimmt die Agrarfrage und Gewerbefrage als
neue Probleme auf und erörtert alle drei als
vollkommen selbständige Fragen. Aber mit dieser
Ausscheidung noch lange nicht zufrieden, schneidet man
jede einzelne dieser Fragen weiter in eine möglichst
große Zahl von Spezialfragen auf. So trennt man z.
B. die Agrarfrage in eine Arrondierungsfrage, in eine
Meliorationsfrage, in eine Meliorationskreditfrage, in
eine Personalkreditfrage, in eine Realkreditfrage, in
eine Subhastationsfrage, in eine Erbrechtsfrage, in eine
Kolonisationsfrage, in eine ländliche Arbeiterfrage,
in eine Schutzzollfrage, in eine Steuerentlastungsfrage,
in eine Versicherungsfrage, in eine
Güterzertrümmerungsfrage u. s. w. u. s. w. Und
für die Behandlung dieser Sonderfragen werden
namentlich solche Spezialisten bevorzugt, welche in den
anderen Fragen möglichst wenig gearbeitet haben. Das
ist die praktische Methode einer
Nationalökonomie, die sich einer organischen,
ethischen und historischen Auffassung allerwärts
rühmt.
Nach den Ausführungen eines Aristoteles und
Thomas von Aquin und nicht zuletzt auch nach dem Urteil
des gesunden Menschenverstandes muß eine solche
Methode als von Grund aus verkehrt bezeichnet werden.
Denn jeder Teil eines organischen Ganzen, wie es doch
auch die Volkswirtschaft ist, kann begrifflich nur
verstanden werden in seiner Zugehörigkeit zum
Ganzen. In diesem Sinne ist der Fuß ein organisches
Glied des Menschen, welches die Kraft zum Gehen besitzt.
Findet sich eine solche Thätigkeit und eine solche
Kraft nicht mehr im
Fuße, so hört er auf, wie früher
Fuß zu sein, und behält bloß noch
denselben Namen, ohne daß damit das Wesen eines
Teils des menschlichen Körpers verbunden wäre.
Ein spezialisiertes und isoliertes Eindringen in die
ländliche Arbeiterfrage, in die landwirtschaftliche
Kreditfrage, in die Erbrechtsfrage u. s. w. gleicht
deshalb vollständig der ausschließlichen
Betrachtung eines menschlichen Fußes, der es nur
dem Namen nach ist. Das Wesen fehlt dieser
Betrachtungsweise und deshalb sind die Resultate so
wertlos. Nach der rechten Meinung müssen demnach all
unsere großen Tagesfragen stets aus
dem Gesichtswinkel der volkswirtschaftlichen Gesamtheit
beurteilt und verstanden werden. Sie wollen als
große Prinzipienfragen und nicht als kleinliche
Detailfragen behandelt sein.
Und wenn ich in dieser Weise unsere Gegenwart
betrachte, dann scheint mir die soziale Frage zwar
für England gestellt, wo das Volkseinkommen
thatsächlich sich bereits in die pathologischen
Kategorien Grundrente, Kapitalzins und Arbeitslohn
aufgelöst hat, nicht aber in Deutschland, wo Gott
sei Dank in einer breiten Masse des Mittelstandes noch
der Normalarbeiter als Eigentümer seiner
Produktionsmittel existiert. Wir werden deshalb gut daran
thun, den Engländern die ihnen gestellte Aufgabe zu
überlassen, um dafür unsere Aufgabe desto
schärfer in's Auge zu fassen.
Was aber die Frage nach der Erhaltung und
Förderung des Mittelstandes anbelangt, so wird es
niemals richtig sein, dieselbe nach der Methode der
Nationalökonomie des Geldbeutels als eine
Sonderinteressenfrage des
Mittelstandes zu betrachten. Wenn sie auch zunächst
als solche in die Erscheinung trat, so ist das nicht zu
verwundern. Die Entwicklung des modernen Kapitalismus
hatte gerade die mittlere Bevölkerungsklasse am
meisten mit der Vernichtung bedroht. Der Ruf nach
Erhaltung des Bauernstandes und nach Erhaltung des
Gewerbestandes ist deshalb symptomatisch aufzufassen. Es
sind das Schmerzensrufe des sozialen Körpers, aber
kein Programm. Die antichristliche und egoistische
Habgier des Kapitals hat den Lebensnerv des deutschen
Mittelstandes getroffen. Hier haben sich die christlichen
Anschauungen noch am Meisten bewährt. Hier herrscht
noch Mäßigung, Zufriedenheit und Arbeitsamkeit
bei bereitwilliger Hingabe an die edleren
menschheitlichen Bestimmungen. Deshalb
bäumt sich der noch freie Bauernstand gegen die
moderne Entwicklung auf. Und glaubt man wirklich,
daß da mit so kleinlichen Mittelchen wie
Anerbenrecht, Steuerentlastung,
Realkreditbeschränkung mit Kreditverbilligung,
Feuer- und Hagelversicherung, Landeskulturrentenbanken u.
s. w. zu helfen wäre? —
Ich wenigstens bin der Meinung, daß die
Lösung der Agrarfrage, in der rechten Weise
erfaßt, für Deutschland die Lösung
der sozialen Frage bedeutet, denn sie erfordert nicht
mehr und nicht weniger, als die Reformierung aller
gesetzgeberischen und verwaltungsrechtlichen
Thätigkeit des Staates nach den Grundsätzen des
positiven Christentum. Die Lösung der
Agrarfrage fordert, daß es dem Landwirt wieder
leicht werde, durch redliche Arbeit sich
sein tägliches Brot zu verdienen. Sie fordert,
daß der unredliche Erwerb nicht etwa bloß
zurückgedämmt, sondern aus all den großen
Gebieten des Verkehrs vollkommen ausgemerzt werde. Nicht
bloß der Grundstückwucher, sondern auch der
Waren- und Geldwucher der verschiedensten Art muß
beseitigt werden. Das Unkraut muß heraus aus dem
Weizen. Denn wo der arbeitslose Erwerb seine Erntefeste
feiert, dort kann die redliche Arbeit nur elend
verkümmern.
Es geht über den Rahmen der gegenwärtigen
Untersuchung hinaus, das positive Programm der
Wirtschaftspolitik des Vaterunser auf der ganzen Linie zu
entwickeln. Nur die Hauptmarksteine sollen festgelegt
werden. Und deshalb darf ich mich im weiteren auch darauf
beschränken, den Weg der Beseitigung des
Grundstückwuchers unter besonderer Bezugnahme auf
den landwirtschaftlichen Grundbesitz
anzudeuten.
Das heute geltende Recht hat die vaterländische
Erde in erster Linie den spekulativen Interessen des
Kapitals ausgeliefert. Deshalb sind die Preise für
städtische Grundstücke unter dem Titel
„Grundrente“ so außerordentlich hoch
hinauf getrieben. Und um diesen Betrag ist die
thätige, arbeitende Menschheit unter den
verschiedensten Formen diesen spekulativen Interessen
tributpflichtig gemacht. Aber auch die Preise für
die landwirtschaftlichen Grundstücke haben ganz
allgemein die Tendenz, so hoch als irgend möglich zu
steigen. Weil nämlich für die kleinsten
Grundstücke auch die Besitzlosen als Bewerber
auftreten, das Angebot aber naturgemäß ein
beschränktes ist, steigt, bei ganz dem gleichen
objektiven Werte der Grundstücke, der
Preis um so höher, je kleiner die Fläche ist.
Der einzelne Landwirt ist deshalb gezwungen, im
wohlverstandenen Interesse seines Arbeitsverdienstes, den
möglichst größten Grundbesitz zu
erwerben. Da aber dieser Erwerb mit dem gleichen eigenen
Vermögen ausgeführt wird, ist der sich
verselbstständigende Landwirt ferner gezwungen,
seinen ganzen disponiblen Kredit zum Zwecke der
Besitzerwerbung zu verbrauchen. Bei den kleineren und
kleinsten Grundstücken, aber auch bei den mittleren
Besitzungen sind die Grundpreise allgemein so hoch,
daß die Arbeit dabei gar nicht mehr gerechnet
werden kann. Die Arbeitskraft all dieser Leute ist also
von den Grundpreisen vollständig
ausgewuchert. Aber auch für die
größeren Besitzungen wächst der Preis
mindestens nach Maßgabe der Ertragssteigerungen,
während die Arbeit immer wieder auf das
ursprüngliche Einkommen zurückgedrängt
wird. So lange günstige äußere
Verhältnisse dauern, da geht es noch so leidlich.
Sobald aber aus irgend einem Wetterwinkel Unheil
hervorbricht, zeigt sich die ausgewucherte
landwirtschaftliche Arbeit ohne jede Reserve und Tausende
von Existenzen brechen zusammen. Die Agrarkrisis ist
da.
Auch hier kann offenbar nur dadurch geholfen werden,
daß man die Krankheitsursache beseitigt. Die
Ursache aber — wenigstens soweit der Wechsel in der
Konjunktur selbst hier nicht in Betracht gezogen wird!
— liegt in der Ausbeutung der landwirtschaftlichen
Arbeit durch den Grundstückswucher dadurch,
daß der Grundpreis soweit über den Grundwert
hinaus gesteigert wird, daß
die Landwirte höchstens bei günstigen
äußeren Verhältnissen gerade noch
bestehen können. Ich schätze diese starke
wucherische Belastung der deutschen Landwirtschaft auf
mindestens 16 Milliarden. Die Beseitigung dieses
Grundstückwuchers ist aber nur damit möglich,
daß die heutige freie Marktpreisbildung
aufhört und der Grundpreis sich nach Maßgabe
des Grundwertes bewegt.
Und was ist der Grundwert? In gewöhnlichen
Fällen der Ertragswert, wobei Durchschnittspreise
und Durchschnittskosten für längere
Zeitperioden in Anschlag gebracht werden müssen.
Indes auch der Ertragswert deckt sich nicht immer und
überall mit den Interessen der Gesamtheit. Wo
nämlich aus Gründen allgemeiner Fortschritte
— sei es durch bessere Einsicht in die Technik des
Betriebes, sei es durch bessere Verkehrswege, sei es
durch allgemeine Preissteigerungen — der Ertrag der
Grundstücke wächst, dort hat auch der
Ertragswertanschlag die Tendenz, den ganzen Zuwachs zum
Grundpreis zu schlagen und das Arbeitseinkommen immer
wieder auf das alte Niveau zurückzudrängen. Die
Nationalökonomie des Geldbeutels nennt diese Art der
Grundpreissteigerung „die Steigerung der
Grundrente“, weil sie es durchaus
selbstverständlich findet, daß die Grundherren
aus dem Erfolg der thätigen, arbeitenden Menschheit
sich so viel als möglich „aneignen“. Die
Wirtschaftspolitik des Vaterunser muß diese so
allgemein anerkannten ökonomischen Erscheinungen als
durchaus verwerflich bezeichnen, weil es sich dabei um
einen arbeitslosen, wucherischen Erwerb handelt und weil
alle gesunde Wirtschaftspolitik in der
möglichsten Steigerung aller redlichen,
thätigen Arbeit gipfelt. Deshalb sage ich: in diesen
Fällen richtet sich die Grundwertsveränderung
nicht nach Maßgabe des
Ertragswertanschlags, sondern nach
Maßgabe des nachweisbar und rationell investierten
Kapitals. Wenn ich also 1 Hektar Wiese mit einem
Ertragswert von etwa 1000 Mk. in einer günstigen
Lage mit Obstbäumen bepflanze und dadurch in ein
sogenanntes Baumstück verwandle, so mag dieses
Baumstück nach etwa 15 Jahren einen Ertragswert von
mindestens 5000 Mk. besitzen. Da aber die Umwandlung der
Wiese in ein Baumstück nur etwa 600 Mk. gekostet
hat, so sage ich: der „wahre“
„ethische“ Wert beträgt
nach 15 Jahren nicht etwa 5000, sondern nur 1600 Mk. Der
Ertragszuwachs aber — den heute der
Grundstückswucherer kapitalisiert in die Tasche
steckt — ist zunächst Zuwachs des
Arbeitseinkommens und als solches dann rationelle
Grundlage der Besteuerung.
Die Durchführung dieses Wertprinzips an Stelle
der heutigen Wucherfreiheit im Grundstücksverkehr
ist verhältnismäßig leicht. Wie man
für die Flurbereinigung, für größere
Be- und Entwässerungen, für die Kolonisation u.
s. w. besondere Organe geschaffen hat, welche die
Grundstücke nach Wert und Verteilung ordnen, so
müssen in ähnlicher Weise auch Organe für
den allgemeinen Grundverkehr in's Leben gerufen werden.
Und dann verkauft der A. nicht mehr an den B., sondern er
offeriert seinen Grundbesitz dem betreffenden sozialen
Organe, das nach Ermittlung des Wertes den Betrag bar
auszahlt. Zu dem gleichen Preise, ohne jeden Zuschlag wird dann das Grundstück
an denjenigen Landwirt wieder abgegeben, der
unter Anerkennuug des Wertes die höchste
Baranzahlung leistet. Dadurch wird dann der Besitz mit
den geringsten Schulden, und nicht mit der höchsten
Schuldenlast wie heute, angetreten.
Hierzu gehören noch eine Reihe von weiteren
Maßregeln, welche in der gleichen Weise auch den
Wucher im Geld- und Warenverkehr der verschiedensten Art
durch eine Ordnung des Güterverkehrs nach
Maßgabe des wahren Wertes ausschließen und
neben dem bäuerlichen auch den städtischen
Grundbesitz der analogen Ordnung unterwerfen, die sich
auf der Basis der christlichen Weltanschauung und nicht
auf der des beutegierigen Geldsacks aufbaut.
Nur auf diese Weise wird es möglich, auch den
landwirtschaftlichen Mittelstand nicht bloß zu
erhalten, sondern auch nachdrücklichst zu
stärken und zu mehren. Und nur auf dem Rücken
eines wohlhabenden Bauernstandes findet der gewerbliche
Mittelstand seine gesicherte Position. Wenn aber die
Landwirtschaft wieder ein ertragreiches und deshalb
gesuchtes Gewerbe geworden ist, dann hört auch die
Bevölkerungsflucht von dem platten Lande nach der
Stadt auf, die industrielle Reservearmee nimmt ab und
jetzt wird es endlich möglich, ein Mitsteigen des
Lohnes auch für die industriellen Arbeiter zu
bewirken. So wird die Konsumkraft des arbeitenden Volkes
auf der ganzen Linie gestärkt und gleichzeitig die
Brotversorgung im Lande dauernd gesichert, wie ich es in
meinem „Leitfaden zur Einführung in die
Agrarpolitik“ eingehender bewiesen habe.
Das Gebäude der ganzen
Volkswirtschaft aber steht auf solche Weise — im
grellen Gegensatze zu der englischen
Volkswirtschaft — in durchaus harmonischer Form in
allen Stockwerken auf der Basis des eignen
Grund und Boden, als ein gegen alle Stürme des
Lebens festgegründetes Haus.
XVIII.
Schlußbemerkung.
Eine glückliche Fügung war
es, welche mich verschiedene neue
nationalökonomische Gedanken, die ich im Laufe der
letzten 14 Jahre auf rein empirischem Wege gefunden
hatte, unter dem Gesichtswinkel des Vaterunser
einheitlich betrachten ließ. Dabei war ich von der
Überzeugung ausgegangen, daß an der Spitze all
jener verschiedenen Auslegungen, die der Menschen Geist
im Verlaufe von fast zwei Jahrtausenden ergründet
hat, als ewige Wahrheit das Vaterunser steht und
daß es offenbar nur eines Fortschreitens der
menschlichen Erkenntnis bedarf, um aus diesem
unerschöpflichen Borne immer wieder neue und
für das Menschengeschlecht höchst
nützliche Wahrheiten heraus zu holen. Diese
Überzeugung hat sich glänzend bestätigt.
Spielend leicht entrollten sich mir unter der
Führung des Herrengebet die Grundzüge eines
neuen nationalökonomischen und
wirtschaftspolitischen Systems auf christlicher
Grundlage, das m. E. über die nur von Menschenhand
geschriebene Nationalökonomie ebenso weit
hinausragt, wie das Christentum über die heidnische
Weltanschauung. Ich sage:
spielend leicht — denn ich hatte ja eigentlich
nichts anderes zu thun, als in den betreffenden Stellen
bei Augustin und Thomas von Aquin moderne Worte
einzusetzen. Und so zeigt uns denn heute, wo die
germanischen Völker, nach einer mehr als
tausendjährigen Geschichte am Scheidewege ihrer
Entwicklung stehen, nur das Christentum wieder den Pfad
des Lebens und damit auch den Weg des Verderbens,
während die reine menschliche Erkenntnis in
unzähligen Irrtümern befangen steht.
Werden die Völker die rechte Nutzanwendung daraus
ziehen? Zunächst bieten sich gewiß wenig
Anhaltspunkte, um diese Frage mit „ja“ zu
beantworten. Die Zerfahrenheit unserer
wirtschaftspolitischen Ansichten hat die Völker in
eine Menge von Parteien zerrissen. Und gerade die
hervorragendsten Politiker sind es, welche offen
bekennen, daß sie eigentlich nicht wissen, wie die
großen Aufgaben der Gegenwart zu behandeln seien.
Deshalb ist auch unsere Politik nicht mehr die feste,
zielbewußte Verfolgung klarer, großer
Prinzipien. Wir lawieren seit Jahren von Welle zu Welle
und arbeiten politisch nur für den Augenblick.
Deshalb kennen wir eigentlich auch nur das Prinzip der
Konzessionen nach allen Seiten. Und deshalb betrachtet
man als die wichtigste Aufgabe stets die Ermittlung der
momentan herrschenden Durchschnittsmeinung nach der
Methode des arithmetischen Mittels. Wer heute im
deutschen Reichstag oder in irgend einem anderen
Parlamente einen Gesetzentwurf einbrächte, der klipp
und klar sagen würde: „Du sollst nicht
stehlen. Wer stiehlt wird bestraft!“ — dem
würde man sagen:
„Das geht nicht. Das geht viel zu weit. Gestohlen
wird überall. Man kann es deshalb höchstens als
wünschenswert bezeichnen, daß nicht gestohlen
würde. Aber für die und die Fälle
müssen Ausnahmen zugelassen werden. Und der
Bundesrat ist noch besonders zu ermächtigen, die
Liste dieser Ausnahmen nach Bedarf weiter zu
vergrößern.“ Ein solches
Gesetz kommt dann zu Stande. Aber draußen im Leben
ist niemand davon befriedigt. Bald folgt eine Novelle
nach der andern. Und in der Hauptsache bleibt alles ruhig
beim Alten, während die Unzufriedenheit mit den
bestehenden Verhältnissen weiter wächst. So
möchte man gewiß gar zu gerne den Mittelstand
erhalten, aber man möchte es doch gleichzeitig auch
mit dem Großkapital nicht verderben. Und mit
Freuden wäre man bereit, dem Bauernstand zu helfen,
aber man wagt es um Gottes willen nicht, dem Egoismus des
Bauern vor den Kopf zu stoßen und die Qualität
seines Produktionsmittels als kapitalistisches
Spekulationsobjekt anzutasten. Man bekennt sich da und
dort mit voller Überzeugung zu den Grundsätzen
des positiven Christentum, aber dieselben Herren scheuen
sich nicht, mit durchaus antichristlichen Prinzipien zu
paktieren. Das giebt dann die Thaten ohne Enthusiasmus
und die Werke ohne Segen. Soll das wirklich immer so
weiter gehen? Und wollen auch die Bekenner des
Christentum die Verheißung vergessen, daß von
ihren Prinzipien kein Jota geraubt werden soll?
Zu viel auf einmal darf man natürlich auch hier
weder erwarten noch verlangen. Die praktische Politik
wird ziemlich spät erst die
Umschwenkung durchführen können. Die
Lösung aller modernen Fragen muß beginnen mit
einer Einkehr im Geiste. Die Schule ist es, in der vor
allem die neuen Männer für eine neue Zeit mit
Anstrengung aller Kräfte herangebildet werden
müssen. Die heutige Schule aber ist von der
Lösung dieser Aufgabe nur noch allzuweit entfernt.
Nicht nur, daß man unter dem Deckmantel der
Lehrfreiheit Lehrer mit durchaus antichristlichen
Prinzipien für ethische Wissenschaften
bestellt, man beruft auch für schweres Geld
Nationalökonomen, welche sich Historiker nennen und
den Unterschied zwischen Grundbesitz und Ware nicht
kennen — welche sich Sozialpolitiker nennen und die
Auflösung des gewerblichen und bäuerlichen
Mittelstandes als ein unabänderliches Gesetz
bezeichnen, die soziale Frage in Deutschland aber durch
einen Abklatsch englischer Organisationsformen für
die beiden sich bekämpfenden Parteien zu lösen
versprechen — und welche sich
„ethische“ Nationalökonomen nennen und
in der Tierwelt und bei den barbarischen Völkern
sich ihre idealen wirtschaftspolitischen Prinzipien
suchen. Und solchen Nationalökonomen
überträgt man nicht nur das Lehr-, sondern auch
das Prüfungsmonopol an deutschen
Landesuniversitäten! Kann man sich dann wundern,
wenn ein tieferes Verständnis für die
Lösung der neuzeitlichen Aufgaben fast allgemein
fehlt? Und glaubt man wirklich, daß auf diesem Wege
der Geist der heranwachsenden Generation besonders
günstig vorgebildet werde für die
Bewältigung jener großen Probleme, die heute
schon laut und lauter an die Thüre der
gesetzgebenden Körper klopfen? Nein!
Die Reform muß vor allen Dingen in der Schule und
in der Wissenschaft ernstlich einsetzen und in einer
prinzipiell scharfen Weise durchgreifen. Eine nur
einigermaßen laxe Behandlung ist weit schlimmer als
keine Behandlung. Oder wie ein berühmtes altes
holländisches Sprüchwort sagt:
„Zachte dokters maken stinkende
wonden!“ Die sogenannte Lehrfreiheit ist dabei
kein Prinzip, denn das Wort Lehrfreiheit ist nur ein
anderer Ausdruck für Unkenntnis der Wahrheit. Wer
aber die Wahrheit erkannt hat, für den ist die
Kenntnis der Irrtümer wertlos.
Die Einführung der christlichen Prinzipien in die
Nationalökonomie ist aber auch im Interesse der
Wissenschaft selbst dringend zu wünschen.
Aristoteles sagt bekanntlich in seiner Metaphysik,
daß die Menschen von jeher vom Bewundern aus zum
Philosophieren vorgeschritten seien. Und in der That
beginnt die echt wissenschaftliche Forschung immer erst
dort, wo sich der menschliche Geist in ein Gegebenes
staunend versenkt, um es dann losgelöst aus seinen
Beziehungen zu unserem Wohl und Weh, zu unseren
Plänen und Aufgaben, zu betrachten, nur um zu
erfahren, was es damit für ein Bewenden haben
möge. Nun ist die Nationalökonomie von Anfang
an aus einem höchst bedenklichen subjektiven Agens,
nämlich aus der Not und dem Streben nach Reichtum
hervorgegangen und hat sich daraus bis heute noch
keineswegs zur reinen Wissenschaft empor gerungen. Denn
die herrschende Schule ist die Nationalökonomie des
Geldbeutels und das sozialistische System ist die
Nationalökonomie des industriellen Arbeiters. Wo aber ist die
Nationalökonomie der dauernden gesamtheitlichen
Interessen? Die Wirtschaftspolitik erst gar zeigt auf
jeder Seite ihre Zugehörigkeit zu bestimmten
Interessenkreisen. Aus diesem Schlamm egoistischer
Interessen kann sich die Nationalökonomie zur reinen
Wissenschaft nur dadurch erheben, daß sie auf die
höhere Stufe des positiven Christentums versetzt
wird. Und je rascher das geschieht, desto besser für
die Zukunft der Völker.
Und schließlich noch eine spezifisch katholische
Folgerung. Wir haben ja oft den Satz gehört,
daß das Urteil des Papstes zwar in Glaubens- und
Sittensachen unfehlbar sei, daß aber die
wirtschaftspolitischen Fragen zu den internen
Angelegenheiten einer Nation gehören, die der
päpstlichen Jurisdiktion entrückt wären.
Wir haben solche Äußerungen selbst von
katholischen Männern gehört, welche sonst in
öffentlichen Versammlungen in der Regel ihre Reden
mit der Bemerkung beginnen: „Zuerst kommt die
Religion!“ Mir will diese Auffassung nicht haltbar
erscheinen. Wenn nämlich, wie ich im
vorhergehenden gezeigt zu haben glaube, im Vaterunser die
Quintessenz aller nationalökonomischen Wissenschaft
enthalten ist und wenn die Lösung der modernen
wirtschaftspolitischen Aufgaben erst dann gelingen kann,
wenn Wissenschaft und Christentum in der
Weise sich miteinander vereinen, daß die
Wissenschaft in demütiger Vertiefung in den Geist
des Christentums sich selbst findet, dann kann es doch
wohl gar keinem Zweifel unterliegen, daß für
jeden gläubigen Katholiken in strittigen Fällen
die Entscheidung der prinzipiellen Frage: ob ein wirtschaftspolitisches Gesetz
dem Geiste des Christentum entspricht oder
widerstreitet? im Vatikan in Rom endgültig getroffen
wird. Denn die Nationalökonomie gehört zum
positiven Gehalt des Christentum, so gewiß als die
Bitte um das tägliche Brot in Mitten des Vaterunser
steht. —